Verderben für Welschlands Gefild: Gaspare Spontinis Riesen-Oper „Agnes von Hohenstaufen“ in Erfurt wiederentdeckt

"Es schwebe der Adler des heiligen Reichs": Kaiser Heinrich VI. (Máté Sólyom-Nagy) lässt den Vogel auf seinem Arm landen. Foto: Lutz Edelhoff

„Es schwebe der Adler des heiligen Reichs“: Kaiser Heinrich VI. (Máté Sólyom-Nagy) lässt den Vogel auf seinem Arm landen. Foto: Lutz Edelhoff

Es sollte ein großer Wurf werden, eine Art preußischer Nationaloper und die Krönung des Werks des Berliner Generalmusikdirektors Gaspare Spontini. Geblieben ist die große historisch-romantische Oper „Agnes von Hohenstaufen“ ein work in progress, umstritten und geschmäht. Ein riesiges Vorhaben, das die einen für „beispiellos misslungen“ hielten, die anderen in den höchsten Tönen als wegweisend priesen. Eine Kontroverse, die sich bis heute durch die magere Rezeptionsgeschichte der eigentlich drei Mal uraufgeführten Oper zieht.

Die mit Spannung erwartete Wiederaufführung in Erfurt auf der Basis einer kritischen Edition von 2001 plus der erst kürzlich wiederentdeckten Ouvertüre wird die unterschiedliche Beurteilung nicht harmonisieren – das lässt sich nach über drei Stunden Aufsehen erregender Musik und einem zweitägigen wissenschaftlichen Symposion der Universität Mainz wohl feststellen.

Ein Stoff aus der Geschichte der Stauferzeit

Aber der Reihe nach: Spontini, ab 1820 vom preußischen König angeworbener erster „Generalmusikdirektor“ in Berlin, wollte mit der großen Oper nach einem Stoff aus der Geschichte der Stauferzeit den großen Wurf landen, der seit langem von ihm erwartet wurde. Anlass war die Hochzeit des Prinzen Carl mit der weimarischen Prinzessin Marie 1827, zu der allerdings erst der erste Akt des Librettos von Ernst Raupach fertiggestellt war. Schon damals begann die Kontroverse, die Spontini und seinen schärfsten Kritiker Ludwig Rellstab sogar bis vors Gericht führte.

Gaspare Spontinis "Agnes von Hohenstaufen" in Erfurt: Claudia Sorokina (Mitte) als Agnes. Foto: Lutz Edelhoff

Gaspare Spontinis „Agnes von Hohenstaufen“ in Erfurt: Claudia Sorokina (Mitte) als Agnes. Foto: Lutz Edelhoff

Die vollendete Oper erschien im Berliner Königlichen Opernhaus 1829 anlässlich der Vermählung des Prinzen Wilhelm – des späteren Kaisers – mit Auguste von Weimar. Fassung Nummer drei, gründlich überarbeitet und zum Teil neu komponiert, hatte 1837 eine erfolgreiche Premiere. Die Partitur blieb ungedruckt, was wohl der entscheidende Grund für das Ausbleiben von Folgeaufführungen an anderen Opernhäusern gewesen ist: Über „Agnes von Hohenstaufen“ senkte sich trotz der Bemühungen Spontinis dichtes Vergessen; erst 1954 dirigierte Vittorio Gui beim Maggio Musicale Fiorentino eine italienische Version.

Dank des Einsatzes von Riccardo Muti folgten weitere Aufführungen in Florenz und Rom, ohne für das Werk größere Aufmerksamkeit zu wecken. Eine von Muti geplante Koproduktion mit Mailand, Wien und Berlin scheiterte. Die Kontroverse um die „Agnes“ jedoch geisterte weiter durch die Literatur. Wie bei anderen Werken des – so der Musikwissenschaftler Anno Mungen – „unterforschten“ Spontini lag keine kritische Edition vor. Auch Opern wie die mit Maria Callas wiederbelebte „La Vestale“ (zuletzt Karlsruhe 2013), „Fernando Cortez“ (Erfurt 2006) oder die tragédie-lyrique „Olimpie“ (1987 Berlin und 2016 Amsterdam, konzertant) finden nur sporadisches Interesse.

Historische Kostüme, bedeutungsvolle Schauplätze

Nach fast 180 Jahren lässt die Erfurter Inszenierung von Spontinis Opus magnum aufschlussreicher Einblicke zu: in die für die Operngeschichte so wichtige Zeit um 1830, aber auch auf Bedingungen ihrer Rezeption. „Agnes von Hohenstaufen“ rückt mit ihrem historischen Stoff, ihrer ehrgeizigen, stilistisch offenen Komposition, ihrem außerordentlichen Orchesterapparat, ihren herausfordernden Gesangspartien, dem dramaturgisch überlegten Einsatz von Chören und den – in Erfurt gestrichenen – Ballettszenen nahe an die kurze Zeit später sensationelle Erfolge feiernden „großen“ Opern Daniel Francois Esprit Aubers („La Muette de Portici“), Gioachino Rossinis („Guillaume Tell“) und Giacomo Meyerbeers („Robert le Diable“).

Auch die vom Werk untrennbare Bedeutung der „mise-en-scène“ weist auf die „grand opéra“ hin: Historisch sorgfältig nachempfundene Kostüme und bedeutungsvolle Schauplätze sollten nicht bloß, wie Kritiker beanstandeten, die „Schaulust“ des Publikums befriedigen. Sie waren entscheidende Bedeutungsträger, also mehr als Dekoration. Spontini schuf bereits ein „multimedial“ angelegtes Werk, das dem Wagner’schen „Gesamtkunstwerk“ unmittelbar zuzuordnen ist.

Die Wahl des Stoffes erweist sich als aktuell und hochpolitisch, wie Fabian Kolb (Mainz) beim Symposion ausführte: Der seit 1815 preußische Rhein spielt in der Romantik wie in den nationalpatriotischen Gefühlen der Zeit eine wichtige Rolle, das deutsche Mittelalter wurde in dieser Zeit neu entdeckt, eine überzeugende und der historischen „Realität“ angenäherte, glaubwürdige Darstellung diente dem Ideal der Bühne als – auch historische – Lehranstalt.

Musikalisch setzt Spontini auf Überwältigungsstrategie. Aufgeheiztes Pathos, instrumentaler Glanz, forcierte Lautstärke, üppige Instrumentation und moderne Instrumente wie die nicht immer glücklich hinzugefügte Tuba, dazu auch im Gesangsstil eine Abkehr von der älteren Bravour hin zu psychologisch „natürlicher“ Deklamation verfehlten ihre Wirkung nicht. „Ein Ganzes, das durch seine Größe imponiert“, fasst Kolb zusammen und zitiert eine zeitgenössische Quelle: Spontinis Musik wolle „betäuben und verblenden, um uns in einem beständigen Taumel zu erhalten“.

Zukunftsweisende Lösungen für musikdramatische Herausforderungen

Spontini hat – darauf hat auch Anno Mungen (Bayreuth/Thurnau) hingewiesen – für musikdramatische Herausforderungen zukunftsweisende Lösungen gefunden. Die Ouvertüre mit ihrer langsamen Einleitung, die sich durch immer neu hinzutretende Instrumente bei statischer Repetition des Materials zu einem spannungsreichen Crescendo entfaltet, lässt sich wohl nicht grundlos mit Wagner „Rheingold“-Einleitung in Verbindung bringen.

Meyerbeer und Rossini dürften Spontinis Musik aufmerksam zur Kenntnis genommen haben – letzterer hatte ja „Fernando Cortez“ für Neapel bearbeitet. Und dass zum Beispiel Heinrich Marschner bei „Hans Heiling“ oder „Der Templer und die Jüdin“ eher auf Spontini als auf Beethoven geschaut hat, legt der Hör-Eindruck nahe – obwohl in der Untersuchung solcher Bezüge noch viel Forschungsarbeit zu leisten ist.

Allerdings zeigt der gewaltige Erfurter Kraftakt auch die Grenzen heutiger Rezeption: Denn die Dauerspannung, unter die Spontini das Philharmonische Orchester Erfurt und die verstärkenden Musiker der Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach setzt, erzeugt keinen „beständigen Taumel“ mehr, sondern erdröhnt und erdrückt das Interesse. So großartig konzipiert die „Kirchenszene“ im zweiten Akt auch ist – der Zuhörer erwartet nach pausenlosem Pomp jedes wieder anrollende Crescendo, jeden neuen monumentalen Blecheinsatz mit Überdruss.

Spontini schafft es nicht, Ruhepunkte zu setzen, Kontraste aufzubauen. Kaum wähnt man sich – wie in der Szene des gefangenen Heinrich zu Beginn des zweiten Akts – an einem eher reflektierenden, sparsamer instrumentierten Moment, brechen die Stahlgewitter wieder los. Zudem wirken ganze Passagen merkwürdig gegen den organischen Fluss und Akzent der deutschen Sprache geschrieben. Zu viel, zu viel …

Flecken auf dem musikalischen Glanz

Das Theater in Erfurt. Foto: Theater Erfurt

Das Theater in Erfurt. Foto: Theater Erfurt

Zoi Tsokanou, die tapfere Dirigentin des Abends, versucht so gut es geht, diesen gewaltigen Apparat zu beherrschen, zu dem auch noch bis zu 80 Sänger auf der Bühne gehören (Opernchor, Philharmonischer Chor und Stadtharmonie Erfurt). Sie organisiert das allen Beteiligten fremde Werk mit dem Fokus auf Sicherheit. Aber sie kann weder der abundanten Rhetorik Spontinis Bedeutung abgewinnen, noch greift sie gestalterisch auf die endlos wirkenden Strecken martialischen Pomps zu. Unsicherheiten im Orchester häufen sich im Lauf des Abends, der geforderte Glanz der Streicher hat – wie öfter in Erfurt – unschöne Flecken, Tempo und Phrasierungen wirken immer wieder zögerlich suchend. Das liegt auch an der Musik Spontinis – der Eindruck drängt sich auf, dass der Komponist feineren koloristischen und dynamischen Differenzierungen fast unüberwindliche Hindernisse aus Notenmassen entgegengestellt hat.

Die Sänger bleiben von Spontinis Hang zur Monumentalität nicht verschont. Zu hören ist das etwa bei Bernhard Berchtold, mit dem die Tenorrolle des Kaisersohns Heinrich zu leichtstimmig besetzt ist. Auch Claudia Sorokina hat in der Titelrolle der Agnes zu kämpfen und kann den Stimmsitz nicht immer kontrollieren. Siyabulela Ntlale als französischer König Philipp-August rettet sich, weil sein Bariton zwar nicht mit klanglichem Kern prunken, sich aber mit Präsenz durchsetzen kann. Máte Sólyom-Nagy gibt einen Kaiser Heinrich VI. mit Autorität und sonorem, wenn auch hin und wieder tremolierendem Fundament.

Claudia Sorokina als Agnes. Foto: Lutz Edelhoff

Claudia Sorokina als Agnes. Foto: Lutz Edelhoff

Margrethe Fredheim hat den idealen, dunkel getönt flutenden Sopran für die Partie der Irmengard von Henneberg, der Mutter der Agnes. Todd Wilander (Philipp), Juri Batukov (Heinrich der Löwe) Kakhaber Shavidze (Erzbischof von Mainz) sowie Caleb Yoo, Jörg Rathmann und Henry Neill zeigen, dass Spontini selbst in kleineren Partien mit Sängern auf Weltniveau rechnet. Das Erfurter Ensemble stürzt sich mit Enthusiasmus in dieses Turnier mit Spontinis gewaltigen Noten und lässt sich nicht aus den Sätteln heben.

Aus der nationalen Aufbruchsstimmung der 1830er-Jahre erklärt sich der Überschwang des Librettos, für die letzte Fassung der Oper überarbeitet von Carl August von Lichtenstein. Im Ambiente des deutschen Rheins werden historische Ereignisse aus der Zeit der Staufer geschickt miteinander verquickt: Die Aussöhnung Kaiser Heinrichs VI. mit Heinrich dem Löwen und die heimliche Heirat zwischen dessen Sohn Heinrich und Agnes von Staufen, die Opposition der Fürsten, die Bündnispolitik des Kaisers mit dem französischen König und sein Versuch, seine Herrschaftsansprüche in Sizilien durchzusetzen.

Dabei wird kein ungebrochenes Kaiserlob gesungen: Heinrich der Sechste ist das Porträt eines starren, uneinsichtigen Politikers, dessen Tyrannei die Fürsten bis an die Grenze der Revolution reizt. Das Ende feiert trotz aller Rufe zu Fahnen, Waffen und blutigem Tanz keine ungebrochene Herzenseinheit: Was zusammenschweißt, sind die „Klänge der Kriegsdromete“ und der erhoffte „Siegerkranz“.

Die „siegenden Schwingen“ des Adlers

Mittelalter - Vormärz - Weltkrieg: Marc Adam und Monika Gora setzen Zeitebenen in Bezug zueinander. Foto: Lutz Edelhoff

Mittelalter – Vormärz – Weltkrieg: Marc Adam und Monika Gora setzen Zeitebenen in Bezug zueinander. Foto: Lutz Edelhoff

Marc Adam setzt in seiner Inszenierung an dieser nationalen bellizistischen Rhetorik an: Die Wiederentdeckung des Mittelalters unter den Vorzeichen der Romantik und der deutschen Nationalbewegung zur Zeit Spontinis beleuchtet er von den Folgen des übersteigerten Nationalismus im Ersten Weltkrieg her. Die Bühne Monika Garas, ein tiefer, zentralperspektivischer Raum, bildet einen düsteren Schlund des Krieges. Ein Soldat liegt gekrümmt in einem Schützenloch – und ein lebendiger Adler macht sich über ihn her, bevor er auf dem Arm des Kaisers landet: der „Adler des heiligen Reichs“, der mit „siegenden Schwingen“ Verderben in „Welschlands Gefild“ bringt.

Gleich darauf segnet der Erzbischof Waffen und beschwört die gerechte Sache. Die Parallele zur Kriegspropaganda von 1914/18 ist in der Tat frappierend. Adam fächert die Zeitebenen auf: Die martialische wilhelminische Gesellschaft spielt in historisierenden Kostümen ein Schultheater-Mittelalter nach, verwandelt sich aber auch in Vormärz-Herren und Biedermeier-Damen und stellt so den Bezug zum Preußen der „Heiligen Allianz“ her.

Als Tableau sind solche Szenen wirkungsvoll, aber die Leitidee einer Verschränkung der Zeiten erweist sich als wenig ergiebig, um die Bühne aus den Fluten von Aufmärschen und Chormassen zu befreien. Da wirkt auch die Gasmaske am Szenenrand nur als äußerlicher Verweis für innere Zusammenhänge. Andere Szenen wie das Kloster des zweiten Akts bleiben zu sehr im dekorativ Atmosphärischen stecken. Das historische Lehrstück, schon ins Konzept der Spontini-Oper eingeschrieben, bleibt in seiner zähen Bildhaftigkeit auf Distanz.

Dennoch: Es war wichtig, diese Oper zu zeigen und zu sehen. Dem Erfurter Dramaturgen Arne Langer ist für siebenjährige Forschungs-, Entdeckungs- und Überzeugungsarbeit nicht genug zu danken. Spontinis „Agnes von Hohenstaufen“ ist ein Dokument deutscher Befindlichkeit in einer Schlüsselperiode der Geistes- und der politischen Geschichte. Und seine Musik richtet bei all ihrer Hybris und ihrem unerhörten Aufwand den Blick auf eine Zukunft, deren selbstreklamierte Erfindung durch Richard Wagner nun vollends unglaubwürdig geworden ist.

Eine Aufzeichnung von Gaspare Spontinis „Agnes von Hohenstaufen“ wird am Samstag, 16. Juni, 19.05 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur ausgestrahlt.




Den „Piefke“ gab es wirklich: Vom Heldennamen zum Schmähbegriff

Johann Gottfried Piefke. Zeitgenössisches Porträt, entstanden vor seinem Todesjahr 1884.

Johann Gottfried Piefke. Zeitgenössisches Porträt, entstanden vor seinem Todesjahr 1884.

Der „Piefke“ gilt als österreichisches Schimpfwort für den typischen preußischen Großkotz: arrogant, besserwisserisch, militaristisch. Doch wer glaubt, das Wort sei nur ein typisierender Sammelname für all die unsympathischen Zeitgenossen nördlich der Mainlinie, der irrt.

Den Piefke gab es wirklich: Johann Gottfried Piefke war ein preußischer Militärmusiker von hohem Ansehen. Der Komponist von „Preußens Gloria“, heute noch ein beliebter Marsch, wurde vor 200 Jahren, am 9. September 1815 in Schwerin an der Warthe im damaligen Kreis Posen geboren.

Ins österreichische Schimpfwörterverzeichnis geriet Piefke, glaubt man den legendarisch verbrämten Erzählungen, ohne eigenes Zutun: Der fast Zwei-Meter-Mann sei bei der Siegesparade nach der österreichischen Niederlage bei Königgrätz 1866, abgehalten auf dem Marchfeld bei Gänserndorf, mit seinem ebenso langen Bruder Rudolf an der Spitze der vereinigten Musikkorps einmarschiert. „Die Piefkes kommen“, sollen da die Soldaten und die Wiener Schlachtenbummler gerufen haben. Seither hat sich der „Piefke“ zum Synonym für den halb belustigenden, halb bedrohlichen Deutschen entwickelt.

Johann Gottfried Piefke war damals schon über ein Jahr lang „Director der gesamten Musikchöre des III. Armeekorps“; ein einmaliger Titel, den vor und nach ihm niemand mehr getragen hat. Wilhelm I. ehrte damit den Schöpfer der beiden Düppeler Märsche, des „Düppeler Sturm Marsches“ und des „Düppel-Schanzen-Sturm-Marsches“. Beide entstanden im Schleswig-Holsteiner Krieg 1864 gegen Dänemark. Bei der Erstürmung der Düppeler Schanzen, so eine weitere Piefke-Legende, soll der Königliche Musikdirektor mit Beethovens Yorck’schem Marsch den Sturm begleitet haben – mit dem Degen dirigierend. Damals war Preußen mit den Habsburgern verbündet. Piefke erhielt die Goldene Medaille des Kaisers von Österreich-Ungarn, Theodor Fontane würdigte den „Tag von Düppel“ mit einem Gedicht – den Musiker eingeschlossen: „‘Vorwärts!‘ donnert der Dirigent, Kapellmeister Piefke vom Leibregiment.“

So eindeutig, wie solche Erzählungen wollen, ist die Zuordnung des „Piefke“-Begriffs zu dem preußischen Militärkapellmeister freilich nicht. Vorher schon verwendet etwa der Berliner Schriftsteller Adolf Glaßbrenner die Kunstfigur in diversen satirischen Publikationen. So annonciert er etwa im „Komischen Volkskalender für 1849“ die „nächste deutsche Kunstausstellung“, unter anderem mit dem Bild „Rellstab, an einer Tonne Weißbier dichtend … Hintergrund Die Villa Piefke bei Tivoli“. Oder er vermerkt für den 6. Mai: „Der Bürger, Schlächtergesell Piefke, heirathet die frühere Fürstin von Dämelhagen-Mottenau-Schimmelburg-Strohfelde-Pilzethal“. Im „Kladderadatsch“ stellt Glaßbrenner den Piefke neben satirische Figuren wie Strudelwitz und Pudelwitz oder Schulze und Müller.

In Wien rangierte „Piefke“ derweil als Wiener Grantler, wie Piefke-Forscher Hubertus Godeysen in seinem Buch „Piefke. Kulturgeschichte einer Beschimpfung“ niedergelegt hat. Im Duett mit Pufke zog er in der Zeitschrift „Der Humorist“ über Tagesereignisse her – und die Sottisen wurden offenbar so populär, dass sogar Johann Strauß senior nach den beiden Figuren eine Polka benannt hat. Nach der Niederlage von Königgrätz änderte sich das: Piefke mutierte zum Zerrbild eines preußischen Großmauls. Im Dritten Reich stand in der „angeschlossenen“ Heimat des „Führers“ der „Piefke“-Spottname unter Strafe: Bußgelder und Haftstrafen sollten die Schmähung eindämmen – mit wenig Erfolg, wie die Urteile und die medialen Aufforderungen zum Wohlverhalten belegen.

Der originale Piefke konnte freilich nichts dazu. Er nutzte sein ererbtes musikalisches Talent für die Weiterentwicklung der preußischen Militärmusik. Mit 19 Jahren trat er als Hoboist beim Leibgrenadier-Regiment Nr. 8 in Frankfurt an der Oder an. Drei Jahre später schickte man den begabten Jungen zum Studium an die Berliner Musikhochschule. 1843 zu seinem Regiment zurückgekehrt, ging er mit diesem 1852 nach Berlin, wo sein Talent schnell bekannt wurde: Die Militärmusik bestritt damals unter anderem Platzkonzerte, Bälle, Festkonzerte und viele andere Gelegenheiten mit populärer musikalischer Untermalung. Piefke beherrschte so gut wie alle Instrumente, die in seiner Kapelle benutzt wurden, und feilte unermüdlich daran, den Klang der Militärmusik zu verbessern. Ab 1860 war wieder Frankfurt/Oder sein Wirkungsort, wo er 1884 starb und unter hohen militärischen Ehren auf dem Alten Friedhof – heute der Kleistpark – beigesetzt wurde.

Piefke schrieb über 60 Märsche, unter ihnen als die bekanntesten den „Königgrätzer Marsch“, „Preußens Gloria“ und den „Kaiser-Wilhelm-Siegesmarsch“. Seine beiden Düppeler Märsche waren in Berlin Gassenhauer. In der Musikszene war Piefke hochgeschätzt. Hans von Bülow schrieb über ihn: „Seine aufgeführten Werke von Beethoven und Wagner waren Leistungen, wie sie in dieser Sphäre meisterhaft nicht einmal gedacht werden können und gereichen dem Dirigenten und der Kapelle zur höchsten Ehre.“ Zu den Bayreuther Festspielen 1876 erhielt er als einziger Militärmusiker eine Einladung. Schon im Juli 1876 soll er bei einem Platzkonzert in Frankfurt/Oder Teile aus dem „Rheingold“ in eigener Bearbeitung dem begeisterten Publikum vorgestellt haben. An dem gebildeten Feingeist in Uniform lag es also nicht, dass sein Name bis heute in Österreich herhalten muss, wenn es um deutsche Unkultur geht.




Als Dortmund einmal (fast) holländisch war…

Wenn man in der Adventszeit oder in den Tagen davor über den Dortmunder Weihnachtsmarkt mit dem wunderlichen Groß-Baum gebummelt ist, dann hat man nicht nur westfälische Mundart gehört, sondern auch englische Unterhaltungen und vor allem Holländisches. Im Königreich der Niederlande hat sich der heimelige Ruf der westfälischen Metropole eben herumgesprochen.

Blick vom Dortmunder Rathaus auf das alte und neue Stadthaus mit der Berswordt-Halle (Foto: Bernd Berke)

Blick vom Dortmunder Rathaus auf das alte und neue Stadthaus mit der Berswordt-Halle (Foto: Bernd Berke)

Dabei ist der Bezug zu Holland gar nicht so weit hergeholt – zumindest aus historischer Sicht: Als Napoleons Truppen zu Anfang des 19. Jahrhunderts halb Europa mit ihrem Eroberungs- und Befreiungskrieg überzogen, da war auch die Freie Reichsstadt Dortmund diesen Titel bald los.

Ab 1802 gehörte Dortmund als Exklave zum Fürstentum Oranien-Nassau, und das ist bekanntlich die Geburtsfamilie des niederländischen Königshauses. Der erste König Willem I. trug neben der Königskrone auch den Titel Prinz von Oranien, den der jeweilige Herrscher Hollands ab 1732 durch einen Vertrag mit Preußen offiziell führen durfte. Auch heute noch heißt der jeweilige Thronfolger in Holland „Prins van Oranje“, im Augenblick allerdings in der weiblichen Form, also „Prinzessin Amalia van Oranje“.

Die Dortmunder Oranje-Periode währte jedoch nur kurz: Schon vier Jahre später wurde die westfälische Industriestadt durch die französische Verwaltung zu einem Teil des Großherzogtums Berg erklärt. Die Stadt war dadurch ab 1806 auch Sitz der Präfektur des Ruhr-Départements. Nach dem preußischen Sieg über Napoleon fiel Dortmund 1815 schließlich an die preußische Provinz Westfalen und war somit eine Stadt wie jede andere. Geblieben ist aber die enge sprachliche Verwandtschaft des Plattdeutschen mit dem Niederländischen.




Der preußische König zeigt sich milde

Von Überfällen auf Spielhallen oder über dreiste Handtaschenräuber liest man heutzutage, wenn die Polizei ihren Tagesbericht abliefert. Früher, als die Menschen noch quälenden Hunger kannten, ging es noch direkter zu: Da wurden sogar Grundnahrungsmittel wie Getreide gestohlen.

In Berlin saß ein milder König. (Foto: Pöpsel)

Für den Bereich Schwelm ist aus dem Jahr 1795 eine regelrechte „Hungerrevolte“ überliefert. Wenn es in Notzeiten zu Getreideknappheit kam, hatten die Magistrate der Städte die Aufgabe, die vom preußischen Staat verordneten Korn-Ausfuhrverbote und die Einschränkung des Branntweinbrennens zu überwachen. Weil im Winter 1794/95 in der Grafschaft Mark die Brotpreise sprunghaft in die Höhe schnellten, griff die Not leidende Bevölkerung von Schwelm zur Selbsthilfe, indem sie Fuhrwerke mit Getreide überfiel, das trotz des Verbots in das nahe Bergische Land ausgeführt werden sollte: Die Kaufleute erhofften sich auf den dortigen Märkten noch höhere Erlöse als in der Mark.

Von einem dieser Überfälle gibt es im Archiv der Stadt Schwelm einen genaueren Bericht. Fünf „Rädelsführer“ wurden festgesetzt und angeklagt. Sie richteten daraufhin ein Bittgesuch an den preußischen König und baten um Milde, und dem kam der Regent sogar nach. Ihnen wurde unter anderem zugute gehalten, dass sie ja im Sinne eines königlichen Erlasses gehandelt hätten, wonach verbotenerweise ausgeführtes Getreide zu konfiszieren sei.

Die königliche Kriegs- und Domänenkammer in Hamm drängte zwar später auf ein scharfes Urteil, weil man revolutionäre Stimmungen wie im absolutistischen Frankreich fürchtete, doch der König lehnte eine Revision des Urteils ab. Zudem ordnete er an, aus den Heeresmagazinen die Hälfte des für die Truppen vorgesehenen Getreides an die Not leidende Bevölkerung im Herzogtum Cleve-Mark zu verteilen.

Solche Einzelmaßnahmen konnten an der fortschreitenden Verarmung weiter Teile der Bevölkerung im 19. Jahrhundert jedoch nichts ändern. Revolutionär wurde diese Entwicklung dann in den Hungerwintern der 40-er Jahre bis hin zur Revolution im Jahre 1848.

Heute haben wir keinen mílden König mehr, und auch eine Revolution ist nicht in Sicht. Oder?