Formstrenge hüben wie drüben: Pierre-Laurent Aimard verschränkt in Dortmund Musik von Kurtág und Bach

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard hat mit vielen Komponisten unserer Zeit eng zusammengearbeitet. (Foto: Marco Borggreve)

Pierre-Laurent Aimard ist ein großer Meister darin, bekannte Musik in neuem Licht erscheinen zu lassen. Unvergessen ist sein Klavierabend im Liszt-Jahr 2011, bei dem er eine frische Sicht auf die grandiose h-Moll-Sonate des Komponisten ermöglichte.

Indem er sie in den Kontext der „Schwarzen Messe“ von Alexander Skrjabin und der Klaviersonate Opus 1 von Alban Berg stellte, schenkte er dem viel geschundenen Stück seine eminente Bedeutung auf dem Weg zur musikalischen Moderne zurück.

Wie viel Gedankenarbeit der Franzose in seine Programme steckt, war jetzt auch bei der Kurtág-Zeitinsel im Konzerthaus Dortmund zu erleben. Kurze Klavierstücke des Ungarn, entnommen der noch immer anwachsenden Sammlung „Játékok“ (Spiele), verschränkte er mit Musik von Johann Sebastian Bach, vornehmlich mit den Präludien und Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“.

Pierre-Laurent Aimard wurde 2007 mit dem renommierten Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet. (Foto: Marco Borggreve)

Diese Idee ist zwar nicht gänzlich neu: Bereits auf einer 1997 erschienen CD kombinierten Kurtág und seine Frau Márta vierhändige „Játékok“-Stücke mit Bach-Transkriptionen. Gleichwohl verrät die von Aimard getroffene Werkauswahl unendlich viel Sorgfalt. Denn wie sich Spielfreude und Formstrenge bei beiden Komponisten vereinen, zeigt sich oftmals in den Übergängen. Kurtágs Klavierstück für Dóra Antals Geburtstag schließt so passgenau an Bachs leuchtende Fuge Nr. 17 As-Dur (BWV 862) an, als handle es sich um ein zeitgenössisches Echo.

Bei Aimard reiht sich ein erhellender Augenblick an den nächsten. Wenn Bach in Präludium und Fuge Nr. 16 g-moll (BWV 861) mit allmählich schneller werdenden Trillern experimentiert, folgt gleich darauf eine Kurtág-Miniatur, die vom Wechselspiel zwischen zwei Noten lebt. Die gläsernen Spieluhr-Klänge des Präludiums Nr. 23 H-Dur (BWV 868) finden in Kurtágs „Spiel mit dem Unendlichen“ eine direkte Entsprechung.

Wer den Konzeptkonzerten von Pierre-Laurent Aimard folgt, gerät unweigerlich ins Nachdenken. Warum sind die meisten von uns bereit, einer mit mathematischer Akribie konstruierten Bach-Fuge zu folgen, während wir gegen zeitgenössische Musik nur allzu leicht den Vorwurf erheben, sie klinge verkopft und wie auf dem Reißbrett entworfen? Weckt ein komplizierter Kontrapunkt aus Bachs „Kunst der Fuge“ wirklich mehr Emotionen als Kurtágs vielfarbig oszillierendes Stück „In memoriam András Myhály“?

Der Höhepunkt ist erreicht, wenn Aimard das Stück „In memoriam György Szoltsányi“ beinahe ohne Pause in die Fuge Nr. 12 f-moll (BWV 857) übergehen lässt. Man möchte sich die Ohren reiben: Haben die Töne, die der Pianist mit der linken Hand spielt, überhaupt noch einen harmonischen Bezug? Ist das jetzt noch Kurtág oder doch schon Bach? Erst als die Nebenstimmen hinzukommen, erkennen wir den Thomaskantor wieder.

Von Aimards unbedingtem Ausdruckswillen, der zuweilen auch heftiges Schnaufen und Brummen zur Folge hat, von seiner Konzentrationsfähigkeit und vom wunderbaren Farbenreichtum seines Spiels war bis hierher noch nicht einmal die Rede. Indessen ist dies auch als Kompliment zu verstehen. Aimards sensationell kluge Programme lassen alles pianistische Handwerk in den Hintergrund treten.




Pierre-Laurent Aimard verortet György Ligetis Klavieretüden in ihrem historischen Kontext

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard in tiefer Versenkung und höchster Konzentration am Klavier. Foto: Mohn/KFR

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard in tiefer Versenkung und höchster Konzentration am Klavier. Foto: Mohn/KFR

Er zählt zu den Intellektuellen unter den Pianisten. Zu denen, die sich erst einmal Gedanken über die Programmgestaltung machen, bevor ein Konzert beginnt. Um dann zwischen einzelnen Werken sinnfällige Beziehungen aufzuzeigen, zu verdeutlichen, dass Komponisten nicht im luftleeren Raum agieren, sondern stets in die Musikgeschichte eingebunden sind.

Von Pierre-Laurent Aimard ist hier die Rede, dessen analytischer Zugriff – als Interpret und indirekt ja auch als des Publikums Lehrer – uns Anregungen, zudem ästhetische Sinneserweiterung schenkt. Das hat er nun beim Klavier-Festival Ruhr erneut aufs Schönste bewiesen. Ihm zu folgen, staunend, anerkennend und mitdenkend, bedeutet Genuss und Herausforderung zugleich. Und am Ende eines solchen Konzeptkonzertes applaudiert das Publikum sowohl für Aimards nie zur Schau gestellte Virtuosität als auch, diesen Abend im Essener Haus Fuhr, für die Erkenntnis, dass Neue Musik mitreißend und sinnlich sein kann.

Der französische Pianist verknüpft zwei Stränge, die das Festival in diesem Jahr als Schwerpunkte ausgegeben hat. Vieles dreht sich dabei um das Thema Etüden, manches um den Ungarn György Ligeti. Der gilt, in Nachfolge Bartóks, gewiss als bedeutendster Komponist seines Landes im 20. Jahrhundert. Und schrieb zwischen 1985 und 2001 ein Konvolut von 18 Klavieretüden. Eine rhythmisch vertrackte, fingerakrobatische, teils klanglich aufreizende Musik, die sich so wahnwitzig wie vermeintlich unspielbar anhört. Dann müssen zehn Finger raschest quirlige Figurationen die Tastatur rauf und runter treiben, und dabei noch die Illusion ungleicher Geschwindigkeiten wecken.

Pierre-Laurent Aimard: ein kluger Kopf, der die musikalische Moderne geschickt in die Historie einbettet. Foto: Borggreve/KFR

Pierre-Laurent Aimard: ein kluger Kopf, der die musikalische Moderne bei seinen Konzeptkonzerten geschickt in die Historie einbettet. Foto: Borggreve/KFR

Ligeti hat sich als Vorbild die Musik für Player Pianos des Amerikaners Conlon Nancarrow genommen. Nur dass der Ungar einen lebendigen Pianisten als Interpreten vorsah, und nicht ein Selbstspielklavier – also eine Maschine. Doch abseits davon hat Ligeti die Etüden Chopins genauso intensiv studiert wie jene Claude Debussys oder eben Béla Bartóks. Und dem Solisten Aimard gelingt es nun, diese Beziehungen ohrenfällig zu illustrieren. Indem er seinem Programm einen Kunstgriff verordnet: Die Etüden, die erklingen, werden gemischt – auf Debussy folgt Ligeti, folgt Chopin, wieder Ligeti, dann Bartók…

Und es ist schon erstaunlich, dass wir plötzlich die Umspielungen einer Chopin-Etüde im Lichte der Moderne ganz neu hören. Dass die rauschhafte Sturm-und-Drang-Musik der frühen Bartók-Etüden problemlos als eine von Ligetis Wurzeln zu erkennen ist. Oder dass Alexander Skrjabins Beitrag zu Gattung, in ihrer Farbenpracht und orchestralen Wucht, klar auf Zukünftiges verweist. Nehmen wir nur das letzte Werk des Abends, Ligetis 13. Etüde, „Die Teufelstreppe“. In aberwitziger Geschwindigkeit, die der Komponist bis zum Exzess treibt, rast Satan umher. Um letztlich dort zu landen, wo er hergekommen ist: in der vom Clusterklang dominierten bassschwarzen Hölle.

Ein Finale furioso, das Pierre-Laurent Aimard bravourös inszeniert. Mancher mag danach Ligeti, den Modernen, für sich entdeckt haben.