Wie ich einmal Sylvester Stallone verpasst habe (obwohl er seine Gemälde in Hagen zeigt)

Offenbar gut gelaunt: Sylvester Stallone beim morgendlichen „Medienevent“ im Hagener Osthaus Museum – vor einem seiner Gemälde. (© sabinebrauerphotos)

Um die Überschrift gleich klarzustellen: Natürlich sehe ich den weltbekannten Sylvester Stallone auch sonst nicht, habe ihn überhaupt noch nie leibhaftig gesehen. Doch heute hätte es eine Gelegenheit gegeben, und zwar – man höre und staune – in Hagen.

Im dortigen Osthaus Museum werden jetzt einige seiner Gemälde gezeigt. Der Mann malt, wenn seine Zeit es erlaubt, seit Jahrzehnten leidenschaftlich. Der Hagener Termin wurde denn auch nicht als schnöde Pressekonferenz oder kreuzgewöhnliche Ausstellungs-Vorbesichtigung angekündigt, sondern als „Medienevent“ mit Pressecounter, Check-In, 2G-Regel und sonstigem Zipp und Zapp. Wow!

Als Jungredakteur wäre ich sogleich elektrisiert gewesen. Doch als nunmehr etwas älterer Knabe bin ich, obgleich akkreditiert (dafür Dank) und füglich dreifach geimpft, dann doch nicht hingefahren. Als ich die Wetterprognose (Nullgrade, Glatteisgefahr) hörte und auch noch vernahm, dass Hagen vor Innenstadt-Baustellen derzeit nur so strotze, dachte ich bei mir: Selbst für Stallone möchte ich mir das nicht antun und mir erst recht nicht die Gräten brechen. Sorry.

Das ist ja das Schöne, wenn einem kein Chef-Darsteller mehr etwas vorzuschreiben hat: Man kann manche Dinge auch einfach mal bleiben lassen. Ein solches Versäumnis schmälert das Leben nur ganz unwesentlich; wenn überhaupt.

Sylvester Stallones Gemälde „Hercules O’Clock“. (© Courtesy Galerie Gmurzynska)

Kleiner Rückblick nach dem Motto „Was bisher geschah“: Vor ein paar Jahren hat mich ein wilder Haufen männlicher Nachbarn gedrängt, allen etwaigen Feinsinn fahren zu lassen und endlich einmal ein Video von „Rambo“ anzuschauen. Widerstrebend habe ich mich darauf eingelassen, hab’s tapfer durchlitten und mich beim gemeinsamen Videoabend mit Jacques Tati („Mon Oncle“) als zweitem Programmpunkt revanchiert – ein nahezu größtmöglicher Kontrast zum vorherigen Action-Geballer. Was ich damit sagen will? Ich bin „vorgeschädigt“, was Sylvester Stallone angeht, der bekanntlich „Rambo“ verkörpert hat.

Was habe ich heute wohl versäumt? Mit Sicherheit ein ziemliches Medien-Gerangel, ein Blitzlichtgewitter, wie es Hagen höchstens alle paar Jahre erlebt. Dazu Kameras und Mikrofone sonder Zahl. Es dürfte auf diesem Planeten nur wenige geben, die es an globaler Bekanntheit mit Sylvester Stallone aufnehmen können, der ja u. a. auch den legendären Boxer „Rocky“ Balboa gespielt hat. Nach ersten Vorberichten („Stallone kommt nach Hagen“) haben sich denn auch etliche Menschen aus der Region angelegentlich erkundigt, wie und wo sie Sylvester Stallone in Hagen live erleben können. Das vorherrschende Lokalblatt (Westfalenpost) gelobte daraufhin maximale Zurückhaltung in seiner diesbezüglichen Informationspolitik.

Selbige Zeitung begleitete heute Syvester Stallones Erscheinen ganz aufgekratzt. Rund 100 Fans des Filmstars hätten sich denn doch am Osthaus Museum eingefunden (von wem hatten sie wohl die Tipps?). Stallone sei einer schwarzen Limousine entstiegen, von Bodyguards abgeschirmt worden und habe dennoch ein paar Autogramme geschrieben. Nett von ihm. Die Vermutung steht im Raum und ist kaum von der Hand zu weisen: Die meisten Menschen wollen vielleicht gar nicht so sehr Stallones Bilder sehen, sondern den Filmstar himself.

Stolz auf den Coup: Hagens Museumsdirektor Tayfun Belgin mit Sylvester Stallone vor dessen Gemälde „Finding Rocky“. (© sabinebrauerphotos)

Den vorab versandten Presseunterlagen habe ich staunend entnommen, dass die rund 50 Bilder umfassende Stallone-„Retrospektive“ aus Anlass seines 75. Geburtstages (Geburtsdatum 6. Juli 1946) gezeigt werde. Die Gemälde seien „action-geladen“ wie seine Filme, doch auch „feinnervig und vielschichtig“. Zitiert wird Sylvester Stallones Auffassung von der Malerei als der unmittelbarsten aller Künste, die das Seelenleben unverfälschter ausdrücke als etwa die Literatur. Vom Film ganz zu schweigen. Darüber könnte man lange reden. Oder auch nicht.

Demnach hat Sylvester Stallone schon in den später 1960er Jahren mit dem Malen begonnen, als er noch längst nicht der große Kinostar gewesen ist. Schon vor dem Filmscript habe er zuerst auf der Leinwand die berühmte Figur entworfen – auf dem Bild „Finding Rocky“ (1975).

Bisher wurden seine Werke in St. Petersburg (2013) und Nizza (2015) gezeigt. Keine ganz gewöhnliche Abfolge. Jetzt also Hagen. Über die künstlerische Qualität der Bilder erlaube ich mir – aus der Distanz – selbstverständlich keinerlei Urteil. Osthaus-Direktor Tayfun Belgin wird sicherlich nichts dagegen haben, dass sein Institut einmal so richtig starke Publicity-Effekte außer- und oberhalb des sonst Üblichen erzielt. Er hat denn auch ein passendes russisches Sprichwort gefunden, um Stallones Mehrfach-Begabung zu unterstreichen: „Ein talentierter Mensch ist in jeder Hinsicht talentiert.“ In seinem Text „Der Zauber des Seins“ preist Belgin die expressiven Qualitäten dieser Malerei, dieser Zeit- und Gedankenbilder, wie er sie nennt.

Mh. Na gut. Eventuell gehe ich doch noch einmal hin. In aller Ruhe. Wenn der Medienrummel abgeklungen ist.

Sylvester Stallone. Retrospektive zum 75. Geburtstag. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1. Vom 4. Dezember 2021 bis 20. Februar 2022. Di-So 12-18 Uhr. Tel.: 02331 / 207 2138. Derzeit 2G-Regel (geimpft oder genesen) mit Ausweispflicht.

www.osthausmuseum.de




Kreativer Kosmos, künstlerischer Klamauk – Martin Kippenberger in der Bonner Bundeskunsthalle

Ohne Titel: Martin Kippenberger (aus der Serie Window Shopping bis 2 Uhr nachts) 1996. Öl auf Leinwand. Private Collection (Bild: © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne/Bundeskunsthalle)

Martin Kippenberger: Ohne Titel (aus der Serie „Window Shopping bis 2 Uhr nachts“), 1996. Öl auf Leinwand. Private Collection (Bild: © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne/Bundeskunsthalle)

Was macht Spiderman im Atelier des Malers? Er könnte einfach als Besucher da sein, er könnte als Superheld eine Versinnbildlichung der Machtfülle des Künstlers sein. Er könnte aber auch, als Spinnenmann eben, Produzent jener „Spinnereien“ sein, die das Werk seines Schöpfers in herausragendem Maße prägen – Ausdruck jenes hoch assoziativen Schaffens Martin Kippenbergers, dem die Bonner Bundeskunsthalle jetzt eine große Werkschau ausrichtet.

Das Spiderman-Atelier Kippenbergers, der 1953 in Dortmund geboren wurde und 1997 viel zu früh in Wien starb, steht gleich am Eingang der Ausstellung mit dem etwas sperrigen Titel „BITTESCHÖN DANKESCHÖN“. 360 Arbeiten sind hier ausgestellt, Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Plakate, Multiples und so weiter, und sollen eine Annäherung an den Künstler ermöglichen, dem fraglos eine gewisse Neigung zum Dadaismus eigen ist, der so recht aber keiner bestimmten Gruppe oder Richtung zugeordnet werden kann.

Ohne Titel (aus der Serie „Das Floß der Medusa“), 1996. Öl auf Leinwand. (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Alles hat er gemacht

Kippenberger hat Fotos gemacht und Holzplatten zu Skulpturen zersägt, er hat wundersam verbogene Straßenlaternen geschlossert und Zäune aufgestellt, Plastikfrösche ans Kreuz genagelt und aus Hotelrechnungen Malgründe gemacht. Er hat, so scheint es, eigentlich alles gemacht, was ihm gerade in den Sinn kam. Vor allem aber war er wohl Maler, wenngleich er eine seiner bekanntesten Bilderserien nicht selbst gemalt hat. „Lieber Maler, male mir“, so der Titel, ließ er nach Fotos von dem Plakatmaler Hans Siebert anfertigen. Und der Betrachter und die Betrachterin mögen nun nachsinnen über den Wert des Originals und darüber, was ein Original ausmacht.

Menschliches Leiden und Niedergang

Im großen Saal im Erdgeschoß der Bundeskunsthalle, wo Kippenberger jetzt ausgestellt ist, dominieren zu Beginn späte Gemälde, von fremder und von eigener Hand geschaffen. Tief beeindruckt der Zyklus „Das Floß der Medusa“, für den Kippenberger das berühmte gleichnamige Gemälde Théodore Géricaults sozusagen thematisch zerlegte, die unterschiedlichen Posen menschlichen Leidens und Niedergangs isolierte. In einem zweiten Schritt stellte er diese Posen für eine Fotoserie nach, die ihrerseits das Ausgangsmaterial für den gemalten Zyklus war und Bilder von einzelnen Körpern, Gliedmaßen, Gesichtern zeigt.

Ohne Titel (aus der Serie „Lieber Maler, male mir“), 1981. Acryl auf Leinwand. (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Die Banane war weg

Große Bilder waren das Resultat von Kippenbergers Beschäftigung mit dem Ei, das er nach eigenem Bekunden zum Thema machte, weil die Banane ja schon von Warhol verwendet worden war. Auch die letzte Serie „Window Shopping bis 2 Uhr nachts“ von 1996 ist mit drei Arbeiten verteten. Es sind wohl eher Schaufensterpuppen, die er da gemalt hat, mit verschwimmenden Rümpfen, einmal auch mit vier Beinen, entfernt an Figuren Francis Bacons erinnernd. Auf den ersten Blick könnte man die Serien der letzten Jahre vergleichsweise glatt und gefällig finden; man könnte sie aber auch in Verbindung sehen mit Kippenbergers schwerer chronischer Erkrankung, als Befassung mit qualvoller Körperlichkeit und Vergehen.

Kippenberger arbeitete „mit großer Schnelligkeit, großem Antrieb und großer Empathie“, so Kuratorin Susanne Kleine. Er beherrschte „die Kunst des Weglassens“, „er vermeidet Wertungen in seiner Kunst, er demokratisiert“.

„Nieder mit der Inflation“ (aus der Serie „Die I.N.P.-Bilder“), 1984. Öl, Silikon auf Leinwand. Private Collection (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Schrebergarten

Kippenberger thematisierte den Schrebergarten als Analogie zum eigenen und anderer Künstler Schaffen, das in dem Kommentar „Kunst ist Schrebergarten“ seines Mitstreiters Michael Krebber einen Ausdruck fand, er bastelte Zimmerkarussells und stopfte eine Galerie mit eigenen Arbeiten buchstäblich zu, um ein skulpturales Pendant zur notorischen „Petersburger Hängung“ zu schaffen, er malte absurde Richtungsschildchen für die Kasseler „Documenta“, er entwarf Aufkleber, die das berühmte „I Love New York“-Motiv variierten bis hin zu „I love Uhu und Pattex“, und so weiter, und so weiter. Es ist ein großes Verdienst der Bonner Ausstellung, die enorme Vielseitigkeit dieses Künstlers deutlich zu machen und eine Ahnung zu geben von der Komplexität seines Schaffens.

Ausstellungsansicht: „Spiderman im Atelier des Künstlers“ (Foto: Peter-Paul Weiler, 2019 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Die Wilden

In seinen multiplen Bezüglichkeiten war Kippenberger nahe an den Großen der Zunft, an Anselm Kiefer, Sigmar Polke, Jörg Immendorff. Ein Originalgemälde Gerhard Richters, der auch damals schon prominent und teuer war, verarbeitete er kurzerhand zu einer Tischplatte. Aber er war eben auch etwas jünger als die westlichen Malerfürsten, was manche Betrachter veranlaßte, Kippenberger den „jungen Wilden“ zuzuschlagen, die in den 80er-, 90er-Jahren von sich reden machten. Auch da paßte er nicht hin, wenngleich einige „Wilde“ zu seinen Freunden zählten.

Person des Künstlers bleibt rätselhaft

Nach Besichtigung der Ausstellung verschwimmt die Person Kippenberger immer noch hinter ihrem Werk. Im hoch assoziativen Geflecht aus alltäglicher Banalität und letzten Menschheitsthemen hat sie sich, unfreiwillig vielleicht, gut versteckt. Oder sollte ihr Versteck ein Gewebe sein? Auch das wäre – rein assoziativ natürlich – eine schöne Erklärung für den Spiderman im Künstleratelier.

  • „Martin Kippenberger – BITTESCHÖN DANKESCHÖN“
  • Bis 16. Februar 2020
  • Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
  • Helmut Kohl-Allee 4, Bon
  • Di+Mi 10-21 Uhr, Do-So 10-19 Uhr, feiertags 10-19 Uhr
  • Eintritt 10.00 EUR
  • www.bundeskunsthalle.de
  • Sehr empfehlenswerter umfangreicher Katalog 49,00 EUR

Nachbemerkung:

Auch wenn er gewiß kein „typischer Dortmunder“ war, seine Heimatverbundenheit niemals an die, beispielsweise, Emil Schumachers heranreichte – die Hartleibigkeit, mit der Dortmunds fraglos berühmtester zeitgenössischer bildender Künstler in der Stadt nicht wahrgenommen wird, ist frappierend. Weil ein Stadtprobst Coersmeier vor neun Jahren die religiösen Gefühle seiner Mitmenschen durch Kippenbergers gekreuzigten Plastikfrosch verletzt sah und dies in einem Brandbrief der Bezirksvertretung West kundtat, ist kein Gäßchen, kein Plätzchen rund um das „U“ nach ihm benannt worden. Und nie gab es in dieser Stadt eine nennenswerte Ausstellung seiner Arbeiten. (Falls ich mit dieser Aussage falsch liegen sollte, bin ich für eine Richtigstellung dankbar.) Dafür aber Pink Floyd, mit einem finanziellen Verlust im zweistelligen Millionenbereich, was aber niemanden aufregt.

Ein anderer Dortmunder, dem Beachtung eher andernorts zuteil wird, ist Norbert Tadeusz (geb. 1940 in Dortmund, gestorben 2011 in Düsseldorf). Späte Großformate von ihm sind noch bis 2. Februar 2020 im Düsseldorfer Museum Kunstpalast zu besichtigen.




Ins Innere der Dinge vordringen – die Wuppertaler Werkschau des Tony Cragg

Tony Cragg (Foto Mart Engelen)

Tony Cragg (Foto Mart Engelen)

Eine dermaßen weit ausgreifende Einzelausstellung hat es im Wuppertaler Von der Heydt-Museum noch nie gegeben: Für diesen Künstler hat Museumschef Gerhard Finckh gleich alle drei Etagen des Hauses freiräumen lassen. Der 1949 in Liverpool geborene Bildhauer Tony Cragg, so Finckh, sei ein „Weltstar“ der Kunst. Noch dazu lebt der Brite seit den 1970er Jahren in Wuppertal.

Nun also richtet ihm seine Wahlheimat die erste umfassende Retrospektive aus – und nicht etwa London oder Paris. Gar üppig, ja geradezu ausufernd füllt skulpturale Formenvielfalt mitsamt begleitenden Arbeiten 26 Räume. Cragg und sein 20köpfiges Team haben die aufwendige Aufstellung weitgehend selbst besorgt. Rund 120 dreidimensionale Arbeiten, manche um die 800 Kilogramm schwer, breiten sich jetzt aus, dazu Fotografien und Zeichnungen. Hier ist tatsächlich ein facettenreiches Lebenswerk zu besichtigen.

Tony Cragg: "Castor & Pollux", 2015, Holz. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Castor & Pollux“, 2015, Holz. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg, der auf dem Titel des schwergewichtigen Katalogs korrekt mit vollem Namen Anthony Cragg heißt, hat wahrlich seine großen Meriten. Er ist Träger so renommierter Auszeichnungen wie Turner-Preis und Praemium Imperiale, auch war er (bis 2013) Rektor der weltweit geachteten Kunstakademie in Düsseldorf. Die Liste der Verdienste und Ehrungen ließe sich länglich fortführen.

Mit Vorgefundenem und Vorhandenem, vorzugsweise mit „ärmlichem“ Material hat es in aller Bescheidenheit begonnen. Craggs frühe Fotos im Geiste des Minimalismus und der Land Art hängen am Beginn der Schau, gruppiert um ein imposantes Stapel-Kunstwerk, das so etwas wie eine schichtenhafte „Geologie der Dinge“ vor Augen führt.

Tony Cragg: "Secretions", 1998, Plastikwürfel. (Sammlung Deutsche Bank - © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Dave Morgan)

Tony Cragg: „Secretions“, 1998, Plastikwürfel. (Sammlung Deutsche Bank – © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Dave Morgan)

Nach und nach hat Cragg dann die vielfältigen Möglichkeiten und Eigenarten so mancher Stofflichkeiten von Glas bis Holz, Metall und Plastik erkundet. Jedes Material verlangt eine andere Herangehensweise, einen anderen Prozess. Vielfach gibt es – nicht nur mit Glas – zunächst Bruch und Chaos, bevor schließlich die angestrebte Form entsteht.

Wenn man erlebt, wie nervös und ruhelos, aber vor allem ständig inspiriert Tony Cragg zwischen seinen Schöpfungen erläuternd hin und her geht, erahnt man sein demiurgisches Wesen, das sich so viele Formen und Materialien bezwingend anverwandelt. „Abenteuer mit dem Material“ nennt er das und man darf wohl glauben, dass es dabei aufregend zugeht.

Tony Cragg: "Versus", 2012, Bronze. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Versus“, 2012, Bronze. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Schöner noch: Mit britischem Humor und feinsinnigem Understatement weiß er einem seine Kunst auf sympathische Weise nahezubringen. Schlecht habe er übrigens in den letzten Tagen geschlafen, denn gerade diese Ausstellung am Wohnort müsse besonders gelingen. Er wolle auch künftig ohne Gewissensbisse durch Wuppertal gehen…

1966-68, noch vor seinen Kunststudien, hat Cragg als junger Mann zeitweise als Techniker in einem Chemielabor gearbeitet. Vielleicht hat ihn diese Erfahrung dazu gebracht, gleichsam ins verborgene Innere der Dinge vordringen zu wollen, um möglichst sichtbar zu machen, was die Welt im Innersten zusammenhält oder auch antreibt? Die Wissbegier reicht sozusagen bis hinab zur molekularen Ebene. „Parts oft the World“ (Teile der Welt) heißt ja auch die ganze Schau.

Tony Cragg: "Making Sense", 2007, Fiberglas. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Making Sense“, 2007, Fiberglas. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Doch die Wissenschaften, so Craggs Überzeugung, tragen zwar zahllose Erkenntnisse zusammen, die allerdings emotional blass bleiben und einen nicht ergreifen. Erst die Künste verwandelten ihren Gehalt in spürbare Emotionen. In einer Zeit, in der sich die Welt mit theoretischen Konstrukten anfüllt, begreift er ein umfassendes Sichtbarmachen offenbar als seine Mission.

Und so wirken etliche seiner Werke einerseits, als basierten sie auf minutiösen Form-Analysen, die dann freilich wieder zur Synthese gelangt sind und jeweils ein (vielfältiges) Ganzes ergeben, um das man staunend herumgeht, immer neue Aspekte wahrnehmend. Diese Art der Bildhauerei erweist sich – durch die Jahrzehnte hindurch – als ständige Erfindung ungeahnt neuer Formen. Damit entstünden auch neue Begriffe und neue Freiheiten, sagt der Künstler selbst.

Tony Cragg: "Runner", 1985, Plastik. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Tony Cragg: „Runner“, 1985, Plastik. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Michael Richter)

Faszinierend ist es zu sehen, wie zunächst abstrakt anmutende, beispielsweise wirbelsäulenförmige Figurationen, auf frappante Weise lebendige Körperlichkeit enthalten und vitale Zeitabläufe energiereich „speichern“. Diese Arbeiten oszillieren zwischen organischen und geometrischen Impulsen. Ein spannender Widerstreit.

Oft ist es, als seien Dinge und Körper zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder anders gewendet, besehen und geformt worden, so dass sie schließlich gar nicht mehr recht zu fassen sind. Herkunft verpflichtet: Auch eine überdimensionale Teekanne hat der Brite auf solche Art gestaltet, indem er simultan verschiedenste Ansichten derselben vorführt.

Neuerdings bedient sich Cragg auch der Möglichkeiten des Computer Aided Design (CAD), doch wird er seine schier unendlichen Formfindungen gewiss nicht von digitaler Technik beherrschen lassen. Dazu hat er wohl einfach zu viele Phantasien im Kopf und im Herzen, die ihn zum (un)steten Schaffen drängen. Der Computer bleibt Hilfsmittel.

Die Werkgruppen, die in Wuppertal präsentiert werden, reichen bis hin zu neuesten, bisher noch nicht gezeigten Skulpturen. Selbstverständlich hat sich im Laufe der Jahre manches entwickelt, was anfangs noch nicht da war. Doch gerade im Rückblick zeigt sich, dass sich dieses Lebenswerk wie ein Baum verzweigt hat und auch immer wieder zum Angestammten zurückkehrt.

Tony Cragg: „Parts oft he World“ – Retrospektive. 19. April bis 14. August 2016 im Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Himmelfahrt, Pfingstsonntag und Fronleichnam geöffnet, 1. Mai und Pfingstmontag geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 38 Euro, DVD 15 Euro. Internet: www.tonycragg-ausstellung.de




Ganz gierig auf die Wirklichkeit – Retrospektive von David Hockney in Bonn

Von Bernd Berke

Bonn. Selbst wenn dieser David Hockney einen simplen Stuhl malt, wird das Bild zum Ereignis: Das Objekt scheint auf den Betrachter zuzustürzen, es begrüßt ihn freudig.

Der berühmte Brite (Jahrgang 1937) mit kalifornischer Wahlheimat gebietet derart raffiniert über Perspektiven und Bildräume, dass einem die Objekte unfassbar nah rücken. Jahrzehnte lange Studien im historischen Bestand, von der Renaissance-Malerei bis zu Picasso, haben den Boden für atemberaubende Kunstfertigkeit bereitet.

Allein Hockneys grandios „inszeniertes“, über sieben Meter breites Panorama vom Grand Canyon würde einen Besuch in der Bonner Bundeskunsthalle lohnen, wo jetzt eine bundesweit bislang beispiellose Werkschau mit fast 100 Gemälden zu sehen ist.

„A Bigger Grand Canyon“ (1998) ist ein ungeheuer starkfarbiges Riesenformat, bestehend aus 60 Einzeltafeln. Hier können die Blicke wahre Wanderungen unternehmen, weil es so viele perspektivische Fluchtpunkte gibt. Da ist es, als liege die ganze volle Welt vor einem ausgebreitet.

Grandioses Gebirgspanorama

Das Gebirgs-Panorama überbietet jede Fotografie und ist eine phantastische Feier des Wirklichen. Dazu passt das Motto der Schau: „Exciting times are ahead“ – „Erregende Zeiten liegen vor uns“; ein Satz, in dem frohe Lebensgier mitschwingt.

Vielfach ist Hockney als etwas oberflächlicher Pop-Artist verkannt worden, als Maler der Leichtigkeit des Seins an kalifornischen Swimmingpools. Diese machen aber nur einen Bruchteil seines Schaffens aus und erweisen sich zudem als subtile Studien zu Zeit- und Raum. Kräuselungen des Wassers vor, beim und nach dem Sprung ins Nass machen das Verrinnen der Sekunden bewusst.

Von wegen Pop-Art. Hockney hat schon in den 60er Jahren Distanzierungen in die Bilder eingebaut. Als Jasper Johns bunte Zielscheiben malte, reagierte Hockney mit einer spiralförmig sich windenden Schlange. Botschaft: So leblos wie eine Zielscheibe muss Kunst nicht sein.

Vom Dackel bis zum Musentempel

Hockney gibt freilich die atmosphärische Essenz beispielsweise des Olympic Boulevard in Los Angeles (1964) oder eines Bungalows in Beverly Hills (1966) derart genau wieder, dass solche Bilder zu Pop-Ikonen wurden. Mit seinen Arbeiten der 70er, in denen er unterschiedlichste Stilelemente kombiniert, könnte Hockney auch als Anreger der „Postmoderne“ und ihrer zitatenreichen Spiele gelten. In diesem unbekümmerten Kontext erlangen gar seine beiden Dackel serielle Bildwürdigkeit.

Auch frühe „Love Paintings“ (ab 1960) sind zu sehen. Hier hatte es Hockney (zuerst verschlüsselt) gewagt, seine Homosexualität zum Thema zu erheben – auf dem Grat zwischen Abstraktion und Figur. Wohlgemerkt: Seinerzeit wurde diese Neigung noch strafrechtlich verfolgt.

Am hellsten aber leuchten eben doch neuere Schöpfungen wie diese: Landstraßen durchs liebliche Yorkshire winden sich so, dass man sozusagen die langsame, entspannte Fahrt verspürt – die Lust am Dasein und seinen Farben. Oder: Eine zum Museum gewordene Salzfabrik ragt glorios strahlend auf wie ein Tempel. Die Kunst und ihre Herbergen sind für einen Hockney eben das Höchste zwischen Erde und Himmel.

Bundeskunsthalle Bonn (Museumsmeile). Bis 23. Sept. Di/Mi 10-21, Do-So 10-19 Uhr. Eintritt 12 DM. Katalog 49 DM




Siepmann-Retrospektive: Freiheit im Gerüst

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Heinrich Siepmann war immer ein ungemein stetiger und fleißiger Künstler. Allein 1220 Ölgemälde umfasst das Werkverzeichnis, das jetzt zur Retrospektive in Recklinghausen vorgelegt wird.

Kürzlich litt der 94jährige an einer Lungenentzündung – und was tat er? Er zeichnete im Krankenbett einige ganz wunderbare Pastelle. Gewiss trug das Schaffen zur Genesung bei: Am Sonntag will Siepmann zur Eröffnung seiner Werkschau in die Kunsthalle kommen.

In der so folgenreichen Künstlergruppe „junger westen“, die sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg formierte, tat sich Siepmann u. a. mit dem vor wenigen Tagen verstorbenen Hagener Maler Emil Schumacher und mit Gustav Deppe zusammen, der am 1. September dieses Jahres starb. Nun ist Siepmann, neben Thomas Grochowiak, einer der letzten lebenden Zeitzeugen des damaligen Aufbruchs.

Fenster-Bilder als frühe Vorläufer

Ganz anders als Emil Schumacher, von dem zur Erinnerung drei Bilder der Schau vorangestellt sind, hat sich Siepmann niemals dem Abenteuer der freien Gestik verschrieben. Vielleicht ist es just eine psychologische Grundfrage, welchen Weg man in der Gegenstandsferne wählt: Siepmann jedenfalls bedurfte stets der geometrischen „Gerüste“, die seine Arbeiten in Form halten.

Frühe Vorläufer waren jene „Fenster-Bilder“, also Ausblicke durch Rahmungen, die die Architektonik des Bildgevierts bestimmten. Daraus wurden alsbald abstrakte Linien und Balken, die Siepmann mit dem Lineal zog, dann aber doch malerisch ausfüllte. Nicht leblose Farbflächen erstrecken sich hier, sondern solche, denen man die Machart, die Spuren der Arbeit ansieht. Keine seelenlose Fabrikation, sondern Werk der Hände.

Außerdem unterlegt der Künstler seinen Bildern nicht etwa rechteckige Standard-Gerüste, sondern bringt die Ursprungs-Berechnung – immer wieder neu, immer wieder anders –  behutsam aus der Balance. Ganz leicht aus der Lot- oder Waagerechten gekippte Linien dynamisieren das Bild, erzeugen ästhetische Spannungszustände zwischen (meist vorherrschender) Planung und einer Ahnung von Chaos. Denn Ordnung allein wäre nur das halbe Leben.

Siepmanns bemerkenswert reichhaltige Farbpalette vergegenwärtigt man sich am besten anhand der feinstens nuancierten Weiß-Abstufungen. Doch auch das Rot taucht in mancherlei Schattierungen und Mischformen auf. Auf diese Weise gewinnen die Werke an Räumlichkeit und Tiefe.

Das Spiel darf heiter sein

Rund 70 Gemälde und 40 Collagen (vorzugsweise mit Wellpappe, Tapetenresten und Büttenpapier) von 1947 bis heute sind zu sehen. In seinen neuesten Arbeiten, etwa bei den eingangs erwähnten Pastellen vom Krankenlager, lockert sich die vormals manchmal doch etwas strenge Konstruktion.

Es scheint so, als habe Siepmann in seinen Neunzigern (am 30. November wird er 95) noch einmal eine ungeahnte Freiheit des heiteren Spiels entdeckt. Dies sehend, freut man sich mit. Denn man kann sich hinzu denken, dass niemals aller Tage Abend sein muss. Besser noch: Ein Stück davon kann man sich bewahren. Das Museum gibt nämlich die Pastelle zum Freundschaftspreis von je 400 DM ab.

Heinrich Siepmann. Retrospektive. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof / Tel. 02361/501931). 10. Oktober bis 28. November, Di bis So 10-18 Uhr. Katalog (komplettes Werkverzeichnis) 148 DM.




Flimmern der Freiheit – Wuppertaler Retrospektive zur Bewegungs-Kunst des Gerhard von Graevenitz

Von Bernd Berke

Wuppertal. Mit seinem Publikum hat es Gerhard von Graevenitz (1934-1983) nicht leicht gehabt. Er fand es fade, daß sich viele Leute für die elektrische Apparatur hinter seiner Bewegungskunst interessierten. Auch die psychedelische Wahrnehmung seiner Bilder war ihm ein Greuel: LSD-Schlucker, die sich um 1 968 im Rausch vor seine Werke legten und die optischen Effekte als Zutat genießen wollten, konnten ihm gestohlen bleiben.

In der Retrospektive des Wuppertaler Von der Heydt-Museums sind jetzt 72 Bilder und Objekte des oft verkannten Mannes zu sehen, der 1983 bei einem Flugzeugabsturz in der Schweiz ums Leben kam. Schwerpunkte: Op-art-Muster, die durch scharfe Kontraste zwischen schwarzen und weißen Feldern in scheinbare Bewegung geraten, sowie motorisch oder magnetisch betriebene Werke, die sich tatsächlich rühren.

Unterwegs zu anonymen Bildern

Mit seinen frühen zeichnerischen Arbeiten war Gerhard von Graevenitz gegen Ende der 50er Jahre nicht mehr zufrieden, er wollte die persönliche Handschrift überwinden. Er mochte kein Künstler sein wie etwa Picasso, für dessen Deutung es z. B. eine bestimmte Rolle spielt, wann er wie mit welcher Frau gelebt und wie er sich dabei gefühlt hat.

Von Graevenitz hingegen strebte anonyme und objektive Bilder an. Also rief er den Zufall zur Hilfe und würfelte aus, an welchen Punkten er seine weiß in weiß getönten Struktur-Bilder mit Dellen oder kleinen Erhebungen versehen sollte. Das Resultat wirkt zugleich streng und ungeheuer offen. Es sieht aus wie eine Blindenschrift, deren „Zeichenfolge“ sich – so hat man ernsthaft errechnet – möglicherweise sofort, aber auch erst in zigtausend Jahren wiederholen könnte. Man schwimmt also zwischen Augenblick und Unendlichkeit, und das Bewußtsein kommt ob solcher Unfaßbarkeit ins Flimmern wie die Bilder selbst.

Das Sehen selbst wird zum Thema erhoben. Die Bilder und Objekte gleichen kleinen Maschinen, die den Prozeß in Gang setzen. Es war also nur logisch, daß der Künstler seit Beginn der 60er Jahre wirklich Apparate baute, die den schönen Zufall nachstellten. So brachte er auf Quadraten oder runden Scheiben allerlei Stäbe, Kreise und Lamellen an, die unvorhersehbar vor sich hin ruckeln oder plötzlich ausschlagen.

Man kann nichts Falsches denken

Mal meint man, eine Ansammlung verrückt gewordener Uhrzeiger zu sehen, mal ein Gewimmel unterm Mikroskop. Der Flut von Einfällen sind kaum Grenzen gesetzt. Man kann alles denken, aber auch nichts. Eine Meditations-Übung mit ungewissem Ziel. Jede Lesart ist richtig. Freiheit, die man aushalten muß.

Spielerisch leicht und stets mit Eigendynamik überraschend, kann solche Kunst einen schmalen Ausblick in jenes utopische I.and geben, wo alles geht, wie es will.

Gerhard von Graevenitz – Retrospektive. Wuppertal, Von der Heydt-Museum. Turmhof 8. 5. März bis 7. Mai. Katalog 29 DM.




Schweres Material beginnt zu schweben – Skulpturen und Zeichnungen von Emil Cimiotti in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Ein Künstler kehrt an den Ort seiner ersten großen Erfolge zurück: Emil Cimiotti (65) hatte 1957 und 1959 in Recklinghausen den renommierten „Kunstpreis Junger Westen“ erhalten. Er staunt noch heute über die Folgen: „Seitdem konnte ich von meiner Kunst leben.“

Heute erzielen selbst mittlere Skulpturen des gebürtigen Göttingers Preise um 100 000 DM. In der Kunsthalle Recklinghausen, die ihm nun auf allen drei Etagen eine Retrospektive der Skulpturen und Zeichnungen ausrichtet, kann man seine künstlerische Entwicklung seit Mitte der 50er Jahre verfolgen.

Bei der Wahl des Materials zeigt Cimiotti Beharrungskraft: Von Anfang an hat er praktisch ausschließlich Bronze geformt. Hilfsweise hat man ihn dem „Informel“ zugeordnet. Doch bei Skulpturen ist das – anders als auf dem Felde der Malerei – mit der „Formlosigkeit“(Informel) so eine Sache: Die faßbare Präsenz des Materials und seine sinnliche Gestaltung widersprechen eigentlich dem Willen, Form aufzulösen.

Gerade dieser Widerspruch birgt jedoch die Spannung der Cimiotti-Werke. Mit ihren bizarren Zerklüftungen, die das Innerste des Materials nach außen zu kehren scheinen, sind sie im Ungewissen schwebende Abbilder der Seelenlandschaft und zugleich handfeste Dinge, sie sind gleichermaßen konkret wie abstrakt. Werktitel und Formensprache legen oft auch Erinnerungen an Naturformen nahe. Auch in diesem Sinne sind die Arbeiten nicht vollends losgelöst von aller Wirklichkeit. Die Schwebezustände, die Cimiotti mït dem doch recht kompakten und schweren Material zu erzeugen vermag, haben übrigens auch mit seiner speziellen Gußtechnik zu tun, die nur eine Materialdicke von etwa einem Zentimeter erlaubt. Daher also die Feingliedrigkeit und filigrane Wirkung vieler Stücke.

In den 70er Jahren schuf Cimiotti sitzende und hockende Großfiguren, durch deren „Körper“ die Skelettstruktur scheint – Sinnbilder für die Vergänglichkeit des Menschen. Häufig verwendete Fruchtformen scheinen aber in jener Zeit ein lebenspralles Gegengewicht zu bilden.

Zuletzt hat Cimiotti eine ganz andere, mehr ins Malerische ausgreifende Richtung eingeschlagen. Hell und licht bemalte Bronze-Arbeiten wie „Gipfel“, „Landschaft/ Schnee“ oder „Flacher Berg“ scheinen von jüngerer Kunst inspiriert zu sein. Angesichts dieser vitalen Arbeiten und spontaner Skizzen glaubt man kaum, daß man es mit einem seit Jahrzehnten eingeführten Künstler zu tun hat. Es ist, als habe Cimiottis Zukunft gerade erst begönnen.

Emil Cimiotti. Retrospektlve. Kunsthalle Recklinghausen (direkt am Hauptbahnhof). Bis 20. April.




Himmel und Hölle des Bildschirms – Nam June Paik in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Einerseits ist diese Ausstellung die schiere Medienhölle: Da dröhnt es aus ungezählten Lautsprechern, da gibt es ein wahnsinniges Bildergewitter auf hunderten von TV-Geräten, da flirren irrwitzige Großprojektionen über die Wände. Hier kann man wirklich einmal testen, wie lange man dem elektronischen Terror standhält.

Andererseits findet man sich in Zonen der Ruhe und der Meditation wieder, die von den selben Medien erzeugt werden: Eine Buddha-Figur „betrachtet“ göttlich-geruhsam ihr eigenes Erscheinungsbild; eine Kamera nimmt ein Ei auf, dessen perfekte Form synchron auf verschieden große Bildschirme übertragen wird. In einem abgedunkelten Raum erstreckt sich sodann ein Garten mit echtem Grün, dessen „Blüten“ freilich aus lauter Video-Farbbildern bestehen.

All dies sind Werke von Nam June Paik, dem großen Anreger der Video- und Fernseh-Kunst. Der Koreaner, heute in New York lebend, aber seit jeher auch der Düsseldorfer Szene eng verbunden, setzt mit diesen Medien sozusagen Himmel und Hölle frei, man erfährt Qualen, aber auch Wohltaten der künstlichen Bildwelten. Die Installationen in der vollverkabelten Düsseldorfer Kunsthalle sind mal Huldigung, mal Fluch.

„This is a Heimspiel for me“

„This is a Heimspiel for me“, soll Paik auf Anglo-Deutsch über diese Ausstellung gesagt haben – Anspielung auf alte, glorreiche Zeiten der rheinischen Kunstszene in den 60er Jahren, auf damals noch provozierende Kunstaktionen, die Paik gelegentlich auch mit Joseph Beuys gemeinsam veranstaltete, dessen Werk jetzt gegenüber in der Kunstsammlung NRW gezeigt wird (die WR berichtete).

Es dominieren Bildschirm-Arbeiten, die auch Leute ins Museum locken könnten, die sonst wenig mit Kunst am Hut haben. Kennzeichnend für Paik ist unter anderem die gegenseitige Durchdringung von Natur und Elektronik, so in besagtem „Fernseh-Garten“, aber auch bei einem Werk wie „Video Fish“: Aquarien mit lebenden Zierfischen stehen vor laufenden TV-Geräten. Die Videos laufen gleichsam „unter Wasser“.

Fernsehen und der christliche Kreuzweg

Paik knüpft mit seinen Arbeiten nicht nur an Naturformen an, sondern auch an die Kunstgeschichte: Den wohl stärksten Eindruck der Ausstellung hinterlassen jene 13 gotischen Schreine, in die der Kunst-„Ketzer“ Paik Femsehapparate montiert hat. Hintergrund: Ursprünglich sollten sich 14 Schreine auf die Stationen des christlichen Kreuzweges beziehen. Station heißt auf Englisch bekanntlich „station“, dies Wort steht auch für Fernsehkanäle – und 13 Stations-Schreine wurden es dann, weil es friiher einmal in New York diese Zahl von Fernsehsendern gab. Siehe da: Die Geschichten hinter den flimmernden Bildern können ganz schön vertrackt sein.

Nam June Palk. Retrospektive. Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz. Bis 12. Januar 1992. Tägl. außer montags 10 -18 Uhr. Katalog 42 DM.




Joseph Beuys als Leitfigur der Gegenwart – eine nahezu sakrale Schau in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Was Düsseldorf jetzt in Sachen Kunst bietet, dürfte schwerlich zu übertreffen sein. Just haben die Große Düsseldorfer Kunstausstellung sowie eine Renato Guttuso-Retrospektive begonnen, da folgt ein doppelter Paukenschlag mit Retrospektiven auf Werke zweier Leitfiguren der Gegenwart: Joseph Beuys (Kunstsammlung NRW) und Nam June Paik (Kunsthalle, gleich gegenüber). Wenn da die Kunstpilgerfahrt an den Rhein nicht lohnt, lohnt sie nie.

Während Paik die Welt durchs mediale Auge der TV- und Videokunst sieht (die WR wird darauf zurückkommen), verwandelt Beuys die Dinge und ihre Formen in Energie-Felder. Natürlich ist nicht sein komplettes Werk in Düsseldorf zu sehen, dazu war er einfach zu produktiv. Zudem sind viele seiner Arbeiten heute standortgebunden oder aus anderen Gründen nicht verfügbar.

Aber man sieht doch einen namhaften Querschnitt durch das Werk des Mannes mit dem Filzhut. Zeitlich reicht die Auswahl der über 400 Exponate von 1941 (eine aufgeklebte Birkenrinde als erste Arbeit deutet schon auf das große Thema „Natur“ hin) bis 1985. Gezeigt werden Zeichnungen, Aquarelle, plastische Bilder, Objekte und Rauminstallationen sowie „Multiples“ (in höheren Auflagen gefertigte Kleinobjekte).

Der Didaktiker und Sozialutopist Beuys ist zudem mit Aktions-Überbleibseln und schwungvoll beschriebenen Lehrtafeln vertreten. Wenn man diese Arrangements sieht, vermißt man doch die reale Gegenwart des am 23. Januar 1986 gestorbenen Künstlers, der wie kein anderer mit seiner ganzen Person für seine Kunst einstand.

Schon bei der gestern massenhaft frequentierten Pressevorbesichtigung war es zu spüren: Man geht durch diese Ausstellung still, ja ehrfürchtig, denn sie hat einen sakralen Beigeschmack — und welches Werk würde sich dazu besser eignen als jenes von Joseph Beuys – mit seinen hauchfeinen, sich zuweilen fast ins Nichts verflüchtigenden Zeichnungen und mit seinen derart genau austarierten Installationen, an deren Kraftlinien man nichts verändern darf, ohne sie nachhaltig zu stören.

Grandios die Offenheit der Beuys’schen Arbeiten, die nie eine Interpretation aufdrängen, sich aber auch selten im Belanglos-Anekdotischen verlieren. Man lasse sich nicht von Vordergründigem, von Materialien wie Filz oder Fett täuschen. Hinter deren Kombination stehen komplexe Denk- und Erlebens-Muster. Die formale Umsetzung erfolgt mit beispielhafter Ökonomie der Mittel: Ein „Zuviel“ gibt es bei Beuys nicht.

Selbstverständlich ist auch sein Werk der Zeit unterworfen. Beispiel: die Warenregale mit dem Titel „Wirtschaftswunder“, die vor wenigen Jahren noch als Kapitalismuskritik galten. Heute „liest“ man die karge Ansammlung als eine Art Nachruf auf die Ex-DDR.

Joseph Beuys. Natur — Materie — Form. Kunstsammlung NRW. Düsseldorf, Grabbeplatz. Bis 9. Februar. Tägl. (außer montags) 10 bis 18 Uhr. Eintritt 8 DM, Katalog 49 DM.




Spukhafte Schraffuren – Werkschau über Paul Flora in Münster

Von Bernd Berke

Münster. Als Karikaturist der Wochenzeitung „Die Zeit“, auf deren Titelseite er von 1957 bis 1971 präsent war, ist er weithin bekannt geworden. In welchen kunstgeschichtlichen Zusammenhhängen Paul Flora (63) und seine filigranen Federzeichnungen stehen, macht jetzt eine Retrospektive im Westfälischen Landesmuseum Münster mit über 200 Exponaten deutlich (ab Sonntag, bis 18. August, Katalog 18 DM).

Schon die skurrilen Erfindungen der frühen Jahre – gezeigt werden Arbeiten ab 1940 – verdanken sich jener johen Kunst des Weglassens und dem lakonisch-souveränen Spiel mit Form und Linie, über die Flora später fast nach Belieben verfügte. Manche Blätter führen auf die Spur eines gewichtigen künstlerischen Ahnherrn: Paul Klee. Den Blick fürs abseitig-groteske Detail und immerwährende Todedrohung schärfte der Österreicher Flora eingestandenermaßen bei Alfred Kubin.

Aus gespinstartigen Schraffuren, deren mal akkurates, mal mal wirres Geflecht außerordentlich differenzierte Schattierungen ergibt, schichtet Flora ganze Bilder auf. Die hauchfeinen Linienkaskaden verdichten sich zu präzisen Augenblicks- und Zustands-Schilderungen. Auch wenig greifbare Phänomene wie Nebelschwaden nehmen so spukhafte Gestalt an. Und die verhaßten Militärs erscheinen da auch schon mal als pflanzlich-ornamentale Strukturen.

Floras makabre Ader tritt u. a. in seiner „Dracula“-Serie hervor, aber auch in zielsicher hingeworfenen Chaos-Studien wie dem „Eisenbahnattentat“ (1958) oder dem „Unhold als Menschenschlächter“.

Flora schritt nicht den ganzen Themenkreis der Kunst aus, sondern wählte enge Bezirke, deren bildnerische Möglichkeiten er (zuweilen obsessiv) in allen Nebenverästelungen ausschöpfte. Beispiele dafür sind eine subtile Serie über Könige, die in Sänften getragen werden, sowie sein düsteres „Markenzeichen“: der Rabe, der in ungezählten Variationen auftaucht, auch als Schnabelmaske mittelalterlicher „Pestärzte“.

Ein großer Teil der Ausstellung widmet sich natürlich den politischen Karikaturen für „Die Zeit“, deren tagesaktuelle Anlässe zwar verblaßt sind, deren formale Grundlagen und Qualitäten aber hier, im Kontext des Gesamtwerks, erst recht verblüffen.




Nuancen des Rot – Retrospektive über Rupprecht Geiger

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Solche, die sich wie Rupprecht Geiger über weite Phasen des künstlerischen Schaffens auf Nuancen einer einzigen Farbe konzentriert haben, dürfte es selten geben.

Nachdem Geiger lange Jahre mit der quasi-musikalischen „Kontrapunktik“, dem Spektrum zwischen Widerstreit und Gleichklang mehrerer Farben experimentiert hatte, widmete er sich immer ausschließlicher dem Rot, dessen Dimensionen er rundum ausgeschritten und das er konsequent bis zum Farb-Raum vorangetrieben hat.

In der Düsseldorfer Kunsthalle, wo jetzt die bislang größte Retrospektive auf das Lebenswerk des heute 77jährigen zu sehen ist (bis 21. Juli), ist ein solcher Farb-Raum ganz real vorhanden: ein voluminöses, blutrotes Zelt („Rote Trombe“, 1985).  Auf daß man ganz und gar in der Farbe „baden“ kann, empfiehlt sich die Benutzung einer bereitliegenden Decke. Für den, der sich unter und in das Farbzelt legt, existiert nur noch reine, abstrakte Farbe.

Geiger begann in den 40er Jahren als Kriegsmaler in Rußland und Griechenland. Schon für diese frühen Jahre bringt die Ausstellung Belegstücke bei. Der gelernte Architekt, in dieser Zeit Autodidakt der Malerei, schuf damals Landschaftsstudien, in denen sich die spätere Autonomie der Farbe schon ankündigt.

Im Lauf von Geigers Auseinandersetzung mit surrealistischen Strömungen gegen Ende der 40er Jahre verschmelzen solche Farbwerte noch nahtloser mit der Vorstellung eines seelischen Innenraums. In Trümmerdeutschland, 1949, war Geiger Mitglied der Münchener „ZEN“-Gruppe, der auch Willi Baumeister und Fritz Winter angehören. Bereits in diesen Jahren, und damit wohl als einer der ersten Künstler überhaupt, arbeitete er mit „shaped canvases“, mit Bildträgern also, die vom Rechteck- oder Quadratformat unregelmäßig abwichen. Im Kontext der Düsseldorfer Ausstellung wird greifbar deutlich, daß sich auf diesen zurechtgeschnittenen Leinwänden gleichsam Ausbruchsversuche, ja Befreiungen der Farbe ereignen. Die Abkehr vom konventionellen Bildzuschnitt bedeutete zugleich eine weitere Verselbständigung des Grundelements „Farbe“.

Als Geiger später zu rechteckigen Formaten zurückkehrt, scheint die Farbe gleichsam „gereinigt“ von allen Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten. Nun werden die (meist titellosen) Bilder zu meditativen „Reiseführern“ ins Absolute, die mit Leuchteffekten den Blick bannen.