Berliner Luft auf dem Mond: Paul Linckes „Frau Luna“ landet am Gelsenkirchener Musiktheater im Revier

Paul Linckes „Frau Luna“ hat im Theaterkosmos Nordrhein-Westfalens fast alle Sektoren durchkreuzt: Krefeld-Mönchengladbach startete den „Mondballon“, in Dortmund und Hagen sind Pannecke und Pusebach gleichfalls gelandet, und auch in Münster haben der Mechanikus Fritz Steppke und seine kleine Marie schlussendlich ein „kleines bisschen Liebe“ gefunden.

„Bin Göttin des Mondes, Frau Luna genannt“: Anke Sieloff in der Titelrolle von Paul Linckes Operette am Musiktheater im Revier. Foto: Björn Hickmann

Jetzt setzt Gelsenkirchen noch einmal nach mit der gründerzeitlichen Reise zum Mond – so als gäbe es nicht Dutzende anderer aufführungswürdiger Operetten. Aber die Repertoirebreite von einst ist längst vergessen. Ob angehende Dramaturgen im Studium je etwas von der Operette hören, ist fraglich (auch wenn es inzwischen eine erstaunlich breite Forschung zu der lange verschmähten Gattung gibt), und ob sie sich in der Praxis mit Volker Klotz‘ Handbuch gerüstet gegen die Praxis durchsetzen können, dürfte zweifelhaft sein, schaut man sich die Spielpläne an.

Neubearbeitung im Stil der Zwanziger Jahre

Generalintendant Michael Schulz wollte diese lunare Erscheinungsform der Operette an seinem Haus haben, und so geschah es eben. Sein Joker: Er lässt eine Neufassung von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn spielen. Das ist jenes Duo, das für den WDR und für Barrie Koskys Komische Oper in Berlin die funkelnden Strasssteine Paul Abrahams aufpoliert hat. Das Ergebnis katapultiert das Publikum regelmäßig in höhere Sphären der Unterhaltungskunst, so in den letzten Spielzeiten etwa in Dortmund mit „Blume von Hawaii“ und „Roxy und ihr Wunderteam“ – und demnächst in Berlin mit der in Deutschland noch nie gespielten Abraham-Operette „Dschainah, das Mädchen aus dem Tanzhaus“.

Die Bearbeitung kommt mit vierzehn Instrumenten aus und nähert Linckes gemütliche Marsch- und Walzerrhythmen der flotten Berliner Operette der zwanziger Jahre an. Da schmachtet das Saxophon, swingt das Banjo und pfeffert das Schlagzeug dazwischen. Die Geigen dagegen können nicht mehr forsch aufspielen oder süßes Sentiment vergießen; sie huschen abgemagert durch die Partitur und lassen den Kolleginnen und Kollegen von der Luft-Fraktion den Vortritt. Naja, Berliner Luft eben …

Berliner Luft und bisschen Liebe

Ejejej, die verflixten Erdlinge bringen Theophil (Joachim G. Maaß) und Prinz Sternschnuppe (Martin Homrich) ganz schön in die Bredouille. Foto: Björn Hickmann

Ejejej, die verflixten Erdlinge bringen Theophil (Joachim G. Maaß) und Prinz Sternschnuppe (Martin Homrich) ganz schön in die Bredouille. Foto: Björn Hickmann

Dieser Schlager zum Mitklatschen muss natürlich sein, aber das Gelsenkirchener Publikum traut sich erst am Schluss. Dazwischen gibt Dirigent Bernhard Stengel dem „bisschen Liebe“ eine Prise Süßstoff mit, lässt das Glühwürmchen-Idyll, von Lina Hoffmann mit stahlschimmerndem Samt gesungen, glimmern und flimmern, nährt die Klage der Frau Pusebach um ihre entschwundene Liebe Theophil mit treuherziger Ironie.

Doch man spürt, dass Paul Linckes Musik in einer anderen Welt zu Hause ist als in Shimmy und Foxtrott. Und wenn das Tempo nicht zündet, Töne zu brav und zu breit geformt sind und die Phrasierung keinen Schmiss hat, sehnt man sich nach dem preußischen Geschmetter zurück, für das der zackige Möchtegern-Militärkapellmeister Lincke berühmt geworden ist.

Ein eins zu null für Gelsenkirchen gibt es, weil die Darsteller auf der Bühne des Kleinen Hauses zwar gesanglich zwischen Ausfall und Glamour pendeln, aber etwas können, was für die Pointen der Operette unerlässlich ist: sprechen. Wenn sie dann noch deutlich artikulieren, wird’s lustig, weil Regisseur Thomas Weber-Schallauer den Text erfrischend agil bearbeitet hat. Er hat den abgekühlten Sprachwitz Heinz Bolten-Baeckers‘ nicht durch neue lauwarme Sprüchlein ersetzt, sondern die Geschichte konsequent zwischen Berliner Schnodder und elaboriertem Science-Fiction-Slang gefasst. Da gibt es beim Durchbrechen „emotio-fraktaler Schutzschilder“ schon man einen „hetero-aktiven Systemabsturz“. Und Dongmin Lee spricht als Stella mit sphärischem Hall wie eine Roboterstimme aus einem frühen Kino-Weltraumabenteuer. Weber-Schallauer findet genau die richtige Dosis in seinem Neusprech und ironisiert damit gekonnt das Gequatsche aus diversen Gamer-, Netz- und Technik-Blasen.

Und üppig flimmert der Weltraum. "Frau Luna" in Gelsenkirchen lässt die Galaxien rotieren. Foto: Björn Hickmann

Und üppig flimmert der Weltraum. „Frau Luna“ in Gelsenkirchen lässt die Galaxien rotieren. Foto: Björn Hickmann

Seine Inszenierung stützt sich auf die üppigen Weltraum-Bilder, die Christiane Rolland über die breite Bühne projiziert – und man denkt sich aus, welchen Effekt das wohl im Großen Haus gemacht hätte! Da dreht sich der blaue Planet weg wie in der „Odyssee im Weltraum“. Da strahlen Galaxien wie auf den Titelbildern von Perry-Rhodan-Heften. Aber die Auflösung ist so schlecht, dass die Sternhaufen aussehen, als hätte eine Berliner Göre beim Heimweg vom Milchladen die ganze Chose verdröppelt. Naja, Milchstraße eben…

Weber-Schallauer lässt die drei Kumpels Steppke, Pannecke und Lämmermeier unter den offenen Dachsparren des Pusebach’schen Hauses auftreten. Der dosengefüllte Kühlschrank neben dem Sofa und die 3-D-Brillen über den Augen signalisieren einen chilligen Tag. Die so resolute wie liebeshungrige Logierwirtin (in grell-komischem Berliner Diseusenton: Christa Platzer) stört den Ausflug in virtuelle Sphären, kann ihn aber nicht verhindern und gerät unfreiwillig in die Welt auf dem Monde: Dort meint sie unter den silbrigen Gestalten in grotesken Krinolinen (Kostüm-Einfälle von Yvonne Forster) ihre verflossene Affäre Theophil zu entdecken – und liegt richtig: Der Herr Haushofmeister Frau Lunas hatte einst eine Mondfinsternis genutzt, um auf Erden seinen Gelüsten nachzugehen.

Die Verwicklungen, die sich daraus ergeben, stürzen die ganze Mondgesellschaft inklusive diverser Gast-Planeten (Mars: Vivien Lacomme, Venus: Alfia Kamalova) in gewisse Bredouillen. Doch der gewiefte Theophil, eine Paraderolle für Joachim G. Maaß, findet durch einen irdischen Damen-Import (Ava Gesell als in jeder Hinsicht entzückend agierende Marie) eine Lösung selbst für die amouröse Verwicklung, die seine Chefin (Anke Sieloff als gereifte Göttin) an den biederen Mechanikus Steppke (dünn an Gestalt und Stimme: Sebastian Schiller) statt an den heldentenoral überziehenden Prinz Sternschnuppe (Martin Homrich) fesselt.

Der Rücksturz ins heimatliche Berlin klappt nicht so ganz: Es gibt eine gewaltige Explosion, und in der wiedergewonnenen „Berliner Luft“ tanzt das Mondpersonal fröhlich mit. Naja, die virtuelle Welt lässt uns eben nicht mehr los.

Weitere Vorstellungen: 19., 25., 31. Oktober; 21., 31. Dezember 2019; 9. April, 16. Mai, 10. und 13. Juni 2020. Info: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2019-20/frau-luna/




Satire ohne Biss: Paul Linckes Milljöh-Operette „Frau Luna“ in Mönchengladbach

Das Mondvolk wundert sich über die Berliner Erdenbürger. Szene aus der Neuinszenierung von Paul Linckes "Frau Luna" am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Das Mondvolk wundert sich über die Berliner Erdenbürger. Szene aus der Neuinszenierung von Paul Linckes „Frau Luna“ am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Kein Zweifel: Die Panneckes und Pusebachs sind in der Jetztzeit angekommen. Die wilhelminische Nostalgie des alten „Spree-Athen“ von Paul Linckes unsterblichem Operettenschlager „Frau Luna“ schrumpft in der neuen Inszenierung am Theater Krefeld-Mönchengladbach auf eine hübsch auf alt getrimmte Kneipe. Im Hintergrund aber recken sich die endlosen Fensterreihen und Satellitenschüsseln Berliner Hochhaussiedlungen. Das „Milljöh“ von damals, das sind heute die Hartzer, Kleinrentner und zwischen fehlendem Schulabschluss und aussichtloser Stellensuche gestrandeten Jugendlichen.

Regisseur Ansgar Weigner hat gemeinsam mit Carsten Süß den Text von Heinz Bolten-Baeckers für seine Sicht auf „Frau Luna“ gründlich revidiert. Fritz Steppke, der pfiffige Berliner Mechaniker, baut keinen Mondballon mehr; die Technik-Begeisterung von 1899 ist der Frage nach einer politischen Option gewichen: Steppke hat eine idealistische Bewegung für „Jerechtigkeit (!) und Liebe zwischen den Menschen“ gegründet. Hat er damit eine Chance? Gibt es so etwas wie eine gesellschaftliche Teilhabe für diese Operetten-Unterschicht?

Die Antwort ist dieselbe wie 1899: Schlösser, die im Monde liegen, bringen Kummer, und um im Glück sich einzurichten, hat man auf der Erde Platz – sprich, im Kuschelbett mit seinem Mädchen.

Ein bisschen Alt-Berliner Idylle gehört dazu: Steppke (Markus Heinrich) doziert politische Ideen; Frau Pusebach (Kerstin Brix) trauert dagegen ihrem verflossenen "Theophil" nach. Foto: Matthias Stutte

Ein bisschen Alt-Berliner Idylle gehört dazu: Steppke (Markus Heinrich) doziert politische Ideen; Frau Pusebach (Kerstin Brix) trauert dagegen ihrem verflossenen „Theophil“ nach. Foto: Matthias Stutte

Das ist die gründerzeitliche Stillhalte-Botschaft, die Linckes Operette wohl schon 1899 – und nicht erst in der opulenten Revue-Fassung von 1922 – verbreitet hat. Für den Kleinbürger der Zeit vor und nach dem Ersten Weltkrieg gehörte es sich einfach nicht, nach glamourösen Sphären zu streben. Er sollte brav und bescheiden in Laube, Werkstatt und möbliertem Zimmer hausen. Dort ist es am schönsten, so redet Madame Operette dem einfachen Manne ein, der sich an ihrem musikalischen Busen, damals im Apollo-Garten, für zwei Stündchen burlesk und phantastisch der harten Realität der expandierenden Reichshauptstadt Berlin entheben ließ.

Und heute? Bei Weigner klingt das so: „Inne Politik jehn, so wat macht ma nich, so wat träumt ma höchstens“. Eine seltsame Botschaft in einer entwickelten Demokratie. Seine Operetten-Moral am Ende lautet: Der Kiez ist unsere Welt. Und die sollen wir in Ordnung halten durch individuelles Engagement. Jeder, so gut er kann.

Das ist wohl eine ehrenwerte, aber ziemlich unpolitisch gedachte Individualmoral. Ein Rückzug vor den Herausforderungen der globalisierten Welt. Spielplatz aufräumen statt TTIP bekämpfen. Nicht unbedingt eine adäquate Reaktion auf das tatsächlichen Problem in Deutschland, dass gesellschaftliche Schichten immer undurchlässiger werden. Die Operette war stets ambivalent: Sie bestätigte den Status ihrer Zuschauer, hebelte ihn aber auch lustvoll satirisch aus. In dieser „Frau Luna“ im Theater in Rheydt blieb die – angezielte – Satire freilich ohne Biss.

Aufbruch für Jerechtigkeit und Liebe: Steppke (Mitte: Markus Heinrich) mit seinen Kumpanen Lämmermeier (links: Rafael Bruck) und Pannecke (rechts: Hayk Dèinyan). Foto: Matthias Stutte

Aufbruch für Jerechtigkeit und Liebe: Steppke (Mitte: Markus Heinrich) mit seinen Kumpanen Lämmermeier (links: Rafael Bruck) und Pannecke (rechts: Hayk Dèinyan). Foto: Matthias Stutte

Aus der mit freundlich eingefärbten Betonfertigbauteilen tapezierten Bühne von Jürgen Kirner träumt sich Steppke in eine „Mond“-Welt, eine Mischung aus Raumschiff Orion und Bundeskanzleramt. Die Erdkugel entschwebt zum Ohrwurm des „Glühwürmchen“-Idylls; sichtbar werden die Reichstagskuppel und ein Rudel futuristischer Putzfeen mit Staubwedel und Stirnlicht.

Doch Weltraum-Fantasy ist nicht angezielt, sondern eher Neureichen-Avantgarde. Die opulente Freitreppe signalisiert: Hier läuft die Show. Und was „da oben“ gespielt wird, um „den Wähler“ klein zu halten, ist nicht mehr als hohle Polit-Inszenierung. Allen voran Frau Luna als Übermutti in einem hemmungslos übersteigerten Gold-Kostüm von Marlis Knoblauch, dazu die weißen Roben, Fräcke und Uniformen wie aus der alten Fernseh-Samstagabendrevue. Und ein grotesker, sechsarmiger Theophil, der Allround-Manager des lunaren Tollhauses, bei Matthias Wippich gut aufgehoben – so ganz ohne fantastische Elemente kommt selbst Weigners Konzept nicht aus.

Im wahrsten Sinn des Wortes übergriffig: Matthias Wippich alias Theophil versucht der fixen Stella (Gabriela Kuhn) habhaft zu werden. Foto: Matthias Stutte

Im wahrsten Sinn des Wortes übergriffig: Matthias Wippich alias Theophil versucht der fixen Stella (Gabriela Kuhn) habhaft zu werden. Foto: Matthias Stutte

Das ist alles hübsch anzuschauen, doch weder der Satire noch dem Humor besonders förderlich. Selbst eine Frau Venus – Amelie Müller in koketten rosa Dessous – agiert zu betulich, um den braven Erdenbürgern den Herzschlag erotisch zu beschleunigen.

Die Szene, in der Steppke der Göttin des Mondes seine politischen Reformpläne erläutern will, während die nur auf seine vermuteten männlichen Qualitäten erpicht ist, wirkt wie braver Sozialkundeunterricht: Knisternde Spannung oder die naheliegende Enttäuschung des eifrigen politischen Missionars? Fehlanzeige. Wenigstens rettet Markus Heinrich durch agiles Spiel und ebenso beweglichen Tenor seine Figur vor der totalen Verblassung, während Debra Hays den Facetten der Frau Luna zwischen mondän, berechnend und ein wenig liebestoll zu viel Reserve entgegenbringt.

Im Quintett der mondfahrenden Erdlinge schießt Kerstin Brix den Vogel ab: Frau Pusebach ist in ihrem Fall eine schnoddrige Schnauze, die ohne Sentimentalität ihren verflossenen Theophil wiedererkennt, dessen Verlust sie mit Kittelschürze und dem herrlich verqueren Quäken einer erfahrenen Diseuse bereits auf Erden beklagt hat. Rafael Bruck gewinnt der Figur des Lämmermeier – in diesem Fall ein „freigestellter Deutschlehrer in ewigem Krankenstand“ – kaum Konturen ab; auch Haik Dèinyan hat wenig Chancen, aus seinem Pannecke mehr als einen angestaubt freundlichen älteren Herrn zu machen. Susanne Seefing mit Camouflagehose und Spaghettihaaren macht es ihrem Fritz leicht, den politischen Traum für das Nest unter nackter Glühbirne draufzugeben: Sie ist eine sanfte, anschmiegsame Mieze.

Einschwebende Göttin des Mondes: Debra Hays und der Chor des Theaters Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Einschwebende Göttin des Mondes: Debra Hays und der Chor des Theaters Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Die herrlich auf die Spitze getriebenen Kostüme des Prinzen Sternschnuppe – Michael Siemon als Operettengeneral – und des aufgeblasenen Mars von Shinyoung Yen täuschen nicht darüber hinweg, dass auch den Mondbewohnern die Profilierung abgeht, die sie zu komischen oder wenigstens markanten Charakteren im Rahmen des Genres geformt hätte. Nur Gabriela Kuhn zeigt als nassforsche Stella, wie zynisch der „Betrieb“ auf dem Mond machen kann. Musikalisch bleiben die Niederrheinischen Sinfoniker den mal idyllischen, mal lustvoll-simpel gradlinigen Melodie-Erfindungen des „feinen Paule“ nichts schuldig, zumal sie in einer gut ausbalancierten Streicher-Bläser-Besetzung spielen.

Alexander Steinitz lässt den luftigen Amüsiernummern ihre Würde, ihren Charme und ihre Würze, meidet allzu trivialen Schmiss ebenso wie triefendes Sentiment. Der Chor ist auf Zack, lässt sich beim himmlischen Reinemachen nicht aus dem spitzen Offenbach-Rhythmus bringen. Wenn im Finale dann die „Berliner Luft“ dröhnt, ist das lastende politische Gedünst verpufft; was bleibt, ist der unverwehbare Duft der Berliner Operette, deren rauer Charme auch dem Optimierungswahn der Bearbeiter von heute widersteht.

Nächste Vorstellungen: 22./24. April, 17./21. Mai. Karten: Tel. (02166) 61 51 100 oder www.theater-kr-mg.de