Eisiger Schauer für Barbarossas Knochen: Verdi und Rossini zur Saisoneröffnung in der Philharmonie Essen

Der Dirigent Riccardo Chailly in der Philharmonie Essen. (Foto: Brescia e Amisano ©Teatro alla Scala)

Erfreulich, dass Riccardo Chailly mit Orchester und Chor des Teatro alla Scala beim Saison-Eröffnungskonzert der Essener Philharmonie einmal nicht den Schlager aller Chorschlager mitgebracht hat. Statt „Va pensiero“ aus Giuseppe Verdis „Nabucco“ eröffnen sie ihr Konzert mit italienischer Opernmusik von Verdi und Rossini mit einer mitreißenderen Hymne als dem „Gefangenenchor“: „Viva Italia“, der Einleitungschor aus Verdis vernachlässigter „La Battaglia di Legnano“.

Man spürt den Kampfgeist des Risorgimento, den Enthusiasmus der italienischen Einigungsbewegung: Ein „heiliger Pakt“, so heißt es, verbinde die Söhne Italiens (die Töchter waren damals nicht gefragt), mache sie zu einem Heldenvolk. Ein eisiger Schauer möge die Knochen des wilden Barbarossa durchfahren!

Viel eindringlicher als im „Nabucco“, der erst im Zuge der Auseinandersetzung mit den österreichischen Besatzern seinen nationalrevolutionären Anstrich erhielt, formuliert Verdi hier sein Ideal der Einigung Italiens. Die Ouvertüre zur „Schlacht von Legnano“, in der es um den Sieg der Lombardischen Städteliga über Kaiser Friedrich Barbarossa anno 1176 geht, ruft den unwirschen, roh-lapidaren Ton der Frühwerke auf, aber der lyrische Teil steht auf der Höhe der folgenden Opern „Luisa Miller“ und des bedeutenden, immer noch nicht gerecht geschätzten „Stiffelio“. Filigrane Bläser und hymnische Tutti, vom Scala-Orchester mit Saft und Sensibilität gespielt, tauchen Verdis Melodien in glühende Kantilenen; der Chor beginnt verhalten a cappella und steigert sich gegen den „wilden Barbarossa“ in schäumendes Forte. Ein fulminanter Auftakt!

Auch mit Vorspiel und Einleitungschor zur Oper „I due Foscari“ stellen Chailly und seine Ensembles ein Werk vor, das mehr Beachtung verdient hätte. Chailly hat es schon als junger Dirigent zum 200-Jahr-Jubiläum der Scala 1978 dirigiert und aus seinem Dornröschenschlaf erweckt. Der Chor „Silenzio, mistero“ fängt die unheimliche Atmosphäre eines nächtlichen Venedig ein, das nicht romantisch verbrämt, sondern ein düsterer Schauplatz von Verrat, Intrige und Lebensgefahr ist.

Weniger glücklich programmiert sind die anschließenden Ausschnitte aus „La Traviata“ und „Otello“. Die Chorstretta am Ende des Festes bei Violetta („Si ridesta in ciel l’aurora …“) eignet sich als Zugabe („Es ist Zeit für uns, zu gehen …“), hat aber als vorbeihuschendes Presto zu wenig Substanz, um für sich allein zu stehen. Auch die beiden Chöre der Wahrsagerinnen und der Stierkämpfer aus dem zweiten Akt, dem Fest bei Flora, sind mit ihrer prägnanten Rhythmik und ihrer koloristischen Melodik reizvolle Stücke, die ihre Wirkung aber eher im szenischen Zusammenhang als im Konzert entfalten. Ähnlich die Chöre aus „Otello“.

Leuchtender Klang und breites Ausdrucksspektrum

Dass die Sängerinnen und Sänger aus Mailand unter ihrem Direktor Alberto Malazzi einen leuchtend-kernigen Klang pflegen und selbst zwischen dem fahlen „sotto voce“ – der Meisterschaft halblauten Singens – und einem plastischen Pianissimo über ein breites Ausdrucksspektrum verfügen, bleibt unbestritten. Die Musiker des Scala-Orchesters wissen natürlich, wie sie einen Bogen spannen, wie sie Bläser und Streicher abmischen und wie in bläserbewehrten Tutti ein transparenter Klang bewahrt wird. Chailly hält stets einen Rest von Reserve aufrecht; so klingt das Vorspiel zu „La Traviata“ nicht depressiv-wehmütig, sondern resigniert-erhaben.

Dieses Ideal eines polierten, strahlenden, aber expressive Emphase meidenden Klangs kommt im zweiten Teil des Konzerts den Ausschnitten aus Gioachino Rossinis „La gazza ladra“, „Semiramide“ und seinem „Tell“ – hier in der italienischen Fassung als „Guglielmo Tell“ – entgegen. In der „Diebischen Elster“ sind die beiden kleinen Trommeln zwar am äußeren linken und rechten Rand des Ensembles positioniert, aber die Echo-Wirkung wird nicht realisiert. Die Dynamik bleibt gedämpft – somit spielt sich keine Szene ab, sondern die Musik bleibt auf Distanz.

Energie und Noblesse in Rossinis Chören

Die vordergründig malerische Ouvertüre zu Rossinis letzter Oper mag Chailly nicht dramatisch eindringlich aufladen. Im Orchester hat die Cello-Gruppe einen glänzenden Auftritt; auch die Holzbläser, namentlich die Flöten, verschlingen sich makellos in ihren melodischen Arabesken. Die finale Attacke wird weder im rhythmischen Biss noch in der Lautstärke vulgär übertrieben – das tut dem Stück gut. Wirkungsvoll gestaltet ist der Chor aus der 13. Szene der „Semiramide“, „Ergi omai la fronte altera, regio Eufrate“. Da lassen die Scala-Choristen die Nähe zu Verdi und damit die expressive Kraft Rossinis spüren; der wuchtige Chorklang hat Energie und Noblesse.

Auch der Chor der Schweizer aus der zweiten Szene des Dritten Akts von „Guglielmo Tell“ mit dem Wechsel von Soldaten und Frauen und dem Passo a tre für das Ballett ruft szenische Assoziationen hervor und verbirgt nicht, dass dieser Moment vor den Augen Geslers mit untergründiger Aggression aufgeladen ist, die sich im scheinbar so harmlos-folkloristischen Bordun der Männerstimmen artikuliert. Jubel des Essener Publikums für einen dankbaren Abend voller Italianità.

Große Orchester in Essen zu Gast

Die Philharmonie Essen startete mit diesem Konzert in eine neue Spielzeit, deren Programm weitere weltweit bedeutende Orchester wie das London Symphony Orchestra (5. Oktober), das Israel Philharmonic Orchestra (1. November), die Wiener Symphoniker (14. November) und das London Philharmonic Orchestra (4. Dezember) enthält. Zu Gast sind Dirigenten wie Daniele Gatti, Philippe Herreweghe, Marie Jacquot, Klaus Mäkelä, Sir Antonio Pappano, Raphaël Pichon, Petr Popelka, Sir Simon Rattle oder einer der Porträtkünstler der Saison, Maxym Emelyanychev.

Neben der Geigerin Carolin Widmann und der Jazz-Legende Nils Landgren gehört zum Quartett der Porträtkünstler auch der Dirigent Lahav Shani. Der Musikdirektor des Israel Philharmonic und designierte Chefdirigent der Münchner Philharmoniker geriet über seine künstlerische Tätigkeit Mitte September in die Schlagzeilen, als er und die Münchner Philharmoniker vom Flanders Festival in Gent in Belgien ausgeladen wurden. Als Grund wurde angegeben, der in Tel Aviv geborene, 36 Jahre alte Dirigent habe sich nicht eindeutig von der israelischen Regierung distanziert. Die Absage aus Sorge vor „emotional aufgeladenen Reaktionen“ wurde als Bankrotterklärung vor dem Terror und von Presse und Kulturszene weithin als kruder Antisemitismus gewertet.

Lahav Shani. (Foto: Marco Borggreve)

Auch die Philharmonie Essen stellte sich in einer Stellungnahme im Umfeld des Konzerts der Münchner Philharmoniker in Essen klar hinter ihren Porträtkünstler, der sich vielfach für Dialog und Versöhnung eingesetzt hat. Bei dem Konzert am 13. September in Essen distanzierte sich der belgische Premierminister Bart De Wever noch einmal öffentlich von der Entscheidung des Festivals van Vlaanderen.

Lahav Shani wird in Essen noch zwei Mal zu erleben sein: Am 1. November gastiert er mit dem Israel Philharmonic Orchestra mit Paul Ben-Haims Sinfonie Nr. 2 und dem Fünften Klavierkonzert Ludwig van Beethovens, gespielt von Igor Levit. Am 28. Februar 2026 steht beim Rotterdam Philharmonic Orchestra Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“ auf dem Programm, dazu das Zweite Klavierkonzert Dmitri Schostakowitschs mit Shani in der Doppelrolle als Dirigent und Solist.




Nichts als Überraschungen: Das Scala-Orchester mit starkem Auftritt im Konzerthaus Dortmund

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Scala-Orchester. Foto: Petra Coddington

Leidenschaftliche Einsätze: Riccardo Chailly leitet das Orchestra Filarmonica Della Scala. Foto: Petra Coddington

Impressionen eines Konzertes, die, so dahingewürfelt, seltsam klingen mögen. Doch gemach: Die Symbolkraft und Besonderheit der Beobachtungen wird sich alsbald erschließen. Also halten wir fest, dass Daniil Trifonov jetzt Vollbart trägt, dass die Zugabe dieses spannenden Nachmittages ein zeitgenössisches Stück ist – der Komponist sitzt im Saal – und dass Schumanns Musik teils wie von Fieber geschüttelt, teils ungewohnt introvertiert klingt.

Wir hätten das so nicht erwartet, bei diesem Gastspiel des Mailänder Orchestra Filarmonica Della Scala in Dortmunds Konzerthaus, am Pult der Chefdirigent, Riccardo Chailly. Andererseits gehört es ja zur Philosophie der Dortmunder Veranstalter, dem Publikum immer aufs Neue scheinbar Bekanntes im veränderten Klanggewand zu präsentieren. „Raus aus deinen Hörgewohnheiten“ ist das Motto. Nun, in diesem Konzert mit Schumanns „Manfred“-Ouvertüre, dem Klavierkonzert und seiner 2. Sinfonie ist das auf Eindrucksvollste gelungen. Nichts als Überraschungen, wohin sich Aug’ und Ohr auch wenden.

Beginnen wir mit dem Solisten. Der 25jährige Daniil Trifonov scheint aus seiner übervirtuosen Sturm-und-Drang-Phase schon herausgewachsen, technische Schwierigkeiten können ihm offenkundig kaum noch etwas anhaben, sein Spiel hat an Reife und Reflektion enorm gewonnen. Bei Schumann jedenfalls nimmt er sich extrem zurück. Versinkt in der Musik, artikuliert zartfühlend, wirkt wie ein scheuer Zeremonienmeister. Oder auch, die Assoziation sei ob des Bartes gestattet, wie ein Eremit, der ganz im Klang gefangen ist.

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

Daniil Trifonov spielt das Schumann-Konzert überaus introvertiert. Foto: Petra Coddington

So einer will nicht auftrumpfen, nicht voller Überschwang durchs lebhafte Finale fegen. Stattdessen rhythmische Strenge, das Virtuose fest unter Kontrolle, auf dass der Satz ja nicht zu viel Gewicht bekomme. Schumanns Konzert atmet gewissermaßen romantische Clarté, hell im Klangbild und wie abgespeckt. Dies ist dem fulminanten Dirigat Chaillys zu danken: Nie wird das Klavier vom Mailänder Orchester zugekleistert, vielmehr hören wir eine dynamisch wunderbar ausbalancierte Musik.

Trifonov spielt Schumann im Geiste Chopins. Das mag nicht jedermanns Sache sein, wenn hier und da die gestelzte Dekadenz eines Salons durchschimmert, doch am Ende hat der Pianist das Publikum auf seiner Seite. Überraschung gelungen. Wie denn auch das Orchester staunen macht. Ein Klangkörper, der mit warmen Holzbläserfarben überzeugt, dessen Violinschmelz wohltönt, der überhaupt ungemein wach agiert auf Chaillys Dirigat. Der Chef der Mailänder ist ein Kapellmeister der alten Schule, ohne körperliche Verrenkungen und andere Marotten.

Und er ist, was nun die Aufführungspraxis angeht, ein Vollblutmusiker, der etwas wagt. Weil er, in Schumanns Ouvertüre und Sinfonie, nicht der Originalklangbewegung nachspürt, die ja längst in der Spätromantik angekommen ist, sondern vielmehr die Retuschen Gustav Mahlers verwendet. Und da geht es nicht um Kleinigkeiten, sondern um beherztes Eingreifen in die Originalpartituren. Da klingen plötzlich Blechbläser mit Dämpfer auf, die Schumann niemals verwendet hat, da tummeln sich allein 26 erste und zweite Geigen sowie neun Kontrabässe auf der Bühne. Eine großorchestrale Besetzung, als gelte es, bloß ordentlich Effekt zu machen.

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Maestro Chailly, ein Dirigent, der etwas wagt in Sachen Aufführungspraxis. Foto: Petra Coddington

Doch Chailly ist kein fahrlässiger Maestro am Pult, der es mal richtig knallen lassen will. Er stellt zur Diskussion. Und wenn in der „Manfred“-Ouvertüre das Klangbild hell und aufreizend funkelt, der musikalische Verlauf wie im Rausch vorüberflitzt, jede Beruhigung mehr Schein als Sein ist, wenn es schroff und wild zugeht, dann fällt es schwer, „ja, aber…“ zu rufen. Immerhin sei angemerkt, dass die Holzbläser oftmals kaum zu hören sind. Erst am Ende, wenn die Spannung nach und nach verebbt, Schumann (mit Mahler) auf Reduktion setzt, entdecken wir den balsamischen Klang von Flöten, Oboen oder Klarinetten.

Ähnlich geht es in der Sinfonie zu. Deren Hauptmotiv wird anfangs zwar noch etwas unstrukturiert vorgetragen, doch alsbald liegt alles so offen wie fiebrig und dynamisch exaltiert vor Ohren. Als Höhepunkt darf der langsame Satz gelten, dessen tristaneskes Sehnsuchtsmotiv sich ins Hymnische weitet. Da ist der Weg zu Bruckner nicht mehr fern. Dann wieder Atemlosigkeit im auftrumpfenden Finale, kraftstrotzend und roh wie bei Beethoven, teils in grenzwertiger Lautstärke. Alles vom Mailänder Orchester souverän gemeistert, präzise und mit unbedingter Leidenschaft. Überraschung erneut gelungen.

Doch damit nicht genug. Das Orchestra Filarmonica Della Scala tritt zur Zugabe an. Rasch huschen noch ein paar Musiker herbei, darunter das Personal für kleine und große Trommel sowie Becken. Sollten die Italiener als Rausschmeißer noch einen Rossini in Petto haben, serviert aus dem Mutterland der Oper? Weit gefehlt. Angekündigt wird Carlo Boccadoros „Fast Motion“. Eine vierminütige Raserei mit scharfen harmonischen Reibungen, teuflisch komplexer Rhythmik und in zumeist eminenter Lautstärke. Maschinenmusik wie von futuristischer Hand, garniert indes mit allerlei Jazzidiomatik. Ein neues Stück, wie sich herausstellt, der Komponist sitzt gerührt im Publikum, von vielen italienischen Fans frenetisch bejubelt. Überraschung gelungen: Hier, im Konzerthaus Dortmund, erklingt das Stück – eine Zugabe (!) – tatsächlich als deutsche Erstaufführung. Respekt.

 

 




Gesang im Blut: Gewandhausorchester Leipzig gastiert in der Philharmonie Essen

Leonidas Kavakos kommt mit einer Art Maß-Schlafanzug aufs Podium. Wer so ein Designer-Stück trägt, will auch Aufmerksamkeit darauf lenken – denkt man. Doch noch bevor man irgendeinen weiteren Gedanken an den Robenschöpfer verschwendet hat, nimmt die Musik gefangen. Und anders als bei manchem geigenden Girl stellt sich die Verpackungsfrage nicht mehr. Denn mit den ruhig gelösten ersten Takten von Dmitri Schostakowitschs Violinkonzert a-Moll hat der griechische Geiger alle Aufmerksamkeit auf die Musik gezogen. Und da bleibt sie – bis zur expressiven Kadenz des vierten Satzes.

Kavakos setzt nicht auf das Spektakel, für das Schostakowitschs Musik selbst in diesem Konzert gut wäre. Der meditativ-schweifende Charakter des ersten Satzes, „Nocturne“ bezeichnet, ist in selten glücklicher Einigkeit mit dem Gewandhausorchester und seinem Chef Riccardo Chailly phrasiert: Dem Italiener liegt das „Singen“ im Blut, das hat schon er als junger Aufsteiger in den siebziger Jahren mit grandiosen Verdi-Dirigaten am Teatro alla Scala bewiesen. Kavakos zeigt, wie ein ebenmäßiger Geigenton differenziert werden kann, ohne dem Klang Gewalt anzutun. Es gibt keine Drücker, keine harschen Geräusche, keine dünnen Stellen, auch kein wallendes Pathos.

Die Musiker des Leipziger Traditionsorchesters folgen dieser polierten, aber keinesfalls belanglosen Schönheit des Tons: ob Kontrafagott und Horn in sacht beigemischter Farbe, ob das tiefe Blech im Pianissimo oder die Streicher in einer kaum mehr vernehmbaren Grundierung für Bassklarinette und Harfe. Den zweiten Satz, das gerühmte „Scherzo“, rücken Kavakos und Chailly nicht auf die dämonische Nachtseite, wie eine Beschreibung des Uraufführungs-Solisten David Oistrach nahe legt. Die zackigen Staccati und knackigen Mini-Motive wirken eher sarkastisch, vom schillernden Humor eines gefährlichen Kobolds ausgespien.

Brillante Polyphonie und kontrastreiche Beleuchtung des Orchesterparts finden wir in Johannes Brahms‘ Dritter Symphonie. Der Beginn mit dem kraftvollen Blechbläserakkord und der regelgerechten Vorstellung der Themen ist nicht ganz gelungen; Chailly baut zu wenig Spannung auf und das Orchester klingt pauschal. Doch gerade als sich der Eindruck festigen will, nun eine urdeutsche Version der Symphonie des grämlich gründelnden Greises, wie Brahms auf Bildern oft erscheint, absitzen zu müssen, ändert sich die Atmosphäre. Da bilden weite Phrasierungen die Architektur der Sätze nach und überspannen das motivisch variantenreiche Detail-Geschehen; da zeigt sich intime Vertrautheit mit der Musik in gelassener Souveränität des Spiels.

Die Musiker des Gewandhausorchesters, derzeit mit Chailly auf Europa-Tournee, lassen Brahms glänzen und strahlen – und trotz aller Vorsicht vor derartigen Verknüpfungen von Biografie und Werk ist man geneigt, die freundliche Heiterkeit der Tage zu spüren, während derer Brahms im Wiesbaden des Sommers 1883 die Symphonie geschrieben hat. Der leuchtende Schluss nach Dvořák-Art war nicht das Ende des Konzerts in der Philharmonie: Das setzte Riccardo Chailly, spürbar gut aufgelegt, mit der umjubelten „Akademischen Festouvertüre“.