Rote Herzchen und Blue Jeans – eine prächtige Musical-Revue im Berliner Theater des Westens

Von Bernd Berke

Berlin. Oh, Italiens Himmel über deutschen Camping-Zelten! Knallrote Herzchen leuchten am Firmament, bunte Sternchen blinken dazu und dann erklingt mit vollem Schmelz das Lied von den „Capri-Fischern“.

Das ist Kitsch von der grandios-inbrünstigen Sorte, stilsicher überzeichnet. So gefällt er auch Leuten, die ihn sonst verteufeln. Szenen dieser Güte erlebt man in der am Samstag uraufgeführten Berliner Musical-Revue „Blue Jeans“ zuhauf.

Die schwungvolle, musikalisch und tänzerisch nahezu perfekt dargebotene Tour durch deutschen Zeitgeist der 50er Jahre (Buch und Regie: Jürg Burth, Ko-Autor Ulf Dietrich) ist, wie bei derlei Stücken handelsüblich, einfach gestrickt. Lisa Neumann und Frank Karsuntke verloben sich mit heftiger Billigung ihrer Eltern. Denn Usas Vater besitzt das einzige Kaufhaus der Kleinstadt, Franks Erzeuger ist Baustadtrat, der auch schon mal eine strittige Erweiterung genehmigen oder die Konkurrenz vom Orte fernhalten kann. Beide schwimmen also dank wechselseitiger Korruption auf den Wellenkämmen des Wirtschaftswunders. Da bietet sich eine familiäre Verknüpfung geradezu an. Doch es gibt auch noch Tom, den KFZ-Mechaniker in Blue Jeans und mit Schmalztolle, der Lisa mitsamt seinem Motorrad mächtig imponiert.

Facetten der Adenauer-Zeit

Lisas Hin und Her zwischen gehobenem Spießermilieu der Adenauer-Zeit und dem wilden Tanz der Freiheit ist der einzige, vielleicht etwas zu schmale Handlungs- und Spannungsbogen, der natürlich zum Schluß in eine denn doch allseits genehme Heiratslösung führt.

Um die wenigen „Hänger“ gleich abzuhaken: Die Bühne ist zuweilen übervölkert, man sieht dann den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Nicht alle sind stimmlich ganz disponiert, es gibt einen Teilausfall. Dafür kann Angelika Milster als Neumanns Frau um so mehr glänzen. Die hat eine Stimme – fast schon zu gut fürs Musical.

Die Prüderie hat keine Chance

„Unterwegs“ hat man erheblich mehr gesehen als nur ein paar läppische Teenagerträume. Und wie liebevoll, wie selbstironisch ist das alles in Szene gesetzt und gespielt!

Da liest etwa „Fräulein Schlösser“ (umwerfend, herrlich halbschräg: Sylvia Wintergrün), die Haushälterin der Kaufhaus-Neumanns, aus einem prüden Benimmbuch der 50er Jahre vor, während ein US-Boy sie gierig bedrängt. Sie zitiert auf Deutsch die Anstandsregeln und versucht sich in deren Sinne zu wehren, indes er auf Englisch intimste Wünsche hechelt, denen sie sich dann doch nicht versagen kann. Herrliches Kontrastbild, das die bigotte Sexualmoral jener Jahre einfängt und doch köstlich unterhaltsam bleibt. Man lacht sich schlapp.

So auch, wenn wiederum jenes Fräulein beim Staubsaugen den alten Gassenhauer „Ein Schiff wird kommen“ trällert – und durch leicht variierte Wiederholung einer einzigen Zeile das ganze Hausfrauenelend samt verkorksten Sehnsüchten aufscheinen läßt.

In der eingangs erwähnten Campingszene will Vater Neumann (fernsehbekannt: Siegfried W. Kernen) „den Itakern mal zeigen, wie ein deutsches Zeit gebaut wird.“ Dann kommandiert er beim Aufstellen herum, und es schwingt viel von der soldatischen Untugend gerade erst überstandener Katastrophen mit. Auch hier der frappierende Einklang von Zerstreuung und Fassung von Gedanken. Kein Musical von Naiven für Ahnungslose, aber auch keine dürre Belehrung von Bärbeißigen für Humorlose. Prächtig so!

Bis 31. Dez. im Berliner «Theater des Westens“ (Nähe Ku‘ Damm), tägl. außer mo. 20 Uhr, So. 18 Uhr (Tickets von 18.- bis 86.- unter 030/88 22 888).




Wechselbäder zwischen Revolte und Schunkellied – Lokalrevue „Oh, du mein Wuppertal“ uraufgeführt

Von Bernd Berke

Wuppertal. „Oh, du mein Wuppertal“ heißt die Revue. „Ach, du meine Güte!“, könnte man antworten. Denn schier alles, was nicht niet- und nagelfest war, wurde für diese (andernorts kaum nachspielbare) Uraufführung im Wuppertaler Schauspielhaus gleichsam „eingemeindet“. Stellenweise wuchs sich das zu einem monströsen Panoptikum der Beliebigkeit aus.

Worauf herauf? Sollte es eine Polit-Revue sein – mit jenen Texten von Ernesto Cardenal (dessen Bücher in einem Wuppertaler Verlag erscheinen) und Heinrich Böll (der 1966 die Eröffnungsrede im Wuppertaler Schauspielhaus hielt)? Oder ein Abend mit karnevalsreifen „Vertällches“, dargeboten vom Orts-Original Hans „Ötte“ Geib? Oder gar doch ein poetischer Abend mit Lyrik der Wuppertalerin Else Lasker-Schüler? Oder eine trunkene Liebeserklärung an Stadt und Region mit dem „Bergischen Heimatlied“ und Songs à la „Mädel, fahr mit mir Schwebebahn“? Ja, das alles, auf Ehr‘, das gab es – und noch mehr.

Sicher: In einer Revue mag es drunter und drüber gehen. Aber irgend ein lenkender Sinn und Fingerspitzengefühl sollten doch erkennbar sein. Cardenals Revolutionsgedichte, ein Punk-Ballett („Schade, daß Beton nicht brennt“) – und dann ein Schunkellied zum Mitsingen, das geht einfach nicht zusammen. Das sind mehrere Programme. So gemixt, wird das Ernste schnell harmlos, das Heitere infam.

Die Textsammler Wolf Jürgen Brehm, Ulrich Greiff (auch Regie) und Lothar Schwab mochten, so scheint es, kein Archiv auslassen. Fleißig haben sie noch den letzten Winkel nach lokal Verwertbarem durchkämmt. Sicherlich habensie noch Funde in petto, die der Revue aufhelfen können. Es gab nämlich auch so schon durchaus gute Ansätze. Besonders vor der Pause ließen einige geschickt zusammengestellle Texte aufhorchen. Goethes Besuch in Elberfeld etwa (1774 beim Literaten Jung-Stilling) und des „Dichterfürsten“ vernichtende Kritik an pfäffischer Frömmeiei daselbst. Sodann der erhellende Bezug zu einem Brief von Friedrich Engels, der sich exakt demselben Thema widmete. Zuvor, auch dies eine Funken schlagende Zusammenfügung, Immermanns Notiz über Pferde, die seinen „Hamlet“ störten, sowie die Überleitung zu den heutigen Tierversuchen eines Chemieriesen am Ort.

Die Umsetzung: Schwierig, weil Ulrich Greiff so vieles, was auseinanderstrebte, Schlag auf Schlag auf die Bühne bringen mußte. Ein Wechselbad. Die Technik mußte sozusagen Himmel und Hölle in Bewegung setzen, Massenbilder (bühnenfüllend: Wuppertaler Jugend) wechselten abrupt mit intimen Szenen. Notdürftige Klammer war das Anfangs- und Schlußbild (Bühne: Rosemarie Krines) mit Showflitter auf Schwebebahnmasten. Sechs Profi-Schauspieler „vertrugen“ sich recht gut mit Tanzgruppe und Laiendarstellern Die Musik-Band gehörte zu den Pluspunkten.

Übrigens: Von einem aus Wuppertal stammenden Kanzlerkandidaten war auch die Rede. Der, niemand anders als der bibelfeste Johannes Rau, saß im Publikum und nahm vergnügt die (auf Bonn gemünzten) Ratschläge aus den Büchern „Salomo“ und „Jesus Sirach“ zur Kenntnis.




Nach mancher Qual doch noch Glanzlichter – Ruhrfestspiel-Ensemble fünf Stunden lang im „Depot“

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Gleich vier neue Produktionen stellte jetzt das Ensemble der Ruhrfestspiele vor – und das erstmals in seiner neuen Spielstätte, einem ehemaligen Straßenbahndepot.

Das Depot ist ein vorzüglicher Ort fürs Theater. Es umfaßt eigentlich drei Spielstätten, so daß zur Einweihung zwei Stücke zeitlich parallel gegeben werden konnten (im „Magazin“ und in der „Werkstatt“). Das fünfstündige Mammutprogramm startete jedoch im Theatersaal des früheren Tramschuppens, und zwar mit „Prometheus und Herakles 5″ von Heiner Müller. An diesem gewichtigen Brocken hat man sich überhoben. Mag sein, daß die wahre Fließbandarbeit des Ensembles, deren erste Ergebnisse hier im Zusammenhang zu sehen waren (künftige Aufführungen erfolgen separat), einen Großteil jener Energie aufgesogen hat, die Müllers Aischylos-Bearbeitung kosten müßte.

Wolfgang Lichtensteins Inszenierung konzentrierte kaum, brachte wenig „auf den Punkt“. Im Prometheus-Teil (Hauptrolle: Bernd Köhler) mühte man sich, nicht immer sinnvermittelnd, mit Müllers hochkomplizierter, klassizistischer Sprache ab. Dann kam Herakles 5 (Meinhardt Zanger) mit Blaumann und Schutzhelm, befreite den Lichtbringer Prometheus und setzte zu einem Solo über die Reinigung des Augias-Stalls an, das wohl als Kabinettstückchen zu werten wäre, mit dem Beginn aber so gut wie nichts mehr zu tun hatte. Durch den allzu jähen Sturz auf die Alltagsebene wurden kaum fruchtbare Widersprüche aufgetan. Statt sich dialektisch zu entfalten, geriet das ganze Stück gleichsam in Schieflage.

Weiter ging’s mit „Die Wende“, einer mit Bochumer Opel-Arbeitern entwickelten Produktion, Szenen zum Thema Arbeitszeitverkürzung. Da zeitgleich „Antreten zum Doppelbeschuß“ (Produktionsleitung: Jürgen Fischer) lief, mußten sich die Besucher entscheiden. Meine Wahl fiel auf den „Doppelbeschuß“. Die Qual folgte prompt. Neckische Vergleiche gewisser Beate-Uhse-Produkte, die den Pershing-Raketen in punkto Stab-Form ähneln, mit eben jenen Atomwaffen, waren da noch das – in jeder Hinsicht – Harmloseste. Die gemeinsam mit Oberhausener Gewerkschaftern erarbeitete Szenenfolge läßt zwar hie und da „die Muskeln spielen“, erwägt gar Generalstreik gegen Stationierung, bleibt aber im Grunde bieder. Über die zentrale, immer wiedergekäute These „Kapitalismus = Krieg“, an der gewiß „etwas dran“ ist, kommt das nicht hinaus. So bleiben gut gemeinte Ansätze flach und eindimensional.

Doch noch ein versöhnender Ausklang: Im Hauptsaal beendet die 100-Minuten-Revue „Wer andern eine Grube gräbt“ (Leitung: Wolfgang Spielvogel) den Marathon. Schwachpunkte fallen hier weniger ins Gewicht. Mit insgesamt 20 „Nummern“, Texten so unterschiedlicher Autoren wie Loriot, Franz Xaver Kroetz oder Peter Alexander (seine Bergmannsschnulze „Schwarzes Gold“ wird der verdienten Lächerlichkeit preisgegeben), werden immer wieder Glanzlichter gesetzt. Vielleicht liegt in solchen Produktionen eine ganz spezielle Stärke und Zukunft des Ensembles.