Philip Roth „Die Demütigung“ – Macht des Schicksals

Plötzlich ist der Schauspieler Simon Axler erloschen. Einfach aus und vorbei. Er kann nicht mehr spielen. Weder „Macbeth“ noch sonst etwas. In Film und Theater hat der bisher so begnadete Koloss das Publikum verzaubert. Jetzt macht er sich auf der Bühne nur noch lächerlich, verfällt in Depression, hegt Selbstmordgedanken, begibt sich mit letzter Anstrengung in eine Psychoklinik.

Die Insassen der Anstalt reden derart überbietend vom Freitod, als sei’s ein Sport. Und dort klammert sich zerbrechliche, zerbrochene Sybil an ihn. Sie hat ihren mächtig reichen Mann beim Inzest mit der 8-jährigen Tochter überrascht und ist seither vollkommen aus Zeit und Sinn gefallen. Flehentlich bittet sie Axler, ihren Mann für sie umzubringen. Das lehnt er ab, eher aus Kraftlosigkeit denn aus Überzeugung.

Nach der Entlassung aus der Klinik vergisst er Sybil beinahe. Fühllos ermattet lebt er fortan vor sich hin, bestenfalls dumpf ruhig gestellt. Niemand kann ihn umstimmen. Er legt es sich so zurecht: Erst ist das Talent gekommen, dann ist es eben über Nacht geschwunden. Launen des Schicksals. Widerstand zwecklos.

So verhängnisvoll geht es in „Die Demütigung“ (Originaltitel „The Humbling“) zu, dem neuen Roman von Philip Roth. Es handelt sich um den zweiten einer auf fünf Kurzromane angelegten Reihe, die mit „Empörung“ begonnen hat.

Explizit lässt Philip Roth diesmal die klassischen Tragödien des Theaters anklingen, „die ewigen Themen der dramatischen Literatur (…): Inzest, Verrat, Unrecht, Grausamkeit, Rache, Eifersucht, Rivalität, Verlangen, Verlust, Entehrung, Trauer.“ Das Arsenal dürfte fürs Erste reichen.

Partikel all dieser Themen rührt Roth in seinen kurzen Roman ein, sie drohen die begrenzte Form schier zu sprengen. Abgründig böse Kräfte scheinen hier am Werk zu sein und die Menschen ins Verderben zu ziehen. Gibt es denn keine heilsamen Gegenkräfte? Kann ein Mensch nicht sein Leben ändern, ihm eine andere Richtung geben, es „umbauen“? Oder muss er die Demütigung hinnehmen, vom Schicksal abhängig zu sein?

Wie in einem Laborversuch ordnet Roth Elemente einer möglichen Rettung an. Doch das alles erweist sich zusehends als bloßes Konstrukt, das irgendwann in sich zusammenstürzen muss.

Simon Axler lernt eine Frau kennen, die sich ihm aufdrängt. Nicht irgend eine. Er hat diese Pegeen schon als Baby in der Wiege gesehen, als er mit ihren Eltern frühe Schauspiel-Projekte betrieb. Sie ist „eigentlich“ lesbisch, hat mit einer Frau geradezu in Symbiose gelebt – bis die sich entschlossen hat, zum Mann zu werden. Eine radikale „Daseins-Korrektur“. Die bitter enttäuschte Pegeen will jetzt ihr Leben ebenfalls grundlegend umgestalten. Ihr Entschluss, nunmehr heterosexuell zu werden, erscheint willkürlich.

Jedenfalls zieht Pegeen (40) als Geliebte zu Axler (65) – und der blüht endlich auf, schenkt ihr haufenweise teure Kleider und Schuhe, modelt die vordem struppig-burschikose Anorakträgerin zum Luxusweibchen für Männerphantasien um. Sie lässt es sich offenbar gern gefallen.

Nur die lesbische Dekanin, an deren Uni Pegeen arbeitet, hört nicht mit eifersüchtigen Nachstellungen auf – und verrät Pegeens Eltern, mit wem ihre Tochter es treibt. Peinliche Einmischung seiner einstigen Freunde ist die Folge. Schlimmer noch: Für elterliche Bedenken scheint Pegeen empfänglich zu sein. Gift des Misstrauens sickert in die Beziehung. Zwischendurch hat sich ein anderes Verhängnis vollendet: Jene Sybil hat ihren Mann eigenhändig umgebracht.

In solcher Gemengelage ergibt sich reichlich Gelegenheit, kontroverse Positionen in Dialogen auszutragen. Philip Roth nutzt dies weidlich. Das Hin und Wider wirkt zuweilen wie einem Baukasten der Argumente entnommen. Fertigteile der Auseinandersetzung, Präparate wie für einen (freilich avancierten) Debattierclub. Was einem sonst bei Roth-Lektüren nur höchst selten widerfährt: Stellenweise kommt es einem vor, als dürfe man ganze Abschnitte auslassen, ohne Wesentliches zu versäumen.

Sexuelle Saftigkeit macht derlei Schwächen kaum wett. Axler und Pegeen beziehen Frauen in ihre wilden Spiele mit ein. Darauf folgt noch so ein willkürlicher Umschwung: Pegeen will ein Kind haben. Als auch der zunächst skeptische Axler sich in diesen Wunsch hineinsteigert, verlässt sie ihn. Einfach so. Grausam unerklärlich. Wozu wird Axlers restlicher Mut noch reichen?

Philip Roth: „Die Demütigung“. Roman. Hanser Verlag. 138 Seiten. 15,90 Euro.




Triebstau und Freiheitsdurst – der Roman „Empörung“ von Philip Roth

Das ist das Wunderbare an Literatur: Dass sie einen in alle Zeiten und Rollen eintauchen lässt. Wollte man nicht immer schon mal wissen, was ein US-Student 1951 (zur Zeit des Koreakrieges) so getrieben und wie er sich dabei gefühlt hat? Bitte sehr: Der famose Philip Roth lädt in seinem Roman „Empörung” unsere Phantasie mit solchen Erlebnissen auf.

Der Student heißt Marcus Messner, ist Sohn eines jüdisches (koscheren) Metzgers in New Jersey und weiß auch anschaulich von diesem blutigen Metier zu berichten, weil er seinem Vater einige Zeit im Geschäft geholfen hat.

Nun aber besucht Marcus das College – und wird seines Erzeugers nicht mehr froh. Denn der macht sich auf einmal derart viele Sorgen um seinen Sohn, dass er ihm nachspioniert und ihn am liebsten vor aller bedrohlichen Welt wegsperren würde. Bisher konnte man vernünftig mit dem Manne reden, doch nun? Es ist fürchterlich. Auch die Mutter leidet sehr.

Marcus zieht die Konsequenz und schreibt sich an einem anderen, weit vom Elternhaus entfernten College ein. Dort erlebt er nun diverse Reifeprüfungen des Lebens – keineswegs nur geistige.

Da ist vor allem die bezaubernde Olivia Hutton, die es ihm gleich beim ersten Date oral besorgt – und das in jenen prüden Zeiten, die sonst meist nur den sexuellen Triebstau kennen. Wow! Er kann’s kaum glauben, dass ihm so viel Gutes widerfährt.

Doch aus der unverhofften Fleischeslust erwachsen Sorgen. Olivia erweist sich als Problemfrau sondergleichen. Mit ihren nicht einmal 20 Jahren ist sie schon Alkoholikerin und hat einen Selbstmordversuch hinter sich. Außerdem sind Marcus‘ Zimmergenossen auf dem Campus unerträgliche Stinkstiefel, so dass er mehrmals umzieht – bis es dem Dean (etwa: Dekan) zu bunt wird. Er bittet Marcus zur hochnotpeinlichen Aussprache übers Sozialverhalten (Vorwurf: ständige Flucht vor unangenehmer Realität). Dabei steigert sich der eloquente, eigensinnige Student aus lauter Freiheitsdurst in eine Empörung hinein, ja er redet sich wohl schier um Kopf und Kragen . . .

Wenn man das alles mit fliegendem Atem liest, möchte man meinen, es mit dem Buch eines ganz jungen Autors zu tun zu haben, der aus unmittelbar praller Erfahrung berichtet. Frisch und frech klingt alles hier. Philip Roth ist 1933 geboren, er kannte also die Zeit um 1951 als ganz junger Mann. Und sie ist ihm offenbar sprühend lebendig geblieben. Staunenswert.

Marcus und viele seiner Altersgenossen fühlen sich allseits gefesselt – von starren gesellschaftlichen Konventionen, religiösen und familiären Rücksichten. Da droht sich etwas gewaltsam zu entladen. Doch die Revolten der 60er Jahre sind noch weit entfernt. Jungspunde, die nicht spuren und über die Stränge schlagen, werden um 1951 kurzerhand in den schrecklichen Kriegseinsatz nach Korea geschickt. Dieses mögliche Verhängnis schwebt jedenfalls als vage, düstere Verheißung über dem gesamten Geschehen dieses Romans und färbt insgeheim jede Handlung ein.

Philip Roth lässt den Leser nicht nur schwelgen und bangen, sondern gibt dem Buch gegen Schluss eine ungeahnte Wende, die alles Vorherige in ein anderes Licht stellt. Viel mehr wollen wir hier nicht verraten, sonst würde der Kunstgriff des Romanciers an Wirkung einbüßen. Nur so viel: Schmerzlinderndes Morphium ist im Spiel. Doch es gibt Schmerzen, die letztlich niemals aufhören . . .

Philip Roth: „Empörung”. Roman. 201 Seiten. Hanser Verlag. 17,90 Euro.




Später Abschied von der Lebenslüge: Kinofilm „Der menschliche Makel“ nach Philip Roth – mit Anthony Hopkins

Von Bernd Berke

Die Besetzung deutet auf ein Premium-Produkt hin: Anthony Hopkins, Nicole Kidman, Ed Harris. Für die Vorlage gilt das gleiche: „Der menschliche Makel“ stammt als Roman von Philip Roth, dem seit vielen Jahren nobelpreisverdächtigen US-Schriftsteller.

Roth muss dem Filmregisseur Robert Benton (Klassiker: Scheidungsdrama „Kramer gegen Kramer“) ziemlich freie Hand gelassen haben. Ganze Stränge des Buches sind gerafft. Dennoch wirkt die Geschichte erstaunlich schlüssig. Schon zum Vorspann sieht man einen Autounfall auf eisglatter Straße. Am Ende wird der Film in aller Dringlichkeit darauf zurückkommen. Schicksalhaft schließt sich der Kreis eines Lebens.

Ostküsten-Professor stürzt über ein einziges Wort

Bis dahin wird erzählt vom aufhaltsamen Niedergang des Ostküsten-Professors Coleman Silk (kluge Halbdistanz zu seiner Rolle: Hopkins), der über ein einziges wehes Wort stürzt. Zwei seit Wochen abwesende Studenten nennt er im Seminar ironisch „spooks“. Im Buch kapitulierte der deutsche Übersetzer vor dem doppelsinnigen Ausdruck und behalf sich mit einem Extra-Vorwort. „Spooks“ bezeichnet allgemein etwas Geisterhaftes, stand aber in unseligen Zeiten auch für Menschen schwarzer Hautfarbe – etwa im Sinne von „lichtscheue, dunkle Gestalten“.

Diese kaum noch gültige Nebenbedeutung wird dem Professor zum Verhängnis. Uni-Gremien denunzieren den liberalen Mann als Rassisten. Sie statuieren ein Exempel politischer Korrektheif, während US-Präsident Bill Clinton wegen der Lewinsky-Affäre in Verruf gerät. Niemand entkommt dem Gesellschafts-Klima. Vor Aufregung stirbt Silks Frau, als sie von dem Vorfall hört. Ihr Tod wirft den Professor vollends aus der Bahn. Später begibt er sich in eine haltlose, jedoch auch anrührende und vitalisierende Affäre mit der jungen Putzfrau Faunia (nach Lars von Triers „Dogville“ abermals eine glamourfreie Nicole Kidman). Und Silk vertraut sich dem Autor Nathan Zuckerman (Gary Sinise) an, der seine Lebensgeschichte aufschreiben soll. Zwischen beiden wächst eine mild melancholisch getönte Freundschaft.

Was nie mehr ganz zu tilgen ist

Letztlich aber muss Coleman Silk sich selbst erkennen, er darf dies keinem anderen überlassen. Reinen Tisch machen, bevor der Tod naht. Allmählich enthüllt er seine Lebenslage: Silk, hellhäutiger Sohn schwarzer Eltern, hat sich eine falsche jüdische Biographie zugelegt. Rückblenden in die späten, jazzig swingenden 1940er Jahre führen zu den Gründen: Eine große Liebe scheiterte damals an den Rassenschranken, als das strohblonde Mädchen seine Eltern kennen lernte. Wer wollte da Silks Identitäts-Wechsel verurteilen? Doch eine solche Entscheidung zieht eben einen „Makel“ der Unaufrichtigkeit nach sich, der nie mehr ganz zu tilgen ist.

Moral ist eben nicht messbar

Das wort- und themensatte Kino-Kammerspiel zehrt von starken Darstellern. Man blickt in seelische Schluchten und mag keine Figur verdammen. Diskrete Botschaft: Moral ist eben nicht messbar, und ein selbstgerechtes Tribunal reicht schon gar nicht an ein widersprüchliches Menschenleben heran.

Nicole Kidman ist die illusionslose, vogelfreie, ruppige, verzweifelte, lüsterne Faunia, deren Kinder vor Jahren bei einem Brand umgekommen sind und die immer noch von ihrem Ex-Mann (lakonisch, funkelnd mehrdeutig: Ed Harris) bedrängt wird, einem eisig einsamen Vietnam-Veteran. Dieser Verfinsterte setzt auch ihrem Lover Silk zu, der sich als alternder „Achilles auf Viagra“ bezeichnet und die wohl letzte Bettgeschichte im Spätherbst seines Lebens genießen will. Endlich mal etwas tun, ohne zu grübeln.




Zerstörte Sehnsucht nach dem ruhigen Leben – „Amerikanisches Idyll“ von Philip Roth

Von Bernd Berke

Seymour Levov, Sohn jüdischer Einwanderer in New Jersey, wird wegen seiner blonden Haare von allen Leuten nur „der Schwede“ genannt. Er brilliert als Baseball- und Basketball-Crack, wird Ausbilder bei den US-Marines, übernimmt die Handschuh-Fabrik seines Vaters und heiratet eine Schönheitskönigin.

Ein fast schon zu idealtypisches amerikanisches Leben. US-Autor Philip Roth, seit Jahr und Tag für den Nobelpreis im Gespräch, beleuchtet das Phänomen dieses überangepaßten Menschen, der niemals unangenehm auffallen will, in seinem weit ausgreifenden Roman „Amerikanisches Idyll“.

Im Frühjahr hat Roth dafür den Pulitzerpreis bekommen. Schon jetzt liegt das Buch in der schnellen, aber keineswegs schludrigen Übersetzung von Werner Schmitz vor. Leicht kann dessen Aufgabe nicht gewesen sein. Denn der Autor nähert sich, nach einer anfänglichen Baseball-Studie, nicht ohne Umschweife dem eigentlichen Thema. Etwas umständlich wägt er z. B. die Frage, ob ein Roman überhaupt der Wahrheit eines Menschen wie Levov beikommen könne. Manch ein Satz windet sich in dieser Phase über viele, viele Zeilen.

Wenn man diese Barrieren überwunden hat, so wird man freilich mit einer faszinierenden Geschichte belohnt: Als habe er seine anfänglichen Bedenken abgestreift, beginnt Roth nun wirklich zu erzählen. Und wie!

Wenn er etwa die quälenden Gespräche des liberalen Levov mit seiner 10jährigen, sich zunehmend linksradikal gebärdenden Tochter Merry wiedergibt, hält man mitunter den Atem an. Hat man je eine dichtere Fallstudie des Generationenkonflikts im weltweit rebellischen Jahr 1968 gelesen? Merry ist es, die das sorgsam ausbalancierte Leben, das amerikanische Idyll ihres Vaters ins Chaos stüizt. Sie knüpft Kontakte zur Terrorgruppe „The Weathermen“ und zündet aus wahnwitzigem Protest gegen den Vietnamkrieg eine Bombe vor dem Dorfladen. Ein Zufalls-Passant stirbt. Merry taucht in den Untergrund ab, wo sie weitere Menschenleben auslöscht.

Wie fühlt sich der Vater einer Terroristin?

Es ist der fürchterliche Bruch in der bisher so erfolgreichen Assimilierungs-Geschichte der jüdischen Familie. Bisher allseits bewundert („Er ist unser Kennedy“), kann Seymour Levov an sich selbst nur noch als Vater einer Mörderin denken. Wie besessen verfolgt er die Lebensgeschichte seiner Tochter bis zu den frühesten Anfangen zurück und zermartert sich das Hirn: Was habe ich falsch gemacht? Und nun bröckelt Levovs ganzes, bisher so intaktes Weltbild dahin. Verlust des Urvertrauens in den American Way of Life, zumal in diesen Jahren der Watergate-Skandal auffliegt.

Rückblenden in die 40er und 50er Jahre beschwören „bessere Zeiten“ herauf: Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Weltkrieg, Blüte des stolzen Handschuh-Gewerbes. Passagenweise gerät der Roman fast zum Lehrbuch dieses Metiers, wie er denn überhaupt manchmal selig in Details schwelgt. Roth gelingt die Gratwanderung: Er weckt Verständnis für Levovs Sehnsucht nach dem normalen, unaufgeregten Leben – und zeigt doch die schreienden Widersprüche zum Elend der Welt.

In allen Nuancen schildert Roth, wie Eltern sich fühlen müssen, wenn ihr Kind als Terroristin gejagt wird. Der Roman zeichnet in oft grandioser Manier die Spuren geschichtlicher Wirren im Leben einzelner Menschen nach, und er reicht auch ins Existentielle. Roth läßt uns zweifeln, ob vor manchen Tatsachen nicht jede Phantasie kapitulieren muß. Und er wirft die Sinnfrage auf, ob das Leben überhaupt „planbar“ ist, oder ob nicht schon ein kleiner Zufall den Zerfall herbeiführen kann.

Philip Roth: „Amerikanisches Idyll“. Roman. Hanser Verlag, München. 463 Seiten. 45 DM.