Der Stadtnomade als alternder Mann – Paul Nizons Journal „Der Nagel im Kopf“

Der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon, seit vielen Jahren in Paris lebend, ist mittlerweile 91 Jahre alt. Es erscheint durchaus als altersgerecht, wenn er in seiner jüngsten Journal-Sammlung weit, weit zurückblickt. So erinnert er sich an Liebschaften, die etliche Jahrzehnte zurückliegen oder gar an die ersten weiblichen Lockrufe, die ihn zur Frühzeit ereilten, überhaupt an die Phasen der „Lebens-Anwärterschaft“, die hernach zum Antrieb seines Schreibens geworden sind.

Der vielfach – zumal in der schreibenden Zunft – verehrte Nizon (ein kostbares Hauptwerk: „Das Jahr der Liebe“ von 1981) ist nie ein Autor für die Menge gewesen, aber einer, der aus der neueren deutschsprachigen Literatur schwerlich wegzudenken ist; erst recht nicht aus französischer Perspektive besehen. Nach wie vor schreibt Nizon seine Bücher auf Deutsch. Wie er auch in seinem Band „Der Nagel im Kopf“ darlegt, betrachtet er sich selbst als einen Miturheber „autofiktionalen“ Schreibens und hält abermals fest, dass seine Literatur weit überwiegend aus Ablagerungen des Selbsterlebten bestehe – und nicht aus freischwebendem Fabulieren.

Unerfülltes Begehren in Rom

Als gar nicht so geheimes, weil wiederholt beschworenes Kraftzentrum auch dieses Buches erweist sich das italienische Erlebnis mit einer gewissen Maria, das den eingestandenermaßen „frauensüchtigen“ Mann seither verfolgt – obwohl oder gerade weil sie den Liebesakt damals nicht vollzogen haben. Die (Nicht)-Affäre und das unerfüllte Begehren sowie die Begleitumstände (seinerzeit lief ein bestürzender KZ-Film im römischen Kino) haben offenbar innig mit seiner kompromisslos anspruchsvollen Künstlerwerdung zu tun. In diesem Zusammenhang steht ein nie ausgeführtes Romanprojekt mit dem Arbeitstitel „Der Nagel im Kopf“ seit Dezennien im Raum. Nun heißen die von 2011 bis 2020 (Corona taucht nur knapp auf) entstandenen Aufzeichnungen so. Zitat: „… das Entsetzen hat sich mir eingebrannt. Es ist in mir steckengeblieben wie ein Nagel im Kopf.“

„So viel Tod“

Durch das Journal ziehen sich Stimmungsschwankungen zwischen Selbstmitleid und Selbstüberhöhung. Die allmähliche Alters-Verdunkelung mit ihren Schwächungen und Gebrechlichkeiten ist ein fortlaufendes Thema, daraus resultierend auch Einsamkeits-Gefühle, denn nach und nach sterben viele seiner Zeitgenossen und Weggefährten, seine Alters-Kohorte „dünnt aus“: „So viel Tod. Und in den Zeitungsmeldungen räumt der Tod die paar Überlebenden meiner Generation weg.“

Manche Passagen mögen dünkelhaft oder hochmütig wirken, andere wiederum ausgesprochen verzagt und entkräftet. Paul Nizon kreist nun einmal sehr um sich selbst. Andernfalls gäbe es sein Oeuvre nicht, jedenfalls nicht das vorhandene. Er sorgt sich um seinen Nachruhm und fragt sich immer wieder, was wohl von seinem Lebenswerk bleiben werde. Hin und wieder vergleicht er sich mit weltweit populären Erfolgsautoren wie etwa John Irving. Doch die eigentlichen Bezugsgrößen sind Schriftsteller wie Robert Walser, Elias Canetti oder – auf andere Art – der gleichfalls in Paris lebende Peter Handke.

Wo der Weltgeist waltet

Apropos Paris: In dieser Metropole waltet für Nizon sozusagen der vitale, stets sich erneuernde Weltgeist in allen Schattierungen. Nizon denkt an sein ruheloses  „Stadtnomadentum“ mit vielfach wechselnden Ateliers („Schreibbuden“) in allen möglichen Arrondissements zurück. Wie anders als die enge, ängstliche Schweiz erscheint ihm diese leuchtende Weltstadt mit ihrer ganz anderen Lebensart! Doch an einem Demo-Tag, an dem das halbe Pariser Zentrum verstopft ist, ergreift ihn eine Panik der Ausweglosigkeit. Überhaupt sieht er Frankreich in den Zeiten der Gelbwesten-Proteste kurz vor einem Bürgerkrieg. Den Präsidenten Macron hält er übrigens für schrecklich profan – im Gegensatz zu Politikern vom Format eines Mitterrand. Zwischendurch beschreibt Nizon seine Haltung zu Ereignissen wie dem Tod des Popstars Johnny Halliday und dem verheerenden Brand der Kathedrale Notre-Dame, die je auf ihre Weise die französische Nation bewegt haben.

Den anfangs stets unsicheren Einkünften zum Trotz, bereut Nizon keinesfalls seine frühzeitige Entscheidung gegen ein Angestellten-Dasein und für seine künstlerische Existenz par excellence. Nicht nur in Paris und Rom hat er gelebt, sondern zeitweise auch in Barcelona und London. Einen Flaneur und fiebrigen Frauensucher wie ihn kann man sich eigentlich nur in solchen Städten vorstellen, nie und nimmer auf dem Lande oder an wenig bedeutsamen Orten. Auch Zürich und Bern waren ihm nicht genug.

Paul Nizon: „Der Nagel im Kopf“. Journal 2011-2020. Suhrkamp Verlag, 263 Seiten, 26 Euro.

 




Paul Nizon und die Goldadern der Kunst

Paul Nizon lebt und schreibt aus voller Brust elitär, die allermeisten Verhältnisse lässt er weit hinter sich liegen. Er grenzt sich streng ab, hält sich heraus aus dem gängigen Streit der Zeit, besteht auf „Niemandszugehörigkeit“. Kritiker, die ihm weniger gewogen sind, halten ihn für einen prätentiösen „Dichterdarsteller“. Nach üblichen Maßstäben ist der 1929 in Bern geborene Nizon ein Bewohner des Elfenbeinturms.

Jetzt sind seine Journale der Jahre 2000 bis 2010 erschienen. Sie erheischen langsame, einlässliche Lektüre und häufiges Innehalten.

Es gibt nur wenige, die ihr ganzes Dasein so sehr mit Mühsal und Triumph der Schriftlichkeit gleichsetzen, die so unbedingt das Künstlertum im althergebrachten Sinne beschwören. Zitat: „Nur das Wort gewordene oder besser Poesie gewordene Leben ist lebenswertes Leben.“ Konsequenz: „Und darum verachte ich all die kleine Verbrauchskunst, so amüsant oder bestechend oder interessant sie auch sein mag…“ Unerbittliche Forderung: „Nur das Bis-an-die-Grenze-Gehen zählt oder genügt in Sachen Kunst.“

Paul Nizons geistesaristokratischer Dünkel geht freilich einher mit ausgesprochener Sympathie für die Clochards und Verzweifelten. Auf den ersten Blick findet man seine Texte vielleicht nicht sonderlich „welthaltig“, doch kann man, seinen Schilderungen aus der Nahsicht folgend, bei jedem Schritt und jeder Wendung den Atem anhalten. Satz für Satz klingt seine augenblickliche Staunensbereitschaft an, er selbst sagt es so:  „…daß ich am Morgen beim Hinausgehen und Tagbegrüßen immer noch wie ein Kind voller Wundererwartung einhergehe…“ Daraus erwächst dann wortwörtlich „Sagenslust. SPRACHLUST.“

Die Journale nehmen einen sogleich gefangen, wenn er etwa zu Beginn rückblickend von den frühen Jahren in Paris spricht, wo er als „Lebensanwärter“ auf den „offenen Markt des Lebens“ tritt und sich alles vor schierer Erwartung anspannt, erhöhte Verletztlichkeit und drohendes Scheitern inbegriffen. Man fühlt sich hier nah am Zauber allen Anfangs, am schöpferischen Quell, doch auch im Zwiespalt. Das Schreiben gerät zur permanenten Selbst-Erfindung, darauf spielt wohl auch der Titel des Bandes („Urkundenfälschung“) an, der im gesamten Buch ansonsten nicht vorkommt. Das Ich ist eine fragile Fiktion, es muss jederzeit errungen werden, aus Worten hervorgehen.

Immer wieder vergleicht Nizon seine Art des Schreibens mit dem breiten, nie versiegenden Erzählstrom von Peter Handke und sieht sich selbst eher als Verschweiger, der nur wenigen Goldadern nachspüre; hingegen als manischen „Verschwender“ in den Journalen, „die den Seitenflügel meines Werks ausmachen“.

Nizons Fähigkeit zu rühmen zeigt sich auch und gerade in den Journalen. Die französische Lebensart, leuchtende Momente in Paris oder Rom, der „Schönheitsanfall“ angesichts der Erscheinung einer Frau – all das wird aus flüchtigen Momenten geborgen und als Kostbarkeit aufgehoben. Die Kehrseite: Zutiefst erschrocken notiert der Schriftsteller, dass vielleicht alles nur im relativ schmalen Werk bewahrt sei, dass er hingegen im äußeren Leben versagt habe.

Im Zeitrahmen dieser Tagebücher leidet Nizon an den Folgen einer Ehescheidung, andererseits gibt ihm die glückhafte Vollendung des Romans „Das Fell der Forelle“ Auftrieb. Hochgemutes Emporschwingen, quälerische Selbstzweifel und Selbstmitleid wechseln einander flackernd ab. Skepsis, den eigenen Ruhm betreffend und folglich auch Einkommens-Panik gehören zur Nachtseite der vogelfreien Existenz. Auch macht das Alter sich zunehmend bemerkbar, es sterben Freunde, jeder Tod bedeutet einen Weltverlust. Gallig bemerkt Nizon zudem, wie er sich etwa der gegenwärtigen Musikszene entfremdet habe, während ihn 1968 mit seinen kulturellen Begleiterscheinungen immerhin noch gestreift hatte.

Die künstlerischen Leitsterne Nizons erstrahlen in etlichen Passagen, in erster Linie Vincent van Gogh und Robert Walser, außerdem – schon widersprüchlicher gefasst – Elias Canetti, mit dem Nizon befreundet war und den er als wichtigste Begegnung seines Lebens bezeichnet, wenngleich er ihn auch als bedrohlich empfunden hat.

Zumal die Anfänge („künstlerische Inkubationszeit“) werden noch einmal eingehend bilanziert. Einige Essenzen klingen ehern kulturkonservativ. So stellt der einstige Museumsmann Nizon über die Kunst seit Kandinsky fest: „Das Abstrakte war wohl doch ein Irrweg.“ Verächtlich erwähnt er Rap und Poetry Slam als niedere Formen. Und er spricht sich vehement gegen Kulturrelativisten aus, die beispielsweise die nordafrikanische Rai-Musik in einem Atemzug mit Schubert nennen. Er selbst weiß, dass seine Haltung eurozentrischem Hochmut entspricht – und steht dazu.

Überhaupt gleichen die Journale über weite Strecken dem Versuch, auf dem Felde der Künste so etwas wie großbürgerliche Dignität, jedenfalls hochveredeltes Herkommen zu behaupten. Ein solches Unterfangen steht quer zur Jetztzeit, es  kann geradezu heroisch genannt werden. Wohlfeile Bekräftigungen landläufiger Meinungen finden sich anderswo zuhauf. Hier aber geht es um Werte jenseits des Tages.

Paul Nizon: „Urkundenfälschung. Journal 2000-2010“. Suhrkamp Verlag. 376 Seiten. 24,95 Euro.




Die Frau als ewiges Zentralgestirn – Paul Nizons Journal „Das Drehbuch der Liebe“ kündet von einer Lebenskrise

Von Bernd Berke

Wie soll nur ein Mann seiner Ehepartnerin erläutern, dass er häufig Bordelle besucht? Wenn man dem Schriftsteller Paul Nizon folgt, dann etwa auf diese Weise: „Da ist erst mal die Einsamkeit; wenn ich so lange allein bin, muß ich von Zeit zu Zeit eine Frau umarmen, das hält dann eine Weile vor (…) Und dann finde ich immer von neuem dieses Zueinandersteigen, diesen Vorgang des Zusammenliegens wunderbar…“

So pirscht er sich voran – bis die Gattin endlich sagt: „Ich kann es verstehen.“ Ihr Glück. Andernfalls hätte er ihr abermals solche Sünden vorgehalten: „Ihr Husten, Weinen, die ewige Erkältung, ihr trotziges, beleidigtes, aggressives, haltloses und auch haltungsloses Benehmen.“

Moralinsäure beiseite! Doch Nizons „Drehbuch der Liebe“ ergeht sich zuweilen im erstaunlich unreflektierten, selbstmitleidig zerknirschten Machismo. Pathos gehört dazu. Zitat: „Bin ich eine Geißel der Frauen? Der selbstsüchtigste Mensch.“

Mit „Das Jahr der I.iebe‘ (1981) hat der Schweizer einen der vielleicht innigsten erotischen Romane der letzten Jahrzehnte geschrieben, auch das sonstige Werk („Canto“, „Stolz“, „Im Bauch des Wals“) hat Bestand. Sein Tagebuch enthält hingegen rohes Material. Warum hat der Autor dies alles freigegeben? Wollte er zeigen, auf welchem Humus seine Literatur gewachsen ist? Nun ja. Wichtige Bücher haben beileibe nicht nur edle Wurzeln.

Fragile Künstler-Existenz

Die Aufzeichnungen gehören just ins zeitliche Vorfeld des famosen „Liebesjahres“. Sie zeugen von einer Lebens- und Schreibkrise, die Nizon nur ganz allmählich überwunden hat. Der 1929 geborene Schriftsteller hat sich von 1973 bis 1979 zwischen diversen Frauen (Odile, Marianne etc.) aufgerieben. Ein Liebes-Versehrter also, der seinerzeit ein unruhiges, phasenweise ganz aufs Ich konzentriertes Dasein in London, Paris und Zürich führte.

Ein Mann in seinen Vierzigern will sich noch einmal neu ausrichten; aus Angst, das Leben zu verfehlen. Übliche Midlife-Krise? Einesteils ja. Doch hier verquickt sie sich mit dem Ringen um Stoff und Form. Nizon durchlebt seine Tage offenbar immer schon im Hinblick auf künftige Texte. Auch dreht sich vieles um seine Lektüre (z. B. Bücher über Vincent van Gogh, von Robert Walser). Man ahnt: Es geht um die fragile Künstler-Existenz an und für sich.

Gesellschaft wird nur ganz am Rande sichtbar

Ganz anders als bei Peter Rühmkorf, der jüngst ebenfalls Tagebücher aus jenen 70er Jahren vorgelegt hat, ist die Gesellschaft bei Nizon nur indirekt (etwa in Stadtschilderungen) präsent. Oft zieht er sich, mitten in den Metropolen, in eine Art Klausur zurück, die mönchisch wäre, gäbe es da nicht gewisse Frauen und durchzechte Nächte. Sein Kosmos kreist schlingernd ums ewigweibliche Zentralgestirn, um erlösende Vereinigung der Körper.

Literarische Größen kommen eher anekdotisch vor. Mal schreibt Nizon einen (vertröstenden) Brief an den legendären Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, mal trifft er Elias Canetti, mal flaniert und speist er in Paris mit Peter Handke, dessen Ruhm er fast scheu bewundert. Und er bekommt Blitzbesuch vom Dichter H. C. Artmann, der mit einem 17jährigen Groupie-Girl aufkreuzt, was gleichfalls einen Neidreflex auslöst.

Nizon war damals von bitterem Ernst und marternden Zweifeln erfüllt. Für Selbstironie blieb noch kein Raum. Erst gegen Ende leuchten neu gewonnene Heiterkeit und Lust aufs Beginnen auf. Wahrlich: Es war ein dornenreicher Weg zum nächsten Buch.

Paul Nizon: „Das Drehbuch der Liebe. Journal 1973-1979″. Suhrkamp-Verlag. 282 Seiten, 22,80 Euro.