Wandel des Ruhrgebiets auf 50000 Luftbildern

Zuerst habe ich „unseren“ Dortmunder Vorort angepeilt. Anfangs haben sich dort noch Wiesen und Felder erstreckt, man kann wohl von dörflichen Strukturen sprechen. Dann sind nach und nach einzelne Straßenzüge entstanden. Und immer mehr Industrie ringsum.

Doch der Weltkrieg hat immense Lücken gerissen, man sieht die Schneisen der Zerstörung. Hernach, vor allem in den 1960er Jahren, breiteten sich große Siedlungen aus. Andernorts sind zwischenzeitlich Hallen oder Stadien aus dem Boden gewachsen oder es haben sich künstliche Seen gleichsam aufgetan. Derweil sind gigantische Stahlwerke vom Boden getilgt worden. Kurzum: Fast nichts ist auf Dauer so geblieben, wie es war.

Dortmunder Luftbild von 1926: Blick auf das Stadion Rote Erde (erbaut 1926) und die alte Westfalenhalle (erbaut 1925). (Luftbild: RVR)

Dortmunder Luftbild von 1926: Blick auf das Stadion Rote Erde (erbaut 1926) und die alte Westfalenhalle (erbaut 1925). (Luftbild: RVR)

Solch imposanter, buchstäblich raumgreifender Wandel hat – nicht nur im Zeitraffer des Online-Zugriffs – etwas Gespenstisches. Beileibe nicht jede Veränderung macht zukunftsfroh. Erst recht nicht die allseits wuchernden Verkehrswege der 70er Jahre.

Und woher stammen diese An- und Einsichten? Nun, in die Stadt- und Landschaftsentwicklung des Ruhrgebiets kann man sich jetzt anhand eines reichhaltigen Foto-Schatzes vertiefen. Der Regionalverband Ruhr (RVR) hat gestern rund 50 000 Luftbilder ins Netz gestellt, die den örtlichen und chronologischen Vergleich über die Jahrzehnte hinweg erlauben. Die Zeitstufen, die man unmittelbar aufrufen kann: 1926, 1952, 1969, 1990, 1998, 2006, 2009 und 2011-2015. Es gibt also noch Ergänzungsbedarf.

Ähnlicher Bildausschnitt von 1952, diesmal mit der neuen Westfalenhalle (eröffnet im Februar 1952). (Luftbild: RVR)

Ähnlicher Bildausschnitt von 1952, diesmal mit der damals neuen Westfalenhalle (eröffnet im Februar 1952). (Luftbild: RVR)

Die Nutzer werden vor allem markante Punkte des Reviers ansteuern und vorzugsweise das Werden und Wachsen der eigenen Umgebung erkunden. Über die Stadtplan-Darstellung kann man sich punktgenau dem gewünschten Ziel nähern und sodann aus der Luft die früheren Zustände betrachten. Es ist, als würde man quasi archäologische Schichten der regionalen Zeitgeschichte freilegen. Aus der Vergangenheit mögen sich überdies raumplanerischen Impulse fürs Hier und Jetzt ergeben.

Das gleiche Areal auf einem aktuellen Bild - mit dem Westfalenstadion (vulgo Signal Iduna Park) neben der "Roten Erde". (Luftbild: RVR)

Das gleiche Areal auf einem aktuellen Bild – mit dem Westfalenstadion (vulgo Signal Iduna Park) neben der „Roten Erde“. (Luftbild: RVR)

Gerade beim Herabschauen aufs Ruhrgebiet zeigt sich, wie sehr diese diffus entgrenzte Stadtlandschaft aufgewühlt, zersiedelt, zerschnitten, vermengt und vielfach geschunden worden ist. In neuerer Zeit sind auch Beispiele für Korrekturen am stellenweise desolaten Erscheinungsbild erkennbar. Doch das alles wird noch lange dauern. Es bleibt noch Arbeit für Generationen.

Aber möchte man denn schon wissen, wie die Luftbilder des Jahres 2025 oder 2040 aussehen werden? Mh. Ich weiß nicht so recht. Da wird mir auf einmal konservativ zumute. Lieber hätt’ ich’s nicht so schnell und abrupt.

_________________________________________

Netzadresse: http://www.luftbilder.geoportal.ruhr




Fußgänger sehen mehr von der Welt – An der Uni Kassel existiert der einzige Lehrstuhl zur Spaziergangswissenschaft

Von Bernd Berke

Dortmund/Kassel. Heute schon spazieren gegangen? Ganz entspannt im Hier und Jetzt des Waldes? Gut so. Aber haben Sie gewusst, dass es eine Spaziergangswissenschaft gibt? Kein Scherz. Im hiesigen Fachjargon heißt sie Promenadologie, im englischen Sprachraum strollology.

Es begann in den 1980er Jahren. Damals beackerte der Soziologe Lucius Burckhardt (1925-2003) wohl als erster das neue Forschungsfeld. Typisch deutsch: Nicht einfach gehen, sondern übers Gehen nachdenken? Jedenfalls wollte er „die Umgebung in die Köpfe der Menschen zurückholen“. Sein Nachfolger als Dozent an der Uni Kassel war der Berliner Martin Schmitz. Er ist überzeugt: „Spaziergänge können helfen, unsere Städte bewusster zu planen.“

Promenadologie hilft Raumplanern und Architekten

Worum geht’s den Spazierforschem also? Um unsere Wahrnehmung, unseren Blick auf Landschaften, Städte und Dörfer. Mit den schnellen Verkehrsmitteln, so eine Grundannahme, hat sich unser Hinschauen verändert. Indem wir mit Autos oder Billigfliegern durch Gegenden hindurch oder über sie hinweg sausen, bemerken wir viele Details gar nicht und ignorieren hässliche Ecken.

So sehen Stadtplanungen denn auch häufig aus: kein Gespür mehr für Übergänge, Abstände, Nuancen und Details. Schmitz: „Selbst Architektur-Studenten sind auf diesem Gebiet oft unterbelichtet. Sie kennen nicht einmal das Umfeld ihrer Unis.“ Die Spaziergangswissenschaft will für „Entschleunigung“ sorgen. Wer langsam und entspannt geht, sieht mehr. Kurzum: Man will gezielte Hilfestellung geben für Architekten, Stadt- und Raumplaner. Schmitz: „Daraus können neue Impulse entstehen.“

Wie auch immer: Die Spazierforschung dürfte ein Neben- und Hilfsfach bleiben – mit allenfalls mittelfristigen, unterschwelligen Wirkungen. Es gibt Ansätze in der Forschung, den „Spazierwert“ von Regionen auf einer Skala von 1 bis 10 zu bewerten. Schmitz hält nicht viel von solchen Hitlisten. Sie verstellen vielleicht den Blick dafür, was man verändern kann.

Wenn der Weg gar nicht mehr zählt

Dabei ist genaues Hinsehen nötiger denn je. Denn neuere Entwicklungen, so Schmitz, lassen den genauen Blick noch mehr vergehen. Seit Navigationsgeräte weit verbreitet sind, interessiert meist nur noch die Ankunft am Ziel, nicht mehr der Weg – der wird ja schon ohne eigenes Zutun berechnet. Von Computer-Programmen wie Google Earth ganz zu schweigen, mit denen man virtuell blitzschnell an jeden Punkt der Erde gelangt. Wahrscheinlich kein Zufall, dass kürzlich der Kinofilm „Jumper“ so erfolgreich war: Da geht es just um „Teleportation“, also die Fähigkeit, sich sofort in jede Weltecke zu beamen. Gegenbewegungen gibt es freilich auch. Zu nennen wäre die Pilger-Mode im Gefolge von Hape Kerkelings Dauerbestseller „Ich bin dann mal weg“.

Die globale Mobilisierung hat weit reichende Folgen: Wenn man jederzeit überall sein kann, sieht es irgendwann überall ähnlich aus. Besonders die gleichförmigen Fußgängerzonen gefallen den Spazierwissenschaftlern nicht. Es klingt paradox, aber gerade diese Gehflächen wollen sie teilweise wieder durch Autoverkehr beleben.

„Durchmischung“ heißt das Zauberwort, mit dem Wohnen, Einkaufen und Arbeiten wieder näher zueinander rücken sollen. Solche Maßnahmen seien wirksamer, als wenn man (wie in Frankfurt oder Berlin) historische Häuserzeilen oder Stadtschlösser nachbaut, findet Schmitz.

Ihre Grundlagen holt die Promenadologie nicht zuletzt aus der Literatur. Vor allem im Roman sind Orte und Landschaften reine Kopfgeburten. Dieser Befund macht klar, dass auch Stadtbilder in erster Linie mit Phantasie zu tun haben. Sprich: Man kann sie sich für die Zukunft eben auch ganz anders vorstellen.

____________________________________________

HINTERGRUND

Lucius Burckhardt, Martin Schmitz

  • Der spätere „Erfinder“ der Spaziergangswissenschafft, Lucius Burckhardt (1925-2003) war in den 50er Jahren in der Sozialforschungsstelle in Dortmund tätig.
  • Er betrieb intensive Feldstudien zur Wohnsituation im Ruhrgebiet.
  • 1955 veranstaltete er in Dortmund den Kongress „Der Stadtplan geht uns alle an“.
  • In den 80ern entwickelte er an der Gesamthochschule Kassel das neue Fach.
  • Martin Schmitz  (1956 in Hamm geboren) studierte bei Burckhardt und verlegte später dessen Buch. In Kassel hat er den einzigen deutschen Lehrstuhl für Spaziergangswissenschaft inne.
  • Auch an der Uni Leipzig gibt es Seminare zur Spaziergangswissenschaft.
  • Der Künstler Gerhard Lang hat Aktionen im Sinne des Fachs veranstaltet: „Spazieren als künstlerischer Akt“.
  • Lucius Burckhardts Standardwerk: „Wer plant die Planung?“ Martin Schmitz Verlag, Berlin. 360 Seiten. 18,50 Euro.