Gesichter gleichen der Musik – Kunsthalle Bielefeld zeigt Porträts aus dem Spätwerk von Henri Matisse

Von Bernd Berke

Bielefeld. Man mag es kaum glauben, daß ein Weltkünstler wie Henri Matisse (1869-1954) erst viermal mit größeren Ausstellungen in Deutschland vertreten war. Den Anfang machte (erst 1981) die Kunsthalle Bielefeld. Jetzt ist es wiederum dasselbe Haus, das mit einer bundesweit exklusiven Schau aufwartet.

Sie heißt im Original „Visages découverts“, was man etwa mit „enthüllte“ oder gar „entdeckte Gesichter“ übersetzen könnte. Entdeckung ist in keiner Hinsicht übertrieben: Fast die Hälfte der Bilder war noch nie in Deutschland zu sehen. Es handelt sich bei den rund 130 Zeichnungen und Graphiken (ergänzt um wenige Ölgemälde) samt und sonders um Porträts aus dem Spätwerk.

Die Summe des Künstlerlebens besteht in grandioser Einfachheit. Meist genügt Matisse eine berückend schlichte Linienführung, um ein Gesicht zu charakterisieren. Es sind jedoch, entgegen dem ersten Anschein, Bilder jenseits jeder Naivität, deren Urheber sich freilich den kindlich offenen Blick bewahrt bzw. ihn wiedergefunden hat: Es sind Bilder eines Mannes, der alle biographischen und alle Schöpfungsphasen durchschritten hat und der dabei allmählich vorgedrungen ist zu einem Urmuster, einer Art Grammatik aller menschlichen Gesichter, aus der wiederum die individuellen Ausprägungen vielfältig erwachsen.

Zuweilen läßt Matisse die Gesichtsfläche vollkommen frei und leer. Geradezu sakral und wie befreit von irdischen Zufälligkeiten wirken solche Blätter. Angeregt wohl auch durch die staunenswerte Aussagekraft eigener unvollendeter Arbeiten, setzt Matisse diese äußerst reduzierte Form ganz gezielt ein, auf daß die Phantasie des Betrachters die „Leerstellen“ füllen kann. Es ist jene Phase; in der Matisse auch die Skizzen für die oftmals gerühmte Kapelle in Vence entwirft. Das Gefühl von Spiritualität, das sich vor diesen Werken einstellt, entsteht also wohl nicht zufällig. Ein weiteres Verfahren: Matisse gibt Gesichtern einen maskenhaften Ausdruck; eine andere Stufe auf der Skala zwischen allgemeinen Mustern und individueller Prägung.

Schönheit ohne Zweck paßt selten ins deutsche Konzept

Man findet in dieser Ausstellung ein Panorama menschenmöglicher Stimmungslagen. Die Gesichter schauen somnambul, beseelt, sinnend, lockend, meditativ, lachend, heiter, bestürzt. Ganz wie im richtigen Leben, doch ungleich deutlicher und unverstellter. Welch eine überragende Kunst, die dies zu zeigen vermag.

Ganz im Gegensatz zur maskenhaften Typisierung steht eine Art kinematographischer Zugang zum Porträt. Überzeugt, daß ein einzelnes Bild nicht das wandelbare Wesen eines Gesichtes wiedergeben kann, schuf Matisse häufig Bilderserien, in denen die stetige Veränderlichkeit der Emotionen aufscheint. Solange es lebendig ist, gleich das Gesicht einer fortwährenden Musik oder eben einem unaufhörlichen „Film“.

Bielefelds neuer Kunsthallen-Leiter Thomas Kellein meint, die deutsche Mentalität habe bisher eine intensivere Beschäftigung mit Matisse erschwert. Hierzulande habe man Experimente mit Linie und Farbe fast immer theorielastig betrieben. Einer wie Matisse, der Kunst auch als entspannende Ästhetisierung des Lebens begriff, habe nicht in dieses Schema gepaßt. Ganz und gar zweckfreie Schönheit ist bei uns ziemlich suspekt.

Henri Matisse:„Das unbekannte Gesicht“. Kunsthalle Bielefeld, Artur-Ladebeck-Straße 5. Bis 24. November. Tägl. außer montags 11-18uhr, Mi bis 21 Uhr, Sa ab 10 Uhr. Eintritt 8 DM. Katalog 48 DM.




Die Dame darf sich am Manne emporranken – Münster: „Als die Frauen sanft und engelsgleich waren“

Von Bernd Berke

Münster. Der Ausstellungstitel zergeht auf der Zunge: „Als die Frauen sanft und engelsgleich waren“. Doch Vorsicht! Ein wenig emanzipatorische Absicht steckt schon dahinter, wenn nun in Münster Porträts der Aufklärung und des Biedermeier gezeigt werden.

Diesmal geht es im Landesmuseum weniger um künstlerische Spitzenqualität (obgleich auch die punktuell vorhanden ist), sondern um sozialpsychologische Aussagekraft: In so manchem Bildnis treusorgender Gattinnen und Mütter oder träumender Jungfrauen läßt es sich lesen wie in Büchern. Beispiel: Ein Bräutigam steht vor einem Baumstamm, seine Herzensdame umgibt sich mit Efeu. Will heißen: Sie darf sich hingebungsvoll an ihm emporranken.

Selbst erlauchte Geister des 18. und 19. Jahrhunderts mochten von Gleichberechtigung nichts hören. Schiller dichtete im „Lied von der Glocke“: „Der Mann muß hinaus ins feindliche Leben“ und befand, daß drinnen die „züchtige Hausfrau“ walte. Johann Gottfried Herder ließ gar wissen, krähenden Hennen und lesenden Frauen gehörten die Hälse umgedreht. Wen wundert es da, daß weit weniger bekannte Maler jener Zeit schon die Kinder ins Schema einfügten: Der Bub pflanzt triumphierend eine Siegesfahne auf, das treuherzige Mädel hält sich an seiner Spielpuppe fest.

Die Lesende sitzt im weichen Licht

Na schön, ein bißchen schlechtes Gewissen macht man(n) sich heutzutage schon draus – doch es ist schwer, sich dem Liebreiz vieler Darstellungen zu entziehen. Wenn etwa Luise Seidler mit den zarten Schwestern „Pauline und Melanie“ (um 1829) wehmutsvoll in die Ferne schaut oder Caroline von der Embde ein „Lesendes Mädchen am Fenster“ (1850) sitzen läßt, von weichem Licht umflort und sinnend, so ist dies eben auf Erden herabgekommene Himmelsschönheit. Wenn man die erst einmal genossen hat, so mag später noch über Rollenzuweisungen gegrübelt werden.

Ausstellungsmacherin Hildegard Westhoff-Krummacher ist nicht mit biestigem Feminismus, sondern mit heiterem Interesse an die Sache herangegangen. Sie hat z. B. festgestellt, daß im Gefolge Jean-Jacques Rousseaus („Zurück zur Natur“) auch Maler den Frauen die Mutterschaft schmackhaft machen wollten. So tritt das naturhafte bürgerliche Weib der lüsternen Adligen entgegen. Letztere klimpert zwar mit kostbarem Geschmeide, aber die „wahre Frau“ schmückt sich mit Sprößlingen…

Hausherr macht sich zum Narren

Die zur Erbauung des Hausherrn versammelte Familie ist gängiger Themen-Standard. Doch wenn Johann Peter Hasenclever die Bildformel in „Der achtzigste Geburtstag“ (1849) aufgreift, wirkt der im gloriosen Lichtkegel hockende Ehrenmann wie ein armer Narr in seinem Patriarchen-Glück. Da erhebt sich schließlich doch die Frage, ob nicht auch die Männer gelitten haben. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es nur ein Schritt.

Selbst Details wie die Haartraçht sind wichtig. Während Frauen Zumeist brave Mittelscheitel trugen, wischte sich selbst der Halbglatzen-Herr noch ein paar dynamische Strähnen in die Stirnpartie. Na, wenn es dem Selbstbewußtsein gedient hat…

Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz). 19. Nov. bis 11. Feb. 1996. Täglich außer montags 10-18 Uhr. Katalog 45 DM.

 

 




Westfalens Gesellschaft zur Goethezeit – auf Bildern von Johann Christoph Rincklake

Von Bernd Berke

Münster. Westfalens Adel ging um das Jahr 1800 mit der Zeit. Man hatte schließlich „seinen“ Rousseau gelesen und kehrte auch dann „zurück zur Natur“, wenn man sich porträtieren ließ: Nun getrauten sich auch Damen von Stand, inmitten ihrer Kinderschar oder gar im „Zustand der Hoffnung“ vor den Maler zu treten.

Es war aber zugleich die Ära, in der das Selbstbewußtsein des westfälischen Bürgertums wuchs. Nur: Statt der Wappen, die die adeligen Herrschaften vorweisen konnten, staffierten sich Bürgersleute fürs Konterfei mit Signalen für erbrachte „Leistung“ aus. Ein wissenschaftliches Buch für den Herrn, ein Strickstrumpf für die Dame – und schon war die Heraldik wirksam ersetzt.

Westfalens wohl bester Porträtmaler zur „Goethezeit“ hieß Johann Christoph Rincklake (1764-1813). Sein Werk wird jetzt in einer Ausstellung des Westfälischen Landesmuseums fur Kunst und Kulturgeschichte dokumentiert (23.9. bis 4.11.). 150 Bilder sind zu sehen, darunter 100 bisher unbekannte Werke, die sich zu 90 Prozent noch in Privatbesitz (meist Nachfahren der Porträtierten) befinden. Die Bilder ergeben ein Panorama der westfälischen Gesellschaft – von Ansichten derer zu Romberg, Westerholt oder Heeremann bis hin zur Wirtstochter und zur Dortmunder Kaufmannsfrau.

Obwohl Rincklake eine Akademieausbildung (Lehr- und Wanderjahre in Dresden, Düsseldorf, Wien) vorweisen konnte, sind die Exponate weniger unter künstlerischen als unter regionalgeschichtlichen Aspekten aufschlußreich. Gesellschaftliche Umbrüche nach der Französisehen Revolution, neue Rituale der Trauer um Verstorbene oder auch das Geschlechterverhältnis jener Zeit können oft anhand unscheinbarer Details nachvollzogen werden. Beispiel: Selbst Schriftstellerinnen wurden damals nicht etwa mit Symbolen intellektueller Betätigung wie Feder und Tintenfaß abgebildet, sondern bestenfalls mit einer Leier.

Pünktlich zur Ausstellung ist ein Buch über Rincklake erschienen (Verfasserin: Hildegard Westhoff-Krummacher; Preis des Bands 98 DM, ab 1985 etwa 120 DM). Der Ausstellungskatalog in Münster kostet 15 DM.