Verzicht auf die Katastrophe: „Schwanensee“ am Essener Aalto-Theater

Mika Yoneyama (Odette) und Corps de ballet in „Schwanensee“. (Foto: Bettina Stöß)

Ben Van Cauwenbergh wirkt seit 2008 am Aalto-Theater, zunächst als Ballettdirektor, später als Ballettintendant. In dieser Zeit hat der in den siebziger und achtziger Jahren renommierte Tänzer als Choreograf das Essener Ballett als Stätte klassischer Tanzkunst bewahrt und zu einer festen Größe in der Beliebtheit des Publikums ausgebaut.

Van Cauwenbergh tat jedoch nichts, um den liebgewonnenen Geschmack seiner kulinarisch verwöhnten Anhänger herauszufordern. Allenfalls erlaubte er sich hin und wieder ein stärkeres Gewürz. Sein Essener Publikum ist bis heute beglückt; wer anderes im Sinne hat, fuhr und fährt eben nach Düsseldorf, zu Pina Bauschs Erben nach Wuppertal, zu Xin Peng Wang nach Dortmund oder zu Bernd Schindowski, Bridget Breiner und jetzt Giuseppe Spota nach Gelsenkirchen.

Gegen die Vielfalt von Stilen in einer dichten Tanzlandschaft ist ja auch nichts einzuwenden. Aber Van Cauwenbergh, verliebt in die immer wieder aufgewärmten „großen“ Stoffe, hat seine Affinität zum Handlungsballett nie genutzt, um einmal entlegenere Regionen zu betreten. Ihn interessiert durchaus – um einen Spruch von Pina Bausch zu paraphrasieren –, wie die Menschen sich bewegen, aber ob ihn auch interessiert, was sie bewegt, das darf man bei Stückauswahl und Choreographien durchaus fragen.

In der Petersburger Tradition

Yurie Matsuura, Yulia Tikka, Yusleimy Herrera León und Yuki Kishimoto (Vier kleine Schwäne) in „Schwanensee“ in Essen. (Foto: Bettina Stöß)

Unwidersprochen, dass ein Meisterwerk wie „Schwanensee“ zum Œuvre einer Tanzcompagnie vom Format Essens dazugehört. Van Cauwenbergh bezieht sich in seiner Choreographie auf die legendäre Petersburger Einstudierung durch Marius Petipa und Lew Iwanow von 1895 und bewegt sich damit in einer traditionellen Rezeptionslinie. Entsprechend sind die Szenen mit den Schwänen und die Nationaltänze ganz konventionell gestaltet und bedienen die Erwartungshaltung. Doch Ben Van Cauwenbergh lässt den Prinzen die Geschichte um die Schwäne, die verzauberte Odette und ihr dunkles Spiegelbild Odile träumen: Am Ende erwacht Siegfried und kann mit der zauberhaften Odette in eine heitere Zukunft aufbrechen.

Die Traum-Idee ist ein probates Mittel, um Libretti psychologisch glaubhafter zu machen, zumal wenn sie handlungslogisch nicht konsequent durchgestaltet sind. Aber das Vermeiden des tragischen Endes lässt den „Schwanensee“-Stoff allzusehr ins Märchenhaft-Episodische abgleiten. Trotz des beeindruckenden Kostüms von Dorin Gal für Rotbart, einer geheimnisvollen, düsteren Figur á la E.T.A. Hoffmann, bleibt er ein Kinderspiel-Bösewicht und hat nicht viel gemein mit der unheimlichen Eule, die in der Moskauer Uraufführung 1877 den bösen Geist charakterisiert hatte.

Bei der Wiederaufnahme des „Schwanensee“ am Aalto-Theater wurde deutlich, wie Dorin Gals liebevoll gestaltete Bühne mit ihren stimmungshaften Bildern Klischees des Romantischen bedient, die aber auch durch die Video-Überblendungen Valeria Lampadovas keine dechiffrierbare Tiefe, keine Meta-Ebene, keinen psychologischen Hinweiswert gewinnt. Es bleibt gut gemachte Kulisse. Van Cauwenberghs Truppe hat die Pandemiezeit ohne wesentliche Verluste im tänzerischen Niveau überstanden. Dass im einen oder anderen Bild ein Entree flüchtig ist oder synchrone Bewegungen nicht ganz präzise abschließen, sind nur kleine Randbemerkungen in einer ansonsten schlüssigen Textur. Vor allem in den „weißen“ Akten funktioniert der Reiz des Synchronen: die „kleinen Schwäne“ entzücken wie eh und je.

Elegante Kraft, fabelhafte Disziplin

Unbeschwert, in einer südlichen Landschaft mit einem freundlichen Seeufer, kommt die Geschichte um Prinz Siegfried in Gang. Zwei junge Leute vergnügen sich am Wasser. Bei Artem Sorochan fällt schon jetzt auf, wie schwerelos er springt. Seine Ballons federn, sein Timing gibt der Bewegung Kraft von innen heraus. Auch Siegfrieds Begleiter Benno ist von Davit Jeyranyan elegant verkörpert; sein Solo sagt etwas aus über ein fröhlich-leichtes Leben. Moisés León Noriega hat als Rotbart mit seinem schwarzen Federmantel einen imposanten Auftritt. Mika Yoneyama kann ihre aparten Figuren als Odette in spielerischer Selbstverständlichkeit präsentieren; ihr schwarzer Schwan offenbart die fabelhafte Disziplin, mit der sie den Spannungsbogen gerade in langsamen Abläufen hält. Wataru Shimizu und Adeline Pastor brillieren im Spanischen Tanz.

Moisés León Noriega als Rotbart. (Foto: Bettina Stöß)

Weniger funkelnd finden sich die Essener Philharmoniker in Tschaikowskys Partitur ein. Unter Wolfram Maria Märtig schmettert das Orchester zu häufig, treten die Bläser zu stark hervor. Die mangelnde Balance lässt die Musik diesseitig und geheimnislos wirken. Die rhythmisch zündenden Divertissements gelingen überzeugender als die dramatisch-elegischen Teile; sehr ansprechend allerdings sind die Soli der Oboe und der Violine (Daniel Bell).

So trägt die Musik dazu bei, dem untergründigen Ton im „Schwanensee“ die beklemmende Nachtseite der Romantik zu nehmen – eben jene Seite an Tschaikowsky, die das zeitgenössische Publikum verstörte, da sie die leichtfüßig-virtuose Ballettunterhaltung in ein ernsthaftes Drama verwandelte. Eine Entwicklung, die auch Van Cauwenberg mit seiner Lösung zurückdreht: Der mäßige Schauder des Traums ist rasch weggewischt, der Kampf um die im Programmheft unscharf beschriebenen „humanistischen“ Ideen wird von Siegfried nicht geführt und der tiefe, existenziell erschütternde Fall des Protagonisten, wie ihn die Musik suggeriert, bleibt aus. Statt E.T.A. Hoffmann grüßt Rosamunde Pilcher.

Das Aalto-Ballett zeigt derzeit ein für Essen neues, allerdings schon 1969 uraufgeführtes Handlungsballett von John Cranko: „Der Widerspenstigen Zähmung“ nach Shakespeares gleichnamiger Komödie. „Schwanensee“ wird im Dezember noch fünf Mal gegeben. Im Januar 2022 ist die Essener Compagnie damit ins Teatro de la Maestranza in Sevilla eingeladen ist. Nach „Romeo und Julia“ 2016 ist dies das zweite Gastspiel der Aalto-Compagnie in der spanischen Metropole.

Im Frühjahr 2022 kommt ein zweites Handlungsballett des 20. Jahrhunderts erstmals zur Aufführung im Aalto-Theater: Die Essener Ballettcompagnie präsentiert zu live gespielten Klavierstücken von Sergej Rachmaninow „Drei Schwestern“ des russischen Choreografen Valery Panov. Beteiligt an dieser spartenübergreifenden Produktion sind auch zwei Schauspieler, die Passagen aus Anton Tschechows Drama sprechen.

 




Vor dem Wechsel nach Wien: Letzte Aufführungen von Martin Schläpfers „Schwanensee“-Choreographie an der Rheinoper

Szene aus Schwanensee (Foto: Gert Weigelt/Rheinoper)

Die Geschichte ist märchenhaft, aber auch tragisch: Von einem Prinzen, der gegen alle Konventionen aufbegehrt und sich in ein Schwanenmädchen verliebt, das nicht von dieser Welt ist. Deswegen muss die Liebe scheitern. Das Besondere daran: Die Story wird nur durch Musik und Tanz erzählt, es braucht dazu keine Worte.

Das berühmteste Ballett überhaupt, Peter I. Tschaikowskys „Schwanensee“ wurde jetzt an der Deutschen Oper am Rhein wiederaufgenommen, ab 6. Dezember ist es nochmal am Theater Duisburg zu sehen. Choreografiert hat diesen Ballettabend b 36 Martin Schläpfer, seit zehn Jahren Ballettchef an der Rheinoper, nun aber auf dem Sprung an die Wiener Staatsoper, an die er zur Spielzeit 20/21 wechselt. Eine der letzten Gelegenheiten also, ein solch abendfüllendes Handlungsballett (Musikalische Leitung: Lukas Beikircher) in der typischen Schläpfer-Handschrift zu sehen.

Doch sein Zugriff ist modern: Mit weißen Tutus und niedlichen Schwanenmädchen hat Schläpfer nicht viel im Sinn. Ihn interessiert mehr die Psychologie der Figuren, im Zentrum steht dabei der Prinz und sein Konflikt mit seiner Mutter (Virginia Segarra Vidal tanzt sie herrlich streng, steif und staatstragend). In einer Art physischem Widerwillen zuckt Marcos Menha als Siegfried sogar vor ihren Berührungen zurück.

Klassenunterschiede nahezu aufgehoben

Auch die Klassenunterschiede zwischen dem feiernden Bauernvölkchen und dem höfischen Personal sind bei Schläpfer nahezu aufgehoben: Alle tanzen ausgelassen zusammen und abwechselnd, ihre Kostüme (Florian Etti) unterscheiden sich gar nicht so sehr voneinander. Aber der Prinz interessiert sich ohnehin nicht für die lustige Geburtstagsfeier zu seinen Ehren. Ihn zieht es hinaus in den Wald, den der Schweizer Schläpfer als eine einsame Bergwelt darstellt. Hier begegnet Siegfried zum ersten Mal den Schwänen, die durchaus Federn lassen, allerdings etwas dezenter als in sonstigen Schwanensee-Aufführungen. Trotzdem großartig, wie die Bewegungen der Tiere in die Sprache des Tanzes einfließen, wie ihr ganzes Flügelschlagen, Tauchen und Schwimmen hier zur Körperkunst wird.

Weitere Szene aus Schwanensee (Foto: Gert Weigelt/Rheinoper)

Ein Mädchen hat es ihm besonders angetan, Odette, von der er sofort verzaubert ist, die aber nicht bei ihm bleiben kann, weil sie nur nachts eine Frau ist, tagsüber schwimmt sie mit den anderen als Schwan auf dem See. Grazil, anmutig, entzückend und auch ein wenig traurig – so bezaubert Marlúcia do Amaral in ihrer Rolle. Die Pas de deux der beiden gehören zu den betörendsten Momenten dieses Abends, so innig und sehnsuchtsvoll, weil jeder weiß, bald müssen sie sich wieder trennen. Zumal Odettes Gegenspieler in der Welt des Mystischen, König Rotbart (Sonny Locsin) und die böse Stiefmutter (diabolisch Young Soon Hue) schon einen teuflischen Plan ausgeheckt haben: Auf die Verlobungsfeier des Prinzen, der auf keinen Fall eine der ihm dargebotenen Königstöchter heiraten will, jubeln sie ihm eine falsche Odette namens Odile (Camille Andriot) unter. Siegfried fällt auf den Betrug rein und die echte Odette kann folglich nicht erlöst werden, denn sie hat den wahrhaft treuen Prinzen nicht gefunden.

Einmal tanzen sie noch zusammen, die beiden verlorenen Königskinder, doch Odette wird schwächer und schwächer und lässt zum Schluss die Flügel hängen… Ein Happy End hat dieses Märchen nicht, aber es ist trotzdem zu schön, um wahr zu sein.

Termine in Duisburg: 6., 11. und 14.12.2019
Termine in Düsseldorf: 25.12.2019, 1.1. und 28.6.20

www.ballettamrhein.de