„Ich darf nichts vergessen“ – Wie Peter Kurzeck über sein Schreiben gesprochen hat

Welch eine unabweisbare Vorstellung: Auf einmal kommen alle auf einen zu, die man im Leben gekannt hat. Und das bedeutet dann wohl, ganz lakonisch gesprochen: „Du bist tot“. Es muss ja so kommen, denn: Nicht die Zeit vergeht, es sind wir, die vergehen.

Man ahnt es schon: Mit solchen Gedanken geht ein Schriftsteller aufs Große und Ganze. Doch dies in aller Bescheidenheit, ja Demut.

Peter Kurzeck beim Signieren nach einer Lesung, 2008 (Creative Commons - User "Dontworry" / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Peter Kurzeck beim Signieren nach einer Lesung, 2008 (Creative Commons – User „Dontworry“ / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Ich gebe es freimütig zu: Lange habe ich Peter Kurzeck (1943-2013) nicht so recht wahrgenommen, beinahe könnte man von Achtlosigkeit sprechen. Doch in den letzten Jahren bin ich nach und nach seiner Erzählweise verfallen. Kaum sonst jemand, dem man so ergeben lauschen könnte.

Dieses Lauschen ist vielfach wörtlich zu nehmen: Kurzeck hat der gesprochenen Literatur wieder zu ihrem ebenbürtigen Recht neben der geschriebenen Prosa verholfen, als wär’s eine Hinwendung zum historischen Anbeginn des Erzählens.

Und so ist jetzt aus seinem Nachlass eine weitere Hörbuch-CD erschienen, auf der er die Bedingungen und den Fortgang seines Schreibens einlässlich erläutert. Es ist an keiner Stelle langatmig, in keiner Sekunde eitle Selbstbespiegelung eines Literaten, sondern notwendige, höchst feinsinnige Reflexion des eigenen Tuns.

Die Aufnahme ist 2007 während eines Gesprächs mit dem Verleger Klaus Sander in einer Kölner Altbauwohnung entstanden. Der rund 70 Minuten lange Zusammenschnitt lässt ausschließlich Kurzeck zu Wort kommen. Er konzentriert sich vor allem auf seine ausgedehnten sommerlichen Aufenthalte im südfranzösischen Uzès. Hier genießt er die nicht rationierte, schier endlos scheinende Zeit. Das Schreiben formt alle Tage. Es ist in aller Stille wie ein fortwährendes Fest.

Fast scheint es, als habe Kurzeck selbst einen Proust noch hinter sich lassen wollen (wobei er niemals solche unsinnigen Ambitionen gehegt hätte): Inbrünstig erinnert er sich an einen Sommer im Wien des Jahres 1964. Acht Jahre lang, so versichert er, habe er sich daran abgearbeitet, einen ganz besonderen, insgeheim strahlenden Moment jenes Sommers in genau die richtigen Worte zu fassen. Damit er für immer besteht.

1971 stand Peter Kurzeck noch in deutschen Verwaltungsdiensten der US Army und beschloss beherzt, derlei vermeintlich sichere Jobs für alle kommenden Lebensjahre aufzugeben, um ausreichend Zeit zu haben für die Genauigkeit, die jeder Moment des Lebens erfordert, wenn man ihn gültig beschreiben will. Zeit will von Grund auf geschöpft sein. Und sie will zutiefst erfahren sein, ohne Ablenkung.

In Südfrankreich kommt tatsächlich das große Gefühl auf, dass die ganze Zeit ihm, dem Schreibenden, gehört. Er nimmt sich viele Stunden, um den Menschen beim täglichen Leben zuzusehen, was ja überhaupt eine der innigsten Aufgaben des Künstlers ist.

„Ich darf nichts vergessen“, lautet der Imperativ, den er an sich selbst richtet. Bloß keinen Einfall verlieren. Wer unter solchem Zugzwang steht, wird (so Kurzeck) entweder verrückt – oder er wird Schriftsteller. Und was für ein Glück: Im Schreiben ist immer „Jetzt“!

Der Autor kommt den Gründen seiner Verlustangst auf die Fährte. Schon als Dreijähriger habe er einen Weltverlust erlitten, als die Familie aus Westböhmen flüchten musste und nach Hessen kam. Umso dringlicher gilt es, alles zu bewahren, was geschehen ist und von nun an geschieht. Und wem erzählt er das? Zuallererst dem Kind, das er gewesen ist.

Obwohl das Cover der CD denkbar schriftlastig wirkt, reichen doch die bloßen Lettern nicht aus. Man muss den Tonfall und die (von mehreren Dialekten und dem Hochdeutschen beeinflusste) ganz eigene Satzmelodie hören, in der Peter Kurzeck sich hier äußert.

Cover des besprochenen Hörbuchs (@ supposé)

Cover des besprochenen Hörbuchs (@ supposé)

Ein langer, ruhiger Fluss, möchte man meinen. Doch Kurzeck berichtet auch aus seinen heftigen Trinkerjahren, als er zeitweise jeden Halt zu verlieren drohte.

Andererseits weiß er – ganz ohne vordergründig politische 68er-Anspielungen – noch in den unscheinbarsten Momenten das wunderbare, Freiheit verheißende Aufbruchgefühl der 60er Jahre aufzuspüren und zu schildern, das ihn etwa während einer Reise nach Paris erfasst hat. Wer nicht weiß, wie sich das damals angefühlt hat, sollte aufhorchen.

Es war Kurzeck darum zu tun, das Leben der anderen Menschen in der Normalität zu erfahren, so wie es beispielsweise ein Günter Grass in jenen Jahren längst nicht mehr gekonnt hat, weil alle in ihm den Repräsentanten (und später den Nobelpreisträger) gesehen und sich entsprechend verhalten hätten. Insofern ist es eben auch ein Vorzug, nicht allzu sehr beachtet zu werden.

Schreiben, das hieß für Kurzeck nicht zuletzt: „Aufpassen auf die Welt“. Das erinnert nicht nur vage an Kafkas berühmte Zeilen: „Einer muß wachen, heißt es. Einer muß da sein.“ Bei solchen Schreibenden wuchs und wächst das Rettende.

„Für immer. Peter Kurzeck erzählt sein Schreiben“. Hörbuch/Audio-CD, ca. 70 Minuten. Verlag supposé, ca. 18 Euro.




Leuchtende Hoffnungen der 60er Jahre – Peter Kurzecks Hörbuch „Unerwartet Marseille“

Es gab eine Zeit, in der die Welt von Tag zu Tag besser zu werden schien. Auch nach der Sommersonnenwende (21. Juni) soll damals die Helligkeit noch zugenommen haben. Wie denn das?

Wenn jemand damals einen Tramper mitnahm, so bedeutete das einfach: einsteigen, sein Leben mitbringen, sich freimütig austauschen. Es war der Vorschein des Jahres 1968, der da schon flirrte. In dieser Zeit vordem ungeahnter Freiheitsversprechen wollten die Jungen und Neugierigen, einmal aufgebrochen, immer und immer weiter fahren. Da konnte es geschehen, dass man auf einmal in Südfrankreich war, obwohl man doch am nächsten Tag wieder hätte arbeiten sollen: „Unerwartet Marseille“, so telegraphierte Peter Kurzeck damals seinem Arbeitgeber als „Entschuldigung“ – und wurde nicht entlassen. Ein paar Jahre später hat sich Kurzeck fürs Leben eines Schriftstellers entschieden. Auch davon weiß er mit großer Genauigkeit und ansteckender Begeisterung zu berichten.

Peter Kurzeck (Jahrgang 1943) zuzuhören, das ist eine Labsal. Wesentliche Teile seines Werks sind just mündliche Erzählungen – und von dort kommt ja letztlich alle Literatur her. 2007 kam seine weit ausgreifende, nicht genug zu preisende Kindheits-Geschichte heraus: „Ein Sommer, der bleibt“ (4 CDs, 290 Minuten, erschienen bei supposé, Berlin, 34,80 Euro), jene wunderbar detailreich gesponnene nordhessische Nahansicht der bundesdeutschen Nachkriegszeit aus der Perspektive eines kleinen Jungen und sodann Heranwachsenden. Man möchte sie geradezu trinken, all diese wahrhaftigen Augenblicke, die sich nie zur falschen Idylle verklären. Manches ist zum Flennen schön.

Jetzt also liegt Kurzecks neues Hörbuch vor: „Unerwartet Marseille“ (2 CDs, 123 Minuten, erschienen bei Stroemfeld, 19,80 Euro). Es ist die Aufzeichnung einer Live-Lesung an der Universität Siegen vom 25. Mai 2011. Da erstrahlen noch einmal die Hoffnungen, die viele junge Menschen vor und um 1968 nicht nur gehegt, sondern innigst gelebt haben. Taucht man ein in Kurzecks wunderbar ruhigen Erzählfluss, so möchte man weit, weit getragen werden – am liebsten bis an die Gestade gelungener Zukunft, an die Ufer der Utopie. Zitat: „Alles, was man sieht, fängt ein bisschen zu leuchten an.“

Der linke Großvater erzählt, zum soundsovielten Male? Oh nein, das ist es beleibe nicht. Kurzecks Mitteilungen aus der Vergangenheit sind bar jeder Ideologie, überhaupt frei von jeglicher Anmaßung. Weder geht es hier um Deutungshoheit, noch kann von Naivität die Rede sein. Längst Verwehtes wird getreulich im gesprochenen Wort bewahrt. Man könnte meinen, etwas vom Geist jener Zeit wehe auf einmal wieder hier und jetzt. Es muss da eine Substanz geben, die womöglich bleibend ist. Welch ein wertvoller Stoff!

Der Erzähler glitt im milden Dauerrausch durch Tage und durchwachte Nächte. Allfälliges Kiffen und Trinken „von Glas zu Glas“, an anderer Stelle als „konsequentes Trinken“ bezeichnet, grundieren die ungemein gelassene Wahrnehmung, für die sich alles im Fluss befindet. Vor allem im Sonnenlicht funkelnde Weiß- und Roséweine verschönen die ohnehin schon wunderbaren Tage.

Kurzeck hatte damals spürbar Lebenshunger, war stets begierig auf neue Gegenden und Menschen, sorglos unterwegs, für ein paar Jahre gleichsam „unsterblich“. Seine Reisewege führen z. B. nach Amsterdam, München, Venedig, Triest, Istrien, Wien, Schweden, ans Nordkap. Jede Stadt und Region hat zwar ihr eigenes Gepräge, doch überall gibt es den Hauch der neuen Hoffnung.

Schon 1964 fährt Kurzeck erstmals ins goldene Prag, wo viele Menschen bereits den Vorfrühling in Köpfen und Herzen tragen. Und dann erst 1968, dort! Da herrscht rundum das intensive Gefühl, dass die Welt besser wird, dass alles schlichtweg so sein soll und nicht anders… In diesem Klima ist der Erzähler immer wieder neu verliebt, denn siehe, auch die Frauen sind in jenen Tagen schöner denn je!

Wehmut und Wut darüber, wie dieses Wachsen der Utopie hernach zertreten und von Panzern überrollt wurde, werden insgeheim miterzählt, doch es überwiegt der Gestus des rettenden Festhaltens der federleichten Freiheit – für diese und für kommende Zeiten: Solche Tage waren einmal möglich. Warum soll es nicht einmal wieder so werden?