Unterwegs fast nichts erlebt – Andreas Maiers Anti-Reise-Roman „Die Städte“

Zählen wir mal kurz auf: Wer Andreas Maiers kompakte Romane wie „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“, „Der Kreis“, „Die Universität“ und „Die Familie“ (puh!) goutiert hat, meint vielleicht, im Leben des Autors quasi heimisch geworden zu sein. Doch das ist wohl ein Trugschluss. Wer weiß schon, welchen Anteil Findung und Formung an all dem haben.

Und überhaupt hat ja vieles seine Kehrseite – wie auch im neuen, abermals wortkarg benannten Buch „Die Städte“. Gewiss, da kommen einige Orte namentlich vor, doch falls man markante Reiseerlebnisse erwartet, wird man düpiert – oder auf andere Fährten geführt. Andreas Maier hält bei all dem einen lakonisch registrierenden Tonfall, der das Groteske an äußerer Mobilität bei innerer Unbeweglichkeit erst recht hervortreten lässt.

Bloß schnell an Nürnberg vorbei

Schon das Kapitel „Nürnberg, Brenner, Brixen“ hat es (nicht) in sich. Es erweist sich als Schilderung der alljährlichen, ungemein öden Familien-Anreise zum Sommerurlaub in Südtirol, die einer seltsamen Flucht gleicht, auf der man es unbedingt früh an Nürnberg vorbei geschafft haben muss. Da geht’s um irrwitzig eingerastete Rituale – wie und wann die Mutter im Auto etwas zum Verzehr anbietet, wie der Ich-Erzähler sich als Kind in seine Asterix-Hefte vergraben hat, wie die immergleichen Parkplatzmanöver und Einkäufe für die Ferienwohnung verlaufen sind. So sehen die gerafften Notizen zum „Geschehen“ denn auch aus:

„Tage drei Ausflug Kalterer See, Fahrtzeit eine Stunde hin, eine zurück.

Tag vier einkaufen, Mittagessen beim Stremnitzer, Sanitärgeschäft.

Tag fünf Fahrt zur Seiser Alm (45 min), dort parken auf einem riesigen Parkplatz…“

Ganz schön was los.

Von derlei Ferienreisen hält der Junge prinzipiell nichts: „…der Urlaub ist lang, und ich fürchte mich schon im voraus vor ihm, wie vor jedem Urlaub. Ich fürchte mich davor, wochenlang das Haus und mein Zimmer verlassen zu müssen und an einen anderen Ort zu kommen, wo ich mich zu anderen Menschen verhalten und mit ihnen reden soll…“

Im nächsten Kapitel geht es nach Athen. Schon aufregender? Von wegen. Der Erzähler, inzwischen ein paar Jahre älter, hat sich noch einmal hinreißen lassen, mit den Eltern zu fliegen und sich zugleich vorgenommen, ihnen die Reiselaune zu versauen.

Ouzo „wie ein Grieche“ schlürfen

Es geht also kaum um die Städte, sondern um Pein und Peinlichkeit des Reisens. Einigermaßen tragfähige Erfahrungen, so ahnen wir, macht höchstens der Sohn, wenn er stundenlang in einer Bar abhängt und sich – nach Landessitte Ouzo schlürfend – „wie ein Grieche“ fühlt, während die Eltern den Reiseführern zu den antiken Stätten nachhecheln. Oder sind das allseits nur Einbildungen? Sind das allesamt fruchtlose Unterfangen?

Sodann Biarritz. Nunmehr, mit 16 Jahren, unterwegs mit einem verkorksten Typen, der überall nur auf Brüste und Pos starrt, sich aber nicht traut, Mädchen anzusprechen. Ein kurzes, aber starkes, sozusagen leichthin verdichtetes Stück über klägliche Orientierungslosigkeit, aber auch Lässigkeit in diesem Lebensalter. Es weht einen geradezu an.

Und was ist mit Oulx (Skiort bei Turin)? Nun, da ist der Erzählende allein hingereist, fest entschlossen, sich dort umzubringen. Aber es wird nichts draus, das Ansinnen versandet. Und dann ist da ja noch diese verwirrend Schöne in der Pizzeria… Das Ganze mündet in eine einwöchige Sauferei und Fresserei. Auch keine Offenbarung. Aber doch irgendwie tröstlich.

Alles nur schön und eindrucksvoll

Der merkwürdige Dreiklang „Bangkok, Friedberg, Marrakesch“ verheißt gleichfalls abstruse Nicht-Erlebnisse. Eine Bekannte präsentiert Fotostapel von ihrer gerade mal fünftägigen Bangkok-Reise und vermag zu jedem Bild nicht mehr zu sagen, als dass dies und jenes schön und eindrucksvoll gewesen sei. Quälend für den Zuhörer.

Sich daran erinnernd, hebt der Erzähler, damals Student der Altphilologie, zu einer kleinen Suada über inhaltslose, sinnfreie Reise-Erinnerungen an: „Diese Erzählungen können zum Prahlen dienen, dann sind sie am unangenehmsten. Oft führen sie schlicht zur Förderung des Selbstwertgefühls beim Erzählenden (…) Die Zuhörer reagieren, indem sie Dinge ausrufen wie: Das ist ja schön, das ist ja toll, daß du das erlebt hast…“ Und so weiter, desillusioniert bis auf den Grund. Da grinst einen das Nichts an.

Schließlich Weimar, wo der Berichtende als junger Schriftsteller eintrifft – in der damaligen „Kulturstadt Europas“ (1999). Ein wahnwitziger Massentourismus ergießt sich (vermeintlich „auf Goethes Spuren“) in die kleine Stadt, dazwischen lungern immer wieder Neonazi-Trüppchen und Einheimische, die sich bedrängt fühlen, alle Fremden misstrauisch beäugen oder gar anblaffen. Nochmals eine Karikatur des Reisens und seiner Wirkungen.

Das bleibt man doch besser gleich zu Hause, oder?

Andreas Maier: „Die Städte“. Roman. Suhrkamp. 192 Seiten. 22 Euro.




Diese wunderbare Vielfalt auf dem Planeten – mit den Reisefilmen auf 3sat wachsen Neugier, Staunen und Verstehen

Jüngst habe ich ein Filmgenre für mich (wieder)entdeckt, dem ich zuvor – aus unerfindlichen Gründen – wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe.

Teilstück der legendären Route 66, die heute abseits der Hauptstrecken liegt. (Foto: © ZDF/SRF, RTS)

Teilstück der legendären Route 66, die heute abseits der Hauptstrecken liegt. (Foto: © ZDF/SRF, RTS)

Es begab sich auf dem Umweg über die Internet-Seite www.sendungverpasst.de Wenn man da einmal zu stöbern beginnt, findet man so allerlei Sehenswertes in den diversen Mediatheken. Ich bin vor allem bei 3sat hängen geblieben, genauer: bei den zahlreichen Dokumentarfilmen über fremde und zumeist ferne Länder.

So bin ich jetzt in wenigen Tagen filmisch nach Tasmanien, Tokio und über die legendäre Route 66 quer durch die USA sowie durch den nordwestkanadischen Polarwinter gereist. Mal schauen, wohin es mich demnächst so treibt, wahrscheinlich erst einmal zum Aufwärmen in die Südsee. Auch wenn das alles natürlich keine echten Reisen ersetzen, sondern bestenfalls anregen kann, nimmt man auf solchen Wegen doch schon ein paar Eindrücke mit.

Von Tasmanien bis kurz vor den Nordpol

Nehmen wir den Filmen die Befunde einfach mal ab: Welche wunderbaren, inzwischen freilich auch schon bedrohten Refugien seltene Tierarten in Tasmanien vorfinden, wie sehr sich Einzelne dafür engagieren! Wie verblüffend regelhaft rund 37 Millionen Japaner in der weiteren Agglomeration von Tokio miteinander und einsamst ohne einander leben, so dass sich viele von ihnen Gesprächspartner(innen) stundenweise mieten, während sie mit ihren direkten Nachbarn oft kein einziges Wort wechseln. Wie staunenswert aufgeräumt und wie wenig aggressiv diese Megalopolis erscheint.

Straße im Tokioter Vergnügungsviertel Kabukicho. (Foto: © ZDF/SR/Stephan Düfel)

Straße im Tokioter Vergnügungsviertel Kabukicho. (Foto: © ZDF/SR/Stephan Düfel)

Und weiter: Was für sympathisch eigenwillige Leute entlang der längst nostalgisch gewordenen Route 66 leben, die durch acht Bundesstaaten von Chicago bis Los Angeles führt. Vergesst mal allen sonstigen Ärger über „die“ Amis, solche Zuschreibungen sind eh meistens Quatsch; hier begegnet man jedenfalls prächtigen Typen! Und wie heroisch die Menschen im äußersten Nordwesten Kanadas irrsinnige Temperaturen mit Blizzards als schiere Alltagszutaten ertragen, so dass sie bei Minus 15 Grad schon aufatmen und den nahenden Frühling wittern. Man sollte daran denken, wenn man das nächste Mal über lachhaft kleine Schneehügelchen jammert.

Mit wachen Sinnen unterwegs

Obwohl 3sat als renommierter Kultursender gilt, sind die vier erwähnten Dokus nicht einmal sonderlich tiefgründig, sie dringen (in jeweils nur rund 45 Minuten) kaum wesentlich in verborgene Schichten des gesellschaftlichen Lebens vor, sie folgen ihren mehr oder weniger vorgezeichneten Spuren aber mit wachen Sinnen und ausgeprägt ästhetischem Sensus, immer bereit, am Wegesrand noch etwas Neues wahrzunehmen.

Jeder dieser Filme bringt Besonderheiten ans Licht, die es so nur in den jeweiligen Gegenden gibt. Doch eines haben sie letztlich alle gemeinsam: Man begreift noch einmal neu die ungeheure Vielfalt auf diesem Planeten, die sich hoffentlich durch jede Globalisierung hindurch fortsetzen wird. Man lernt, verschiedenste Fähigkeiten zu bewundern, etwaige spezielle Schwächen zu verstehen und überhaupt tausend Lebensformen nicht nur zu tolerieren, sondern zu schätzen. Ein Grundgefühl dabei: Freundliche, warmherzige Menschen, die gleich für sich einnehmen, gibt es gottlob überall. Und auch solche, deren Eigenarten oder Schroffheiten man eben zu akzeptieren hat. Dass unser gutes altes Europa bei all dem nicht im Zentrum, sondern gleichrangig neben anderen Weltzonen steht, versteht sich von selbst.

Und nun schaut. Oder noch besser: reist.




Wer fliegt denn da einfach mal so nach Zypern?

Also bitte, reden wir nicht mehr drüber. Über das ärgerliche Spiel gestern Abend. Schon während der BVB-Blamage beim erschröcklichen Giganten Apoel Nikosia (da steckt das reviertypische „Pöhlen“ quasi schon im Vereinsnamen, hoho) schweiften meine Gedanken ab.

Schwarzgelbe Fankurve an der Grenze zur Abstraktion. (ARD-Screenshot vom Pokalfinale in Berlin)

Schwarzgelbe Fankurve an der Grenze zur Abstraktion. (ARD-Screenshot vom Pokalfinale in Berlin)

Als es dann eh nichts mehr zu deuteln gab, habe ich mich ablenkungshalber gefragt: Was sind das wohl eigentlich für Leute – diese sangesfreudigen Fußballfans, die an einem gewöhnlichen Dienstag einfach mal so nach Zypern fliegen und dort ins Stadion strömen? Allgemeines Gemurmel: „Billigflieger“. Trotzdem muss man schon ein paar Mark mitbringen und genügend Muße haben. Sie fahren oder fliegen ja auch nicht nur einmal.

Ja, sie scheinen immerhin Zeit u n d Geld für derartige Exkursionen übrig zu haben, eine wahrhaft beneidenswerte Kombination also. Als man jung war, hatte man deutlich mehr Zeit als Geld, später denkt man vielleicht von Fall zu Fall, es sei umgekehrt. Aber lassen wir das. Es führt zu nichts und füllt keine Kassen.

Bezahlen etwa die Eltern dem Ultra die kontinentalen Ausflüge, die ja theoretisch schon mal bis nach Kasachstan oder Israel führen können? Damit er nicht noch mehr Randale macht. Oder damit er sie halt woanders macht als daheim. Vielleicht ist er ja auch der schon zum Klischee geronnene Sparkassen-Angestellte, der außerhalb seines Instituts schon mal gepflegt die Sau `rauslässt. Oder er macht am Ende überhaupt keine Randale. Das wäre ja ein Ding. Womöglich stimmt ja keine schnellfertige Mutmaßung.

Laut TV-Kommentator sind fürs gestrige Match immerhin rund 1500 Leute mit dem BVB nach Nikosia aufgebrochen. Nicht wenige von ihnen dürften durch Champions League und Europa League etliche Länder „kennen gelernt“ haben. Oder vielleicht eher deren Getränkekarten. Obwohl: Braucht’s für trinkfeste Gesellen eine Getränkekarte? Fragen über Fragen.




In der Fremde soll man sich ändern – Matthias Polityckis anregendes Buch über das Reisen

Auf der Rückseite des Umschlags steht es abermals: Matthias Politycki (Jahrgang 1955) wird gelegentlich als Abenteurer und Draufgänger der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnet. Das mag ja stimmen. Fest steht jedenfalls: Der Mann ist ungeheuer viel und zuweilen recht riskant gereist – bis in die letzten Weltwinkel. Davon legt er in seinem neuen Buch beredtes Zeugnis ab.

Der längliche Titel zieht schon entsprechend weite Horizonte auf: „Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“ heißt der Band, der wirklich auf ausgesprochen vielfältigen Reiseerfahrungen basiert. Auch die allermeisten Backpacker dürften auf vergleichsweise ausgetretenen Pfaden unterwegs sein. Von verwöhnten Individual- oder Pauschaltouristen ganz zu schweigen.

Wo ist nur die alte Freiheit geblieben?

Gleich eingangs benennt Politycki ein Grundproblem heutigen Reisens, das – von Ausnahmen abgesehen – bis vor einiger Zeit noch relativ ungebrochen als Synonym für Freiheit gegolten hat. Jetzt freilich, unter dem Eindruck von Krieg, Terror, Globalisierung und weltweiten Flüchtlingsströmen, habe sich ein tiefer Bedeutungswandel vollzogen. „Reisen hat seine Unschuld verloren“. Sagen wir mal: spätestens jetzt, vielleicht für alle restliche Zeit.

Die einst als „Exotik“ wahrgenommene Fremde könne nun bereits beginnen, wenn wir aus der heimischen Haustür gehen. Andererseits gebe es „da draußen“, also rund um den Erdball, oft nichts grundsätzlich „Anderes“ mehr zu entdecken. Da stellt sich die Frage, was denn eigentlich authentisch sei. Vielleicht gar nichts? Oder eben alles. Auf seine Weise. Doch trotz wachsender Bedenken treibt es Politycki immer wieder hinaus in die Ferne. Es ist eine unstillbare Sehnsucht.

Immer neue Bewährungsproben

Aber keine Angst. Politycki theoretisiert und reflektiert natürlich nicht nur, er wird sozusagen tausendfach konkret und schöpft freigebig aus dem reichen Reservoir seiner Erfahrungen. Dabei geht es vor allem um die Haltung des Reisenden, der sich in verschiedenen Weltgegenden jeweils ganz anders benehmen und bewähren müsse, nirgendwo jedoch unterwürfig.

Auf Reisen, so Politycki, treffe man vor allem Menschen aus der Unterschicht der jeweiligen Länder. Daher müsse man sich – zumal als Alleinreisender – handfest und selbstbewusst behaupten, notfalls gar hart auftrumpfen, um nicht unterzugehen und seine Würde zu wahren. Da man sich – auch mit Englisch – längst nicht überall verständlich machen könne, müsse man sich dafür auch eine angemessene Körpersprache zulegen.

Ist das ein Beispiel neudeutscher Überheblichkeit? Wohl kaum. In entlegenen Gebieten unterwegs, muss man sich schon so mancher Zudringlichkeit zu erwehren wissen, diese Einsicht vermittelt Politycki sehr glaubhaft. Ansonsten ist er jederzeit bereit, seine Urteile zu korrigieren, zu relativieren und neu zu fassen. Eben das sollte ja eine Frucht wirklichen Reisens sein.

Auch Müllberge und Slums nicht gemieden

Mit wohlmeinender politischer Korrektheit, so der Autor, komme man jedenfalls nicht weit. Und überhaupt: „Je weiter er in der Welt herumgekommen ist, desto schwerer wird es dem Reisenden fallen, zu übergreifenden Meinungen und Etikettierungen zu gelangen.“ Somit erweist sich intensives Reisen auch als permanente Verunsicherung.

Touristische Stätten erscheinen dem erfahrungshungrig Suchenden in aller Regel als Enttäuschungen, als hoffnungslos überfüllte Plätze, an denen „sich die Weltjugend zum Posen trifft“ und Millionen Selfies knipst. Der Autor hingegen scheut sich nicht, beispielsweise indische Müllberge zu besteigen, um auch diese abscheuliche Seite des ungeheuren Subkontinents am eigenen Leibe zu erfahren. Ebenso ist er (notgedrungen „kalten Blickes“) durch etliche Slums gezogen, um alle Stufen des Elends zu sehen und also vor der furchtbaren Wirklichkeit nicht die Augen zu verschließen. Es ist sicherlich kein zynischer Voyeurismus, der ihn treibt, sondern Erkenntnisdrang. Das darf man ihm glauben.

Wer so unbedingt reist, kommt zwangsläufig in extreme, manchmal auch gefährliche Situationen, in physische und psychische Grenzbereiche – ob nun in Nepal, Samarkand, Ruanda, Lateinamerika oder Japan, um nur ganz wenige Zielgebiete zu nennen.

Wo gibt es die besten Barbiere der Welt?

Politycki erzählt von all dem sehr anschaulich und keineswegs mit dem Gestus des Eroberers oder Triumphators. Er erwähnt auch manche Peinlichkeit, manche „Niederlage“ in der Fremde. Es sind buchstäblich Erfahrungen fürs Leben. In der Fremde ist man zuweilen rundum gefordert, kann und muss man ein Anderer werden, sich neu erproben. Das fängt schon mit äußerlichen, nur scheinbar „banalen“ Dingen wie dem indischen Straßenverkehr oder dem japanischen Straßensystem an.

Anregend sind auch einige Exkurse wie etwa der aufschlussreiche Vergleich von Barbier-Besuchen in verschiedenen Ländern. Der Autor greift nach und nach zahllose Aspekte des Reisens auf und zitiert dabei, um den Kreis nochmals zu erweitern, en passant nicht nur große Reiseschriftsteller wie etwa Bruce Chatwin, sondern auch ähnlich reisesüchtige Gefährten und Freunde.

Ein gewisser Überdruss gehört irgendwann dazu

Als Signale vom Gegenpol liest man in diesem Kontext Zeilen des Reise-Skeptikers Gottfried Benn: „Ach, vergeblich das Fahren! / Spät erst erfahren Sie sich: / bleiben und stille bewahren / das sich umgrenzende Ich.“ Nein, dieser Stubenhocker! Doch den Überdruss am Reisen, das Gefühl, alles schon (eindrucksvoller) gesehen zu haben, den kennt selbstverständlich auch Politycki.

Unterdessen fragt man sich, wann und wie Politycki neben den Reisen überhaupt noch die Zeit zum Bücherschreiben aufgebracht hat. Egal. Er hat’s ja mal wieder geschafft. Dieses mit Erfahrung gesättigte, durchlebte und durchdachte Buch kann die Einstellung zum Reisen und damit zum Dasein ändern. Es gehört ins Regal – oder besser noch: gleich ins Reisegepäck.

Matthias Politycki: „Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“. Hoffmann und Campe. 351 Seiten. 22 €.




Verlorene Illusionen: Die gar nicht mehr so wunderbaren Reisen der Sibylle Berg

Sibylle Berg kennt man als Dramatikerin, Autorin und polarisierende Kolumnistin. Einem breiten Publikum weniger bekannt hingegen sind ihre Reisereportagen. Das könnte sich jetzt ändern. Unter dem nicht so ganz zutreffenden Titel „Wunderbare Jahre – als wir noch die Welt bereisten“ ist eine Sammlung von Erlebnisberichten der vielgereisten Frau Berg erschienen.

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Der Klappentext verspricht uns Erzählungen aus einer schönen, abenteuerlichen, romantischen Welt. Wer Sibylle Bergs Werke auch nur ein bisschen kennt, kann sich allerdings schon denken, was er direkt in der Einleitung erfährt: Wer sich auf der Couch fein eingekuschelt gerne in nostalgischen Gefühlen ergehen möchte, der schaue sich lieber wunderschöne Rucksack-Dokus auf Kultursendern an.

Krisen- und Erregungsgebiete

Die Reportagen aus Sibylle Bergs „wunderbaren Jahren“ zeigen hingegen: Der Terror war immer schon da, angstfrei reisen konnte man nie. Die Berichte erzählen aus Krisengebieten wie dem Kosovo in den Neunzigern, aus Erregungsgebieten wie Cannes zur Festival-Zeit, von ganz persönlichen Erfahrungen in Herzensstädten der Autorin oder auch ganz profan von der Langeweile als Passagierin auf einem Frachtschiff.

Doch eines war anders damals: Damals, das war die Welt, als man noch Fernweh hatte und verklärungsbereit war. Die wunderbaren Jahre waren deshalb wunderbar, weil man noch Hoffnung hatte.

Das Meer ist nur noch Wasser

Nun setzt die Desillusionierung ein. Wenn man Meer nicht mehr als Meer, sondern einfach nur als Wasser sieht, trauert man um die Zeit, in der alles aufregend war. Leben nutzt sich eben ab. So einfach, aber auch wesentlich zugleich sind manche Erkenntnisse, die Sibylle Berg in diesen Berichten vermittelt. Den Gegensatz zwischen der einstmals hoffnungsfroh zu einer Reise aufbrechenden Autorin, die noch glaubte, die Welt verbessern zu können und der heute fast komplett desillusionierten Kolumnisten wird vor allem durch die Nachsätze herausgearbeitet, die auf jeden ihrer Reiseberichte folgen und die in kurzen, knappen, sehr sachlichen Sätzen den heutigen Zustand des jeweiligen Reiseziels beschreiben.

Der erste und der zweite Blick

Sibylle Berg kann sehr elegant formulieren, ihre manchmal genial bösen Spitzen erkennt man oft erst auf den zweiten Blick. Vermutlich ist dies mit ein Grund dafür, dass sie oft polarisiert. Die einen nicken auf den ersten Blick und merken erst auf den zweiten, dass sie ertappt worden sind. Die anderen sind beim ersten Blick irritiert, nicken dann aber beim zweiten. Auch in ihren Reisereportagen ist die präzise Beobachterin Berg gewohnt gnadenlos ehrlich, sie geht aber auch mit sich selbst und ihrem einstigen Blick auf die Welt schonungslos ins Gericht.

Arroganz nur bei Bedarf

Auch der Tonfall ist nicht durchgehend so, wie man ihn von der gern überspitzenden Kolumnistin kennt. Ihre oft beanstandete Selbstgerechtigkeit hat sie in diesen Berichten jedenfalls außen vor gelassen und die ihr nachgesagte Arroganz lebt nur auf, wenn sie gebraucht wird – um dem Leser und dem Reisenden, also auch sich selbst den Spiegel vorzuhalten. Vor allem an der sich selbst tätschelnden Wohlstandsgesellschaft arbeitet sie sich böse ab, der Bericht über Cannes kriegt zur Strafe für soviel glitzernden Glamour nicht einmal eine der begleitenden Illustrationen der ausgezeichneten Comic-Zeichnerin Isabel Kreitz. Da sind die kleinen Lästereien, die sich ab und an gönnt (wie etwa im Bericht über London am Tag der Königskindeskinder-Hochzeit) nachgerade erholsam.

Sibylle Berg: „Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten“. Carl Hanser Verlag, München. 186 Seiten, €18,50.




Familienfreuden auf Reisen: Die Sache mit Axel

Fiona hat wochenlang nichts mit anderen Babys zu tun gehabt. Und das, wo sie sonst einmal pro Woche mit der Pekip-Spielgruppe und beim Babyschwimmen alles zum Einstürzen bringt.

Trotzdem waren die Wochen alles andere als langweilig. Fiona hat riesige Redwoods bestaunt, Oregons bewegte Küste stumm bewundert, mit lustigem Gebrabbel einen Berg nach dem anderen besungen und sogar quietschend einen Schneespaziergang (!) mit uns gemacht (Normens Kommentar für andere Wandernde: „We brought our own sound system.“) Aber Babys? Immer nur in Tragehilfen verpackt oder aus der Ferne, in ihrem Kinderwagen, so dass maximal ein sehnsüchtiges Winken drin war. Wochenlang keine adäquate Unterhaltung. Und dann kam Axel.

Keine anderen Babys weit und breit. (Foto: Normen Ruhrus)

Keine anderen Babys weit und breit. (Foto: Normen Ruhrus)

Normen und ich waren durch unser Frühstück – French Toast mit Würstchen und Omelette, oh yeah! – abgelenkt, aber Fiona sah ihn schon aus dem Augenwinkel. Braunes Haar (zumindest der Ansatz), braune Augen, todschicke Latzhose und geringeltes Oberteil. Was für ein Mann (to be). Axel! Dass Fi’s Patenonkel (auf Englisch viel cooler „Godfather“) auch so heißt, war sicher ein gutes Entrėe. Fi schien sich in ihrer Blümchenjacke aufzusetzen.

Das wiederum blieb von Axel nicht unbemerkt. Sehnsüchtige Blicke aus dem Augenwinkel, schüchternes Winken? Axel war kein Mann der subtilen Annäherung. Um ehrlich zu sein: er ließ einfach einem Sabberfaden freien Lauf.

Kaum rückten wir die beiden näher aneinander, berührten sich die Babystühle, gab es einen Mini-Urknall: „Jadaddada!“ eröffnete Fi die Konversation. „Bababababa!“ stimmte Axel gut gelaunt zu. Für uns das Signal: Was auch immer wir in dem Urlaub tun würden, Grimassen, Lieder, die Eröffnung von Bergen, Seen und Tieren – es würde immer nur die zweite Wahl bleiben. Keine Chance gegen Axel. Finger berührte Finger, Hand landete auf der Nase, Finger im Auge… – die Liebe war kurz, aber heftig.

Lange noch winkte Fi Axel hinterher als wir das Café verließen. Und wir summten leise: „Bye, bye, Mister American Pie!“

P.S.: Falls sich jemand über unsere Aufenthaltsdauer wundern sollte – Kolumnen kann man auch aus der Erinnerung schreiben :-)!




Als Gernhardt die traurigen Tropen sah

Wird Robert Gernhardt (1937-2006) jetzt das posthume Schicksal gewisser Rockstars zuteil? Wird man fortan jede klitzekleine Notiz oder Skizze publizieren, die er je zu Papier gebracht hat?

Es gibt tatsächlich ein paar banale, nichtssagende Abschnitte in seinen Reisenotizen „Hinter der Kurve“, die einen solchen Argwohn nahelegen könnten, etwa diesen Absatz: „Die Thai können in der Tat kein ‚R’ aussprechen: ‚You have loom foltyfoul’ oder ‚Hello, Mistel! Der Thai liebt Inschriften und versteht es nicht, Karten zu lesen.“ Ach so.

Gernhardt selbst hätte für eine solche Buchausgabe bestimmt strenger ausgewählt, er hätte mehr verworfen, als sich die Herausgeberin Kristina Maidt-Zinke getraut hat. Offenbar mochte sie keine Gernhardt-Sätze antasten. Auch musste der Band ja einen ordentlichen Umfang erreichen. Und so fanden auch ein paar schwächere Passagen Einlass.

Robert Gernhardts Erdenwallen habe ich bislang immer hauptsächlich in und um Frankfurt am Main bzw. in der Toskana verortet. Welchen Lesern war schon bewusst, dass dieser begnadete Schriftsteller und Maler auch Kanada, die USA, Jamaica, Brasilien, Indonesien, Thailand, Südafrika und Botswana bereist hat? Um nur die außereuropäischen Destinationen zu nennen. Somit wird es also doch wieder interessant: Was hat einer wie Gernhardt aus fernen Ländern zu berichten?

Das Buch beginnt freilich in Europa – und dort mit Gernhardts Geburtsstadt Reval (Estland). Alsbald erfahren wir, warum Reisen trotz allem immer noch bildet und ermuntert: „(…) weil der durch lange Seßhaftigkeit bereits schwerfällig Gewordene sich auf einmal wieder als Möglichkeitswesen begreift…“

Man ahnt es schon: Gernhardt sucht, wenn überhaupt, dann eher widerstrebend die touristisch überlaufenen Sehenswürdigkeiten auf und beobachtet statt dessen lieber Tierwelt, Landschaft oder den Alltag der Menschen, soweit man dies als Fremder überhaupt vermag.

Doch gerade an entlegenen Orten erfasst ihn das touristische Weh und Ach. Grundmuster: Der Westler beute quasi mit jedem Blick die „Dritte Welt“ aus, im Gegenzug werde er übers Ohr gehauen, wo es nur geht.

Unentwegt reflektiert Gernhardt seine Rolle als Reisender. Seit den 50er Jahren, als er nach Italien und Griechenland aufgebrochen war, zählte er zu jenen, die Gelände erkundet haben, das später Mengen oder gar Massen anzog. Auf diese Weise blieb nichts mehr „unberührt“. Doch auch Kritik an allzu wohlfeiler Tourismus-Kritik gehört hier zum Lieferumfang. Ständige Zerknirschung bringt eben auch keinen sonderlichen Ertrag. Also wird der „sensible Tourist“ seinerseits zur komischen Figur.

Und überhaupt. Versäumt man nicht eh immer das Beste, weil man ein prinzipiell Zuspätgekommener ist? „Je länger man lebt, häufen sich solche Geschichten, in denen einem das Gefühl vermittelt wird, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein: Berliner Künstlerbälle direkt nach dem Krieg…Bali vor 1970…Die Welt vor der Revolution 1789…“

Auf europäischen Pfaden durchstreift der Augen- und Sinnenmensch Gernhardt natürlich auch die wichtigen Museen. Dabei ist ihm ein von Vermeer, Frans Hals oder Velázquez gemaltes Detail im Zweifelsfalle lieber als eine noch so triumphale „Siegesallee der Moderne“. In der National Gallery zu London hält er fest: „All diese Konzeptmaler, die kein gescheites Handwerk mehr erlernt oder es über Bord geworfen hatten, um ihre Persönlichkeit zu verwirklichen (…) Van Goghs rohe Farben, Cézannes Unfähigkeit, nackte Weiber zu zeichnen bzw. sie so zu gruppieren, daß aus dem Sujet nicht eine unsägliche Arsch- und Ballonparade wird – welch ein Niedergang!“ Ein couragiertes Urteil, fürwahr. Es mündet in den Stoßseufzer: „Schade, daß es so enden mußte. Daß nicht Manets Fackel weitergetragen wurde, sondern Cézannes fragwürdiger Kienspan…“

Dann also weit, weit hinaus; dorthin, wo museale Kultur so gut wie keine Bedeutung hat. In Indonesien verspürt Gernhardt Momente wahrer Fremdheit und buchstäblicher Exotik, was ihn bei aller Faszination nicht hindert, auch solche nüchternen Feststellungen zu treffen: „Das Meer schlägt hier mit tödlicher Gleichmäßigkeit an den Strand – eigentlich ein dämliches Geräusch.“ Die über allem schwebende große Gleichgültigkeit, die fließenden Geschlechter- und Körpergrenzen werden ihm zu Signaturen einer gänzlich anderen Welt. Er spricht von düsteren, traurigen Tropen. Zugleich sieht er einen schmerzlich grellen Kontrast zwischen den schönen, anmutigen Einheimischen und überwiegend hässlichen Besuchern aus reichen Ländern.

Gernhardt standen bekanntlich nicht nur die Feinheiten sprachlicher Beschreibung zu Gebote. Die eingestreuten Illustrationen belegen abermals seine zweite Begabung. In schwungvoller zeichnerischer Linienführung erfasst er das Wesenhafte eben auf andere, unmittelbar einleuchtende Art.

In Thailand beschleicht ihn der schon fast ketzerische Gedanke, was ihn eigentlich diese ganze buddhistische Kultur anginge? Dann aber der Zwiespalt: „Und doch könnte er den Moment nicht ertragen (…), in welchem ihm einer sagt: Du warst in Bangkok und hast den Smaragd-Buddha nicht gesehen?“ Ferner geht ihm das Klischee auf den Geist, in Bangkok herrsche chaotischer Verkehr und mittendrin stünden immer Tempel. Doch genau darin bestehe ja „das spezifisch Bangkokische“ (…) Wahnsinnsverkehr und Mittendrintempel“. Es ist vertrackt.

In Botswana fällt ihm auf, wie sehr das Fernsehen mit seinen Tierfilmen die Wahrnehmung geprägt hat. Europäer oder Nordamerikaner wollen folglich “nicht lediglich Tiere sehen, sondern Tiere in Ausnahmesituationen. Wie sie gezeugt, geboren, getötet oder gefressen werden. Bzw.: Wie sie kämpfen oder spielen.“ Die Wirklichkeit bei der Jeep-Safari sieht dann meistens etwas stumpfer aus: „Da stehen die Tiere rum, gucken, fressen.“

Robert Gernhardt: „Hinter der Kurve. Reisen 1978-2005“. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 302 Seiten. 19,99 €




Leuchtende Hoffnungen der 60er Jahre – Peter Kurzecks Hörbuch „Unerwartet Marseille“

Es gab eine Zeit, in der die Welt von Tag zu Tag besser zu werden schien. Auch nach der Sommersonnenwende (21. Juni) soll damals die Helligkeit noch zugenommen haben. Wie denn das?

Wenn jemand damals einen Tramper mitnahm, so bedeutete das einfach: einsteigen, sein Leben mitbringen, sich freimütig austauschen. Es war der Vorschein des Jahres 1968, der da schon flirrte. In dieser Zeit vordem ungeahnter Freiheitsversprechen wollten die Jungen und Neugierigen, einmal aufgebrochen, immer und immer weiter fahren. Da konnte es geschehen, dass man auf einmal in Südfrankreich war, obwohl man doch am nächsten Tag wieder hätte arbeiten sollen: „Unerwartet Marseille“, so telegraphierte Peter Kurzeck damals seinem Arbeitgeber als „Entschuldigung“ – und wurde nicht entlassen. Ein paar Jahre später hat sich Kurzeck fürs Leben eines Schriftstellers entschieden. Auch davon weiß er mit großer Genauigkeit und ansteckender Begeisterung zu berichten.

Peter Kurzeck (Jahrgang 1943) zuzuhören, das ist eine Labsal. Wesentliche Teile seines Werks sind just mündliche Erzählungen – und von dort kommt ja letztlich alle Literatur her. 2007 kam seine weit ausgreifende, nicht genug zu preisende Kindheits-Geschichte heraus: „Ein Sommer, der bleibt“ (4 CDs, 290 Minuten, erschienen bei supposé, Berlin, 34,80 Euro), jene wunderbar detailreich gesponnene nordhessische Nahansicht der bundesdeutschen Nachkriegszeit aus der Perspektive eines kleinen Jungen und sodann Heranwachsenden. Man möchte sie geradezu trinken, all diese wahrhaftigen Augenblicke, die sich nie zur falschen Idylle verklären. Manches ist zum Flennen schön.

Jetzt also liegt Kurzecks neues Hörbuch vor: „Unerwartet Marseille“ (2 CDs, 123 Minuten, erschienen bei Stroemfeld, 19,80 Euro). Es ist die Aufzeichnung einer Live-Lesung an der Universität Siegen vom 25. Mai 2011. Da erstrahlen noch einmal die Hoffnungen, die viele junge Menschen vor und um 1968 nicht nur gehegt, sondern innigst gelebt haben. Taucht man ein in Kurzecks wunderbar ruhigen Erzählfluss, so möchte man weit, weit getragen werden – am liebsten bis an die Gestade gelungener Zukunft, an die Ufer der Utopie. Zitat: „Alles, was man sieht, fängt ein bisschen zu leuchten an.“

Der linke Großvater erzählt, zum soundsovielten Male? Oh nein, das ist es beleibe nicht. Kurzecks Mitteilungen aus der Vergangenheit sind bar jeder Ideologie, überhaupt frei von jeglicher Anmaßung. Weder geht es hier um Deutungshoheit, noch kann von Naivität die Rede sein. Längst Verwehtes wird getreulich im gesprochenen Wort bewahrt. Man könnte meinen, etwas vom Geist jener Zeit wehe auf einmal wieder hier und jetzt. Es muss da eine Substanz geben, die womöglich bleibend ist. Welch ein wertvoller Stoff!

Der Erzähler glitt im milden Dauerrausch durch Tage und durchwachte Nächte. Allfälliges Kiffen und Trinken „von Glas zu Glas“, an anderer Stelle als „konsequentes Trinken“ bezeichnet, grundieren die ungemein gelassene Wahrnehmung, für die sich alles im Fluss befindet. Vor allem im Sonnenlicht funkelnde Weiß- und Roséweine verschönen die ohnehin schon wunderbaren Tage.

Kurzeck hatte damals spürbar Lebenshunger, war stets begierig auf neue Gegenden und Menschen, sorglos unterwegs, für ein paar Jahre gleichsam „unsterblich“. Seine Reisewege führen z. B. nach Amsterdam, München, Venedig, Triest, Istrien, Wien, Schweden, ans Nordkap. Jede Stadt und Region hat zwar ihr eigenes Gepräge, doch überall gibt es den Hauch der neuen Hoffnung.

Schon 1964 fährt Kurzeck erstmals ins goldene Prag, wo viele Menschen bereits den Vorfrühling in Köpfen und Herzen tragen. Und dann erst 1968, dort! Da herrscht rundum das intensive Gefühl, dass die Welt besser wird, dass alles schlichtweg so sein soll und nicht anders… In diesem Klima ist der Erzähler immer wieder neu verliebt, denn siehe, auch die Frauen sind in jenen Tagen schöner denn je!

Wehmut und Wut darüber, wie dieses Wachsen der Utopie hernach zertreten und von Panzern überrollt wurde, werden insgeheim miterzählt, doch es überwiegt der Gestus des rettenden Festhaltens der federleichten Freiheit – für diese und für kommende Zeiten: Solche Tage waren einmal möglich. Warum soll es nicht einmal wieder so werden?




Was uns ins ferne Länder lockt – Cees Nootebooms „Schiffstagebuch“

Das kennen alle Menschen, die jemals von Fernweh ergriffen worden sind: Schon die bloße Nennung von Ländern und Städten oder ihr bloßer Anblick auf Landkarten kann einen dazu verführen, sich auf den Weg zu machen.

Auch Cees Nooteboom, einer der großen Reisenden der Gegenwartsliteratur, lässt sich auf diese Weise durch die Welt treiben: „…immer waren es Namen, die mich irgendwohin gelockt haben.“ Wer derart ins Ungewisse aufbricht, der will immer und immer hinter die jeweils nächste Wegbiegung schauen. Ein Ding der Unmöglichkeit. Irgendwann muss man aufhören, und sei’s mit der ganzen Lebensreise. Manches sehen heißt noch mehr versäumen. Und doch bleibt diese „Sehnsucht nach einer ewigen Bewegung ohne Ankunft und Aufbruch“.

Nootebooms „Schiffstagebuch“ ist längst nicht nur Wegbeschreibung und Ortserkundung, sondern eine reichhaltige Reflexion über Phänomene und Phantome des Reisens an sich. Der Schriftsteller gibt sich hier der langsameren Art der Fortbewegung, der allmählichen Näherung anheim, die zwangsläufig ein ruhigeres Schauen mit sich bringt. Die Fahrten führen beispielsweise rund ums Kap Hoorn bis Montevideo, zum Ganges, in den tropischen Nordwesten Australiens, nach Mexiko, von Mauritius bis Südafrika, von Spitzbergen nordwärts bis Hammerfest und schließlich nach Bali.

Hier ist kein landläufiger Tourist unterwegs, sondern ein geschulter Beobachter, der sich einige Zeit nehmen kann, der sich einlässt auf Menschen, Landschaften und Verhältnisse, vielfach auf rätselhafte, irritierende Momente und befremdliche Begegnungen.

Mehrmals hält in diesem Buch das Erzählen gleichsam den Atem an. An völlig entlegenen Orten gibt es jene Augenblicke oder besser Zeitflächen einer großen, überdeutlichen Stille, in die der Reisende dann und wann entrückt wird. Dort erfasst ihn das schiere Gegenteil seiner Existenzform: „Die Verlockung, zu bleiben, zu sehen, wie die Zeit verrinnt und wie man selbst verrinnt…“

Nooteboom, der wahrlich viel von der Welt gesehen hat, weiß, dass er ohnehin keine objektiven Befunde mitteilen kann, sondern mehr oder weniger flüchtige Eindrücke und Muster des Daseins. Fern liegt ihm der Gestus, eine Gegend zu „erobern“, doch auf seinen Nebenpfaden findet er ungleich mehr Sagenswertes als Draufgänger, die alle vermeintlichen Sehenswürdigkeiten mitnehmen.

Reisen, so zitiert Nooteboom den ungarischen Essayisten Béla Hamvas, sei „die rätselhafte Ausdehnung der Möglichkeiten nicht nur in die Richtung, in die man reist, sondern in alle Richtungen…“ Eine ungeheuerliche Herausforderung mithin, zuweilen auch Verunsicherung sondergleichen. Selbst wenn man – wie heute üblich – diverse Stätten aus Filmen kennt, so können sie einen doch mit aller Plötzlichkeit überwältigen, wenn man es denn zulässt. So steht denn Nooteboom fassungslos vor dem strömenden, brandenden Tumult des Lebens in Indien: „…nichts hat mich auf den Schock des Echten vorbereitet, auf meine Sprachlosigkeit.“

So sehr sich der Reisende auch bereitwillig einfühlen mag, so bleibt er doch ein bloßer Gast in jeder Fremde, nirgendwo heimisch. Immer wieder macht sich Nooteboom diese Kluft bewusst, die den Reisenden letztlich nie an ein Ziel kommen lässt. Die Anziehungskräfte der Namen und Karten erweisen sich als „Verlockung des Unmöglichen“.

Auch in der Übersetzung bleibt Nootebooms stupende Fähigkeit spürbar, seinen Texten etwas von den Konturen der Landschaften zu verleihen, die er bereist hat. Ganz so, als wären es Relief-Abdrücke wirklicher Formationen. So kann man die unendliche Leere Feuerlands ahnen, die tosende indische Überfülle, die einzigartige historische Patina der früheren Welt-Perlen-Hauptstadt Broome (Australien), die Zielpunkt eines japanischen Überfalls im Zweiten Weltkrieg gewesen ist und heute nur noch erloschen dahindämmert. Aber es gibt auch Landstriche, deren Lüfte gleichsam über und über angefüllt sind mit Dichtung. Über den Weg durch Chile und Argentinien nach Uruguay heißt es: „Ich bin von Neruda zu Onetti gefahren und von Onetti zu Borges und Gombrowicz, zu Ocampo und Bioy Casares und allen Dichtern dazwischen.“

Immer wieder kommen die Menschen zur Sprache, denen die Ländereien einst geraubt worden sind: Indianer im äußersten Südzipfel Amerikas, Maya in Mexiko, Aborigines in Australien. Überall finden sich Spuren gelebter und erlittener Geschichte, wie erstarrt auch immer. Historische Wunden, zerstörte Balancen, geschundene Natur. Wahrhaftiges Reisen bedeutet auf Dauer auch, lauter schmerzliche Verluste zu verbuchen.

Cees Nooteboom: „Schiffstagebuch“. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Mit Schwarzweiß-Fotos von Simone Sassen. Suhrkamp Verlag, 283 Seiten, 19,90 Euro.




Fundstücke von den Wegesrändern der Welt – Die visuellen „Reise-Notizen“ des Ulrich Gehret in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Dieses Künstlerleben schmeckt nach Freiheit und Abenteuer: Ulrich Gehret (54) war Schwammtaucher in Griechenland, er bereiste intensiv halb Südamerika, unternahm eine strapaziöse Motocross-Tour vom Pazifik zum Atlantik, durchstreifte entlegene Gebiete Indonesiens und Australiens. Hauptsache: Weit weg sein von den allseits geregelten Konsumwelten Mitteleuropas!

Gehret konstruierte gar ein Spezial-Surfbrett, um sich vor der argentinischen Küste als Wellenreiter den Walen nähern zu können. Er hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, die Haut der Riesentiere eigenhändig zu streicheln. Es gelang ihm. Seither weiß er, anders als wir alle, wie das ist.

Aus derlei schweifendem Erfahrungshunger und Späher-Geist müßte doch eine äußerst sinnliche Kunst entstehen, denkt man sogleich. Die Probe auf rund 120 Exempel kann man jetzt im Dortmunder Ostwall-Museum machen.

Schlangenhaut und Schuppenpanzer

Die in Kooperation mit der Bochumer „galerie m“ präsentierte Werkschau vereint „visuelle Notizen“, die Gehret auf Reisen gesammelt hat. Allerhand Fundstücke von den Wegesrändern dieser Welt prägen seine Bildcollagen. Hier glitzert eine Schlangenhaut, dort wölbt sich gar der Panzer eines Gürteltieres. Auch sieht man Metallteile, Pflanzenstücke, Fischgräten oder diverse Papiere, so auch (ferngerückte Erinnerung ans frühere Dasein) eine vergilbte Kopie des 1969 erworbenen Führerscheins. Das alles ließe sich beliebig zusammenkleistern, doch unter Gehrets Händen fügen sich die Funde zu außerordentlich formsicher gestalteten Kunstwerken, die die Sinne unmittelbar ansprechen.

Die Qualität der Materialien ruft widerstreitende Emotionen hervor: schwere Eisenrahmen, weiche Paraffin-Schichten, übermalte Papierfetzen. Zumal der Tastsinn wird gereizt. Unwillkürlich möchte man die Materialbilder berühren, ihre schrundig aufgeschichteten Oberflächen spüren. Ein Impuls, dem man nicht nachgeben sollte, denn etliche Arbeiten tragen ohnehin Verwandlungs-Spuren der Zeit, sie scheinen würdevoll zu verwesen.

Mysterium des täglichen Erlebens

Die Schubladen der Kunstgeschichte müssen geschlossen bleiben. Wenn überhaupt, so ergeben sich mitunter Anklänge ans Informel, aber was besagt das schon? Auch mit markanten, womöglich die Phantasie befeuernden Bildertiteln kommt einem dieser Künstler, der sich um den Markt nicht scheren mag, kaum zur Hilfe. Man sieht sich aufs eigene Erleben verwiesen.

Obwohl aus mehreren Jahrzehnten stammend, bilden all diese Arbeiten doch einen Kosmos. Das Spektrum grauer und bräunlicher Erdfarben wird in alle Richtungen durchmessen, die rissige und brüchige, machmal wächserne, dann wieder kreidige Bilderhaut gemahnt an Formationen der Gesteinsgeschichte, sie ist gleichsam mit Fossilien-Abdrücken durchsetzt.

So wirkt diese Kunst denn auch seltsam urtümlich, zeitenthoben und beinahe anonym. Dabei ist sie doch unmittelbar aus Dingen des täglichen (Reise)-Lebens entstanden. So erhebt die Kunst das Tageserlebnis zum unerschöpflichen Mysterium.

Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 24. Januar 1999. Di-So 10-17. Mi 10-20 Uhr. Eintritt 6 DM, kein Katalog.