Eine Frau sucht Abstand von der Männerwelt – Ferdinand Bruckners „Marquise von O.“ nach Kleist

Von Bernd Berke

Bochum. Ein Puppenheim: In cremiges Harmonie-Licht getaucht und zwischendurch von einer Art Kaufhausmusik umspült, erhebt sich die luftige Stube in zwei Stockwerken. Oben, auf einer schrägen Scheibe, gibt’s eine Kuschelecke mit allerlei Stofftieren.

Es ist das Kleinmädchenzimmer, in das sich die früh verwitwete „Marquise von O.“ zurückgezogen hat, als wäre sie wieder Kind. Doch üble Welt dringt ins fragile Idyll ein.

Im Krieg durchziehende Soldaten haben sie vergewaltigen wollen, davor rettet sie ein Hauptmann. Doch dieser, von ihr ganz bezaubert, vergeht sich seinerseits an der Ohnmächtigen. Wenn er zum nächsten Schlachtfeld auf und davon ist, wird sie nicht wissen, wer sie geschwängert hat.

Ferdinand Bruckner (1891-1958) hat Heinrich von Kleists berühmten Erzählstoff 1932 dramatisiert und in die Zeit des napoleonischen Russland-Feldzuges von 1812 verlegt. Gar nicht expressionistisch aufgesteilt klingt der Text, sondern wie aus dem Geiste der Neuen Sachlichkeit geflossen.

Heimat findet hier niemand

In seiner Bochumer Inszenierung lauscht Ernst Stötzner den Dialogen staunenswert viele Nuancen ab. Nicht mit einem fertigen „Konzept“ nähert er sich der Vorlage, sondern Szene für Szene mit nicht ermattender Wachheit. Er gönnt sich enorm viel Zeit und erkundet das Stück drei Stunden lang. Auf schnelle Deutungs-„Klarheit“ kommt es ihm eben nicht an, gar manches erscheint so unübersichtlich wie das Dasein selbst.

„Home“ steht auf dem Vorhang. Heim also – oder auch „Heimat“, jenes deutsche Wort, für das es in keiner anderen Sprache eine genaue Entsprechung gibt. Doch Heimat findet hier keiner. Die Menschen wirken wie Versprengte. Man sieht also besagte Puppenstube (Bühnenbild: Petra Korink), die doch keine Schutzzone ist. Es ist, als wolle die Marquise (Dörte Lyssewski) in einer eigenen Zeit leben, getrennt von einer männlich dominierten Welt. Facettenreich ausgespielt wird vor allem die Beziehung zu ihrem Vater (Hans Diehl), der das „traute“ Heim als Keimzelle für Volk und Nation preist.

Die private Sphäre gerinnt zum Phantom. Der Vater hat das große Ganze im Sinn und wird dafür am Ende in den Krieg taumeln. Ein Gesellschafts-Huber, der das Glück seiner Tochter im Konfliktfalle opfern würde. Schon sein behütender Gestus am Anfang verbirgt kaum die inzestuösen Zugriffs-Wünsche. Wenn er seine Tochter tätschelt, ist es fast ein Tatschen. Die im bürgerlichen Alltag verhärmte, zuweilen in Rest-Lüsternheit erglühende Mutter (Margit Carstensen) flüchtet sich in die edlen Schlupfwinkel der Kultur, sie geigt Beethoven.

Einsamer Traum von einem anderen Leben

In diesem Umfeld das Recht auf ihr Kind gegen alle Welt für sich zu reklamieren, ist ein seelischer Kraftakt, den Dörte Lyssewski in schmerzlichen Windungen beglaubigt (wobei Lukas Gregorowicz als Hauptmann oft nur Stichwortgeber bleibt). Die Marquise vollbringt, ihrer selbst endlich bewusst, noch eine Anstrengung: Obgleich sie eine vage innere Liebes-Vision vom Hauptmann hegt, weist sie ihn doch (anders als bei Kleist) am Ende unversöhnlich ab. Er gehöre aufs Pferd und ins Feld.

Sie aber ist unterwegs zum Freiheitstraum, der eine andere (Männer)-Welt jenseits des Heldentums (Hauptmann) und grotesker Biederkeit (ihr Sandkastenfreund, karikierend gespielt von Martin Horn) einschließt und vorerst nicht eingelöst werden kann.

Clowns geistern über die Bühne, es rieselt Theaterschnee. Der Zeichen sind viele, der Hoffnungen wenige. Am Schluss ist die Marquise als schwarze Welten-Witwe vollends zur Einsamkeit befreit; allen entkommen, allen entglitten. Man fragt sich ratlos, was sie nun beginnen soll…

Nächste Termine: 15., 24. Nov. Karten: 0234/3333-111.




Im Fegefeuer der Intrigen – Matthias Hartmanns Bochumer Triumph mit der Schiller-Rarität „Der Parasit“

Von Bernd Berke

Bochum. Hand aufs Herz: Wer kennt Friedrich Schillers „Der Parasit“? Nein, nein. Keine Ballade ist’s, sondern ein richtiges Theaterstück. Und doch taucht es noch nicht mal im zweibändigen Hensel-Schauspielführer („Spielplan“) auf, der sonst fast immer Rat weiß. Es ist eine Rarität, die Bochums Intendant Matthias Hartmann zum Bühnenleben erweckt. Und zwar fulminant!

Die „Quote“ durfte man schon damals nicht ganz außer Acht lassen: Auf der Suche nach einer Komödie mit Kassen-Chancen stieß Schiller anno 1803 auf den Stoff des Franzosen Louis Benoît Picard. Er übertrug dessen Text, verwandelte die Verse in flüssige Prosa, verschob inhaltliche Akzente – und fertig war ein funkelndes, effektvoll gebautes Konversationsstück, bei dem man nie und nimmer an den sonst so ernsten Schiller denkt. Eine Gelegenheitsarbeit, kein Hauptwerk. In Bochum erweist sich freilich, dass darin eine Menge steckt.

Ein Mitläufer aller Systeme

Hartmann verlegt die Karriere-Intrigen im Dunstkreis eines Ministeriums in die Angestellten-Welt. Vor ehedem vielleicht gediegener, nun aber etwas verschlissen wirkender Kulisse (unmodische Wandfarben, verstaubter Gummibaum, schäbige Plastik-Planen / Bühnenbild: Petra Korink) betreibt jener „Parasit“ namens Selicour (einfach wunderbar präsent: Michael Maertens) seine Ränkespiele, um endlich Gesandter zu werden. Als erotische Zusatz-Trophäe lockt Charlotte (Lena Schwarz), 17jährigesTöchterlein des neuen Ministers Narbonne (Felix Vörtler).

Eminent komisch ist’s, wie dieser Selicour mit tausend Wort-, Bein- und Körper-Verdrehungen es eilfertig jedem recht machen will; wie er, wachsam in jeder Sekunde, dem Minister schmeichelt und dessen Mutter (Veronika Bayer) becirct, die darob ganz lüstern wird. Wie er jede Schwäche anderer für sich münzt, nach oben buckelt und nach unten keilt. Schon dem verwerflichen Vorgänger hat Selicour, Mitläufer (und Motor) jedes Systems, gedient. Nun schmäht er ihn. Er war ja schon immer dagegen.

Dieser Kerl ist so verflucht geschickt

Dieser Kerl ist so verflucht geschickt, dass selbst seine Gegner wankend werden. La Roche (Thomas Büchel), den Selicour kurzerhand entlassen hat und der aus Rachedurst eine Gegen-Intrige ins Werk setzen will, wird nach allen Regeln der Kunst umgarnt, als er sich beim Minister beschwert. Selicour bedient sich zudem virtuos der Fähigkeiten anderer: Dem redlichen Beamten Firmin (Ralf Dittrich) luchst er ein kluges Dossier ab, von dessen in Charlotte verliebtem Sohn Karl (Manuel Bürgin) erhält er glühende Gedichte.

Herrlich, wie Hartmann und die Darsteller den typenkomödiantisch zugespitzten Charakteren flackernde Doppeldeutigkeit ablauschen. Minister Narbonne (gestisch zwischen dem Komiker Heinz Erhardt und dem CSU-Altvorderen Franz Josef Strauß angesiedelt), hat zwar etwas Salomonisches, bei Konflikten will er stets beide Seiten hören. Doch lässt der Schelm nicht die Gegner wie Gladiatoren gegeneinander antreten?

Sogar mit Selicour, so wie Maertens ihn anlegt, kann man Mitleid haben. Aus kleinen Verhältnissen stammend, will er halt hinauf. Verzweifelt strampelt er sich ab bis zur Erschöpfung, schmort selbst gehörig im Fegefeuer seiner Intrigen. Als sich Erfolge (trügerisch) abzeichnen, kann er es nicht recht fassen, geschweige denn genießen. Wäre Selicours Seelendrang nur etwas anders gelagert, so taugte er zum guten Menschen, denn er kann sich doch so gut in alle hineinversetzen…

Drei Lösungen für das Lustspiel

Bis dahin war’s schon köstlich, man hat sich im Voraus auf jede Szene diebisch gefreut. Doch der Geniestreich folgt erst noch: Im Schnellgang spielt Hartmann drei Lösungen des Lustspiels durch – und alle scheinen irgendwie höllisch plausibel. Einmal obsiegt (der Vorlage gemäß) der seriös-zurückhaltende Firmin, dann zieht mit La Roche der nächste Opportunist seine Schleimspur, schließlich triumphiert Selicour.

Nicht etwa mutwillig aufgepfropft sind diese Varianten. sondern unmittelbar aus vorherigen Kernsätzen des Stückes geronnen. So wird’s unversehens ein ganz heutiges Drama: der Text als Spielmaterial wechselnder, einander überlagernder Bedeutungen.

Stehende Ovationen für alle Mitwirkenden. Bochum ist wieder eine zentrale Pilgerstätte des deutschen Theaters!