Verklärung im Diesseits: Riccardo Muti und das Chicago Symphony Orchestra in Essen

Riccardo Muti. Foto: Todd Rosenberg

Riccardo Muti. Foto: Todd Rosenberg

Es gehört zum halben Dutzend der amerikanischen Spitzenorchester, ist auf zahllosen Aufnahmen unter berühmten Dirigenten festgehalten und garantiert für eine technische Brillanz, die weltweit nur von wenigen Klangkörpern erreicht wird: Das Chicago Symphony Orchestra machte bei seiner Winter-Tournee Station in Essen. Die Philharmonie als einer von vier europäischen und einziger deutscher Auftrittsort: Das ist eine Auszeichnung.

Chefdirigent Riccardo Muti steht – wie 2007, beim letzten Besuch der Chicagoer Musiker – am Pult und rahmt das Konzert mit zwei Werken Giuseppe Verdis, einem der „Jubilare“ des Jahres 2013. Zur Eröffnung die Ballettmusik aus „Macbeth“, höllisch ausgelassene und dämonisch erhabene Musik, die leider in szenischen Aufführungen – auch am Aalto-Theater – so gut wie immer fehlt. Und die „Nabucco“-Ouvertüre als Zugabe: ein Zugstück, das Klangpracht und Präzision des amerikanischen Spitzenorchesters zur Geltung bringt.

Seine technische Klasse zeigt das bald 125 Jahre alte Orchester in Prokofjews „Romeo und Julia“-Suite: Violinfiguren aus einem Guss und mit hinreißendem Schwung, ein schmeichelndes Klarinettensolo, auratische Mixturen aus Harfe und sehnsuchtsvollem Saxofon. Der stählerne Marschrhythmus in den „Masken“ ist auf pure Überwältigung angelegt; die feinen Abstufungen von Piano und Pianissimo lassen den Atem anhalten. Mit praktischen Folgen: Husten-Alarm gab es diesmal im Alfried Krupp Saal nicht, dafür klimperten die Armreife manch eleganter Dame wie die Ketten der Gefangenen im „Nabucco“-Chor.

Riccardo Muti, 72 Jahre alt und inzwischen eine Dirigenten-Legende, agiert ohne Show, gibt dem Orchester viel Freiheit. Das ist nicht immer vorteilhaft. Der erste Trompeteneinsatz in der „Macbeth“-Ballettmusik geht um ein Haar schief, weil der Maestro zu hastig beginnt. Das erste Orchester-Crescendo will nicht klingen. Die unheimliche Posaunen-Hymne markiert den Höhepunkt, das Erscheinen der düsteren Göttin Hekate, ohne majestätische Düsternis, weil die Balance mit den Streicher-Begleitfiguren nicht passt. Den Sostenuti, die für die lauernde Leere nach dem Ende des Spuks stehen, fehlt das gläsern-fahle Zwielicht. Dem Hexenwalzer des dritten Teils gibt Muti dann allerdings die expressive rhythmische Markanz, die seine Verdi-Dirigate gemeinhin auszeichnet – nachhörbar auf vielen Plattenaufnahmen, unter anderem einem „Macbeth“ mit Fiorenza Cossotto in der Titelpartie.

Zum „Auftakt“ des Strauss-Jahres 2014 bringt das Orchester aus Chicago „Tod und Verklärung“ mit. Das Werk des 24jährigen ist geprägt von der Klangsinnlichkeit der Musik an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, aber auch von der spätromantischen Sehnsucht nach dem Ausgriff in Sphären jenseits irdischer Begrenzung. Der Agnostiker Strauss hat diesen spätromantischen Impetus später trocken-ironisch wegerklärt mit dem Bedürfnis, ein Stück zu schaffen, das in c-Moll beginne und in C-Dur ende.

Das ist Strauss gelungen – und wie! Die Raffinesse klanglicher Entwicklungen ist kein Selbstzweck. Ihre tiefe symbolische Bedeutung ist mit dramatischer Unmittelbarkeit zu greifen – da braucht es auch nicht das später hinzuerdichtete „Programm“. So wundert es ein wenig, dass ein genuiner Opern-Dirigent wie Muti auf den szenografischen Aspekt so wenig Wert legt. Das Orchester findet die Streicher-Bläser-Balance nicht so, dass die Mischklänge expressive Konturen erhielten.

Zu Beginn freilich erblüht die Idylle in schönster, weiträumiger Phrasierung, auch nach dem ersten Einschnitt durch einen markanten Trommelschlag baden sich Oboe, Harfen und Violinen in süßen Harmonien, die später durch das tiefe Blech und die Bassklarinette in sanfter Wehmut umflort, aber nicht in herber Düsternis gebrochen werden. Der dünne Faden zwischen dem letzten machtvollen Eintritt des Todesmotivs und der anbrechenden Verklärung ist irdisch direkt gewoben, statt sich im Pianissimo zwischen den Sphären zu spinnen. Und das Aufwölben der Motive auf das abgeklärte C-Dur zum Schluss hin geht ohne Haltungswechsel einher. Der Auftakt des Strauss-Jahres 2014 bleibt diesseitig.




Herkules oder Sisyphos – Hein Mulders stellt sein erstes Philharmonieprogramm vor

mulders0178

Hein Mulders, neuer Intendant der Essener Philharmonie und der Aalto-Oper. Foto: Philharmonie Essen

Der Held ist noch etwas müde. Langsam nur schwingt er sich auf, um mehr und mehr im Glanz zu erstrahlen. Es ist ein satt orchestrales Leuchten, das uns über Lautsprecher geboten wird, Richard Strauss’ sinfonische Dichtung „Ein Heldenleben“, als Introduktion zur Präsentation des neuen Philharmonie-Programms in Essen. Und wer mag, darf sich die Frage stellen, inwieweit der neue „Superintendant“ der Stadt, der Niederländer Hein Mulders, ein Held ist angesichts der gewaltigen Aufgabe, die es zu bewältigen gilt.

Jedenfalls ist es in NRW einmalig, dass der Chef der Philharmonie zugleich die Oper, hier das Essener Aalto-Theater, führt. Vergleichbares würden Dortmund, Düsseldorf oder Köln wohl weit von sich weisen. Mulders aber will den Kraftakt wagen, mit der Zeit wird sich dann herausstellen, ob er als tatkräftiger Herkules oder als stressgeplagter Sisyphos gelten darf. Eines jedoch scheint schon jetzt festzustehen: Der neue Mann will in seiner ersten Saison, der Spielzeit 2013/14, wenn die Philharmonie zehn Jahre alt wird, klotzen und nicht kleckern.

Denn mit avisierten 130 konzertanten Eigenveranstaltungen legt Mulders im Vergleich zu seinem Vorgänger Johannes Bultmann noch eine ordentliche Schüppe drauf, einem Plus von etwa 25 Prozent entsprechend. Zehn thematische Reihen enthält das neue Programm, zwischen 14 Abos kann das geneigte Publikum wählen. Gleichwohl gilt, dass auch der „Superintendant“ das Rad des Musikbetriebs nicht neu erfinden kann. Gutes bleibt, etwa die höchst erfolgreiche Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“, anderes wird erweitert – wie das sehr avancierte Neue-Musik-Projekt „NOW!“, das sich in der neuen Saison dem Phänomen des Klangs im Raum widmet.

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Keine Spielzeit ohne „Stars“. Ein Konzerthaus muss Namen bieten, um das Publikum zu locken. Und damit wird in Essen wahrlich nicht gegeizt: Nehmen wir nur die neue Residenzkünstlerin, die Sopranistin Anja Harteros. Oder berühmte Dirigenten wie Riccardo Muti, der mit dem Chicago Symphony Orchestra gastiert, Lorin Maazel, der die Münchner Philharmoniker leitet, nicht zuletzt Valery Gergiev und das London Symphony Orchestra. Eröffnet wird die Saison 13/14 übrigens mit dem Gespann Mariss Jansons und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Am 5. September 2013 erklingen dann zwei Schlüsselwerke der klassischen Moderne – Bartóks Konzert für Orchester und Lutoslawskis gleichnamiges Opus.

Im Mittelpunkt aber steht die Programmmusik und mit ihr das Oeuvre Richard Strauss’, dessen 150 Geburtstag im nächsten Jahr ansteht. Dann erklingen diverse Symphonische Dichtungen wie eben auch „Ein Heldenleben“, das kaum zu hörende Festliche Präludium für Orgel und Orchester, zudem Lieder und Opernszenen. Strauss dirigierte im übrigen 1904 zur Eröffnung des Essener Saalbaus seine „Sinfonia domestica“ – ein Werk, das 2014 die Philharmoniker der Stadt mit ihrem neuen Chef, Tomás Netopil, interpretieren werden.

Vieles mehr wäre hier zu nennen: etwa die neuen Formate „Wege zu Bach“, „Piano lectures“ oder „Entertainment“. Doch da sei den Neugierigen die Lektüre des güldenen Spielzeitbüchleins oder das Studium der Internetseiten (www.philharmonie-essen.de) empfohlen. Verwiesen sei zudem auf Hein Mulders zweite Pressekonferenz über die neue Opernspielzeit. Erste Verzahnungen werden gewiss erkennbar sein. Für die Philharmonie aber gilt, dass der „Superintendant“ wohl auch an der Marke von 75.000 Besuchern gemessen wird, die Vorgänger Johannes Bultmann zuletzt erreichen konnte. Wir sind gespannt.