Auch ohne Bundesinstitut: Essen will Maßstäbe in der Fotokultur setzen

Sein Nachlass kommt nach Essen: Fotograf Michael Schmidt (1945-2014), hier in seiner Ausstellung „Waffenruhe“ im Essener Museum Folkwang, aufgenommen am 9. Februar 1988. (© Marga Kingler/Fotoarchiv Ruhr Museum)

Essen als d i e deutsche Fotografie-Stadt? Nun ja, es ist kompliziert. Nach politischem Willen, insbesondere auf Bundesebene, wird das noch zu gründende Deutsche Fotoinstitut eben nicht in der Ruhrstadt, sondern in Düsseldorf angesiedelt. Doch just heute ging man in Essen an die Öffentlichkeit, um kundzutun, dass man auch so gehörige Pflöcke einschlagen kann: Das hochkarätige Archiv Michael Schmidt, Nachlass eines prägenden Fotografen des 20. Jahrhunderts, kommt im Herbst aus Berlin dauerhaft in die Fotografische Sammlung des Museums Folkwang.

Da erhob sich im Verlauf der Pressekonferenz gar die Frage, ob Düsseldorf angesichts solcher Entwicklungen vielleicht nur noch die zweite Geige spielen werde. Nun aber mal halb lang! Folkwang-Museumschef Peter Gorschlüter legt jedenfalls Wert auf die Feststellung, dass die Essener mit dem künftigen Bundesinstitut und anderen fotografischen Einrichtungen einvernehmlich kooperieren wollen – und das in guter föderalistischer Tradition. Gorschlüter gehört zur Gründungskommission des Deutschen Fotoinstituts und vertritt von daher nicht ausschließlich Essener Interessen, sondern nimmt eine übergeordnete Perspektive ein. Er mag sich nicht einmal andeutungsweise zu Äußerungen über den vormaligen Konkurrenten Düsseldorf verleiten lassen.

Neuer Verein bündelt kulturelle Anstrengungen

Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen fasste es so: Die Stadt habe sich „redlich und engagiert“ um den Standort des Fotoinstituts bemüht. In der nun einmal gefällten Entscheidung für Düsseldorf sehe er keinen Fehlschlag. Überdies sei kaum eine deutsche Region seit Erfindung der Fotografie gründlicher ins Bild gesetzt worden als das Ruhrgebiet. Man könnte anfügen: Das Revier ist ja auch nicht so furchtbar weit von der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf entfernt.

Unterdessen hat sich in Essen ein Zusammenschluss gewichtiger Institutionen formiert, der hier Anstrengungen zur fotografischen Kultur bündeln soll. Das Ruhr Museum auf Zeche Zollverein zählt ebenso zum erlesenen Kreis wie das Historische Archiv Krupp, die Folkwang Universität der Künste und eben das Museum Folkwang. Neuerdings (genauer: seit 31. Januar) agieren sie zusammen als gemeinnütziger Verein mit Sitz im markanten SANAA-Gebäude auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein. Auch dieses „Zentrum für Fotografie Essen“ ist ein Statement.

Bedeutsamer Nachlass kommt von Berlin nach Essen

Vor diesem Hintergrund darf die bevorstehende Überführung des Archivs Michael Schmidt als bedeutsames Signal gelten. Der Fotograf, der von 1945 bis 2014 gelebt hat, hatte schon sehr früh und fortan recht häufig Ausstellungen in Essen, wo er – in der Tradition eines Otto Steinert – zeitweise auch eine Lehrtätigkeit ausgeübt hat. Zentraler Ort seines bildnerischen Schaffens war allerdings Berlin, wo in Kreuzberg nach und nach ein bestens aufgearbeitetes Archiv seiner Werke entstanden ist. Folkwang-Direktor Gorschlüter über den wertvollen Nachlass: „Wir übernehmen also keine Bananenkisten.“

Schon jetzt hat man im Depot eine spezielle Ebene vorbereitet, auf der das Archiv Platz finden wird. Das Schmidt-Konvolut kommt als Dauerleihgabe nach Essen – vorläufig bis zum 31. Dezember 2039, sodann mit Verlängerungs-Option bis 2045, wenn sich Michael Schmidts Geburtstag zum 100. Mal jährt. Auch danach sind Vertrags-Verlängerungen möglich. Zur Bedeutung des Werks nur diese Stichworte: Nach schwierigen Anfängen brachte es Michael Schmidt zu einer internationalen Fotokunst-Laufbahn, die bis hin zu einer großen Retrospektive im Museum of Modern Art (MoMa) in New York führte. Zu seinen bekanntesten Schülern gehört Andreas Gursky.

Kein Ankauf, sondern großzügige Dauerleihgabe

Wie Peter Gorschlüter erläuterte, handelt es sich nicht um einen Ankauf, sondern um eine großzügige Überlassung durch die „Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt“, eine Einrichtung des finanzkräftigen Sparkassen- und Giroverbandes. Mit der Übergabe ans Museum Folkwang gelangt der Nachlass in öffentliche Obhut. Weitere Vergünstigung: Das Copyright an den Fotografien geht für die Dauer der Leihgabe ans Essener Museum über, kann also womöglich lukrativ genutzt werden. Außerdem stellt die Stadt Essen in diesem und wohl auch im nächsten Jahr je rund 250000 Euro bereit, um die Übernahme zu begleiten.

Schmidts Nachlass umfasst u. a. 107 Ordner mit Negativen, etwa 2000 Prints mit Werkcharakter sowie rund 20000 Kontakt-, Arbeits- und Testabzüge. Hinzu kommen umfangreiche Fachbibliotheken. Künftig wird all das für Forschungsarbeiten an der Folkwang Universität der Künste zur Verfügung stehen. Gut denkbar, dass der Bestand eine Art Magnetwirkung ausüben und weitere Sammlungen nach sich ziehen wird.




Museum Folkwang: Auf ein Neues mit Kippenberger, Fotokunst, Tanzdynamik und Filmskizzen

Ausstellungs-Teilansicht von Martin Kippenbergers raumgreifender Installation „The Happy End of Franz Kafka’s Amerika“ (hier 2008/2009 im MOCA Grand Avenue – Courtesy of The Museum of Contemporary Art, Los Angeles / Foto: Brian Forrest)

Es hätte fürs Museum Folkwang alles so gut geraten können. Das Jahr 2020 ließ sich geradezu prächtig an. Museumsdirektor Peter Gorschlüter blickt etwas wehmütig auf diese Zeit zurück: Die publikumsträchtige Aktion des durchgehend freien Eintritts konnte verlängert werden, das Essener Haus wurde derweil zum „Museum des Jahres“ erkoren – und schließlich wuchsen die Chancen auf ein Bundesinstitut für Fotografie in der Revierstadt.

Seit Corona regiert das Prinzip Hoffnung

Doch dann kam Corona. Man musste ab 16. März schließen und konnte auch nach Wiedereröffnung im Mai bei weitem nicht an vorherige Besucherzahlen anknüpfen. Jetzt sind die Museen bekanntlich wieder zu und müssen sich ans Prinzip Hoffnung halten – oder soll man sagen: klammern? Gorschlüter betont, noch sei das Museum Folkwang in einigermaßen komfortabler Lage und er selbst guter Dinge. Er wisse aber, dass viele andere Museumsleute bereits zu kämpfen hätten.

So weit die getrübte Rückschau nebst Ausblick zwischen Hoffen und Bangen. Doch viel lieber ließen die Essener Museumsleute auf der heutigen Video-Jahrespressekonferenz wissen, was sie für 2021 vorhaben. Neben Gorschlüter stellten die Kurator(inn)en Tobias Burg (Grafische Sammlung), Anna Fricke (Zeitgenössische Kunst) und Thomas Seelig (Fotografische Sammlung) ihre Pläne vor. Tatsächlich versprechen erste Einblicke ein durchaus spannendes Programm.

Installation von der Größe eines Sportplatzes

Martin Kippenberger in seiner Kafka-Installation – im Museum Boijmans Van Beuningen, 1994 (© Cees Kuiper/Rotterdams Dagblad)

Schon der Auftakt hat es in sich: Martin Kippenberger (1953-1997), in Dortmund geborener und in Essen aufgewachsener Künstler von bleibender Bedeutung, wird in großem Stile präsentiert. Im Museum Folkwang wird seine ungeheuer raumgreifende Installation „The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika'“ zu sehen sein. Kippenbergers Werk von der Ausdehnung eines Sportplatzes bezieht sich aufs Schlusskapitel von Kafkas Roman „Der Verschollene/Amerika“. Natürlich handelt es sich nicht um bloßen Kafka-Nachvollzug, sondern um eine Adaption aus der ganz spezifischen Perspektive Kippenbergers, der in seine Installation etliche Werkelemente befreundeter Künstler(innen) sowie zahlreiche Fundstücke eingearbeitet hat. Die insgesamt 50 Ensembles aus Tischen und Stühlen dürften tatsächlich so etwas wie eine „kafkaeske“ Atmosphäre erzeugen. Imaginiert ist das Ganze als Raum für viele gleichzeitige „Einstellungsgespräche“. Es geht um die verstörende Erfahrung einzelner Menschen, die sich einer fremden Gesellschaft gegenübersehen. Aber bitte das Thema nicht bruchlos eins zu eins nehmen. Bei Kippenberger sind stets einige Doppelbödigkeiten, Denk- und Blick-Fallen zu gewärtigen.

Zeitgleich werden in der altehrwürdigen Bibliothek der Essener Villa Hügel die vor zuweilen frecher Schaffenslust geradezu sprühenden Künstlerbücher Kippenbergers gezeigt – welche Kontraste sind da zu erwarten! Im Obergeschoss, wo sich die gediegenen Wohnräume des Krupp-Palastes erstrecken, sollen ausgewählte Plakate Kippenbergers gleichfalls eine völlig gegenläufige Dimension eröffnen.

Beide Kippenberger-Präsentationen sollen am 7. Februar 2021 starten und bis 2. Mai dauern – ob und ab wann mit physisch anwesendem Publikum, steht noch dahin.

Zwei Generationen der Fotografie

Auch schon am 19. Februar wird eine Folkwang-Retrospektive zum Werk des Fotografen Timm Rautert (Jahrgang 1941) beginnen. Anhand von rund 350 Arbeiten soll das vielfältige Oeuvre des einstigen Schülers von Otto Steinert aufgeblättert werden. Ab 25. Juni schließt sich ein Überblick zum fotografischen Schaffen von Tobias Zielony (Jahrgang 1973) an, der einer ganz anderen Generation angehört und sich vor allem auf die Spuren neuerer Jugend(sub)kulturen geheftet hat.

Tobias Zielony: „Make Up“, 2017. Fotografie aus der Serie „Maskirovka“ (Pigmentdruck, 70 x 105 cm / Courtesy KOW, Berlin / © Tobias Zielony)

Grenzen der künstlerischen Disziplinen soll ab 13. August die Schau „Global Groove. Kunst, Tanz, Performance und Protest“ überschreiten. Im Fokus steht die tänzerische Bewegung als Triebkraft politischer, kultureller und lebensweltlicher Veränderungen. Zugleich wird die wechselvolle Kulturgeschichte der Kontakte zwischen fernöstlichen und westlichen Ausdrucksformen des Tanzes erzählt.

Was Fellini zu seinen Filmen zeichnete

Federico Fellini: „Die Marktfrauen auf Rädern“, um 1972 (Faserstift-Zeichnung zum Film „Amarcord“ – Sammlung Jakob und Philipp Keel / © VG Bild-Kunst, Bonn, 2020)

Bildende Kunst, Literatur (Kafka), Fotografie und Tanz hätten wir also schon beisammen. Was fehlt? Nun, zum Beispiel der Film. Auch hierzu gibt es ein interessantes, gattungsübergreifendes Projekt: „Federico Fellini. Von der Zeichnung zum Film“ (ab 12. November 2021) beleuchtet ein bislang wenig beachtetes Kapitel im Werk des ruhmreichen Regisseurs der Opulenz. Fellini hat zahllose Skizzen angefertigt, um sich Typen, Figuren, Kostümierungen und Szenarien seiner Lichtspiele besser vorstellen zu können. Gar manches diente als mehr oder weniger direkte Vorlage für die filmische Umsetzung. Etwa 150 Zeichnungen (dazu Standbilder und Filmausschnitte) aus den Jahren 1950 bis 1982 werden gezeigt, karikaturistischer Gestus und pralle Sinnlichkeit gehen dabei fruchtbare Verbindungen ein. Und was wird Fellini wohl bei seinen Frauendarstellungen besonders betont haben? Dreimal dürfen wir raten.

Museum Folkwang. Museumsplatz 1 in 45128 Essen.

www.museum-folkwang.de