Fleisch und Geist: Dortmunder Festival „Klangvokal“ geht zurück zu den Anfängen der Oper

„Vox Luminis“ im Reinoldihaus Dortmund beim Festival „Klangvokal“. (Foto: Klangvokal)

Das Festival „Klangvokal“ in Dortmund pflegt über seinen Schwerpunkt im Mai/Juni hinaus eine Serie von Konzerten über das ganze Jahr hinweg. Letzter Höhepunkt war eine halbszenische Aufführung von Emilio de‘ Cavalieris „Rappresentatione di Anima, et di Corpo“. Damit geht das Musikfestival an den Anfang der Operngeschichte zurück.

De‘Cavalieri, ein hochgebildetes Multitalent, schrieb das allegorische Spiel im Jahr 1600 für die Bruderschaft des heiligen Filippo Neri in Rom. Jacopo Peri, der gemeinsam mit seinem römischen Kollegen mit seiner „Euridice“ am Ursprung der Oper steht, rühmt die „wundervolle Erfindungsgabe“ der Musik. In Dortmund sorgte das Ensemble „Vox Luminis“ mit einem vielfarbigen Instrumentarium nicht nur für beredte Rhythmen und variablen Klang, sondern vor allem für Transparenz, damit die kontrapunktischen Experimente, die sich über dem Generalbass erheben, deutlich zu verfolgen sind.

Cavalieris Spiel über den alten Gegensatz von Fleisch und Geist ist eindeutig für eine szenische Aufführung gedacht, denn die ersten Ausgaben enthalten Bühnenanweisungen. Kein Oratorium also, sondern eine in Szenen gegossene theologische Philosophie, geschrieben von Agostino Manni, einem Juristen, Schriftsteller und Biographen Filippo Neris. Die flüchtige Zeit – der Tenor Raffaele Giordani – äußert sich zuerst, dazu schlägt die Harfe (Sarah Ridy) eine tiefe Saite an wie den Glockenschlag einer Uhr. Der Theologe Anselm von Canterbury und der große Augustinus lassen grüßen, wenn der Verstand nach dem unstillbaren gierigen Verlangen fragt und eigentlich schon die Antwort des ganzen geistlichen Dramas vorwegnimmt: Zu erstreben ist das höchste Gut, das jedes andere Gut in sich einschließt – und das ist im christlichen Horizont des Stücks die Gemeinschaft mit Gott, die alles Sehnen stillt. André Peréz Muíño reflektiert diese existenziellen Fragen mit präsentem, brillant gebildetem Tenor.

Aber zuvor haben Körper und Geist ihren Weg der Erkenntnis zurückzulegen. Der führt über die Einsicht, dass Genuss den brennenden Durst des Menschen nur verstärkt und die Seele in sich selbst keine Befriedigung auf Dauer  erreichen kann. Giordani und seine Seelen-Partnerin – Sophia Faltas mit dem in der „alten“ Musik üblichen flach-schneidenden, vibratolosen Ton – formulieren diesen Disput sehr wort- und bedeutungsorientiert. Spannend im Sinne einer christlichen Auffassung ist, dass der Körper am Ende des ersten Aktes keinem Dualismus das Wort redet, sondern gemeinsam mit der Seele die Liebe, den Himmel, das ewige Leben und Gott, den Herrn suchen will.

Heiterkeit und Harmonie des Paradieses

Die Hindernisse, die es zu bewältigen gilt, formulieren zunächst der Counter Jan Kullmann als „Piacere“ mit seinen Begleitern Roberto Rilievi und Guglielmo Buonsanti in einem rhythmisch ausgelassenem Terzett, das in polyphoner Wirrnis endet. Das Vergnügen kann mit seiner irdischen Genuss-Botschaft nicht überzeugen. Geschliffenere Waffen zücken dann die Welt und das irdische Leben (scharf und kokett: Estelle Lefort), aber sie werden entlarvt und erweisen sich unter ihrer Verkleidung als todesträchtig. Ein Schutzengel (nicht ohne Mühe: Victoria Cassano) bestärkt die beiden Wanderer durch die Untiefen der Versuchung. Das lyrische Lamento des Körpers („Non so s’è stato bene“) und die folgende Echo-Arie der Seele sind Höhepunkte der Komposition de’Cavalieris.

Im dritten Akt erweitert sich dann der Horizont: Unter kräftiger Anteilnahme des „Guten Rats“ (Massimo Lombardi bringt eine neue Farbe ins Spiel, könnte aber die Stimme sorgfältiger kontrollieren) zeugen auch die seligen und die verdammten Seelen vom ewigen Tod und ewigem Leben (Zsuzsi Tóth und Lóránt Najbauer), bevor in einem finalen „Fest“ der Chor Heiterkeit und Harmonie des Paradieses besingen, wobei der Tenor Olivier Berten und vor allem der Altus Korneel van Neste wohlklingende, technisch befriedigende Stimmen erklingen lassen.

Die geschmückte Erde als Abbild des Himmels ist das in kraftvollen Farben gemalte musikalische Schlussbild, und sicherlich hat Emilio de‘ Cavalieri nichts gegen die Aufforderung an die „himmlischen Hierarchien“ gehabt, „neue Melodien“ zu machen. „Vox Luminis“ jedenfalls, unter der diskreten Leitung des Bassisten Lionel Meunier hat mit seiner beherzten Spielweise, seinem farbigen Instrumentarium, auch den durchaus unterhaltsamen Intermezzi und seiner Sensibilität für das gesungene Wort einen brillanten Beitrag geleistet, ein Stückchen Himmel auf dieser Erde erscheinen zu lassen.

Weiter geht’s am 10. November

Am Freitag, 10. November, setzt das Festival „Klangvokal“ die Reihe seiner Konzerte fort: Im Reinoldihaus Dortmund gestalten um 19.30 Uhr die Tenöre Emiliano Gonzalez Toro und Anders Dahlin zusammen mit dem Ensemble Gemelli Vokalmusik des italienischen Frühbarock und machen dabei auch auf unbekannte Komponisten wie Vincenzo Calestani oder Francesco Turini aufmerksam. Das Naghash Ensemble folgt am Freitag, 1. Dezember (19.30 Uhr) an gleicher Stelle mit Musik aus Armenien.

Tickets und Infos: www.klangvokal.de, Ticket-Hotline (01806) 57 00 70.    

 




Leidensweg eines unschuldigen Menschen: Bachs „Matthäuspassion“ in Dortmund und Essen

Das Freiburger Barockorchester spielte im Konzerthaus Dortmund. (Foto von 2019: Freiburger Barockorchester)

Auf ihre je eigene Weise haben zwei Aufführungen von Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ in Dortmund und in Essen ihren Beitrag zur „Recreation des Gemüths“ geleistet. Was sagen die geistlichen Werke heute einem weitgehend säkularisierten Publikum?

Ob Buß‘ und Reu‘ noch das Sündenherz entzwei knirschen? Was hat die protestantische Schuld- und Sühnetheologie noch mit uns zu tun, die sich in den Texten zu Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“ äußert? Jener Christian Friedrich Henrici, Picander genannt, hat ja nicht nur den Bibeltext zusammengestellt, sondern in den Arien reflektierende Einschübe geschaffen, in denen sich ein gläubiges Individuum dem heilsgeschichtlichen Ereignis stellt: Christus, das Lamm Gottes, leidet „auf unsre Schuld“, trägt unsere Sünden und versöhnt uns mit Gott. Aber mit welchem Gott heute, da nicht einmal mehr die Hälfte der deutschen Bevölkerung Mitglied einer der großen christlichen Kirchen sind? Geht das noch: „Sünde“ als eine bewusste Entscheidung gegen Gott und seinen Heilsplan?

Vielleicht sind die traditionellen Kontexte geschwunden, aber das Thema selbst ist nicht passé. Ein allzu allgemeiner Begriff von „Liebe“, wie er im Programmheft der Dortmunder Aufführung der Bach’schen Passion an Gründonnerstag benannt wird, dürfte kaum die Lösung sein. Aber auch jenseits bloßer musikalischer Faszination, die beide Matthäuspassionen in Dortmund und an Karfreitag in der Philharmonie Essen wirkkräftig ins Bewusstsein riefen, bleibt aus allen barocken Wortziselierungen doch ein Destillat: der Mensch, der sich existenziell verfehlen kann, der sich seiner Unvollkommenheit bewusst wird.

Nicht allein große europäische Kunstmusik

Schuldig fühlen sich Menschen heute vor der zerstörten Natur, vor der Schreckensgeschichte von Kolonialismus oder Rassismus, vor dem eigenen Anspruch auf Selbstoptimierung. Der Gott des Gerichts ist ersetzt durch ein inneres Gericht. Und was von Bach jenseits christlicher Glaubensinhalte bleibt, ist die ergreifende Schilderung des Leidenswegs eines unschuldigen Menschen, ausgelöst durch persönliche Missgunst, politische Verstrickung und ein Schicksal, das den „Kelch des Leidens“ nicht vorübergehen lässt. Die Transformation historisch bedingter Formen des Glaubensausdrucks in einen gegenwärtigen Verstehenshorizont ist unabdingbar, will man eine Matthäuspassion nicht lediglich als ein Dokument großer europäischer Kunstmusik goutieren. Wenn Gott dabei außen vor bleibt, ist das nicht im Sinne Bachs, macht die Passionen aber nicht von vorneherein bedeutungslos.

So bleiben also immerhin die Zerknirschung und die Sehnsucht nach einer „angenehmen Spezerey“ für den leidenden Jesus. Und in dieser kunstvoll ausgeformten Arie zeigt sich in Dortmund ein Manko: Die Solistenrollen besetzt das 2004 gegründete Vokalensemble Vox Luminis aus sich selbst. Die beiden Altus-Sänger Alexander Chance und William Shelton treten jeweils aus dem Chor heraus. Wer es ist, der gerade solistisch agiert, ist nicht klar, denn das Programmheft gibt darüber keine Auskunft. Wer auch immer Buß‘ und Reu‘ besingt: Die Stimme bleibt flach, vom konsonantenreichen Knirschen ist wenig zu hören, der subtile Wandel von den Staccato-Zährentropfen zum kantablen Bogen des angenehm lindernden Tröstens ist ebenso wenig zu hören. Musikalische Rhetorik ist dieser Solisten Sache nicht.

Dortmund: Weicher Chorklang, verhaltene Impulse

So bauten sich in Dortmund ziemliche Gegensätze auf, denn der von dem Bassisten Lionel Meunier geleitete Chor ist tadellos aufgestellt. Er kleidet die Eröffnung „Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ in einen weichen, mit verhaltenen Impulsen durchsetzten Klang, in dem die Knaben der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund mit leuchtender Präsenz punkten. In den dramatischen Chorstellen lässt Vox Luminis  – bei abgerundetem, aber kernigem Klang – die dramatische Temperatur deutlich steigen. Die Choräle allerdings sind kantenlos poliert und die individuelle Harmonisierung verliert sich im milden Mischklang.

Zudem zeigt sich als Nachteil, dass Meunier lediglich aus dem Ensemble heraus einzelne Impulse gibt. So gepflegt das Freiburger Barockorchester auch spielt, so geschmeidig die Flöten intonieren, so fein definiert die „Tropfen meiner Zähren“ auch fallen, so luftig und rhythmisch entschieden die Streichersolisten auftreten: Der Orchesterklang, gestimmt auf 415 Hertz, hätte so manchen rhythmischen oder Artikulationsimpuls vertragen. Auch mit den Solisten gibt es Abstimmungsprobleme im Tempo, die eine wache, ordnende Hand rasch im Griff hätte.

Die beiden Soprane Zsuzsi Tóth und Gwendoline Blondeel zeigen die angeblich „historisch informierte“ anämische Stimmfarbe und einen flach gebildeten, durch strikten Verzicht auf natürlich schwingendes Vibrato ausgebleichten, in der Höhe spitzigen Ton. Dem bemüht sich der Tenor Raffaele Giordani zu entgehen – seine Tongebung ist runder und körperlicher. Raphael Höhn nimmt als feinstimmiger Evangelist für sich ein, Sebastian Myrus ist ein Jesus, der die Worte behutsam expressiv gestalten kann.

Essen: Reaktionsschnelles und vitales Musizieren

Justin Doyle in voller Aktion, hier 2018 in der Hamburger Elbphilharmonie. (Foto: Matthias Heyde)

In Essen steht in der Philharmonie mit Justin Doyle ein kundiger Dirigent von der Akademie für Alte Musik und dem RIAS Kammerchor aus Berlin. Und das spürt man sofort: Die Koordination der Ensembles ist flexibel und reaktionsschnell, der Klang sorgsam austariert, Rhythmus und Artikulation vital zupackend. Nicht zuletzt die Choräle sind plastisch ausgeleuchtet und lassen ihre harmonische Raffinesse erkennen. Die Akademie für Alte Musik spielt konturenreich und detailfreudig, Doyle wählt organische, nicht übertriebene Tempi und hält sich – etwa in dem in Dortmund überdramatisierten Chor „Sind Blitze, sind Donner …“ – mit rhetorischen Akzenten zurück, ohne das Drama zu unterkühlen. Dafür treten Bläserstimmen reizvoll hervor, und wenn die Akademie für Alte Musik ihre Instrumenten-Vielfalt, etwa die Doppelrohrblattinstrumente auspackt, sind Farbe und Ausdruck garantiert.

Der RIAS Kammerchor (Foto: Matthias Heyde)

Wechselhaft auch die Eindrücke von den Solisten in Essen: Patrick Grahl ist ein wohlklingender Evangelist, der eher nüchtern als melodramatisch berichtet und auf vokale wie sprachliche Intensität gleichermaßen setzt. Dominic Barberi gestaltet die Sätze Jesu enorm textaffin, gibt jedem Wort eigenes Gewicht, achtet aber ebenfalls darauf, den Klang der Stimme nicht deklamierend zu beeinträchtigen. Aoife Miskelly bringt den üblichen, also kopfig-silbrigen „Barock“-Sopran mit beengt gebildeten Tönen mit, Benjamin Glaubitz ist ein zuverlässiger, manchmal nicht ganz kontrollierter Tenor.

Mit Konstantin Krimmel werden Rezitativ und Arie „Am Abend, da es kühle war“ zum spirituellen wie ästhetischen Ereignis. Der Altus Benno Schachtner hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Beherrschte und entspannt ausgeglichen gesungene Episoden wechseln ab mit solchen, in denen die Stimme ihre Position nicht findet und der Ton seine Substanz verliert – eine Art, die man von diesem Sänger, der zur Zeit an der Oper Bonn als Ottone in Händels „Agrippina“ auftritt, sonst nicht kennt.

Auf ihre je eigene Weise haben die beiden Aufführungen ihren Beitrag zur „Recreation des Gemüths“ geleistet; wenn sie darüber hinaus ihre Zuhörer zum Nachdenken über die Grenzen der menschlichen Existenz und die große, unbeantwortete Frage nach dem Sinn des Leidens – des Gottessohnes und zahlloser Menschen auf diesem Planeten – gebracht haben, hat alles künstlerische Bemühen seinen Sinn erfüllt.