Familienfreuden XXIV: Heiliger Geist, bitte kommen! Oder: Wie man am schnellsten Sauerländisch lernt

Pippi Langstrumpf hat es schon gesungen: „Ich mach‘ mir die Welt, Widdewidde wie sie mir gefällt…“ Vielleicht ist Fiona zumindest in dieser Hinsicht eine Nachfahrin der berühmten Seefahrerfamilie.

Eine Portion Sauerländisch. (Bild: N. Albach)

Denn Fi etwas zu erklären, ist manchmal, wie Stille Post zu spielen: Mal schauen, was am Ende rauskommt.

Da ist zum Beispiel die Sache mit Gott. „Warum“, fragte Fi mich heute, „sind Kirchen eigentlich größer als alle anderen Häuser?“ Das war noch relativ einfach zu erklären. Schwieriger wurde es schon, als sie einmal wissen wollte, wo die Engel eigentlich aufs Klo gehen in den ganzen Wolken.

Komplizierte Feiertagsgeschichten

Und noch komplizierter wird es, wenn es an Feiertage und Geschichten geht, bei denen ja selbst viele Erwachsene nicht ganz so genau wissen, wie der Ablauf nochmal war. Zum Beispiel Pfingsten. Ich mühte mich ab, Fiona etwas vom Heiligen Geist zu erklären und davon, dass er in die Jünger gefahren ist, woraufhin diese fremde Sprachen beherrschten und hinaus in die Welt zogen. Ich war einigermaßen stolz auf mich, dass ich das so zusammenklauben konnte. Und ich hatte auch den Eindruck, dass Fionas Gesicht nicht nur voller Fragezeichen war.

Vor kurzem bekam ich allerdings mit, dass sie sich ihren eigenen Reim auf die Geschichte gemacht hatte. Eine Freundin von ihr war zu Besuch – sie lebt im Sauerland. Vorher hatte ich Fi öfter gesagt, wie toll es ist, dass Mia extra hierherkommt. Vielleich ein bisschen zu oft. Und vielleicht auch ein bisschen zu sehr so, dass der Eindruck entstehen musste, dass Mia wirklich von weit weg angereist war.

Die Sache mit dem Sauerländischen

Denn als die beiden in Fionas Zimmer waren, hörte ich, wie unsere Tochter ihren Besuch fragte: „Mia, warum sprichst Du eigentlich kein Sauerländisch?“ Längeres Schweigen. Mia, ein bisschen bedrückt: „Das kann ich nicht.“ „Aber Du kommst doch aus dem Sauerland!“ „Ich kann das aber trotzdem nicht.“ Fiona überlegte kurz. Anscheinend hatte sie das Gefühl, einen wunden Punkt berührt zu haben. „Macht doch nichts“, sagte sie also aufmunternd. „Weißt Du, Du musst nur ein bisschen warten. Dann kommt der Heilige Geist. Und dann kannst Du alle Sprachen – auch Sauerländisch!“ Ich konnte bildlich vorstellen, wie Mia nickte und Fi zufrieden war. Die beiden stürzten sich auf ihre Puppen.

Ich aber habe mir vorgenommen, mir diese Geschichte zu merken. Bis Fiona zur Schule geht und an Französisch, Englisch oder irgendeiner anderen Sprache verzweifelt. Dann werde ich zu ihr sagen: „Macht doch nichts, Fi. Du musst nur ein bisschen warten…“




Trashiger Kirchen-Trip – Wenzel Storchs „Maschinengewehr Gottes“ in Dortmund

Thorsten Bihegue Leon MŸller Finnja Loddenkemper

Drei Meßdiener suchen einen Priester: Egon (Thorsten Bihegue, vorn), Lutz (Leon MüŸller) und Erika (Finnja Loddenkemper). Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Geschichte muß man nicht glauben, aber sie erzählt sich gut: Nesselrodes Kaplan Buffo ist komplett ausgeflippt, hat sich in der Dorfkneipe betrunken, auf den Tischen getanzt und schließlich die Gemeinde samt Kirche und Schäfchen beim Knobeln an Bauer Hümpel verloren.

Jetzt fehlt von ihm jede Spur, zurück bleiben im Beichtstuhl der Oberministrant, die Meßdienerin und der Meßdiener in ihren roten Gewändern. Am nächsten Morgen kommt Bauer Hümpel mit dem Trecker und pflügt die Kirche erstmal unter, um Erbsen anzubauen. Es sieht nicht gut aus für den örtlichen Katholizismus in Wenzel Storchs neuem Stück „Das Maschinengewehr Gottes“, das jetzt im Studio des Dortmunder Schauspiels und in der Regie des Autors seine Uraufführung erlebte.

Was also tun, um Gottes Willen? Die verschreckte Meßdienerschaft schmeißt ihr Geld zusammen und erwirbt im Christlichen Kaufhaus einen neuen Priester, der sich indes bald als schießender Automat entpuppt und explodiert. Vorher hat er noch, ein Kassettenrekorder ist eingebaut, markige Sprüche von Pater Leppich abgelassen, der (das ist jetzt nicht erfunden) in den 50er Jahren die katholische Christenheit mit sexualfeindlichen, repressiven Brutalbotschaften missionierte oder besser vielleicht: einschüchterte. Man nannte ihn so, wie Wenzel Storch nun auch sein neuestes Stück genannt hat: „Das Maschinengewehr Gottes“.

Andreas Beck Thorsten Bihegue

„Das Maschinengewehr Gottes“ (Andreas Beck, vorn) und Meßdiener Egon (Thorsten Bihegue).(Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kloster-Domina und Hostinettenbär

Ich erzähl die Geschichte noch ein bißchen weiter, sie ist wirklich witzig. In den Überresten des explodierten Priesters denn also finden die Meßdiener Hinweise auf ein Damenkloster im fernen Schlesien, wo bei der Oberin Ejaculata die Lösung der Probleme liegen könnte. Übrigens heißt die Oberin dort Domina, kommt aus dem Lateinischen, was keiner mehr versteht.

Durch das gefährliche Rote-Bete-Gebirge machen sich die frommen Nesselroder Meßdiener auf zum legendären schlesischen Kloster, wo sich die Oberin, wie sich bald nach der Ankunft herausstellt, weitgehend von den anderen zurückgezogen hat und nur noch ganz spezielle Hostien zu sich nimmt. Die Hostien bringt der Hostinettenbär, und immer, wenn er da war, geht’s der Mutter Oberin besonders gut. Dann hat sie wohl, wie wir Altvorderen zu sagen pflegten, ein saures Köpfchen, dann ist sie auf dem Trip. Liegt in dieser Erkenntnis die Lösung der Probleme?

Die Trips der Mutter Oberin – mit der Nacherzählung soll es an dieser Stelle sein Bewenden haben – fügen sich gleichsam nahtlos ein in diese fiebrig irrlichternde, trashige und meistens auch recht lustige Geschichte, in der alle irgendwie und irgendwo auf einem Trip sind, die Personen des Stücks ebenso wie die realen Vorbilder, allen voran der schon erwähnte Pater Leppich.

Zum Schluß tanzen die Bäume

Doch auch Schriftsteller, die jungen katholischen Seelen mit Buchtiteln wie „Satanella oder die Rache des Geissler“ den rechten Weg weisen wollten, waren wohl auf ihrem speziellen Trip, jedenfalls recht schräg drauf. Das „Einführungsreferat“ des Gemeindereferenten gibt zu Beginn der Aufführung einen kleinen Überblick über katholische Jugendbücher der Adenauerzeit. Vielleicht hat sich Storch sogar ein bißchen von ihnen inspirieren lassen, doch wir wollen nichts unterstellen.

Julia Schubert Nonnen (Mitglieder des Dortmunder Sprechchors) Thorsten Bihegue Finnja Loddenkemper Leon MŸller

Schwester Adelheid (Julia Schubert, vorn mit Notenblatt) und einige schlesische Nonnen (Damen des Dortmunder Sprechchors). Rechts im Bild die wackeren Meßdiener. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Und schon gar keinen Drogenmißbrauch! Aber das Theaterstück ist ein Trip, und man muß dankbar sein, daß der Horror sich nur von Ferne andeutet. Denn sonst wäre das ein Horrortrip, und die gibt es bekanntlich ja auch. Hier aber wird alles gut, und gegen Ende der Veranstaltung tanzen wunderschön gestaltete, knorrige alte Bäume, für deren Herrichtung Heike Scheika genannt wird, mit Nonnen und Meßdienern über die Bühne (Pia Maria Mackert). Frohsinn pur? Lucy in the Sky? Ist doch egal.

Pädagogisches Streben

Die katholische Kirche, ein zentrales Motiv in Wenzel Storchs Weltsicht, verfügte in den 50er, 60er Jahren (und vielleicht noch immer) über ein höchst problematisches Personal, das in seinem pädagogischen Streben unsägliche Bizarrerien hervorbrachte, viele junge Menschen nachhaltig schädigte. Diese Verhältnisse will Storch offenbar dem Vergessen entreißen, sie geißeln und über sie lachen lassen. Für eine bessere Erkennbarkeit des Unsäglichen setzt er gern noch einen drauf, fügt beispielsweise kirchlichen Benamungen solche aus der Phantasie hinzu, führt etwa die frommen Schwestern vom Orden der barmherzigen Seepferdchen ein, die die Heilige Limousine anbeten.

Julia Schubert Ekkehard Freye

Julia Schubert und Ekkehard Freye im Nonnengewand, außerdem einige entzückende Bäume, mit denen man sogar tanzen kann. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Natürlich stimmt es nachdenklich, daß dieser Autor (Jahrgang 1961) so unerbittlich ist, es nicht gut sein läßt, nicht die Makel einer dunklen Vergangenheit zuschreibt, die heute überwunden ist, sondern jetzt schon sein zweites Stück über diese problematische Institution verfaßt. Letztes Jahr lief in Dortmund sein Stück „Komm in meinen Wigwam“.

Doch ist es, wie es ist. Also nehmen wir dem Storch das, was er sagt, einfach mal ab und erfreuen uns an dem überaus geschmeidigen, komödienhaften Abend, der dieser Obsession entspringt.

Im Spiel der Mimen ist unaufgeregte Heiterkeit der Grundton, freundliche Gespräche reihen sich, niemals verliert jemand die Beherrschung, und häufiger ertappt man sich bei der Frage, ob die mit kraftvollen Kalauern reich garnierten Dialoge komplexe Doppeldeutigkeit prägt oder ob sie nur blühender Nonsens sind. Bemerkenswert ist schließlich die sorgfältige, stets jedoch moderat bleibende Garnierung mit stimmigen Sounds, Melodien und Schlagern (Gertfried Lammersdorf).

Andreas Beck Leon Müller

Andreas Beck und Leon Müller (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Ein starkes Ensemble

Nun aber, endlich, gilt es die starke Darstellerriege zu preisen, aus der Thorsten Bihegue hervorragt, denn wir ja schon aus dem Wigwam kennen. Als gehemmter, dürrer und immer etwas enthoben daherschreitender Oberministrant ist er mit seinem scheuem Lächeln nichts weniger als die Idealbesetzung und die Hauptfigur des Abends.

Andreas Beck verkörpert mit beeindruckender Leibesfülle gleich fünf Personen, Bruder Stanislaus, das Maschinengewehr Gottes, Schankwirtin, Weihbischof und Bauer Hümpel. Heinrich Fischer, der Senior aus dem Seniorenclub des Schauspiels Dortmund, hat mit seinem kehlig–westfälischen Zungenschlag ebenfalls fünf Personen zwischen Kaplan Buffo und Doktor Drammammapp auf der Liste und meistert das problemlos.

Finnja Loddenkämper und Leon Müller, beide Mitglieder des Jugendclubs „Theaterpartisanen“, überzeugen als Meßdiener Erika und Lutz, Ekkehard Freye schließlich ist als sportlicher Postbote auf dem Klappfahrrad so etwas wie der „Sidekick“, ein guter Geist mit frischen Postnachrichten, die die Handlung immer wieder vorantreiben.

Schließlich zu nennen bleiben Maximilian Kurth (Gemeindehelferin), Maximilian Steffan (Hostinettenbär) und Julia Schubert (Schwester Adelheid) sowie acht Damen des Dortmunder Sprechchors (Namen unten), die hier die schlesischen Nonnen geben. Und alle, alle spielen sie dieses Stück in einer schauspielerischen Qualität, die man sich auf dieser Studiobühne immer wünschen würde.

Begeisterter Applaus.

(Die Damen des Dortmunder Sprechchores sind Annette Struck, Birgit Rumpel, Sabine Kaspzyck, Regine Anacker, Solveig Erdmann, Heike Lorenz, Katrin Osbelt und Ulrike Wildt).

  • Weitere Termine: 17., 27. Dezember 2015, 17. Januar 2016.
  • Infos und Karten Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de



Im Zweifel für das Leben: Ian McEwans neuer Roman „Kindeswohl“

Für die Londoner Familienrichterin Fiona Maye gehören komplizierte juristische Fragen zum Alltag, doch der Fall des Adam Henry ist besonders bizarr. Sein Schicksal steht im Zentrum von Ian McEwans Roman „Kindeswohl“.

Der 17jährige Adam Henry ist an Leukämie erkrankt. Eine ihn rettende Bluttransfusion lehnen seine Eltern und auch er selbst aus religiösen Gründen kategorisch ab. Die Familie gehört zu den Zeugen Jehovas, die mit Verweis auf Worte der Bibel einen solchen medizinischen Eingriff untersagen. Die behandelnde Klinik kann und will sich mit der Verweigerungshaltung nicht zufrieden geben und stellt einen Eilantrag, die Blutübertragung durchführen zu dürfen. Aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des jungen Patienten dulde die Entscheidung keinen Aufschub, betont das Hospital.

Auf den nun folgenden Seiten, 30 an der Zahl, breitet der Autor nun den Verlauf Gerichtsverhandlung aus, bei der rechtliche und ethische, religiöse wie auch psychologische Gesichtspunkte ausführlich erörtert werden. Dabei liegt der Gedanke nahe, dass es im Prinzip keinen Zweifel an der Haltung der Richterin geben dürfte. Es müsste doch ihre Pflicht sein, ohne Wenn und Aber für das Leben des Minderjährigen einzutreten.

Nun kennt das englische Recht allerdings die Besonderheit der Gillick-Kompetenz. Damit ist gemeint, dass junge Leute auch unter 16 Jahren intellektuell durchaus in der Lage sein können, zu entscheiden, ob sie sich bestimmten medizinischen Maßnahmen unterziehen wollen. Benannt ist diese Fragestellung nach Victoria Gillick. Die katholische Mutter von zehn Kindern startete in den 80er Jahre eine Initiative, die sich gegen eine Gesetzesänderung wandte, die vorsah, dass Mädchen unter 16 Jahren die Pille auch ohne das Wissen der Eltern verschrieben bekommen sollten. Daraus entstand eine juristische Auseinandersetzung, ob und wann Minderjährige die Reife haben, selbst über ihr Schicksal zu befinden.

Eindrucksvoll schildert der Autor, wie sich die Richterin nun selbst darum bemüht, Denken, Fühlen und Handeln des todkranken Jungen zu ergründen. Sie unterbricht die Verhandlung, um ihm am Krankenbett zu besuchen. So kühl und distanziert, wie der Leser sie bislang kennen gelernt hatte, ist die Juristin hier längst nicht mehr. In die Entscheidung, die die Richterin letztlich trifft, bezieht sie zwar ein, dass Adam über eine hohe moralische Kompetenz und einen scharfen Intellekt verfügt, sieht ihn aber eingezwängt in ein religiöses System, das ein freies Denken nicht wirklich zulässt. Dieses System, das ist ihr bewusst, ist für die Eltern mehr als nur eine Glaubensgemeinschaft. Insbesondere durch die schwierige Lebensgeschichte des Mannes ist die Gemeinde zu einem wichtigen Hort geworden, der Halt und Hoffnung bietet.

Doch mit dem Spruch der Richterin, die Klinik solle Adam wie beantragt behandeln, findet die Geschichte noch längst nicht ihr Ende. Das Leben danach, also nach der Transfusion, hält für alle Beteiligten noch schwierige Fragen parat. Wie gehen die Eltern nun mit ihrem Sohn um? Und was denkt der Sohn eigentlich wirklich über seine Eltern? Fiona Maye haben die Erlebnisse auch nicht unbeeindruckt gelassen und das auf eine Weise, mit der sie selbst wohl kaum gerechnet hätte. Sie kann nicht verhehlen, gewisse Gefühle für Adam entdeckt zu haben, was wiederum wie ein Treppenwitz in ihrer kinderlosen Ehe wirkt, hat ihr Mann Jack sie doch genau zu dem Zeitpunkt, als die Klinik sich an das Gericht wandte, gebeten, ihm eine außereheliche Beziehung zu gestatten.

Von beiden Partnern zeichnet Ian McEwan zunächst das Bild karrierebewusster Persönlichkeiten, die rational und wenig emotional ausgerichtet sind. Während Jack aber nun eher von innen heraus zu der Ansicht gelangt ist, dass ihm eine Affäre mal gut täte, sind bei seiner Frau eher äußere Einflüsse, die ihre bisherigen Vorstellungen ins Wanken bringen. Mit Adam verbindet sie zudem eine Liebe zur klassischen Musik. Im Zuge eines Konzerts erfährt sie schließlich, welche dramatische Wendung das Leben des jungen Mannes noch genommen hat.

McEwan versteht es brillant, nicht nur verschiedene ethische und juristische Ebenen miteinander zu verknüpfen, sondern die Vielschichtigkeit auch ansprechend darzustellen. Die Einbindung des Falls in einen Ehekonflikt mag zwar gewagt erscheinen, weil das eine mit dem anderen erst einmal nicht in Verbindung steht, doch es gelingt dem Autor, die Protagonisten mit ihren zum Teil widersprüchlichen Motiven sehr klar zu charakterisieren.

Ian McEwan: „Kindeswohl“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich. 224 Seiten, 19,90 Euro




Warum ist Fronleichnam ein Feiertag?

Für die meisten Mitmenschen ist der heutige Donnerstag ein gern gesehener Feiertag, der mit der Freitags-Brücke einen netten Kurzurlaub ermöglicht. „Fronleichnam“ nennt sich das katholische Fest, das vielen Beschäftigten in Deutschland Freizeit verschafft, auch in NRW und im Ruhrgebiet. Kaum aber jemand weiß wirklich, was denn Fronleichnam eigentlich ist.

Der Autor (rechts) 1961 als Messdiener.

Der Autor (rechts) 1961 als Messdiener.

Das Wort stammt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet „Leib des Herrn“. Nach der Vorstellung der Katholischen Kirche verwandelte ihr Begründer Jesus von Nazareth am Tag vor seiner Hinrichtung durch die römische Besatzung, am Gründonnerstag, das Brot und den Wein des letzten gemeinsamen Abendmahls in seinen Leib und sein Blut, und weil man so ein Ereignis nicht an den stillen Tagen vor Ostern groß feiern konnte, kam eine fromme Nonne in Lüttich im 13. Jahrhundert auf die Idee, daraus im Frühsommer ein großes öffentliches Fest mit Prozessionen durch die Städte zu machen. Der Papst unterstützte die Idee, und deshalb setzte sie sich durch.

Diese Prozessionen gibt es auch heute noch in katholischen Gegenden. Vor allem im ländlichen Bayern sind sie sehr malerisch, mit Reitern und Schützen, Fahnen und Blumenteppichen. In Köln gibt es sogar seit Jahrhunderten zu Fronleichnam eine Schiffsprozession auf dem Rhein.

Wegen der Bedeutung des Festes hat es übrigens in der Katholischen Kirche offiziell einen anderen Namen: Hochfest des Leibes und Blutes Christi heißt es dort, oder, wer es lieber lateinisch möchte, Sollemnitas Sanctissimi Corporis et Sanguinis Christi. Durch diesen lateinischen Namen ist in englischsprachigen Ländern für diesen Feiertag auch der Name „Corpus Christi“ gebräuchlich. Er wird immer am 60. Tag nach Ostern gefeiert, das ist dementsprechend der zehnte Tag nach Pfingsten und immer ein Donnerstag.




Der lange Schatten von Auschwitz – Michel Laubs Roman „Tagebuch eines Sturzes“

Ob nach Auschwitz sich noch leben lasse, war eine zentrale Frage, die der Philosoph Theodor W. Adorno gestellt hat. Er gab damit einen Anstoß, über Sinn und Wert des Lebens, über Schuld und Verantwortung angesichts der NS-Gräuel nachzudenken. Was der Vertreter der Frankfurter Schule gesellschaftlich und historisch zu hinterfragen suchte, reflektiert Michel Laub am Beispiel (s)einer Familie.

Der Autor, jüdischer Herkunft, ist Journalist, Jahrgang 1973, und wurde im brasilianischen Porto Alegre geboren. In seinem autobiographischen Roman „Tagebuch eines Sturzes“ erzählt er die Lebensgeschichte seines Großvaters, seines Vaters und seiner selbst. Laub, der in seiner Heimat zu wichtigsten zeitgenössischen Autoren gehört, beschreibt über weite Strecken in einzelnen Sequenzen, Szenen oder Momentaufnahme, was der Angehörige einer jeweiligen Generation erlebt und durchlitten hat.

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Das Buch ist in Ich-Form geschrieben. Für den Erzähler ist der Anlass, sich zurückzunehmen und Rückschau zu halten, wahrlich schwierig genug: Er hat ein Alkoholproblem, seine Frau (die mittlerweile 3. Ehe) droht mit dem Ende der Beziehung und der Vater hat gerade von Ärzten erfahren, an Alzheimer erkrankt zu sein.

Da ist das Wort von der persönlichen Krise wohl durchaus erlaubt. Wenn der Schriftsteller nun Verbindungen mit Auschwitz herstellt, mag das im ersten Moment befremdlich erscheinen, im Gesamtkontext der Familie wird es verständlich. Sein Großvater nämlich hat das KZ überlebt und nach dem Krieg in Brasilien ein neues Leben als Geschäftsmann begonnen. Kann man aber hier wirklich von Leben sprechen?

Sein Opa, den er selbst nie kennenlernte, hat nichts über Auschwitz gesagt oder berichtet. Seine Erinnerungen verarbeitete er stattdessen in einem Tagebuch, das er nach Feierabend führte, wozu er sich in sein Arbeitszimmer zurückzog. Treffender wäre wohl das Wort „verbarrikadierte“. Was er niederschrieb, erfuhr seine Familie erst nach seinem Tod und bekam einen Eindruck davon, wie sehr er unter den Erlebnissen im Konzentrationslager zu leiden hatte, in dem auch zahlreiche Verwandte starben. Diese seelischen Qualen waren es schließlich auch, die dazu führten, dass er Selbstmord beging. Sein Sohn, damals 14 Jahre alt, fand den Vater tot im Arbeitszimmer. Das Trauma überwand er nie, und auch sein Sohn, der Erzähler, spürte stets, wie sehr sein Vater unter dem psychischen Druck zu leiden hatte.

Auch wenn kein kausaler Zusammenhang zu dem Geschehen, das den jüngsten Nachfahren aufwühlen soll, besteht, stimmt es doch nachdenklich, dass auch er mit einem schwierigen Ereignis zurechtkommen muss. Hierbei ist er allerdings nicht Opfer, sondern gehört zum Kreis der Täter. Er besucht ein jüdisches Gymnasium. Als der einzige nicht-jüdische Mitschüler in der Klasse bei der eigenen Feier zum 13. Geburtstag entsprechend der Anzahl der Lebensjahre in die Luft geworfen wird, fangen ihn seine Mitschüler beim letzten Mal nicht mehr auf. Joao, so der Name des Jungen, war stets Außenseiter und wurde gemobbt. Mit schweren Verletzungen kommt er ins Krankenhaus und als er nach Monaten in die Schule zurückkehrt, ist der Erzähler der einzige, der sich um ihn kümmert. Das Gewissen hat ihn seit dem Fest geplagt. Eine Freundschaft aufzubauen scheitert indes, trotz mancherlei Bemühungen.

Zurück bleibt der Erzähler mit dem Gefühl des Versagens und des Scheiterns. Überhaupt tut er sich schwer mit dauerhaften Bindungen und versucht, die Gründe herauszufinden. Vater und Großvater sind dabei wichtige Glieder in einer Ursachenkette. Der Titel „Tagebuch eines Sturzes“ wird am Ende zu einer Aussage, die mehr meint als „nur“ das Geschehen um den nicht-jüdischen Jungen.

Michel Laub: „Tagebuch eines Sturzes“. Roman. Klett-Cotta-Verlag, Aus dem brasilianischen Portugiesisch übersetzt von Michael Kegler. 176 Seiten. 19,95 Euro.




Der Meeresgott schweigt – Cees Nootebooms „Briefe an Poseidon“

Gefallen an ungewöhnlichen Gedankenspielen und Bereitschaft, sich auf Mystisches und Mythologisches einzulassen, sollten die Leser der „Briefe an Poseidon“ auf jeden Fall mitbringen. Es ist schon ein eigenwilliges Buch, das Cees Nooteboom geschrieben hat, in dessen Tiefen es sich aber durchaus einzutauchen lohnt.

In vielen kurzen, prägnanten Episoden schreibt der Autor über Begebenheiten, die ihn berührt haben. Nun richtet er seine Texte allerdings an einen Adressaten, von dem er wohl gerne eine Antwort hätte, aber sie kaum erhalten wird. Nooteboom wendet sich an den Meeresgott Poseidon. Dass nun gerade diese griechische Gestalt zur Projektionsfläche wird, ist ebenso Zufall wie die Ereignisse, von denen der Autor erzählt. Es war an einem Februartag 2008 auf dem Münchener Viktualienmarkt, als er in einem Fischrestaurant auf eine Serviette starrt, die die Gottheit mit dem Dreizack zeigt. Das Buch, auf das er zuvor gestoßen war, ein Werk des Schriftstellers Sándor Márai (der mit seinen Vorlieben für Lesen, Reisen und Beobachten eine Art Alter ego von Nooteboom gewesen sein könnte), inspirierte den mehrfach ausgezeichneten Schriftsteller zu seiner besonderen Art von Korrespondenz.

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Es sind beispielsweise große Werke alter Meister, wie Gemälde von Brouwer, Rubens oder da Vinci, die Nooteboom anrühren. Nun beschreibt er nicht nur die Bilder eingehend, die übrigens in einem ausführlichen Anmerkungsapparat abgedruckt sind, er verknüpft mit den Betrachtungen auch gern Geschichten, die sich mit den Arbeiten in Beziehung setzen lassen. Mal sind es eher Randnotizen aus den Geschichtsbüchern, zu denen gehören dürfte, dass Samuel Beckett seine Vorliebe für Rubens sich auch durch die Nazis nicht vermiesen ließ und dessen Werke auch in einem Jahr wie 1936 im Kaiser Friedrich-Museum von Berlin anschaute.

Mal bietet sich aber auch beim Anblick eines Hafenbildes aus der beginnenden Neuzeit die Gelegenheit, zutiefst menschliche Fragen zu stellen. Wie ist es denn wohl eigentlich, wenn ein Mensch infolge eines Schiffsunglücks oder Flugzeugabsturzes in das Meer versinkt? Da müsste doch eigentlich Poseidon Expertenwissen mitbringen. Doch der schweigt. Nooteboom malt sich aus, wie oft dieser Gott wohl schon diese Dramen miterlebt haben muss. In solchen Worten steckt auch etwas Vorwurfsvolles. Der Verfasser berührt dabei durchaus die Frage, die auch Christen bewegt, warum nämlich ihr Gott Unheil und Übel zulässt. Indem Nooteboom mit Poseidon ringt, die griechische Mythologie mit ihren oftmals brutalen Machtkämpfen in Frage stellt, gewinnt das Buch eine durchaus religiöse Dimension. Und manchmal scheint der Autor Zwiegespräche mit „seinem“ Gott zu führen.

Bestechend an diesem neuen Buch von Nooteboom ist zudem die Präzision, wenn er über Tier- und Pflanzenwelt, das Weltall oder historische Ereignisse schreibt. Er selbst lässt sich gern von Eindrücken überwältigen. Dazu reicht das Wachstum einer Agave oder das Entdecken eines Lebewesens in den Untiefen des Meeres aus. Politisch bleibt sein Buch stets hochaktuell, verweist er doch auf ein Werk des griechischen Geschichtsschreibers Polybios (200 – 120 v. Chr.). Wenn er dessen Zeilen lese, habe er den Eindruck, die Tageszeitung von heute in Händen zu halten. Truppenbewegungen, Allianzen, Schlachten: Seit Poseidons Karrierebeginn hat sich so gut wie nichts geändert…

Cees Nooteboom: „Briefe an Poseidon“. Aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen. Suhrkamp Verlag, 224 Seiten, 19,95 Euro.




Festspiel-Passagen II: Geistlicher Auftakt in Salzburg

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Heute ungewöhnlich, wie klar sich Alexander Pereira bekennt: Er glaubt an Gott. „Ich bin ein alter Jesuitenschüler“, sagt er in einem Interview, in dem er seine Entscheidung begründet, den Salzburger Festspielen künftig eine „Ouverture spirituelle“ voranzustellen. Der neue Intendant möchte die geistliche Musik ins Blickfeld rücken. Christlich geprägte Werke sollen künftig auf solche aus anderen Weltreligionen treffen, jedes Jahr eine andere: 2013 ist der Buddhismus dran, 2014 der Islam.

Zum Auftakt seiner ersten Salzburger Festspielzeit setzte Pereira einen jüdischen Schwerpunkt, mit Musik, die nicht jeden Tag zu hören ist: Das Israel Philharmonic Orchestra spielte unter Zubin Mehta Ernest Blochs „Avodath Hakodesh“ (Gottesdienst). Mit Noam Sheriffs „Mechaye Hametim“ (Auferweckung der Toten), einer 1985 entstandenen großen Symphonie mit Chor, Orchester und Solisten, kam ein zeitgenössischer israelischer Komponist zum Zuge. Und von einem Klassiker der Moderne, Arnold Schönberg, stammt „Kol Nidre“, für das er melodische Elemente aus Musik zum jüdischen Jom Kippur verarbeitet hat.

In diese Reihe darf man Igor Strawinskys „Psalmensymphonie“ getrost einordnen. Bilden doch drei alttestamentliche Psalmtexte die Grundlage, die zum jüdischen wie zum christlichen Gebets- und Traditionsschatz gehören. Als Person schlägt Strawinsky eine Brücke zur orthodoxen Christenheit, als Musiker verleugnet er die Spuren russischer Kirchenmusik auch in diesem Werk nicht. Um das Jahr 1930, in dem die Symphonie entstanden ist, praktizierte er seinen Glauben explizit und setzte sich mit religiösen Fragen auseinander. Mit den Wiener Philharmonikern und der vorzüglichen Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor verständigte sich Valery Gergiev auf einen ruhigen, unspektakulären Zugang mit breit gefächerten dynamischen Nuancen zwischen Pianissimo und Mezzoforte.

Strawinsky hat sich bei der Musik zu Psalm 38, 39 und 150 von religiöser Emphase fern gehalten. Er schreibt Musik wie eine mittelalterliche Miniatur: farbenprächtig, aber objektivierend. Und Gergiev folgt dieser „darstellenden“ Linie. Die Flexibilität des Chores, die ruhig-schwingenden Tempi des Dirigenten, die strukturerhellende Transparenz des Orchesters passen bestens. Wenn in „Alleluja. Laudate Dominum“ das „in sanctis Eius“ verhalten-scheu erklingt, ist man an die große östliche Tradition der Heiligenverehrung erinnert. Kein Triumph, keine Verherrlichung, sondern ein ehrfürchtiges Sich Nähern mag diese musikalische Wiedergabe widerspiegeln.

Die Eröffnungskonzerte der „Ouverture spirituelle“ zeigen eine dramaturgisch bewusste Konzeption: Am Beginn stand – wie künftig in jedem Jahr geplant – Joseph Haydns „Schöpfung“, eine hochgelobte Aufführung unter John Eliot Gardiner; im nächsten Jahr soll sie Nikolaus Harnoncourt dirigieren. Es folgte der „Messias“ unter Daniel Harding, ein Schlüsselwerk in der Geschichte des Oratoriums. Mit der c-Moll-Messe KV 427, die Mozart selbst bei seinem letzten Salzburg-Besuch 1783 dirigierte, wurde dem musikalischen Genius loci gehuldigt.

Im Laufe der Saison, die bis 2. September ausgedehnt wurde, folgen mit der „Messe solennelle“ von Hector Berlioz am 15. August und der „Messa da Reqiuem“ Giuseppe Verdis als Abschlusskonzert am 1. September weitere bedeutende Schöpfungen aus der geistlichen Sphäre. Während die Festspiele auf diese Weise eher eine Reihe der beliebtesten „Highlights“ präsentieren – was sich künftig der Profilierung halber nicht fortsetzen sollte –, brachte etwa die Salzburger Dommusik im Sonntagshochamt eine der zwanzig Messen von Luigi Gatti, dem Hofkapellmeister Fürsterzbischof Colloredos und damit Vorgesetzten von Leopold Mozart.

Der Anfang mit der „Schöpfung“ lässt sich durchaus programmatisch für die philosophische Ausrichtung der „Ouverture sprituelle“ verstehen. Haydn schrieb kein Oratorium für die Kirche, sondern für eine gebildete Gesellschaft, für die freilich christlicher Glaube und die Ausrichtung an christlichen Prinzipien Teil ihres geistigen Lebens war. Der Schöpfungslaube, den Gottfried van Swietens Libretto voraussetzt, verbindet nicht nur Juden, Christen und Muslime. Dass am Beginn allen Existierenden eine wie auch immer geartete göttliche Setzung steht, ist Gemeingut aller Religionen. So spiegelt die „Schöpfung“ Rückbezug auf Gott, Freude an der Natur, aufklärerisches Denken, aber eben auch ein Bewusstsein für das – wenn auch sehr allgemein zu verstehende – Gemeinsame aller Religionen, formuliert auf der Basis eines christlich-jüdischen Schöpfungsbegriffs.

Ein Projekt wie die „Ouverture spirituelle“ ist in Gefahr, zu einem Wohlfühlprogramm mit beliebten Werken und beliebigen Inhalten zu degenerieren. Um ein postmodernes kulturelles Konsumprogramm mit spiritueller Prägung zu vermeiden, bieten die Festspiele gemeinsam mit den Herbert-Batliner-Europainistitut ein Begleitprogramm an. Wie beim „Jedermann“ mit seinem aus dem geistlichen Spiel stammenden Parabel-Charakter bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob er sich innerlich berühren lässt, ein Häppchen moralische Genugtuung aufnimmt oder sich Hoffmannsthals Appell lediglich als beeindruckendes Produkt einer Kulturepoche zu Gemüte führt. Wer die aus Antike, Christentum und Aufklärung ererbte Idee, Bildung könne den Menschen zum vollkommeneren Menschsein führen, nicht ganz aufgeben will, wird den spirituellen Schwerpunkt zu Beginn der Festspiele – der dessen ureigensten Intentionen entspricht – nur begrüßen können.

Nicht nur christlich, sondern ausgeprägt katholisch war das Programm eines Konzerts, mit dem Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus Musicus im Salzburger Dom zu Gast waren. Die „Missa Longa“ (KV 262) und die Litanei zum Allerheiligsten Altarsakrament (KV 243) sind beide in Salzburg uraufgeführt worden: die „Litaniae de venerabili altaris sacramento“ zum Palmsonntag 1776, die Messe – durch das Schreibpapier des Autographs auf 1775 zu datieren – vermutlich im gleichen Jahr im Dom oder in Sankt Peter. Beide geben ein glanzvolles Zeugnis für das Können des 19jährigen Konzertmeisters im Dienste Colloredos. Mit der Messe scheint Mozart alle kontrapunktischen Künste zum Lob Gottes – auch zum Ohrenschmeichel seines Dienstherrn und der Selbstbestätigung seiner Kunst – eingesetzt zu haben. Und die „Litaniae“ geben Zeugnis vom Einfallsreichtum des Komponisten, der jeder Wiederholung des „miserere nobis“ eine eigene Farbe, einen spezifischen Ausdruckswert geben konnte.

Harnoncourt dirigierte beide Salzburger Höhepunkte der Kirchenmusik – in Wien hatte Mozart ja leider keine Gelegenheit mehr, auf diesem Feld zu brillieren – mit ausgefeilter Sorgfalt im Detail. Die Reaktionsschnelligkeit seines Orchesters, der vokale Expressionswille des Arnold-Schönberg-Chores, verhallten leider in der unergründlichen Akustik des Domes. Ein Grund ist wohl: Musiziert wurde im Altarraum, nicht auf der Empore, wie es für eine Kirche eigentlich vorgesehen ist.

Auf Wunsch Harnoncourts wurden extra die Tapisserien aus dem Dommuseum aufgehängt, um die akustischen Verhältnisse der Mozartzeit anzunähern. Leider umsonst: Der Nachhall überflutete die sorgsam ausmodellierten dynamischen Kontraste; jedes Forte verurteilte ein nachfolgendes Piano zum Tod durch Ertrinken. Zudem neigt Harnoncourt in der Messe zu raschen, energischen Tempi und kleinteiliger Artikulation.

Auch die Solisten Sylvia Schwarz, Elisabeth von Magnus, Jeremy Ovenden und Florian Boesch versuchten meist vergeblich, ihre Stimmen zu profilieren. In den „Litaniae“ hatten die Musiker dank des langsameren Tempos und des musikalischen Pathos mehr Chancen auf fassbar gestalteten Klang. Harnoncourt beleuchtete theologische Schlüsselworte wie „supersubstantialis“ oder das – von Mozart in eine exotisch-dunkle Klangfarbe gekleidete – „Viaticum“, die Wegzehrung derer, die im Sterben zu Gott streben. Ansonsten musste man in Kauf nehmen, was als Gleichnis für unsere Zeit stehen könnte: Das Wort verhallte unverstanden.




Lisztiana IV – Und wie hält er’s mit der Religion?

Franz Liszt, Fotografie um 1860.

Franz Liszt, Fotografie um 1860.

Die Musikwelt feiert heuer den 200. Geburtstag von Franz Liszt. Das Urteil über ihn scheint klar: der Frauenheld, der Tastenlöwe. Dass er 1865 die niederen Weihen erlangte, sich fortan Abbé nennen durfte – bestenfalls eine Laune. Oder eine Flucht in die Religion? Michael Stegemann, Professor für Historische Musikwissenschaft an der TU Dortmund, weiß zu differenzieren. Gerade hat er das Buch „Franz Liszt – Genie im Abseits“ veröffentlicht. Martin Schrahn sprach mit ihm über den tiefreligiösen, janusköpfigen Komponisten und über dessen kirchenmusikalisches Werk.

Es heißt, Liszt habe schon als Knabe den Wunsch geäußert, Priester zu werden. Ist das glaubwürdig, Herr Stegemann?

Michael Stegemann: Ich denke schon. Der Musikfeuilletonist Joseph d’Ortigue hat dies 1835 in der „Gazette musicale de Paris“ so dokumentiert und beruft sich auf Tagebücher von Liszts Vater.

Die allerdings verschollen sind.

Ja. Doch Liszt selbst hat diese Äußerung auch später noch bestätigt, gegenüber seiner Biographin Lina Ramann.

Was trieb ihn zu diesem Wunsch?

Er suchte Geborgenheit. Schutz im Schoß der Mutter Kirche, wenn Sie so wollen. Denn der Wunderknabe am Klavier, vom Vater durch die Salons gehetzt, war von seiner Mutter getrennt. Wir müssen dies aber auch vor dem Hintergrund sehen, dass Liszt in ein tief katholisches Haus hineingeboren wurde. Ganz bewusst wurde er auf den Namen Franciscus getauft.

Als der Vater plötzlich starb, 1827 in Boulogne-sur-Mer, hätte Franz seinem Leben die erwünschte Richtung geben können.

Theoretisch schon. Doch er musste sich um die Mutter kümmern, die ihm nach Paris nachgereist war. Auffällig aber ist, dass er noch vor dem Tod des Vaters ein Tagebuch begann – das nichts anderes war als eine Sammlung moralisch-religiöser Zitate und Maxime. Er las außerdem „Paradise Lost“, das epische Gedicht des Engländers John Milton.

Dann traf der Komponist in den 1830er Jahren den Abbé Félicité de Lamennais…

Und der Abbé und seine vom sogenannten Saint-Simonismus geprägten Schriften hatten enorme Bedeutung für die spirituelle und künstlerische Entwicklung des Komponisten. Saint-Simon vertrat die Meinung, Kunst und Religion sollten gleichermaßen den Menschen dienen. Er sprach quasi aus dem Geist der Juli-Revolution von 1830.

Und der Abbé?

War verantwortlich dafür, dass Liszt sich dem ernsthaften Komponieren zuwandte. Der Künstler habe die christliche Aufgabe, dem Menschen zu einem besseren Leben zu verhelfen, schrieb Lamennais. Der Komponist selbst wollte fortan zwei Maximen folgen: „Génie oblige“ und „Caritas!“. Das Genie ist verpflichtet, sich für die Kunst einzusetzen wie auch für die Menschen, die Hilfe brauchen.

Alles schön und gut. Aber gleichzeitig begann er die Affäre mit Marie d’Agoult, einer verheirateten Frau. Selbst nach deren Scheidung lebten sie quasi in wilder Ehe, hatten drei Kinder miteinander. Spricht das nicht gegen seine tief verwurzelte Religiosität?

Der Liszt-Forscher Michael Stegemann. Foto: Klavier-Festival Ruhr

In diesem Fall schließt das eine das andere nicht aus. Aus Briefen geht hervor, dass beide durchaus ein gemeinsames Bild von Religiosität hatten. Doch dazu gehörte eben auch Lebensfreude. Liszt hatte allerdings wohl nie die Absicht, Marie zu heiraten, das Verhältnis also zu legalisieren.

Doch später bei Caroline von Sayn-Wittgenstein waren die Hochzeitspläne keine Spielerei?

Nein, sie haben wirklich ernsthaft und über Jahre darauf hingewirkt. Und sie hätten es sich einfach machen können, nach Carolines Scheidung von ihrem Mann, dem Fürsten Nikolai von Sayn-Wittgenstein, Spross eines alten, aber verarmten litauischen Adelsgeschlechts, zum Protestantismus zu konvertieren. Doch sie wollten den Dispens des Papstes, also katholisch heiraten.

Was in letzter Sekunde vereitelt wurde. Warum?

Weil die Familie des Fürsten Hohenlohe – dem Mann von Carolines Tochter aus erster Ehe, Marie – ein übles Intrigenspiel anzettelte. Es ging um Geld und Besitz, Marie hätte nichts geerbt. Und das Sayn-Wittgensteinsche Vermögen in Form von Landbesitz, das Caroline von ihrem Vater geerbt hatte, war unermesslich groß.

Sie hat sich nach dieser Niederlage von der Kirche abgewandt, veröffentlichte sogar eine mehrbändige Abrechnung mit dem Vatikan. Wieso aber hat sich Liszt arrangiert?

Die Kirche war für ihn noch immer ein Schutzraum. Zeitweise lebte er in Rom sogar in einem Kloster. Bei aller Berühmtheit war er doch lieber für sich. Denn Liszt sah sich selbst als Gescheiterten. Sein Werk erfuhr Missachtung, die Beziehung zu Caroline verblasste nach und nach. Schon 1858 war er in Pest in den Franziskanerorden eingetreten.

Lassen Sie uns zur Kirchenmusik des Komponisten kommen. Warum taten sich die Zeitgenossen auch damit schwer?

Zunächst einmal: Liszts Werke auf diesem Gebiet zählen zum Wichtigsten des 19. Jahrhunderts. Seine Reform, die er auch theoretisch untermauert hatte, lief in Richtung einer musikalischen Ökumene. „Via Crucis“ etwa, eine Darstellung der Kreuzwegstationen Jesu, verknüpft gregorianische mit lutherischen Chorälen. Dieses späte Opus ist übrigens bestes Beispiel für den spröden, aber ungemein faszinierenden Altersstil Liszts. Es blieb, mit seinen Klängen, die weit in die Harmonik des 20. Jahrhunderts weisen,  unverstanden. „Via Crucis“ wurde überhaupt erst 1929 uraufgeführt.

Immerhin konnte er mit der „Legende von der Heiligen Elisabeth“ Erfolge feiern. Woran lag das?

Das Werk war eher volkstümlich religiös und protestantisch geprägt, orientiert an der deutschen Oratorientradition, etwa mit Blick auf Mendelssohns „Elias“.

Liszt, der Unverstandene, der Gescheiterte. Es heißt, er habe Selbstmordgedanken geäußert. Wie viel Wahrheit ist daran?

Wir müssen diese Äußerungen sehr ernst nehmen. Er schreibt dies etwa in einem Brief an Olga von Meyendorff, die er 1863 in Weimar kennengelernt hatte. Auch seine Biographin Lina Ramann bestätigte seine Lebensunlust. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass Liszt seit 1842 regelmäßig trank, schließlich zum Alkoholiker wurde. Ich wage zu behaupten, dass er im klinischen Sinne depressiv war.

Er genoss das Weltliche und flüchtete sich letzthin in die Religion?

Nein, diese Ebenen existieren gewissermaßen übereinander.  Das oft vorgetragene Bild, Liszt habe erst mit seiner Weihe zum Abbé zur Religion gefunden, ist falsch.

Auch das Komponieren von Kirchenmusik hat ja nicht mit dem Weihejahr begonnen.

Genau. Sein „Psaume instrumental“ (De Profundis) für Klavier und Orchester entstand schon 1834. Der 1833 begonnene, 20 Jahre später veröffentlichte Klavier-Zyklus  „Harmonies poétiques et religieuses“ ist tief religiös geprägt. Darauf folgten die großen kirchenmusikalischen Werke: die Graner Messe, Missa solemnis, das Oratorium „Christus“.

Blicken wir auf das Jubiläum. Warum wird des Meisters Kirchenmusik so gut wie gar nicht aufgeführt?

Insgesamt ist zunächst festzuhalten, dass überhaupt nur der geringste Teil von Liszts 800 Werken in Konzerten zu hören ist. Außerdem gilt: Kirchenmusik ist nicht cool. Der Hype des Virtuosen hingegen ist nahezu ungebrochen. Das Publikum jubelt, wenn sich junge Tastenzauberer etwa in die Ungarischen Rhapsodien stürzen.

Ist das der einzige Grund?

Nein, ein Problem ist natürlich auch, dass das kirchenmusikalische Werk wenig erschlossen ist. Es gibt keine kritische Notenausgabe. Und letzthin: Das gängige Liszt-Bild, das eines Superstars, ist doch bequem. Es gibt wenig Interesse, es zu korrigieren.

Kann das Jubiläumsjahr mit all seinen Publikationen und Sonderkonzerten nicht Abhilfe schaffen?

Vielleicht punktuell. Doch ich fürchte, dass nach dem Liszt-Jahr alles schnell vergessen sein wird.

 

(Das Gespräch wurde in ähnlicher Form in der „Tagespost“, Würzburg, veröffentlicht)

 

 




Woran Goethe glaubte

Düsseldorf. Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) war von Haus aus Protestant, sein Vater gar ein recht strenger, orthodoxer Lutheraner. Warum ist einem das nicht bewusst? Weil der Dichter weit über Konfessionen hinaus gedacht hat und als Weltbürger vielfältige Toleranz walten ließ.

Auf seiner berühmten Italienreise ließ er sich auch von der sinnlichen Bild- und Symbolkraft des Katholizismus „anstecken”. Und im Umkreis seines Werks „Der west-östliche Diwan” hat er sich auch mohammedanische Anschauungen anverwandelt.

Mit der weihnachtlichen Ausstellung „Goethe und die Bibel” betritt das Düsseldorfer Goethe-Museum wahrlich ein weites Feld. Von der Taufanzeige bis zu Goethes letzten Gesprächen mit seinem Vertrauten Eckermann reicht der zeitliche Bogen der ansprechenden Vitrinenschau. Zahlreiche Originalausgaben, zeitgenössische Illustrationen und Handschriften sind zu sehen. Wer viel davon haben will, muss sich hier über manches Schriftstück beugen.

Jenseits der
amtskirchlichen
Verkündigung

Schon als Kind hatte Goethe in Frankfurt reichlich religiöses Anschauungs-Material. Der Vater besaß eine umfangreiche Büchersammlung zu geistlichen Fragen, so auch eine bebilderte Merian-Bibel (1704), in der Goethe neugierig geblättert hat, als er des Lesens noch unkundig war.

Ein mächtiger Foliant wie die „Unparteyische Kirchen- und Ketzerhistorie” (1699) des Gottfried Arnold führte Goethe später auf Wege jenseits der amtskirchlichen Verkündigung. Hinzu kamen Einflüsse der gefühlvollen Frömmigkeits-Strömung des Pietismus, deren Anhänger den Weg zum (ganz persönlichen) Glauben in stiller Einkehr suchten.

Goethe hielt denn auch alsbald die offizielle Kirche mit ihren Riten und Dogmen für bloßes Menschenwerk und zeigte eher Sympathien für eine pantheistische Naturreligion. Seliger Grundgedanke: Gott ist in allen Dingen, in jeder Pflanze und jedem Stein. Passende Goethe-Weisheit, mit kaum verhohlenem Selbstbewusstsein hingeschrieben: „Die Natur verbirgt Gott. Aber nicht jedem.”

Stets legte Goethe überdies Wert darauf, dass Vernunft und Glauben einander nicht widersprechen. In diesen Zusammenhang gehört auch seine intensive Beschäftigung mit den Büchern des Philosophen Immanuel Kant. Überhaupt dachte der „Dichterfürst” im Horizont der Aufklärung. So fand er es „in meinen Augen wichtiger als die ganze Bibel”, dass der Mensch die Bewegung der Erde um die Sonne nachgewiesen hat.

Goethes Bibelkenntnis kann durch Hunderte von Fundstellen im Werk belegt werden. Er hat sich auch zum Atheismus geäußert. Zitat aus „Dichtung und Wahrheit”: „Allein wie hohl und leer ward uns in dieser tristen atheistischen Halbnacht zu Mute, in welcher die Erde mit allen ihren Gebilden, der Himmel mit all seinen Gestirnen verschwand . . .”

Besonderes
Interesse
an einer Sekte

Allen Anfechtungen zum Trotz, hat Goethe wohl zeitlebens seinen Glauben nicht verloren, wenn er auch wechselnden Gottes-Vorstellungen anhing. In einem Brief schrieb er: „Des religiösen Gefühls wird sich kein Mensch erwehren, dabei aber ist es ihm unmöglich, solches in sich allein zu verarbeiten . . .”

Sein Hauptwerk „Faust”, an dem er Jahrzehnte arbeitete, enthält etliche religiös inspirierte Passagen – vom „Prolog im Himmel” bis zur Formel über Gretchen: „Sie ist gerichtet . . . ist gerettet.” Sprichwörtlich wurde die mädchenhaft bange „Gretchen-Frage” an Faust: „Nun sag‘, wie hast du’s mit der Religion?”

Ein emsiger Kirchgänger soll Goethe jedenfalls nicht gewesen sein. Lange Zeit bewegte ihn jene Frage, die auch heute noch viele Menschen umtreibt: Wie kann Gott das Böse, wie kann er Katastrophen zulassen? Die Nachrichten übers schreckliche Erdbeben von Lissabon, das am 1. November 1755 rund 70 000 Todesopfer forderte, erschütterten seinen bis dahin naiven Kinderglauben.

Als gereifter Mann befasste sich Goethe eingehend mit der Hypsistarier-Sekte, die im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. in Kappadokien (heute Anatolien) „das Beste” aus antiker Götterwelt, Judentum und Christentum vereinen wollte. Solche Offenheit kam dem großherzigen Naturell Goethes gewiss entgegen: Nichts von vornherein ausschließen, alles wohlwollend wägen – und dann zur Synthese schreiten.

„Goethe und die Bibel”. Goethe-Museum, Düsseldorf, Schloss Jägerhof (Jacobistraße 2). Bis 20. Januar 2008. Di bis Fr und So 11-17, Sa 13-17 Uhr. Vom 24. bis 26. Dezember und Silvester/Neujahr geschlossen. Tel.: 0211/899 62 62.




Ein Maler sucht die himmlischen Sphären – Werkschau über Maurice Denis in Köln

Von Bernd Berke

Köln. Hochmodern sein und zugleich lammfromm – ob sich das wohl vereinbaren läßt? Der französische Künstler Maurice Denis (1870-1943) hat es zumindest nach Kräften versucht. Mit avantgardistischen Mitteln hat er religiöse Visionen auf Leinwand und Zeichenpapier gebracht – fast wie ein mittelalterlicher Meister. Das Kölner Wallraf-Richartz-Museum zeigt nun die größte deutsche Retrospektive seit Jahrzehnten.

„Mädchen, die Engeln gleichen“ heißt ein Bild von 1892. Es ist ein programmatischer Titel. Denn Denis bezieht Motive aus seiner unmittelbaren Umgebung, lädt sie aber mit christlicher Inbrunst dermaßen auf, daß sie sich (auch farblich) ins Ätherische und Durchsichtige verflüchtigen. So werden aus Mädchen gläserne, hauchzarte Wesen mit Hang zum Höheren, nicht mehr so recht von dieser Welt.

Sind’s zur Heiligkeit aufgestiegene Menschen oder zur Erde herabgestiegene Himmelsbewohnerinnen? Mal dies. mal jenes. Am spannendsten sind jedenfalls die Bilder, mit denen Denis die Mitte zwischen beiden Sphären findet. Dann gehen Sehertum und künstlerischer Zukunftsdrang tatsächlich eine enge Verbindung ein.

Eine Labsal für Konservative

Die Bibel ist allgegenwärtig: Malt Denis einen Weinberg, so ist es allemal der Weinberg des Herrn; zeigt er eine Frau mit einem Fisch in der Hand, so ist wohl unterschwellig die wundersame Speisung der Fünftausend mitgemeint.

Konservativen Gemütern dürfte diese Ausstellung eine Labsal sein. Denn hier werden die rechtgläubigen Mysterien ausgiebig gefeiert – mit allen Heiligen, Seligen, Priestern und braven Chorknaben. Auch die gute alte Kleinfamilie wird als Keimzelle des guten Lebens nahezu vergöttert.

Doch Maurice Denis bediente sich keiner altbackenen Mittel. Inhaltlich orientiert er sich zwar an Vorbildern wie Fra Angelico. Doch im Spannungsfeld zwischen Jugendstil und Symbolismus, im Gefolge von Paul Gauguin und angeregt von japanischer Kunst, verwendet Denis auch extreme Bildformate, riskiert kühne Ausschnitte und setzt vor allem die Farben so frei ein wie Gefühle. Berühmt sein Satz, daß ein Bild, noch bevor es „eine nackte Frau oder irgendeine Anekdote darstellt – vor allen Dingen eine Fläche ist, die mit (…) Farben bedeckt ist.“

Die mystische Ernte einbringen

So kommt es, daß übersinnlich-grünliche Schatten auf die Gesichter der Mädchen geraten. Daß Farben so gründlich ausbleichen, als wollten sie sich ins Nichts auflösen. Menschen und Dinge sind nicht mehr sie selbst, sie werden – auf einem Bild ganz ausdrücklich – geradezu mondsüchtig, fügen sich zu schwerelosen Reigen. So bringt Denis die „Mystische Ernte“ (Werktitel) ein. Phasenweise ist es ein einziges großes Offenbaren, Erwählen und Erwecken. Auch künstlerisch gehörte Denis ja einer Gruppierung an, die sich „Nabis“ (Propheten) nannte und Kult mit sich trieb.

Das Übermaß an Frömmigkeit wirkt beim Rundgang nicht nur erhebend, sondern manchmal auch erdrückend. Da freut man sich richtig, wenn man gewahr wird, daß Denis sich zuweilen auch mal einige verschmitzte Bilder gestattete. Beim Malen seiner Bade- und Strandszenen scheint er sich von den Anstrengungen und Prüfungen des Glaubens erholt zu haben.

Maurice Denis. Werkschau. Köln, Wallraf-Richartz-Museum (am Hauptbahnhof). Bis 2. April. Di-Fr 10-18, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 10 DM. Katalog 49 DM.