Moers ist ganz woanders – eine Nachlese zum Festival

Mit Sorge sahen langjährige Besucher der Zukunft ihres Festivals entgegen. Im vorigen Jahr waren der Künstlerische Leiter und der Geschäftsführer des Moers Festivals nach Querelen mit den Stadtobersten vorzeitig aus ihren Verträgen ausgestiegen. Es ging um Geld, um einen Anteil der Stadt an dem von vielen Seiten geförderten Festival, aber auch, wie schon öfter in der wechselvollen 45-jährigen Geschichte, um die Vermittlung zwischen den hohen künstlerischen Ansprüchen der Festivalmacher und den Interessen der Stadtbewohner.

Festival-Plakat (© Moers Festival)

Diese begegneten mitunter nie gesehenen Gestalten, von denen manche den Namen ihrer Stadt „Mars“ aussprachen und ihrerseits von einem fremden Planeten, auf dem man ein seltsames Verständnis von Musik hatte, zu stammen schienen. Während der Parkplatz vor der Haustür, eine der verständlichen Hauptsorgen der Anwohner, eher von Fahrzeugen aus Münster, Bonn oder den benachbarten Niederlanden zugestellt war.

From Mars to Moers

„Jemand, der sich schon lange aus dem Jazz verabschiedet hat (…) und der ganz woanders ist“, diese Worte wählte Tim Isfort, der neue Künstlerische Leiter, als er am Samstagabend den Ausnahmekomponisten Anthony Braxton ankündigte. Ganz woanders sein, zumindest für die Dauer von vier Tagen, das möchten auch viele der Moers-Pilger – nicht in einer mittelgroßen Stadt am Niederrhein, sondern auf einem den Kosmos musikalischer Möglichkeiten erkundenden Raumschiff. So treffen seit Anbeginn diejenigen, die Moers als Metapher der Grenzenlosigkeit verstehen, auf Menschen, die ganz konkret hier leben.

Vom neuen Festivalleiter erwarten die Stadtväter nicht mehr und nicht weniger, als die verschiedenen Welten einander näherzubringen. Seinem ersten Programmheft stellt Tim Isfort ein 1978 entstandenes Foto voran, das ihn, auf seinem Bonanzarad stehend, mit seiner Familie am Bretterzaun des Festivals zeigt: Er ist ein Kind der Stadt; hier, ganz nah am jährlichen Festival, ist er aufgewachsen.

Auch Anthony Braxton ist in Moers ein alter Bekannter – in den Jahren von 1974 bis 1978 trat er hier regelmäßig auf – und zugleich ein noch zu entdeckender großer Unbekannter. Braxton schreibt täglich Musik, hat mehr als zweihundert Alben aufgenommen, ist mit Jazz und Neuer Musik gleichermaßen vertraut, kombiniert Notation und Improvisation und ist vor allem ein Freigeist.

Braxton-Projekt so komplex wie Stockhausens „Licht“-Zyklus

Braxtons Opernprojekt mit 36 Teilstücken ließe sich in Dauer und Komplexität mit Stockhausens Zyklus „Licht“ vergleichen. Seine Kompositionen Nr. 169 aus dem Jahr 1992 und Nr. 199 von 1997 aus dem Konvolut „Ghost Trance Music“ wurden am 20. Mai dieses Jahres im Großen Sendesaal des WDR vom Ensemble Musikfabrik in Braxtons Abwesenheit, aber mit seinem langjährigen Mitarbeiter, dem Trompeter Taylor Ho Bynum, als Gastmusiker, der die schwierigen Passagen auch dirigierte, aufgeführt.

Anthony Braxton begeisterte am Samstagabend. (© Moers Festival)

Eingerahmt waren seine Stücke von Werken ähnlich anspruchsvoller Komponisten, Harrison Birtwistle und Richard Barrett. Keine leicht zugängliche Musik, aber wohl wenige Erdenbewohner fassen die Welt so durch und durch musikalisch auf wie der Verfasser des 1.700-seitigen Manifests mit dem Titel Tri-Axium Writings. Entsprechend groß waren die Erwartungen an sein einziges Konzert in Europa in diesem Jahr, und sie wurden nicht enttäuscht.

Anthony Braxton reiste mit dem ZIM Sextet aus den USA an; ein Gastauftritt der Saxophonistin Ingrid Laubrock erweiterte die Formation an diesem Abend zum Septett. Zur Aufführung kam ein hochkomplexes Werk für zwei Harfen, Cello, Tuba, verschiedene Saxophonformen einschließlich des riesigen Kontrabasssaxophons und Klarinetten sowie mehrere Blechblasinstrumente (Trompeten, Posaune, Flügelhorn, Kornett), die Taylor Ho Bynum spielte. Eine Komposition mit Noten und Freiräumen zur Improvisation, zusammengehalten durch ein gestisches System der Verständigung. Ein Konzert der Meisterklasse.

Empfehlung: Swans leise hören

Als Anthony Braxton nach einer kurzen Zugabe seinen Auftritt beendete, bereit, mit einigen Freunden in seinen zweiundsiebzigsten Geburtstag hineinzufeiern, waren die Swans auf ihrer Abschiedstour soeben aus Barcelona eingetroffen. Trotz längerer Umbaupause und Soundcheck konnte der Auftritt zur angekündigten Uhrzeit 23:11 beginnen (fast alle Anfangszeiten im Programmheft wirkten wie gewürfelt).

Zuvor hatten die Zuhörer ausreichend Gelegenheit, sich mit Ohrstöpseln zu versorgen. Der Schaumstoff in den Ohren ließ das Gewitter aus drei Gitarren, zwei Keyboards und einem unentwegt wirbelnden Schlagzeuger zwar dumpfer, jedoch nicht spürbar leiser klingen. Im Publikum vor der Bühne sah ich eine einzelne Frau ausgelassen tanzen. Vielleicht reagierte sie angemessener auf die in der Lautstärke angelegte physische Destruktion als wir Vorsichtigen in den hinteren Stuhlreihen, die wir uns von den vibrierenden Lehnen den Rücken massieren ließen. Auch der Sänger der Swans arbeitete wie Braxton mit Gesten, aber die seinen dienten weniger der Kommunikation mit den Mitmusikern; er schien vielmehr seine Fans beschwören oder verhexen zu wollen.

Ich verließ die Festivalhölle nach etwa einer halben Stunde und schaffte es, zu Hause im Livestream nicht nur das Ende des Auftritts, sondern auch die während der Autofahrt verpassten Teile nachzuhören – und stellte bei selbstbestimmter Lautstärke fest, es steckten sehr wohl Feinheiten in dem massiv wirkenden Sound, die mir zuvor mit Ohrstöpseln und zusätzlich zugehaltenen Ohren entgangen waren. Swans-Fans werden mich für den wohlmeinenden Rat, ihre Musik in Zimmerlautstärke zu hören, steinigen wollen, denn, wie der Frontman der Gruppe, Michael Gira, im Programmheft zitiert wird, wirke die Musik durch ihre Energie, „seelisch beflügelnd und körperlich zerstörend“.

Kommerzielles Kalkül und künstlerisches Konzept

Diese beiden gegensätzliche Auftritte am Samstagabend – die schnell gespielten kleinen, feinen Töne Anthony Braxtons und die betäubende Lautstärke der Swans – mögen stellvertretend stehen für eine nur allzu auffällige Eigenart des diesjährigen Festivals, die mindestens ebenso sehr kommerzielles Kalkül sein dürfte wie künstlerisches Konzept. Um es in der Sprache von Online-Shops zu sagen: Wer Anthony Braxton mag, dem wird vermutlich auch Miller’s Tale gefallen, das Trio mit der großartigen Pianistin Sylvie Courvoisier aus der Schweiz, dem britischen Saxophonisten Evan Parker, der zuletzt 2012 mit Rocket Science in Moers auftrat, und der Japanerin Ikue Mori an der Elektronik (sie war hier 2013 mit John Zorns „Electric Masada“ zu erleben).

Und wer sich Karten für diese beiden Auftritte kaufen würde, ließe sich sicherlich auch für die beiden Kompositionen „Vogelfrei“ und „Contemporary Chaos Practices“ von Ingrid Laubrock begeistern, die am Pfingstmontag mit dem EOS Kammerorchester Köln aufgeführt wurden, das erste Stück zusätzlich mit zwei Chören, das zweite als Kompositionsauftrag der Kunststiftung NRW eine Welturaufführung.

Verschiedene Schnittmengen im Publikum

Das gleiche Zielpublikum wird auch bereits am Freitagabend dem Auftritt des Streichquartetts um Carolin Pook mit Genuss gelauscht haben, das mit seinem Programm „cosmic string time travel“ auf das New Yorker Powertrio Spacepilot traf. Vier großartige Konzerte für einen bestimmten Teil des Publikums, eventuell auch fünf, wenn man das medidativ-minimalistische Saxophonquartett Battle Trance aus New York hinzunimmt. Bezeichnenderweise fanden diese Konzerte an vier verschiedenen Tagen statt, sodass das Festivalticket die preisgünstigste Option war.

Unmittelbar vor oder nach solchen Höhepunkten standen Musiker auf der Bühne, die eine andere Schnittmenge im Publikum ansprachen. Ich kann mir vorstellen, dass Verehrer der Swans dem Auftritt der belgischen Crust Punks von Cocaine Piss mehr Lustvolles abgewannen als manche Hörer neuer Kammermusik, für die Aurélie Poppins‘ Kreischen geklungen haben könnte, als habe sich die Sängerin einen Finger in der Autotür eingeklemmt, vierzig Minuten lang. Doch freilich schickt der Künstlerische Leiter nicht einfach irgendeine Punkband auf die Bühne. Er brachte die vier Crusties aus Liège mit der dänischen Saxophonistin Mette Rasmussen zusammen, die ihr Instrument so punkgemäß malträtierte, dass beides gut zueinander passte.

Jedem sein eigenes Moers

„Ich bin sicher, dass nach den vier Festivaltagen jeder ‚sein eigenes Moers‘ erlebt haben wird“, schreibt Tim Isfort in der Einleitung des Programmhefts. Die Vielfalt an musikalischen Stilen war auf dem Festival selbstverständlich sehr viel reicher, als die bisher genannten Beispiele vermuten lassen. Da war das Dub Trio aus den USA, das genau die Musik spielte, die der Name der Band versprach. Es waren neue Kostproben aus der Singer-Songwriter-Szene zu hören, von der 21-jährigen Julien Baker in der Kirche St. Josef, oder von Brian Blade, der eigentlich Schlagzeuger ist, aber für sein Projekt Mama Rosa als Sänger mit Gitarre auf die Bühne der Festivalhalle kam, begleitet von fünf Musikern.

Stimmgewaltig und theatralisch präsentierte sich Dorian Wood am Piano, der seine ersten Auftritte in der Gay-Bar-Szene von Los Angeles hatte. Er sang, vielmehr: er performte seine Songs auf Spanisch, Englisch und Bulgarisch, unterstützt von dem sechsköpfigen Ensemble CRUSH, bestehend aus vier Streichinstrumenten, Akkordeon und E-Gitarre. Einen bewegenden Song widmete er den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.

Dorian Wood widmete einen Song den 43 in Mexiko verschwundenen Studenten.
(© Moers Festival)

Und es war auch weiterhin gediegener Altherren-Jazz auf dem Festival vertreten, etwa von der isländischen Formation ADHD oder von The Bad Plus aus den USA.

Dagegen hoben sich erfrischend einige jüngere deutsche, österreichische oder belgische Jazzer ab, das Quartett Philm des Berliner Saxophonisten Philipp Gropper etwa, das Trio De Beren Gieren und nicht zu vergessen: der diesjährige „Improviser in residence“ in Moers, John-Dennis Renken. Mit seiner Gruppe „Tribe“ spielte er unter anderem drei Stücke, die er für seine kleine Tochter geschrieben hat, die am Samstag ihr erstes Konzert besuchte. Eines der Stücke heißt „Quatschkopp“ und klingt ziemlich chaotisch, ein anderes, „Charlie‘s Lullaby“, langsamer und sehr emotional. Dennoch: Charlotte muss ein ganz besonderes Kind sein, wenn es ihr gelingt, zu der Musik ihres Papas einzuschlafen. Moers war, für diejenigen, die lange genug im Saal blieben, ein Wechselbad der Gefühle.

Likembe ekuba und die Bohrmaschine

Zu den temperamentvollsten Auftritten gehörte am späten Sonntagabend die kongolesische Gruppe Radio Kinshasa mit der kraftvollen Sängerin und Trommlerin Huguette Huguembo und dem ausdrucksstarken Sänger und Performer Strombo, der seine Instrumente selbst baut. Sie tragen Namen wie likembe ekuba, clavier mesa oder guitard miliki.

Die beiden und drei weitere afrikanische Perkussionisten/Drummer spielten zusammen mit FM Einheit, alias Frank-Martin Strauß, langjähriges Mitglied der Einstürzenden Neubauten, der seine Instrumente ebenfalls selbst herstellt, meterlange Metallspiralen, die er auf der Bühne mit dem Elektrobohrer bearbeitet, oder ein Blech mit Steinen. Dazu spielte der Tenorsaxophonist und Pianist Pavel Arakelian, der an seinem Wohnort Minsk nicht allein von der Musik leben kann und sich ein Zubrot als Bodybuilder verdient. Der Trompeter Markus Türk vervollständigte den energiegeladenen Auftritt von Radio Kinshasa, der im Programm an der Stelle stand, an der früher die African Dance Nights stattfanden. Die Musik lädt nicht nur ein, sie treibt das Publikum geradezu zum Tanzen.

Ausblick

Viele gute Ideen sind in der kurzen Vorbereitungszeit von nur fünf Monaten realisiert worden, und das bei spürbaren finanziellen Einschnitten, die Tim Isfort auf der Bühne ansprach. Aber auch die eingangs erwähnten Sorgen sind nicht unberechtigt. Freunde des Festivals hoffen, dass Moers keine ähnliche Entwicklung wie das benachbarte Traumzeit-Festival nehmen wird, dessen künstlerische Leitung nach der Trennung von Tim Isfort 2012 vom Festivalbüroleiter der Duisburger Marketing Gesellschaft zusätzlich zur kaufmännischen Leitung übernommen wurde und seitdem mit erheblichen Zugeständnissen an den Mainstream fortgeführt wird. Für dieses Jahr jedenfalls erwies sich die Befürchtung, das Moers Festival könnte zu viele Kompromisse eingehen, als unbegründet. Doch andererseits sollte der Wunsch nach Besonderheit nicht in einem Kuriositätenkabinett sämtlicher Musikstile münden.

Deutlicher noch als Vorgänger Reiner Michalke hat die neue Programmleitung das Festival an verschiedene Spielorte verlagert, in die Innenstadt, in den Park, wo Kunstinstallationen zu sehen waren, ins Festivaldorf; moersify nennt sich eine der Reihen. Auch innerhalb der Festivalhalle sucht Isfort neue Formen, wie die discussions, Sessions, die in einer Art Boxring im unteren Teil der Tribüne stattfanden.

Auf der Startseite des Moers Festivals ist im Newsletter zu lesen, das gesamte Team freue sich sehr darauf, „nächstes Jahr mehr Zeit zu haben für – – – Alles!“ Das lässt hoffen.

Das vollständige Programm kann auf der folgenden Website nachgelesen werden: www.moers-festival.de/programm/programmuebersicht/




„Rambo“ statt Rezensionen

Meine Rezensions-Faulheit hat sich auch über den Jahreswechsel hinaus gehalten. Daher wird gnadenlos weiter gefaselt.

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Rezensionen gehen ja heute sowieso anders. Zunächst einmal: Man gurkt nicht mehr umständlich mit Fachbegriffen herum, überhaupt kann man sich nähere Kenntnisse sparen. Denn dann könnte man ja den Kontakt zu den einfacheren Leuten verlieren. Und das wiederum spielt nur den Populisten in die Karten. Stimmt’s oder hab‘ ich recht?

Auch gibt man sich nicht empfindsam oder einlässlich. Jeder Feinsinn ist verpönt. Viel lieber sollte man seine Kulturkritik mit jeder Menge Anspielungen auf mehrheitsfähige populäre Mythen garnieren und das Ganze kräftig „anpunken“.

Der eine oder andere * Ausruf nach dem Muster „Verfickte Scheiße!“ ist sozusagen ein Muss, will man seine street credibility auch nur ansatzweise wahren. Wer will denn schon elitär sein oder als „Intellektueller“ wahrgenommen werden?

Ich, ich!

Ich will euch was sagen. Zwei Nachbarn, die eigentlich schwer in Ordnung sind, haben mich dieserhalb auf dem Kieker. Sie verdächtigen mich, am liebsten Filme von Bergman, Rohmer, Truffaut, Tarkowskij und Angelopoulos zu sehen (was haargenau stimmt).

Drum wollen sie unbedingt erreichen, dass ich mir mit ihnen gemeinsam den allerersten „Rambo“-Film anschaue, dessen Kenntnisnahme ich bis heute – über Jahrzehnte hinweg – standhaft verweigert habe. Denkt euch nur: Zu diesem Zweck haben sie mir das Machwerk als DVD geschenkt. Einem geschenkten Gaul…

Sie locken mich mit der Behauptung, das alles sei als Ausbund kritischer Ironie höheren Grades zu verstehen. Der eine ruft schon, wenn er mich sieht, quer über die Straße „Hey, Rambo!“ Peinlich, peinlich. Was sollen die Leute von mir denken? Der andere (und ich ahne, dass er dies früher oder später lesen wird – Haaallo, winke, winke, zwinker, zwinker – Ich möchte auch meine Omas in Ludwigshafen und Greetsiel grüßen) will gar einen Beamer mitbringen, auf dass die größte freie Wandfläche im Wohnzimmer vollkommen ramboisiert werde. Dazu dürfte es dann wohl alkoholhaltige Getränke geben.

Nun frage ich in die imaginäre Runde: Soll ich mich darauf einlassen?

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* Heute sagt und schreibt man übrigens „Der ein oder andere“, weil Grammatik ja eh scheißegal ist. Fuck, fuck, fuck!




„Das mechanische Corps“ – Technik der Jules-Verne-Romane inspiriert Kunst von heute

Ausstellungsansicht, Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV i

Die Kiste kann wandern, die Lokomotive fahren; bewegliche Kunst auf den Spuren von Jules Verne (Bild: David Brandt, HMKV im Dortmunder U)

Ein Messingobjekt, das in seiner kardanischen Aufhängung einem Schiffskompaß ähnelt, zeigt muntere Bewegung; ebenso sein Gegenüber, dessen Vorbild nicht so ohne Weiteres zu deuten ist, in dem sich etwas dreht, klassisch geradezu angetrieben von einer Technik, die lineare Schub- und Zugbewegungen einer Treibstange in Rotation überführt.

An der Decke bewegen sich rhyhthmisch die Paddel einer Luft-Galeere, weiter hinten hebt und senkt eine verrottete Nähmaschine in völliger Nutzlosigkeit den Nadelschaft. Mit aufgesetzter, zweckentfremdeter Miniaturskulptur der New Yorker Freiheitsstaue fräst eine Kernbohrmaschine ein Loch in die Museumswand, über Monitore laufen Sequenzen aus Filmen, die den Menschen vor rund 100 Jahren stumm erzählten, wie die Zukunft sein würde. All dies, und noch manches mehr, ist jetzt im Dortmunder U zu sehen.

Wenn man der Unterzeile des Ausstellungstitels glauben darf, wandeln die hier vorgestellten, überwiegend noch recht jungen Künstlerinnen und Künstler „auf den Spuren von Jules Verne“. Als „mechanisches Corps“ werden sie vom Kurator Christoph Tannert bezeichnet, der die Ausstellung zusammen mit dem vestorbenen Peter Lang für das Künstlerhaus Bethanien in Berlin realisierte.

Extraschicht zur Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV im Do

Bild: Stephanie Brysch, HMKV im Dortmunder U

Die Zukunft wird militärisch

„Das mechanische Corps“ ist auch der Titel der Ausstellung, und natürlich geschieht die Verwendung des eigentlich ja militärischen Begriffes Corps mit Hintersinn. Fortschritt, der utopische zumal, nahm in den Phantasien der Schriftsteller des 19. Jahrhunderts oft paramilitärtische Formen an. Zukünftige Gesellschaftsordnungen fußten auf militärischer Disziplin, Maschinen, mit denen Unmögliches möglich werden könnte – in Sonderheit die Reise zum Mond – waren Kanonen, Granaten, Torpedos und Raketen.

Gleichwohl wäre es vermessen, im Kollektiv der ausstellenden Künstler militärisch-elitäre Trends zu suchen. Der Titel der Ausstellung, anders gesagt, greift ein wenig ins Leere. Am ehesten noch eint die Ausstellenden doch die Freude an der (motorisch generierten) Bewegung, an der Nachvollziehbarkeit mechanischer, uhrwerkhafter, sichtbarer Abläufe.

Zwar ist in unserer Zeit fast alles in Bewegung, die Bewegungen der Maschinen indes sind fast unsichtbar geworden. Was bewegt sich noch in einem Kraftwerk, an einer Elektrolok? Bewegung findet im Alltag vieler Menschen größtenteils virtuell auf dem Computerbildschirm statt, ein unbefriedigender Zustand, der die ausstellenden „Retrofuturisten“ (O-Ton Tannert) beflügelt haben mag.

Ausstellungsansicht, Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV i

Hier darf die Nähmaschine sein, was sie immer schon war: ein kinetisches Objekt (Foto: David Brandt/ HMKV im Dortmunder U)

Dampf verändert alles

Zudem war die quasi-militärische Organisation der Industriearbeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die die Zukunftsphantasien vieler Autoren prägte, den immer komplexeren Produktionsabläufen geschuldet. Sie ließen sich seinerzeit nur in militärgleich gestalteten Befehlsstrukturen meistern, denn die computergestützte Meß- und Regeltechnik, die heutzutage oft auch Robotern die Arbeit zuteilt und mit ihnen plaudert (Stichwort Industrie 4.0), gab es noch nicht. Leider bleibt dieser Aspekt in der Schau weitgehend unbeachtet.

Aber vielleicht greift das schon zu hoch. Wenn Kurator Tannert die jungen Künstler auf Jules Vernes Spuren wandeln sieht, so auch deshalb, weil dessen Bücher reich bebildert waren und die wunderbar bewegliche Technik des 19. Jahrhunderts so eindrucksvoll in Szene setzten, daß uns das noch heute zu inspirieren vermag.

Neben den Raketen war natürlich der Dampf das Faszinosum jener Zeit, der in immer größeren Kolbenmaschinen mit viel rhythmischer Bewegung arbeitete und die menschliche Zukunft radikaler und ungleich schneller verändern würde als alle Erfindungen zuvor. Auch Reisen, Messen, Berechnen und Beobachten – Letzteres vor allem mit starken Teleskopen – waren andächtige Handlungen in den Illustrationen. Eine sorgfältig zusammengestellte Diaprojektion, übrigens noch mit museumstypischen Karussell-Projektoren und richtigen Dias, zeigt dafür etliche Beispiele.

Florian Mertens, Turbine, 2013, Ausstellung "Das Mechanische Cor

Turbine von Florian Mertens (Foto: David Brandt, HMKV im Dortmunder U)

Steam-Punker lieben es rüschig

Übrigens findet die Science-Fiction-Ästhetik des 19. Jahrhunderts heute ihren jugendkulturellen Ausdruck im düsteren, viktorianisch-rüschigen Steam-Punk, dem einige der Ausstellenden huldigen und der sich als Designvariante in recht kommerziellen Produkten findet, in Armbanduhren im Kapitän-Nemo-Look zum Beispiel oder in hochgradig retromäßigen Computertastaturen mit messingglänzender Registrierkassenoptik. Auch solche Objekte hat Kurator Tannert in die Ausstellung genommen, weil sie das Gesamtbild ergänzen.

Hingegen wirken die kindlich-ungelenken, bunten Bilder von Fluggeräten und Fliegern, die an einer Wand hängen, auf den ersten Blick deplaziert. Sie stammen von Karl Hans Janke, 1909 geboren, 1988 gestorben und bei Wikipedia als Vertreter der „Outsider-Art“ gelistet. Einen Großteil seines Lebens verbrachte er in der Psychiatrie, nachdem man ihm im Krieg Schizophrenie attestiert hatte. Janke hat vor seiner Erkrankung einige patentierte Erfindungen gemacht, sich später an der Konstruktion eines „Schwingenflugzeuges“ erfolglos abgearbeitet. Erfunden hat er bis zuletzt, weshalb man ihm in der Psychiatrie „Erfinderwahn“ bescheinigte. Doch hat er auch zeitlebens den Traum vom Fliegen geträumt, vielleicht, wie verschwommen auch immer, vom Flug in eine bessere Zukunft.

„Das mechanische Corps – Auf den Spuren von Jules Verne“. Hartware Medienkunstverein (HMKV) im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, Dortmund. Bis 12. Juli 2015. Geöffnet Di+Mi+Sa+So 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr. Eintritt 5 €. Katalog des Berliner Künstlerhauses Bethanien 29 €. Infos: www.hmkv.de




„Häuptling Abendwind und die Kassierer“: Punk trifft Nestroy im Theater

Koch und Sänger: Wolfgang "Wölfi" Wendland. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Koch und Sänger: Wolfgang „Wölfi“ Wendland. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Die „Kassierer“ aus Bochum-Wattenscheid machen Fun-Punk – eine legendäre Band seit inzwischen 30 Jahren. Auf ihren Konzerten grölen sie vom Bier, das alle ist oder von „Sex mit dem Sozialarbeiter“.

Klassiker unter ihren Songs heißen „Stinkmösenpolka“ oder „Ich töte meinen Nachbarn und verprügel‘ seine Leiche“, dargeboten von Sänger „Wölfi“ Wendland gerne auch mal unten ohne, mit freiem Blick aufs baumelnde Gemächt. Weil das als Satire durchgeht, haben die vier größtenteils akademisch gebildeten Musiker bislang keine Probleme mit der Bundesprüfstelle.

Johann Nestroy ist ein österreichischer Dramatiker, der vor 150 Jahren starb. Sein Stück „Häuptling Abendwind“ gehört nicht gerade zu den Spielplan-Klassikern; es handelt von zwei Kannibalen, die sich gegenseitig ihre Frauen aufgefressen haben und versehentlich auch noch den Sohn des einen. Ein ziemlich irres Stück, das je nach Interpretation als Satire auf den Nationalismus oder auf das Gebaren der politisch-diplomatischen Klasse durchgeht – in der Hauptsache aber eher noch auf seine Wiederentdeckung wartet.

Häuptlinge des Punk: Uwe Schmieder (li), Uwe Rohbeck. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Häuptlinge des Punk: Uwe Schmieder (li), Uwe Rohbeck. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Die Idee, die „Kassierer“ und Nestroys „Häuptling Abendwind“ in einer „Punk-Operette“ zusammenzubringen, ergibt sofort Sinn – nicht nur, weil die Werke Nestroys, eines ausgebildeten Sängers und Schauspielers, sowieso halb Schauspiel, halb Operette sind.

Wer allerdings erwartet hat, dass das Schauspiel Dortmund in der Regie von Andreas Beck der Gaga-Show der Kassierer und ihren expliziten Texten etwas Hochkultur entgegensetzt, hat sich getäuscht. Die Kassierer und Nestroy, die Gleichung ergibt in Dortmund keine Inszenierung mit punkigem Touch. Sondern Punk auf allen theatralen Ebenen – da wächst zusammen, was zusammen gehört. Johann Nestroy wirkt in dieser Inszenierung wie ein früher Apologet der Punk-Bewegung. Und was noch nicht passt, das wird passend gemacht.

Wie hat man sich das vorzustellen? Zum Beispiel Atala, die Tochter des Häuptlings Abendwind, die in der Originalfassung eine der Zeit gemäße passive Rolle als Stichwortgeberin und Be-Handelte statt Handelnde hat. Darstellerin Julia Schubert zeigt dieser Rollenzuschreibung den blanken Hintern – nicht nur im übertragenen Sinne. „Ist Ihnen aufgefallen, dass ich bisher nur Reaktionssätze hatte?“, fragt  sie das Publikum und klärt es darüber auf, dass das weibliche Fleisch eine ausgebeutete Ressource sei. „Ich habe ein Recht auf lange Monologe“, verkündet sie, zetert „Nieder mit dem Patriarchat“ – und öffnet im rosafarbenen Prinzessinnen-Glitzer-Kostüm Bierpulle um Bierpulle. Mit den Zähnen.

Zum Beispiel die Häuptlinge. Abendwind (Uwe Rohbeck) und Häuptling Biberhahn (Uwe Schmieder in Bollerbuxe und Adiletten) wollen ihre Reiche vor der Leit- und Hochkultur schützen. Sie spekulieren auf eine „anarchische Revolution“ und feiern das Zusammentreffen mit einem Festmahl, das versehentlich aus Biberhahns Sohn Artuhr (Ekkehard Freye) besteht. Der wurde im fernen Europa bei den „Zivilisierten“ erzogen und sollte eigentlich Abendwinds Tochter Atala heiraten. Nun liegt er geschlachtet im Topf, die Häuptlinge stürzen sich kopfüber in die riesigen Tröge, und natürlich gibt es eine angemessen ekelhafte Fress-Schlacht am Bühnenrand, bei der das Essen (Spaghetti mit Tomatensauce) auch schon mal in den ersten Publikumsreihen landet. Dort landen im weiteren Verlauf des Abends auch noch aufblasbare Gummi-Sex-Puppen und, immerhin, einige Flaschen Bier. Denn Sven Hansens Bühneneinrichtung, das sei nachgeholt, besteht ausschließlich aus leeren Bierkisten, aus denen Thron und Sofa gebaut wurden.

Nieder mit dem Patriarchat: Julia Schubert. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Nieder mit dem Patriarchat: Julia Schubert. Foto: Schauspiel Dortmund/Birgit Hupfeld

Und die Kassierer? Die vierköpfige Band steht die ganze Zeit über auf der Bühne, liefert den Soundtrack, gibt dem Abend ihren Rhythmus, ihren Humor, ihr Niveau. Sänger Wölfi spielt außerdem den Koch. Er trägt, wie immer, ein viel zu kurzes T-Shirt über viel zu dicker Wampe und hat ansonsten das Aussehen eines freundlichen Grüffelos mit Bluthochdruck. Tatsächlich integrieren sich die Songs mühelos in die Nestroysche Handlung: „Arbeit ist Scheiße“, „Blumenkohl am Pillemann“, „Arsch abwischen“, „Mein schöner Hodensack“.

Letzter Song erklingt zum Höhepunkt des Abends, zumindest für die zahlreichen Kassierer-Fans im Publikum. Die sind es von den Konzerten ihrer Band längst gewöhnt, dass Sänger Wölfi sich irgendwann die Hose auszieht, passend zum Songtext: „Hast du schon mal so nen schönen Hodensack gesehen?“ Diesmal erleben sie eine Überraschung. Als Wölfi in seiner Rolle als Kannibalen-Koch seine blutbespritzte Metzgerschürze hebt, erblickt das johlende Publikum Schamhaar-Extensions, eine hübsche Locken-Frisur für untenrum. Sogar das passt weitgehend zu Nestroy: Tatsächlich hat im Stück der zum Festmahl erkorene Friseur Arthur den Koch mit einer neuen Frisur bestochen, auf dass er ihn verschone und statt seiner das Orakel des Stamms schlachte.

Eine Seh-Empfehlung gibt es für: Fans der Kassierer, Punks, Ex-Punks und Möchtegern-Punks sowie für alle, die nach der Lektüre dieses Textes nicht abgeschreckt, sondern neugierig sind. Wer sich jedoch auf ein selten gespieltes Nestroy-Stück freut oder im Theater gerne mal die Frage nach der künstlerischen Notwendigkeit von Nacktheit stellt – der bleibe lieber zu Hause.

Nach 75 Minuten haben die Zuschauer von „Häuptling Abendwind und die Kassierer“ die Genitalien von fünf der acht Beteiligten gesehen. Und wenn es im Song heißt „Ich möchte mir mit deinem Gesicht den Arsch abwischen“, dann wird das auf der Bühne nicht nur gesungen, sondern dargestellt. Insofern ist der Abend vor allem eines: die Erweiterung des Fun-Punk mit theatralen Mitteln. Oder auch: ein theatralisch dargestelltes Musikvideo mit Nestroy-Motiven.




Soziale Miniaturen (2): Kontoauszug

Ein stilecht abgewrackter Punk schlurft daher, heftig tätowiert, flächendeckend gepierct. Wie es das Klischee verlangt.

Auf seinem rissigen Shirt prangt die Aufschrift „Ihr seid alle ätzend!“ Hasserfüllt die ganze Haltung, jeder Blick Abwehr und Angriff. Oh, der hat Schluss gemacht mit allen Übereinkünften. Der ist sternenweit entfernt von jedem Spießertum, von jeder Normalität. Fast könnte man ihn beneiden.

Doch was tut er jetzt? Er nestelt aus dem abgewetzten Rucksack seine EC-Karte der Volksbank hervor, verschafft sich routiniert Zutritt zum Raum mit den Geldautomaten seines Vertrauens. Zieht alsdann noch die Kontoauszüge, damit das gleichfalls seine Ordnung hat. Gewiefte Marketing-Strategen könnten mit ihm ein Filmchen drehen und so für die allseits tolerante Bank werben. Man will nicht wissen, über wie viel Geld er verfügt. Doch posiert er mit blindwütiger Verachtung gegen allen Besitz. Darf man das nicht Verlogenheit, gar Idiotie nennen?

Jaja, gewiss: „Das System hat alle vereinnahmt, man kann ihm nicht entrinnen.“ Welch eine betrüblich billige Schlussfolgerung aus solch einem winzigen Vorfall. Doch ist sie falsch?