Abschied ohne Nostalgie: Waltraud Meier hat die Opernbühne verlassen

Waltraud Meier auf der Bühne der Berliner Lindenoper. Die große Künstlerin hat ihre Karriere beendet. (Foto: Jakob Tillmann)

Eine der prägenden Künstlerinnen der Opernbühne der letzten Jahrzehnte hat Abschied genommen: In Berlin sang Waltraud Meier zum letzten Mal die Klytämnestra in Richard Strauss‘ „Elektra“. Werner Häußner kennt die Sängerin seit ihrem Debüt in Würzburg 1976 und lässt Stationen einer Karriere Revue passieren, die von 1980 bis 1983 auch nach Dortmund führte. Dort sang Meier erstmals die Kundry in Wagners „Parsifal“. Eine Rolle, die ihr 1983 den Durchbruch in Bayreuth bescherte.

Was soll man zum Bühnenabschied einer Sängerin schreiben, über die in den 47 Jahren ihrer Karriere wohl alles schon in Zeilen gefasst wurde, was öffentlich zu sagen ist? Wozu den Lebenslauf rekapitulieren, der überall nachzulesen ist; wozu das umfangreiche Repertoire aufzählen, das nun eh der Vergangenheit angehört?

Oder sollte man die Stimme von Waltraud Meier preisen, die am Freitag, 20. Oktober 2023, in der Berliner Staatsoper unter den Linden zum letzten Mal in einem Theater erklungen ist? Sollte noch einmal das „Bühnentier“ in den Vordergrund treten, das um 20.44 Uhr, nach langem herzlichem Beifall raschen Schrittes von der offenen Szene eilt, die Richard Peduzzi einst für Patrice Chéreaus „Elektra“ gebaut hat und die nun abgespielt ist?

„Tschüss“ für ein wunderbares Publikum

Waltraud Meier hat beklagt, dass heutzutage keine Blumen mehr geworfen werden. Bei ihrem Abschied in Berlin war das anders. (Foto: Jakob Tillmann)

Berlin erlebte den Bühnenabschied einer Sängerin, die mehr ist als eine verkörperte Stimme, die als „Jahrhundertsängerin“ bewundert, als „Callas der Jetzt-Zeit“ gerühmt wurde. Alle Rekapitulationen oder Lobeshymnen klingen in einer solchen Situation wie ein Nachruf, und den hätte Waltraud Meier noch lange nicht verdient und hoffentlich noch viel länger nicht nötig. Von ihrem „wunderbaren treuen Publikum“ verabschiedet sich mit einem fast schüchtern klingendem „Tschüss“ eine entschlossene Frau, bereit, das Leben nach dem Bühnendasein anzupacken und zu genießen. Wehmut? Wenn, ist er tapfer verborgen. Nostalgie oder gar Tränen? Das sind Waltraud Meiers Sachen nicht.

In Interviews hat sie deutlich gemacht: Es wird keine Rückkehr mehr geben, Altersrollen sind ausgeschlossen, und das Leben geht auch ohne Klytämnestra, Kundry, Waltraute oder Isolde weiter. Waltraud Meier hat musikalisch gesagt, was sie zu sagen hatte, jetzt ist Schluss. So kontrolliert, so entschieden und klar kennt man die Fränkin, die 1976 am Stadttheater Würzburg als Lola in Mascagnis „Cavalleria rusticana“ ihre Bühnenkarriere begann. Da hatte sie die Szene noch nicht betreten und war schon nach Mannheim wegengagiert.

Zum letzten Mal Klytämnestra in „Elektra“ von Richard Strauss, u. a. mit Ricarda Merbeth (Elektra) und Vida Miknevičiūtė (Chrysothemis). Dirigiert hat den Abschiedsabend Markus Poschner anstelle des ursprünglich vorgesehenen Daniel Barenboim, der leider nicht anwesend sein konnte. Waltraud Meier bedankte sich mit warmen Worten bei ihrem „Lebensdirigenten“: „Ich habe den ganzen Abend an ihn gedacht und er bleibt in meinem Herzen“. (Foto: Jakob Tillmann)

Was bleibt also noch übrig? Vielleicht ein paar persönliche Erinnerungen an die Anfänge von Waltraud Meiers Laufbahn, ein paar Eindrücke von Stationen dieses beinahe halben Jahrhunderts, in dem sich auch die Welt der Oper neuen Zeiten angepasst hat. Welcher Intendant würde heute eine zwanzigjährige Romanistikstudentin verpflichten, die keine „ordentliche“ Hochschulausbildung absolviert hat, beim Chordirektor des Hauses (damals war das Anton Theisen) Unterricht bekam und ansonsten „nur“ von unbändiger Lust am Singen angetrieben war? Wo fände sich noch ein Ensemble wie die Bühnenfamilie in Würzburg, die dieses Küken aufnimmt und mitträgt? Welcher Regisseur hätte noch die Geduld, mit einer unerfahrenen, aber selbstbewussten jungen Frau kleine Rollen sorgfältig einzustudieren? Aus Würzburg kann Waltraud Meier köstliche Anekdoten erzählen – sympathische Reminiszenzen an ein Theater, das es heute so wohl kaum mehr gibt.

Angeschwipst die Treppe runter

Die Lola habe ich von ihr gesehen und gehört, kann mich aber eher an die fulminante Gertraud Halasz-Kiefel erinnern, die Santuzza des Abends. Genauer steht mir die Rolle der Berta vor Augen, deren hübsche melodische Arie Waltraud Meier im Würzburger „Barbier von Sevilla“ singen durfte. Regisseur Wolfram Dehmel wollte sie als angeschwipstes, gar nicht so ältliches Fräulein eine Treppe hinuntertänzeln lassen, und in solchen Szenen zeigte sich ihre rasche Auffassungsgabe und ihre Bewegungsfreude. „Ich bin eigentlich ein Bewegungsmensch. Mein Ausdruck kommt nicht nur über die Stimme, sondern auch über den Körper, die Bewegung“, sagt sie in einem Interview.

Das war in Würzburg schon zu erkennen: Ihre Muse in „Hoffmanns Erzählungen“ und die Concepcion in Ravels „Die spanische Stunde“ profitierten nicht nur vom jugendlich frischen, warmen, dunkel-sinnlichen Klang ihres Mezzosoprans, sondern auch von diesem Geschick, eine Person mit dem Körper zu formen. Waltraud Meier stand auch in diesen Jahren nie einfach herum; sie hatte selbst dem provinziellsten Stückeeinrichter etwas anzubieten.

„Lebensfreude, Lebensenergie, Lebenslust will sich manifestieren durch Stimme. Wo das Wort nicht ausreicht, da geht die Emotion in Gesang über.“
(Waltraud Meier)

Die Stimme: Erinnerungen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, drohen zu verblassen oder verklärter zu schimmern, als sie in der Routine-Wirklichkeit der Zeiten tatsächlich waren. Waltraud Meier sang 1976 in einer bemerkenswert atmosphärischen Inszenierung von Manfred W. von Wildemann die Alisa in „Lucia di Lammermoor“. Einer der beteiligten Sänger hatte sich einen Mitschnitt angefertigt, auf dem auch der noch nicht erstrahlte künftige Star zu hören ist.

Waltraud Meier. (Foto: Nomi Baumgartl)

Das Dokument bestätigt: Bei aller Entwicklung, die Waltraud Meier vor allem in ihren „Galeerenjahren“ in Mannheim und Dortmund durchmachte und für die sie immer wieder den Dirigenten Hans Wallat erwähnte: Die Stimme von damals ist in ihrer Klarheit und in ihrem sinnlich-individuellen Timbre unzweifelhaft identifizierbar. Der Keim des Erfolgs spross damals schon ins schummrige Licht eines stilisierten schottischen Friedhofs, mit dem Wildemann in der „Provinz“ die Oper Donizettis ernst genommen und aus der Rolle des „Primadonnenvehikels“ erlöst hat, als die sie in den siebziger Jahren an den Staatstheatern noch zelebriert wurde.

Wort und Klang durchdringen sich

Für den Belcanto hat sich Waltraud Meier in den kommenden Jahren nicht besonders interessiert. Die artifizielle Kunst des Singens, so sehr sie auch Seelenströme offenbaren kann, blieb ihr fremd. Klar, die großen Verdi-Partien, die Azucena, die Amneris, die Eboli waren von ihr zu hören – und manchmal bedauerte sie, auf Wagner festgelegt und für Verdi nicht gefragt zu werden. Aber ihre Domäne lag woanders. Nicht umsonst bestimmte Richard Wagner einen großen Teil ihres Bühnenlebens. Das „Gesamtkunstwerk“ hatte sie gepackt.

Mit Regisseuren wie dem von ihr unendlich geschätzten Patrice Chéreau, mit Dirigenten wie dem seit Jahrzehnten mit ihr verbundenen Daniel Barenboim („mein Lebensmensch“) konnte sie Musik, Wort und Szene mit der Intensität durchdringen, die für sie Voraussetzung einer gelingenden, glaubwürdigen, fundierten Interpretation ist. Das war in ihrer letzten Rolle in Berlin noch einmal deutlich zu spüren: Der Moment, in dem Klytämnestra auf extra ausgelegtem rotem Teppich aus dem Palast eilt und Ricarda Merbeth als Elektra fixiert, reißt in den wenigen Sekunden einer stummen Konfrontation dieses verdorbene Mutter-Tochter-Verhältnis auf. Und das Erschlaffen der anfangs so beherrschten Königin – „Götter … warum verwüstet ihr mich so“ – ist das erste Signal, dass diese Frau nur mit „furchtbarer Anstrengung“ Haltung bewahren kann.

„Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus“ singt Waltraud Meier mit der ihr eigenen Gabe, Wort und Klang zu Ausdruck zu verschmelzen. Hier ist sie, die Größe einer Sängerin, die über die schönen Töne hinaus in die Tiefe des Gesungenen dringt. Joachim Kaisers Wort von der „Callas“ wirkt in solchen Momenten zutreffend: Waltraud Meier ist nicht zum Scherzen aufgelegt, wenn es darum geht, eine glaubwürdige Figur zu erschaffen. Da arbeitete sie so hart und beharrlich wie Maria Callas. Der Scherz kommt später, in den Anekdoten, in den witzig absurden Momenten, die sich ereignen, weil auf der Bühne eben auch „nur“ Menschen arbeiten. Aber: Was die Wahrheit einer Rolle ist, das herauszubringen, war ihr Ziel.

Mit Loriot ins komische Genre

In einem der hoffentlich nächsten Gespräche werde ich ihr die Frage stellen, welches Verhältnis sie eigentlich zur „lustigen Person“ auf der Bühne hat. Komische Rollen? Ihr Repertoireverzeichnis auf ihrer Webseite verzeichnet keine einzige. Wie gut hätte man sich vorstellen können, in Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ oder als Lady Billows in Brittens „Albert Herring“ ganz andere Seiten als die Wagner’sche Schwere an Waltraud Meier zu entdecken. Aber das hat sie ihrem Publikum – soweit ich mich erinnere – nur einmal wirklich von Herzen gegönnt: als Vicco von Bülow, der im November 100 Jahre alt werden würde, in Stuttgart Friedrich von Flotows „Martha“ als feine erotisch-ironische Petitesse inszeniert hat. Da war sie, Loriot zuliebe, mit allem Spielwitz dabei.

„Das hier ist das Ende einer Ära“, sagte ein Besucher der Lindenoper beim Rausgehen im Foyer. Das stimmt, weil mit Waltraud Meier eine prägende Bühnenkünstlerin der letzten 40 Jahre ihre Karriere beendet hat. Aber es stimmt auch nicht: Das Pathos, das im Begriff der „Ära“ steckt, wollte sich nicht einstellen, weil der Abschied die unverkennbar frischen Züge eines Aufbruchs trägt. Ein Aufbruch in einen neuen Abschnitt des Lebens. „Io me ne vado“, singt Lola leichtherzig bei ihrem Abgang in „Cavalleria rusticana“.

Auch Waltraud Meier hat nun die Bühne verlassen – und wie sie immer wieder beteuerte, nicht mit Herzensschwere. So wünschen wir der wunderbaren, einzigartigen Künstlerin dankbar auch für die kommenden Jahre die Leichtigkeit des Herzens und die Lebensfreude und Lebenslust, aus der heraus sie ihr Publikum 47 Jahre lang mit ihrer Stimme, ihrer Kunst und ihrem Wesen beschenkt hat.




Unauflösliche Märchenwelt: Oper Köln eröffnet die Spielzeit mit „Die Frau ohne Schatten“

Daniela Köhler (Kaiserin) und Irmgard Vilsmaier Der(Amme). (Foto: Matthias Jung)

Dem früheren Intendanten des Aalto-Theaters Essen, Hein Mulders, ist mit der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ zum Spielzeitauftakt ein markantes Statement gelungen. Die Inszenierung von Katharina Thoma hat jedoch Leerstellen, die auch von der hervorragenden Orchesterleistung unter Marc Albrecht nicht verfüllt werden können.

Das üppige Orchester, die häufigen Verwandlungen, die Länge und die fünf extrem anspruchsvollen Hauptpartien: Richard Strauss‘ und Hugo von Hofmannsthals „letzte romantische Oper“ über ein Zwischenwesen aus dem Geisterreich, das keinen Schatten wirft, ist ein dicker Brocken selbst für große Bühnen. Im Staatenhaus, der Spielstätte der Oper Köln bis zur hoffentlich baldigen Wiedereröffnung des Hauses am Offenbachplatz, sind häufige Verwandlungen oder ein technischer Bühnenzauber nicht zu realisieren. So macht Johannes Leiacker die Not zur Tugend: Eine Erhöhung, aus Schichten geformt wie eine geologische Formation, ganz in Weiß, in organisch verlaufenden Kurven, mit einem krönenden Felsen – das war’s in Sachen Bühnenbild.

Das Gürzenich-Orchester sitzt weit gestaffelt rechts von der Bühne: Der Klang ist weniger fokussiert als in einem Graben. Dirigent Marc Albrecht lässt die Musiker diesen Raum nutzen: Strauss‘ filigran verwobene Linien und Motive bündeln sich, streben massiert zusammen, spritzen in glitzernder Gischt wieder auseinander, entfalten sich frei und räumlich. Die wundervoll ausgekosteten Piano-Stellen tragen. Albrecht kann die Musik großzügig aufblühen lassen, breitet ein leuchtendes Spektrum aparter Klangfarben aus, baut vom zurückhaltenden ersten bis zum pathossatten dritten Akt einen Spannungsbogen auf, der sich nicht dynamisch verausgabt, bevor er die Kulminationspunkte in der zweiten Hälfte des Abends erreicht.

Sinnlich und klug disponierte Musik

Die Musiker des Gürzenich-Orchesters können zeigen, was sie drauf haben, ob Celli oder Celesta, die fünf Tuben oder Tamtam und chinesische Gongs. Aber der Raum setzt auch Grenzen: Blechbläsereinsätze geraten allzu gerundet, wo sie scharf attackieren müssten, die Holzbläser gehen seltsamerweise immer wieder unter. Trotzdem: Albrecht präsentiert sich als ein Strauss-Dirigent von Format, der diese „Frau ohne Schatten“ so sinnlich wie klug disponiert und nicht an den knalligen Effekt verrät.

Der Kaiser (AJ Glueckert) und sein Falke (Giulia Montanari). (Foto: Matthias Jung)

Für die Sänger ist der Vorteil unüberhörbar: Sie müssen nicht forcieren, werden vom Orchester nicht übertönt, auch wenn Albrecht die massive Wucht dieser vollkommenen Synthese des Symphonischen und des Dramatischen auskostet. Diese Chance nutzt AJ Glueckert als Kaiser. Er nimmt die Dramatik zurück, legt die Partie kantabel an, betont so, dass dieser romantische Jäger der weißen Gazelle, die sich zur Frau verwandeln sollte, ein verträumter Held ist, dem Geisterreich nicht zugehörig, aber zugetan. Der Stimme des Tenors kommt dieser Ansatz sehr entgegen.

Die Kaiserin Daniela Köhler setzt zu Beginn („Ist mein Liebster dahin …“) zu viel Vibrato ein und stört damit den ruhigen Fluss der Stellen im piano. Doch mit zunehmend bewusstem Stützen normalisiert sich das Schwingen des Soprans, der substanzvoll, leuchtend und sich in den typischen weiten Strauss-Phrasen blühend aufschwingt. Köhler verkörpert die zentrale Figur dieser Inszenierung: Das Streben nach einem Schatten führt sie in die Welt einfacher Menschen, in der sie mehr und mehr erkennt, wie Empathie und Zuwendung das Leben menschlich machen – und der Schatten steht ja als Symbol nicht nur für weibliche Fruchtbarkeit, für die Erweiterung der Person in die Welt hinein, sondern für die ambivalente menschliche Existenz, die auch Schmerz, Opfer und Tod umfasst. Im Kontakt mit dem Färber Barak und seiner unverbrüchlich naiven Bereitschaft, Schattenseiten anzunehmen und zu ertragen, erkennt sie, was es bedeutet, als Mensch zu fühlen und zu handeln. Deutlich wird ihr Wandel in einer berührenden Szene im zweiten Akt, als sie dem erschöpften Barak den Schweiß von Stirn und Füßen wäscht.

Kampf mit vokalen Herausforderungen

Die Hierarchie ist klar: Oben steht die Kaiserin (Daniela Köhler), unten die Färberin (Lise Lindstrom), dazwischen die Amme (Irmgard Vilsmaier). Foto: Matthias Jung.

Auch die Färberin gestaltet ihre Rolle als einen Lernprozess: Lise Lindstrom kämpft nicht nur mit der Armut, mit den Zumutungen der drei versehrten Brüder im Haushalt (Insik Choi, Christoph Seidl, Ralf Rachbauer), sondern auch mit ihren unerfüllten Wünschen. Die bunten Kleider, die ihr Kostümbildnerin Irina Bartels verpasst, stehen für ein Lebensbegehren, das die Färberin im Mutterglück sucht, und für das Streben nach Anerkennung in einem Haus, in dem sie als „Weib“ abgewertet und lediglich „gehegt und gefüttert“ wird. Beide, der Färber und seine Frau, lernen, sich zu achten und Liebe aus gegenseitigem Respekt zu gewinnen.

Lindstrom kämpft aber auch mit den vokalen Herausforderungen: Ihr Sopran leidet unter übermäßigem Vibrato. Spitzen- und andere im Metrum bedeutende Töne werden überstark herauskatapultiert, während Linien unterbelichtet bleiben und nicht kontinuierlich durchgestützt werden. Die flackernde Tonproduktion lässt die Farben der Stimme verblassen und stört eine saubere Artikulation. Anders der Färber von Jordan Shanahan: Er singt verständlich, bildet den Klang füllig und sonor, ist auf entspannten Fluss bedacht.

Als Amme hat Irmgard Vilsmaier eine Reihe exponierter Momente, in denen sie stimmlich alles geben muss. Als alte Dame mit Stock, altbackenem Hütchen und einem großmütterlich schwarzem Kostüm mit weißen Handschuhen steht die Amme zwischen dem cleanen, gestylten Weiß der Geister und der realistisch farbvielfältigen Welt der Menschen. Die „schwarz-weiße Schlange“ wirkt enthoben und mutiert zum Symbol, wenn sie im zweiten Akt als Spinne in einem projizierten Netz den Schlaftrunk für Barak bereitet, auf dass der verführerische Jüngling als Preis für den Schatten ungestört für die Färbersfrau verfügbar sei. (Bryan Lopez Gonzalez sieht blendend aus, bewältigt die Rolle aber mit müden und mühevollen Tönen unbefriedigend). „Was Menschen bedürfen, du weißt es zu wenig“ sagt ihr die Kaiserin: Die Amme konnte die Entwicklung ihres Schützlings nicht mitvollziehen. Stimmlich wie szenisch bleibt Irmgard Vilsmaier mit herben und gleißenden Tönen präsent, bis sie von der machtvollen Stimme des Boten (Karl-Heinz Lehner) aus dem Geisterreich verstoßen und bewegungslos hinausgefahren wird.

Zwischen Phantastik und Sozialrealismus

Der Vorzug der Inszenierung von Katharina Thoma ist, den Personen den erzählerischen Raum zu öffnen, soweit die Berg-Insel Leiackers es zulässt. Doch wohin mit dem Märchenhaften der „Frau ohne Schatten“, mit dem Symbolismus? Der Falke ist lediglich eine aparte, rot leuchtende Erscheinung (Giulia Montanari), aber die Nachtwächter (Sinhu Kim, Yongmin Kwon, Michael Terada) dürfen in schwarzen Priestersoutanen über die Bühne schreiten und ihren Sinnspruch in magischen Strauss-Choralklängen verkünden. Und wohin mit dem anfechtbaren Frauenbild oder gar dem Immanentismus von Richard Strauss, der seltsam quer zu den transzendierenden „romantischen“ Bestrebungen des Hoffmannsthal-Librettos steht? Dafür bietet Thoma keine plausible Lösung.

Die Regisseurin, Wunschkandidatin von Intendant Hein Mulders, gestaltet in den ersten beiden Aufzüge weitgehend die Story aus, nutzt Georg Lendorffs Projektionen, um erzählerischen Realismus aufzubrechen, setzt aber mit dem Verteilen und Verpacken von Altkleidern szenische Markierungen, die sich erst im dritten Aufzug auflösen: Jetzt wird verständlich, warum vorher schon Kinder die Fetzen und Lumpen von der Bühne geräumt haben. Alttextilhändler Barak ist am Werk! Doch jetzt, nach der videogesättigten Katastrophe am Ende des zweiten Aufzugs, wird ein Lebloser von Sanitätern abtransportiert, bevölkern Kinder und Erwachsene die Stufen wie Migranten den Strand von Lampedusa.

Gleichzeitig kriechen fantastische Lemuren am Bühnenrand entlang, die später die Amme hinausfahren werden. Die Kaiserin hat ihr Geisterweiß verloren und tritt in fraulichem Gewande auf, der Fels, an dem der Kaiser bereits in ununterscheidbarem Grau angeklebt war, zerbricht. Übermächte und Sozialrealismus vermischen sich, ohne dass eine Sinn-Synthese geboren würde. Katharina Thomas Inszenierung verpufft. Was bleibt, sind szenische Bilder und das Gefühl, diese unzeitgemäße „Frau ohne Schatten“ beharre starrköpfig in einer unauflösbaren Märchenwelt.

Weitere Vorstellungen am 23., 29. September, 3., 8., 11. Oktober.
Info: https://www.oper.koeln/de/programm/die-frau-ohne-schatten/6547




Mit Leib und Seele der Oper verschrieben: Früherer Aalto-Intendant Stefan Soltesz gestorben

Stefan Soltesz in seiner Essener Zeit. (Foto: Matthias Jung)

Gestern spät abends drangen die ersten Kurzmeldungen durch die sozialen Netzwerke: Stefan Soltesz ist tot. Der frühere Essener Intendant und Generalmusikdirektor brach während seines Dirigats von Richard Strauss‘ „Die schweigsame Frau“ an der Bayerischen Staatsoper München zusammen und verstarb kurze Zeit später im Krankenhaus. Er wurde 73 Jahre alt.

Ein Augenzeuge berichtet: Gegen Ende des ersten Akts, gerade als die turbulente Probe der Operntruppe im Hause von Sir Morosus in vollem Gange ist und der alte Kapitän mit dem Speerschaft Wotans auf den Boden geklopft hat, ist ein dumpfer Knall zu hören. Einen Augenblick später „entsteht großer Trubel: einige Leute stehen auf, gestikulieren, schreien wild. Wir schauen vergnügt weiter, denn es ist ja eine lustige Oper und wir dachten, das gehöre dazu.“ Doch dann erklingen Rufe nach einem Arzt, der Vorhang fällt und der Abenddienst tritt vor den Vorhang und bittet das Publikum, vorzeitig in die Pause zu gehen.

Nach einer ungewöhnlich langen Zeit werden die Zuschauer wieder in den Saal gerufen und erfahren, dass die Vorstellung beendet werden muss. Zunächst denkt man im Publikum an einen Hitzschlag, doch dann verbreitet sich rasch die schreckliche Nachricht. Die Bayerische Staatsoper gibt auf ihrer Webseite „mit Entsetzen und großer Trauer“ den Tod von Stefan Soltesz bekannt. „Wir verlieren einen begnadeten Dirigenten. Ich verliere einen guten Freund“, twittert Staatsopernintendant Serge Dorny.

Stefan Soltesz prägte das Essener Musikleben als Generalmusikdirektor der Philharmoniker und Intendant des Aalto-Musiktheaters ab 1997. Seinen nicht ungetrübten Abschied aus Essen nahm er im Juli 2013 mit „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss, eines seiner Lieblingskomponisten, für dessen Werke er als Spezialist galt. Geplante spätere Gastdirigate hat Soltesz abgesagt, nachdem die Stadt Essen es nicht geschafft hatte, den langjährigen erfolgreichen Motivator des Essener Musikkultur angemessen zu verabschieden. „Ich habe es geliebt, hier zu arbeiten“, sagte der scheidende Chef damals, und die WAZ zitierte seine Worte bei der Abschiedsfeier im Aalto-Theater: „Ich habe die 16 Jahre in Essen mit großer Begeisterung erlebt. Es war der wichtigste und schönste Lebensabschnitt. Behalten Sie mich in guter Erinnerung.“

Soltesz war ein Prinzipal alter Schule und als Dirigent den großen Namen verpflichtet: Mozart, Strauss, Wagner. Kompromisse, vor allem in künstlerischer Hinsicht, waren seine Sache nicht. So liebenswürdig er mit seinem Wiener Charme spielen konnte: Wenn es um die Musik ging, war er unerbittlich. Orchestermitglieder können davon erzählen, von seinen Sottisen, von seiner fordernden Detailarbeit, von dem Gefühl dauernder Hochspannung und des Spielens „auf der Stuhlkante“: Aber auch von seiner unbedingten Solidarität, seinem unbändigen Einsatzwillen – und vor allem seinem Charisma, seiner magischen Hand, mit der er die Musik in wundersamer Vollendung hervorlocken konnte.

Natürlich trat er in Essen 1997 mit „Arabella“ von Richard Strauss an – jener umstrittenen, oft gering geschätzten Oper von 1933, die jetzt wieder auf dem Spielplan des Aalto-Theaters steht und von Tomáš Netopil überzeugend, aber anders dirigiert wird. Strauss sollte den Essener Spielplan in den kommenden Jahren prägen: 1998 folgte „Die Frau ohne Schatten“, die in der Inszenierung von Fred Berndt bis 2013 im Repertoire bliebt. Es folgte die Rarität „Daphne“ (1999), dann „Elektra“ (2000), „Ariadne auf Naxos“ (2002) und „Die ägyptische Helena“ (2003). „Salome“ schloss 2004 diesen Strauss-Zyklus vorläufig ab. An die frühen Werke oder an ein kleines Juwel wie „Intermezzo“ wollte der Pragmatiker nicht denken, obwohl er schon in den neunziger Jahren Strauss‘ „Friedenstag“ in einer Inszenierung von Peter Konwitschny an der Semperoper Dresden dirigiert hat.

Stefan Soltesz war mit Leib und Seele ein Mann der Oper. Schon der Anfang seiner Karriere, 1971 am Theater an der Wien und im folgenden Jahrzehnt an der Wiener Staatsoper und der Oper Graz, war vom Musiktheater geprägt. In Salzburg assistierte er Größen wie Karl Böhm, Christoph von Dohnányi und Herbert von Karajan. Auch an seine nächsten Stationen in Hamburg und Berlin, in Braunschweig als GMD und in Antwerpen/Gent als Chefdirigent dominierte die Oper. Was nicht heißt, dass Soltesz nicht auch faszinierende, berührende, hochgespannte Konzertabende  dirigierte. Nicht umsonst wurden die Essener Philharmoniker unter seiner Ägide 2003 und 2008 zum „Orchester des Jahres“ gekürt.

Aber man spürte: Das Herz des gebürtigen Ungarn, der im Alter von sieben Jahren 1956 zu den Wiener Sängerknaben gekommen war, schlug im Musiktheater. Kennengelernt habe ich ihn 1991, als er in Berlin in John Dews durchdachter Inszenierung von Giacomo Meyerbeers „Les Huguenots“ den Taktstock schwang und demonstrierte, wie subtil Meyerbeer die dramatischen Situationen erfasst. Mit Meyerbeer erlebte ich Stefan Soltesz auch eines der letzten Male, 2019 an der Semperoper, wo er wiederum trotz fragwürdiger Kürzungen auf Wunsch von Regisseur Peter Konwitschny die „Hugenotten“ mit kundigem Blick durchdrang: „Soltesz dirigiert mit Gefühl für Farben und dramatische Entwicklungen“, schrieb ich damals.

Aber auch an seinem Stammhaus Essen ist an unvergessliche Aufführungen zu erinnern. Jeder wird da seine eigene Rangfolge entwickeln. Gelegenheit, den Dirigenten Stefan Soltesz zu erleben, gab es mannigfach. Er war ja omnipräsent, übernahm viele Premieren selbst, ersetzte seine eigenen Kapellmeister oder ausgefallene Gastdirigenten. „Soltesz ist ein Chef, der auch für sich selbst einspringt“, meinte ein Kollege einmal scherzhaft. Diese Präsenz ist heute leider unüblich geworden, sichert aber Vertrauen, Verlässlichkeit und gibt einem Haus und einem Orchester eine unverwechselbare Prägung.

Für mich eines der prägendsten Erlebnisse mit Soltesz war – neben seinen immer wieder mitreißenden Strauss-Abenden – seine Arbeit an Vincenzo Bellinis „I Puritani“. Die Sorgfalt, mit der er diese zunächst so „einfach“ erscheinende Partitur einstudierte, der Blick für den großen Bogen, die atmende Phrasierung, die Gliederung der Melodie, die Liebe zum instrumentalen Detail, brachten die Qualitäten Bellinis ans Licht des Tages und ließen den angeblich so simplen Belcanto in einem neuen Licht erscheinen. Eine Meisterleistung der Dirigierkunst.

Müßig aufzuzählen, wo der unermüdliche Dirigent als Gast anzutreffen war. Ob Hamburg oder Wien, München oder Berlin, Budapest oder Frankfurt, Rom, Paris, Zürich oder Buenos Aires. Sein Name tauchte immer wieder auf – auch an der Komischen Oper Berlin, wo er zuletzt in Franz Schrekers „Die Gezeichneten“ sein Faible für die Spätromantik des 20. Jahrhunderts ausspielen konnte und mit Paul Abrahams „Viktoria und ihr Husar“ einen hinreißenden Operettenabend bescherte.

Stefan Soltesz wird fehlen, aber die Erinnerung an ihn lebt in der Seele all jener weiter, die er mit Musik beglückt hat, und sie werden ihm im Herzen die Kränze flechten, die die flüchtige Zeit nicht nur dem Mimen, sondern auch den Musikern gern vorenthält.




„Ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück“: Jessica Muirhead singt die „Arabella“ am Aalto-Theater Essen

Endlich wieder singen: Jessica Muirhead, seit 2015 am Essener Aalto-Theater fest engagiert, freut sich riesig, dass die Corona-Pandemie kein Hindernis mehr ist, auf die Bühne zurückzukehren. Ab 14. Mai singt sie die „Arabella“ in Richard Strauss‘ gleichnamiger Oper.

Jessica Muirhead. (Foto: Nanc Price)

Auch sie selbst hat ihre Infektion überwunden und stürzt sich in eine für sie neue, große Partie: Mit der lyrischen Komödie „Arabella“, dem letzten gemeinsamen Werk von Strauss und Hugo von Hofmannsthal, biegt am 14. Mai die Spielzeit 2021/22 am Aalto in die Zielgerade ein. Es ist die letzte Opernpremiere der Intendanz von Hein Mulders. Werner Häußner sprach mit der britisch-kanadischen Sopranistin, die 2018 auch den Aalto-Bühnenpreis erhalten hat, über ihre Karriere und blickt mit ihr auf die Zeit mit Mulders zurück.

Ab Samstag sind Sie am Aalto-Theater Essen die Arabella in Richard Strauss‘ wehmütig-ironischem Rückblick auf das „alte Wien“.

Ja, endlich ist sie da! Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für meine Stimme, mit Strauss zu beginnen. Vor drei Jahren sollte ich schon die Marschallin singen, aber das empfand ich noch als zu früh. Ich möchte mir die Strauss-Rollen langsam erarbeiten, zum Beispiel „Daphne“, die ich in Frankfurt gesehen habe – ein berührendes Stück und großartig für die Stimme geschrieben. Da bekomme ich Gänsehaut.

Aber Puccinis Suor Angelica im „Trittico“, die Sie gerade am Aalto-Theater gesungen haben, ist auch nicht ohne …

Aber ja. Ich bin am Ende komplett fertig, obwohl die Rolle kurz ist. In dieser Inszenierung von Roland Schwab bin ich die ganze Zeit im Spotlight.

Jessica Muirhead als Schwester Angelica in Giacomo Puccinis „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Matthias Jung)

Endlich wieder auf der Bühne singen

Wie sind Sie durch die Zeit der Pandemie gekommen?

Es war keine gute Zeit für mich. Diese Unsicherheit um unsere Zukunft hat mich geradezu depressiv gemacht. Am Anfang war die Ruhe für die Stimme okay. Aber nach zwei Jahren brauche ich ein Publikum und eine Bühne. Wenn man in einer Wohnung singt, ist das Gefühl ein anderes. Es war auch schwierig, die Zeit zu nutzen, um neue Partien zu lernen. Meine Seele war traurig, doch man braucht die Seele, um zu singen. Ich habe einige Rollen gelernt, die dann abgesagt wurden, zum Beispiel aus Rossinis „Il Viaggio a Reims“. Gottseidank dürfen wir jetzt wieder spielen und das Publikum kommt. Das ist nicht überall so. Aber ich habe bemerkt, dass unser Publikum die Kunst braucht und genießt, so wie ich auch. Jetzt fühle ich mich besser, weil ich sehe: Es gibt eine Zukunft.

Haben Sie stimmlich eine Veränderung bemerkt, weil Sie lange nicht auf der Bühne singen konnten?

Es herrschte zu viel Ruhe. Das ist wie bei der Fitness: Spazieren gehen ist super, aber man braucht auch die Anstrengung. Ich habe gemerkt, dass meine Stimme häufig zu tief intoniert hat. Da war die Spannung weg und es fehlte mir die Kontrolle. Jetzt erst ist meine Stimme wieder voll da.

Was war die erste Partie nach der Pandemie?

Am Aalto-Theater war es die Dido in Henry Purcells „Dido und Aeneas“. Aber im Herbst 2021 konnte ich in Israel in einer Uraufführung mitwirken: „Kundry“ von Avner Dorman, inszeniert von der künftigen Volksopern-Direktorin Lotte de Beer an der Oper in Tel Aviv.

Das Aalto-Theater als echtes Zuhause

Sie sind seit 2015 am Aalto-Theater im Festengagement. Was hält Sie so lange in einem Ensemble? Sie hätten die Möglichkeit, an vielen großen Häusern frei zu singen.

Dafür gibt es viele Gründe. Ich bin die Schritte sozusagen umgekehrt gegangen – erst war ich zehn Jahre frei, dann ging ich ins feste Engagement. Ich wollte ein echtes Zuhause haben. Das habe ich im Aalto-Theater gefunden. Es ist schön, die familiäre Atmosphäre hier am Haus zu genießen. Das ist nicht selbstverständlich. Ich brauche den Kontakt, weil meine Familie in Kanada weit weg ist. Außerdem eröffnen sich hier so viele schöne künstlerische Möglichkeiten. In München hatte ich früher einen Residenzvertrag, aber ich konnte nur drei Rollen singen: Musetta in „La Bohème“, eine Magd in „Elektra“ und ein Blumenmädchen im „Parsifal“. Ich war ein „small fish in huge water“. Ich wollte mehr singen, vor allem mehr Hauptrollen.

Dann eröffnete Essen Ihnen viele Rollendebüts …

Das nächste Rollendebüt für Jessica Muirhead ist „Arabella“ von Richard Strauss. Ein Probeneindruck mit Heko Trinsinger als Mandryka. (Foto: Matthias Jung)

Intendant Hein Mulders hat mir diese Möglichkeit gegeben. Ich habe als Rusalka, Luisa Miller, Elsa, Rosalinde und Anna in Marschners „Hans Heiling“ debütiert und Rollen wie Violetta, die Gräfin in „Nozze di Figaro“, Donna Anna, Micaëla, Margarethe in Gounods „Faust“, die ich früher bereits gesungen hatte, aufgefrischt. Was ich gerne wieder machen würde, ist „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ von Frederick Delius, ein wunderbares Werk. In der nächsten Spielzeit darf ich dann auch wieder Belcanto singen: die Lucrezia in Donizettis „Lucrezia Borgia“. Hier in Essen habe ich die Möglichkeit, das auszuprobieren.

Auf der anderen Seite muss ich nichts tun, was meiner stimmlichen Entwicklung schadet. Zum Beispiel habe ich die Elisabetta in Verdis „Don Carlo“ zurückgegeben, weil ich das Gefühl hatte, es sei noch zu früh für diese Partie. Das wird akzeptiert – was nicht an allen Häusern der Fall wäre – und ich fühle mich so als Künstlerin in meiner Verantwortung wahrgenommen.

„Die Vielfalt hat mir nicht geschadet“

Ein Vorteil ist auch die Verbindung von Aalto-Theater und Philharmonie. Im März hatte ich den Sopranpart in Rossinis „Stabat Mater“ übernommen, habe hier in Beethovens Neunter und zum ersten Mal in Brahms‘ „Deutschem Requiem“ gesungen. Die Vielfalt hat mir nicht geschadet, im Gegenteil: Eine Wiener Stimmspezialistin hat mir nach der Premiere der „Suor Angelica“ gesagt, meine Stimme sei so frisch wie damals, als sie mich zum ersten Mal gehört hatte.

Wann war das?

Das war 2006, als ich als Pamina in der „Zauberflöte“ an der Wiener Volksoper in der Inszenierung Helmut Lohners in Europa debütierte. Ich hatte in Kanada einen Wettbewerb gewonnen und Rudolf Berger, damals Direktor der Volksoper, war Mitglied der Jury. Er hat mich angerufen und mir Pamina angeboten. Ich bekam dann einen Residenzvertrag und habe noch Micaëla („Carmen“) und Agathe („Der Freischütz“) gesungen.

Was hat Ihnen diese Zeit in Wien gebracht?

In meinen ersten Jahren auf der Bühne habe ich viel gelernt! Ich hatte zuvor im Studium in Toronto nur in Mozarts „Idomeneo“ die Chance, szenisch zu agieren. Ich glaube, in dieser Wiener Zeit bin ich eine Schauspielerin geworden. Am meisten gelernt habe ich in der Arbeit mit einer Regieassistentin, Susanne Sommer. Ich habe bei meinem Debüt in Bizets „Carmen“ als Micaëla schlechte Kritiken bekommen. Ich war einfach zu langweilig. Bei der Wiederaufnahme habe ich mit ihr die Partie erarbeitet. Auch von Helmut Lohner habe ich viel gelernt, er war ein wunderbarer Künstler.

Was hat Sie dann bewogen, von Wien wegzugehen?

Ich bekam ein Angebot von München und an der Volksoper gab es eine neue Intendanz.

Und in Essen haben Sie sich von Anfang an wohl gefühlt?

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners "Hans Heiling" am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Thilo Beu)

Ja, ich hatte das Gefühl, Hein Mulders schaut darauf, wie neue Sängerinnen und Sänger ins Ensemble passen, nicht nur von der Stimme, auch von der Persönlichkeit her. Was mich betrifft, fühle ich mich wertgeschätzt; ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück. Ich hatte Intendanten, die waren nicht sichtbar. Hein kommt zu jeder Premiere. Es ist das Gefühl des Kontakts da. Er sagt auch offen, was er gut findet und was nicht. So ein ehrliches Feedback schafft eine Beziehung. Besonders für uns Sänger ist das wichtig. Ich fühle mich als Künstlerin wahrgenommen.

Außerdem hat Hein Mulders für die Sänger und für das Publikum ein tolles Repertoire von Purcell bis Marschner und Wagner aufgebaut. Er hat meine Stimme gut verstanden, weil ich nicht in ein Fach gehöre. Die Möglichkeiten, die ich vorher hatte, waren oft nur in einem Fach. Hein Mulders verstand, dass ich dramatischer Koloratursopran, jugendlich-dramatischer und manchmal lyrischer Sopran bin. Verdis „Luisa Miller“ zum Beispiel habe ich mir nicht zugetraut, aber er sagte: „Du kannst das“. Und am Ende war es mein Lieblingsstück und hat auch meine Stimme gesünder gemacht. Ich habe das Gefühl, er riskiert manchmal etwas, aber die Risiken nimmt er mit Erfolg auf sich. Auch bei „Rusalka“ war ich mir zuerst nicht sicher. Ich bin persönlich dankbar, dass er solche Schritte für mich bedacht hat. Vorher hätte ich nie gedacht, dass ich einmal Wagner singen würde.




Ein großes Versprechen: Der 26jährige Patrick Hahn tritt sein Amt als GMD in Wuppertal an

Patrick Hahn und das Sinfonieorchester Wuppertal. (Foto: Uwe Schinkel)

Ein spannender Tag für Wuppertal. Man spürt es im Publikum. Erwartungsfroh strömen die Menschen in die Historische Stadthalle. Das Foyer füllt sich wie früher. „Was für ein Zeichen des Aufbruchs“, freut sich Wuppertals Oberbürgermeister Uwe Schneidewind.

Nach eineinhalb Jahren Corona-Pandemie ist der glanzerfüllte Saal der Stadthalle wieder einmal voll besetzt. 1.200 Menschen erwarten den neuen Generalmusikdirektor Patrick Hahn zu seinem Antrittskonzert. Und auf dem Podium harrt das volle Orchester.

Patrick Hahn ist erst 26 Jahre alt und der jüngste GMD im deutschsprachigen Raum. Mit 19 stand er in Budapest zum ersten Mal vor einem großen Profi-Orchester; inzwischen hat er eine stattliche Liste vorzuweisen, die vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks über das Gürzenich-Orchester Köln und die Düsseldorfer Symphoniker bis zu den Wiener Symphonikern reicht – eingeschlossen Dirigate an der Bayerischen Staatsoper München, wo er mit Kirill Petrenko zusammengearbeitet hat.

Der neue Wuppertaler GMD, Patrick Hahn. (© Gerhard Donauer C&G Pictures)

Als „Shooting Star“ gehandelt, hat Hahn neben seinem Wuppertaler Engagement noch weitere Posten angenommen: Er ist Erster Gastdirigent und künstlerischer Berater beim Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra und übernimmt die neu eingerichtete Position eines Ersten Gastdirigenten beim Münchner Rundfunkorchester, wo er die neue Spielzeit am 10. Oktober mit dem 1. Sonntagskonzert und Viktor Ullmanns Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis“ eröffnet.

In Wuppertal will Hahn sechs von zehn Abo-Konzerten und zwei Opern pro Spielzeit dirigieren. Eine Menge Verpflichtungen; ob der neue Stern am Dirigentenhimmel sie mit jugendlicher Energie alle zu erfüllen weiß, wird die Zukunft erweisen. Die Stadt hat erst einmal mit seinem Engagement einen Coup gelandet und die Wuppertaler haben den jungen Mann mitsamt dem Orchester mit herzlich langem Beifall begrüßt.

Dokument des Ehrgeizes

Hahn, in Graz geboren, stellt sich mit einer Hommage an einen der bedeutendsten österreichischen Komponisten der Moderne und einer Huldigung an die Alpen vor. Anton Weberns „Sechs Stücke für Orchester“ op. 6 sind ungeachtet ihrer Kürze und Transparenz eine diffizile Herausforderung für Orchester und Dirigent. Bei Richard Strauss‘ „Eine Alpensinfonie“ liegt die Sache umgekehrt: Da sind Länge und Opulenz zu bewältigen. Doch die Fülle saftiger Akkorde und das Leuchten des Instrumentierungsglanzes darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei aller üppigen Pracht eine ausgefeilte Balance der klanglichen Hierarchien vonnöten ist, sollen die Alpen nicht im dicken Nebel der orchestralen Fülle versinken, sondern ihre Gipfel klar und strahlend präsentieren.

Strauss‘ Alpensinfonie wird an diesem Abend zum Dokument des Ehrgeizes. Dieser junge Mann will viel, und er hat das Zeug, alles zu erreichen. Das zeigt sich in exemplarischen musikalischen Bildern, die ja oft als bloß illustrative Naturschilderungen missverstanden werden, tatsächlich aber eine Reflexion auf den Kosmos der Strauss’schen Form- und Klangvorstellungen sind. Hahn wählt den passenden Ansatz, wenn er die Musik nicht allzu illustrativ auffasst, wenn er sich darum bemüht, die breite Malerei („Auf dem Gipfel“ – „Vision“) nicht pastos aufzutragen, wenn er im Gebrodel von Sturm und Blitzen das Orchester – manchmal allerdings vergeblich gegen die Spiellust ankämpfend – vor platten Effekten zu bewahren sucht, wenn er das Gebimmel auf blumigen Almwiesen und das Duljöh der Holzbläser mit Mahler’scher Ironie übertreiben lässt.

Harte Arbeit bis zum Gipfel

Aber auf der anderen Seite spürt man deutlich, dass Dirigent und Orchester noch nicht beieinander angekommen sind. Die Routine im positiven Sinne fehlt. Der mystische, dem „Rheingold“ abgelauschte Beginn, der aller Strauss’schen Anti-Transzendenz Hohn spricht, bleibt (noch) brüchig. Der Aufschwung des Sonnenaufgangs gerät laut, nicht strahlend. Auf dem Weg zum Gipfel arbeiten sich Hahn und sein neues Orchester vorwärts, lassen so manche Schönheit unbeachtet, verlieren sich im Getümmel, das den Musikern willkommene Gelegenheit bietet, loszulegen, statt die raffinierten Strauss-Abmischungen durch eiserne Disziplin der klanglichen Balance einzuholen. Diese Alpenwanderung ist ein großes Versprechen, aber noch keine Erfüllung.

Mit exquisiten Klangmischungen haben es Hahn und das Sinfonieorchester Wuppertal auch in Anton Weberns Orchesteraphorismen zu tun, die wie so manche in Sprache gefassten Sinnsprüche höchste Prägnanz mit scheinbar improvisatorischer Spontaneität verbinden. Patrick Hahn steuert die transparente Luzidität, die kammermusikalische Finesse dieser vorbeihuschenden Miniaturen an. Die Soli aus den Reihen der Sinfoniker, etwa des neuen Konzertmeisters Nicolas Koeckert, sind brillant. Die riesige Geräuschwalze des „Trauermarsches“ (Nr. 4) gelingt aufmerksam kalkuliert. Bei Webern sind wir dem Einlösen des Versprechens schon sehr nahe.

Marlis Petersen, 2014 in Bellinis „La Straniera“ in Essen, als Alban Bergs „Lulu“ in Wien, München und New York gefeiert, als „Ophélie“ in Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ gerühmt, als Aribert Reimanns „Medea“ in Wien ausgezeichnet, gehört zu den schlankstimmigen Strauss-Interpretinnen. In den „Vier letzten Liedern“ in Wuppertal kann sie ihren Ruf nur schwer verteidigen. Zum straff geführten, klanglich aber unspezifischen Orchester setzt sie sich mit kopfigem Vibrato, dünner Höhe und klangloser Tiefe nicht durch, lässt ihren Sopran nicht frei strömen und in den herrlichen Legati Samt und Leuchtkraft missen. Dem gespannten Ton fehlt die Flexibilität zur Gestaltung. Ein seltsamer Eindruck der jüngst gekürten bayerischen Kammersängerin, deren „Salome“ von der Kritik als fulminante, atemberaubend fesselnde Charakterstudie gefeiert wurde. Mag sein, dass ihr „weißliches, nicht sinnliches Timbre“ (Manuel Brug) für die raffiniert-kindliche Prinzessin passend ist, für Strauss‘ Weltabschied taugt es nicht.

Patrick Hahn ist am Sonntag, 19. September, und Montag, 20. September 2021 erneut am Pult des Sinfonieorchesters Wuppertal zu erleben. Als Solist begrüßt er den in Wuppertal bereits mehrfach gefeierten Cellisten Alban Gerhardt, der die Hebräische Rhapsodie „Schelomo“ von Ernest Bloch im Gepäck hat. Außerdem im Programm: „In the Beginning“ , das letzte Werk des 2016 verstorbenen finnischen Komponisten Einojuhani Rautavaara, und – passend zum 125. Todestag von Anton Bruckner – dessen Vierte Sinfonie.

Tickets sind erhältlich online unter www.sinfonieorchester-wuppertal.de oder telefonisch unter (0202) 563 7666. Es dürfen nur getestete, genesene oder geimpfte Personen die Konzerte besuchen.




Reizender Scherz im Stimmenglanz: Richard Strauss‘ „Rosenkavalier“ kehrt ins Aalto-Theater zurück

Erstaunlich frisch für eine 15 Jahre alte Inszenierung präsentiert sich Anselm Webers „Rosenkavalier“ in der Wiederaufnahme am Aalto-Theater.

Traum im Museum: Der „Rosenkavalier“ in der Inszenierung von Anselm Weber aus dem Jahr 2004 ist wieder am Aalto-Theater zu sehen. (Foto: Saad Hamza)

Wiederaufnahme-Spielleiterin Marijke Malitius hat mit dem Ensemble ganze Arbeit geleistet. Kulinarik wird nicht negiert, aber Webers Traumlogik bricht Sentimentales und Nostalgisches konsequent auf. So wird etwa der Mummenschanz des dritten Aktes über die „Kreuzer-Komödi“ hinausgeführt und nicht nur für den genarrten großsprecherischen Baron Ochs auf Lerchenau, sondern auch für die Zuschauer zum unheimlich-skurrilen Theater.

„Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“: Die Distanz zum Geschehen hebt auch die Illusion einer ungebrochenen Rokoko-Rückerinnerung des ersten Aktes auf, steigen die Figuren doch aus den Vitrinen eines Museums: Rückwärtsgewandte Imagination eines spießigen Aufsehers, der fotografierende japanische Touristinnen scheucht und sich – eine echte österreichische Thomas-Bernhard-Figur – in eine bessere Vergangenheit zurückschwärmt, die ihn am Ende ungnädig gefangen nimmt. Der Ochs auf Lerchenau, den er im Traum verkörpert, war eben doch nicht die richtige Rolle für die anbrechende Moderne.

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Der Essener GMD Tomáš Netopil. (Foto: Hamza Saad)

Bei der Premiere 2004 ein Soltesz-Paradestück, liegt das „Getöse um einen reizenden Scherz“ jetzt in den gestaltenden Händen von GMD Tomáš Netopil. Er bevorzugt einen schlank-gefassten Ton, führt das Orchester präzise und hält es durchhörbar, hätte aber ruhig ausgeklügelter zupacken dürfen: Nicht in den ausladenden Lautstärkegraden, die manchem Sänger volle Kraft voraus abverlangen. Eher in der Flexibilität der Tempi und Metren, deren Wiener Charme immer wieder hinter die bewundernswerte Präzision zurücktreten. Und auch im Feinschliff der Klänge: Die Holzbläser im ersten Akt wirken unspezifisch, fast beiläufig, und die berühmte Überreichung der „silbernen Rose“ wird zu einem prosaischen Ereignis fern ihres impressionistischen Zaubers.

Das Ensemble kann sich hören lassen: Michaela Kaune als Feldmarschallin ist zu den schlank-transparenten Klängen des Orchesters zunächst eine mädchenhafte junge Frau, gewinnt im dritten Akt Reife und stimmlich opulenten Glanz. Karin Strobos als Octavian, anfangs mit Kratzern in der Mezzo-Lasur, kann sich ebenso profilieren wie Elena Gorshunova: Die Schulmädchen-Anmutung mit Matrosenkleid und Stofftier lässt sie schnell hinter sich zugunsten einer stimmlich standfesten, selbstbewussten Sophie. Karl-Heinz Lehner als träumender Museumswärter gibt den Ochs mit genießerisch ausgespieltem Wienerisch und probater Klang-Substanz.

Szene aus dem zweiten Akt mit Heiko Trinsinger als Faninal (Mitte). (Foto: Saad Hamza)

Heiko Trinsinger als pomadig frisierter neureicher Faninal tritt stets gequält von seinen Ambitionen auf; seine Tochter ist im Bühnenbild von Thomas Dreißigacker ein Ausstellungsstück im Vitrinenschrank, der im noch unfertigen Palais mit rauchenden Industrieanlagen an den Ursprung des Reichtums erinnert. Carlos Cardoso als Sänger mit Schmelz, aber auch Michal Doron als Annina und – wie schon 2004 – Albrecht Kludszuweit als Wirt und Rainer Maria Röhr als quirliger Intrigant Valzacchi tragen wie die vielen anderen Rollen nebst einem soliden Chor zum glücklichen Eindruck des Abends bei.

Weitere Vorstellungen am 22. März und 26. April, jeweils 16.30 Uhr. Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de

 




Märchenhaft und phantastisch: Eine konzertante Aufführung der Strauss-Oper „Die Frau ohne Schatten“ in Dortmund

Der Frankokanadier Yannick Nézét-Séguin und das Rotterdam Philharmonic Orchestra sind einander durch zehn Jahre der Zusammenarbeit verbunden. (Foto: Petra Coddington)

Ein grässlicher Schrei entringt sich der Kehle der Amme. Ihr tückisches Spiel ist aus: Von der Kaiserin verstoßen, vom Boten des Geisterkönigs Keikobad verbannt, muss sie die Bühne verlassen, auf der an diesem Abend die Oper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss gegeben wird. Mit ihrem Abgang ist im Konzerthaus Dortmund der Weg frei für das große Happy End, für den ekstatischen Schlussjubel, der vom Publikum mit tobender Begeisterung erwidert wird.

Über das gewöhnliche Maß gehen diese Bravostürme weit hinaus. Sie sind einerseits Reaktion auf die kolossalen Klangeruptionen dieses Zaubermärchens, das von der Menschwerdung der aus dem Geisterreich stammenden Kaiserin erzählt. Durch den selbstlosen Verzicht auf eigene Kinder – symbolisiert durch den Schatten – wächst diese Frau zu unerwarteter Größe. Andererseits zollt das Publikum einer Interpretenriege Dank, die diese konzertante Opernaufführung zu einem überwältigenden Strauss-Fest erhebt.

Wo anfangen bei so viel Exzellenz? Bleiben wir zunächst bei der Amme, deren mephistophelische Natur durch Michaela Schuster packende Präsenz annimmt. Die Mezzosopranistin, als Sängerdarstellerin ein regelrechtes Bühnentier, gibt diesem Zwischenwesen die lauernde Gespanntheit einer Elektra, die auffahrende Herrschsucht einer Klytämnestra und die schmeichlerischen Zwischentöne einer Schlange.

Die aus Südafrika stammende Sopranistin Elza van den Heever sang die Partie der Kaiserin. An ihrer Seite war der Amerikaner Stephan Gould als Kaiser zu erleben. (Foto: Petra Coddington)

Ihr Gegenpol ist die feenhafte Kaiserin, die Dank Elza van den Heever tatsächlich einer anderen Welt entstiegen scheint. Ihr gläsern leuchtender Sopran bringt es auch nach kraftvollen Flügen durch stratosphärische Höhen fertig, in ein mädchenhaft-zartes Piano zurückzufinden. An ihrer Seite ist Stephan Gould ein Kaiser mit heldischem Tenor, der sich unbedingt Bahn bricht, sei es zuweilen auch mit Überdruck.

Bombenstark bei Stimme ist auch das Menschenpaar. Michael Volle singt den herzensguten Färber Barak, dem die abweisende Kälte seiner Frau arg zusetzt, mit einer vollklingend-sonoren Wärme zum Dahinschmelzen. Lise Lindstrom erhebt die Färberin zur heimlichen Hauptfigur. Unfassbar, mit welchem Volumen sie sich in immer neue Spitzen trotzigen Zorns hineinsteigert, mit welch glühender, zuweilen auch schneidender Leidenschaft sie noch im äußersten Fortissimo-Getümmel triumphiert. Zugleich lässt sie uns die Verzweiflung einer Frau spüren, die sich nicht gesehen und nicht verstanden fühlt.

Eine Ehe voller Spannungen führen der Färber Barak (Michael Volle) und seine Frau (Lise Lindstrom. Foto: Petra Coddington)

Die Nebenfiguren, der Rotterdam Symphony Chorus und der von Zeljo Davutović einstudierte WDR Kinderchor Dortmund tragen sämtlich ihren Teil zum Ausnahmerang dieses Abends bei.

Indessen muss nun endlich vom Rotterdam Philharmonic Orchestra die Rede sein, das unter seinem ehemaligen Chefdirigenten Yannick Nézét-Séguin die überbordende Phantastik und die raffinierte Instrumentationskunst der Partitur auskostet, dass einem schier die Ohren übergehen. Das Orchester nimmt uns mit auf eine Reise, die im rasenden Galopp durch drei Welten führt, die uns durch finsterste Abgründe bis in silberhelle Sphären der Verklärung begleitet. Es ist ein Rausch, eine prunkvolle, exotisch gefärbte Orgie des Klangs, transparent gehalten bis in die kammermusikalischen Details. Die Musik ist aus, aber ihr ätherisches Glücksleuchten bleibt.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Mit seligem Schwung zum Beifall: Die Essener Philharmoniker eröffnen unter Tomáš Netopil die Serie ihrer Sinfoniekonzerte

Tomás Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomáš Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Kaum jemand kennt sie mehr, die alten Studentenlieder. Nur „Gaudeamus igitur“ dürfte noch vertraut sein: Wie einen Hymnus auf die alte Burschenherrlichkeit setzt Johannes Brahms die Melodie an den Schluss seiner „Akademischen Festouvertüre“. Mit einem Humor, wie er dem Meister der „deutschen Tonkunst strengeren Stils“ angemessen ist, gibt Brahms der Universität Breslau die Ehre. Sie hatte ihn zum Ehrendoktor gekürt.

Die Essener Philharmoniker eröffnen in der Philharmonie mit Brahms’schem Hintersinn das neue Konzertjahr, und ihr Chef Tomáš Netopil lässt die abwechslungsreiche Verarbeitung von Melodien wie dem einst berühmten „Fuxenritt“ mit gekonnter Geste in Blechmajestät münden. „Gratulor“ würde der flotte Bursch von einst komplimentieren.

„Strengen“ Stils befleißigt sich auch Antonín Dvořák in seinen „Sinfonischen Variationen“ op. 78, mit denen er sich die Anerkennung von Brahms errungen hat. Netopil setzt mit diesem oft aufgenommenen, im Konzertsaal aber seltener zu hörenden Stück sein Vorhaben fort, das Publikum mit musikalischen Schätzen seiner Heimat bekannt zu machen. Wundervoll gesponnene Melodik, spritzige Rhythmen, leise Idyllen: Dvořák entfaltet das Spektrum seiner Ausdruckskraft und zeigt sich als Meister der Form. Die Posaunen haben einen wirkungsvollen Auftritt, die Streicher dürfen mit Seele singen.

Ein anderer Tonschöpfer aus Tschechien, Bohuslav Martinů, hat’s in seinem originellen Konzert für Streichquartett mit Orchester nicht so mit dem Kantablen: 1932 uraufgeführt, orientiert es sich an der Form des concerto grosso aus dem 18. Jahrhundert, aber auch an der Freude am Experimentellen, die Martinů in Paris pflegte. Die Lust an der Polyphonie und an der Dissonanz lebt er ähnlich exzessiv aus wie Igor Strawinsky oder Darius Milhaud.

Der atemlose Ton der modernen Zeit

Die vortrefflichen Musiker des Pavel Haas Quartetts stellen das thematische Material vor: spritzig, unruhig, rastlos wie die moderne Zeit, die sich auch bei Martinů in der Musik spiegelt. Das Orchester nimmt diesen atemlosen Ton auf. Das Prinzip der Variation schlägt die Brücke zu Dvořák, aber die Atmosphäre des dichten, von den Essenern kühl durchschauten Orchestersatzes mit seinen Reibungen und harmonischen Zusammenstößen hat mit dem böhmischen Altmeister wenig zu tun. Den Mittelsatz spielen Veronika Jarůšková, Marek Zwiebel, Radim Sedmidubský und Peter Jarůšek mit heiliger Ruhe und intensivem Vibrato zu den knöchern aufs Holz durchschlagenden Streicher-Pizzicati des Orchesters. Und im Finale genießen die Bläser spitz und ironisch ihren virtuosen Beitrag.

Zum Schluss ein Tribut an den kulinarischen Geschmack: Aber Richard Strauss‘ „Rosenkavalier“-Suite will Netopil nicht so recht gelingen. Der Einstieg ist massiv und laut statt leuchtend, vorlaut statt elegant. Die Sphärenklänge der „silbernen Rose“ bleiben irdisch durchschaubar. Doch das ans Missgeschick des lerchenauischen Ochs erinnernde Spukgepolter und der selig schwingende Walzer versöhnen zum freundlichen Beifall.

Heute Abend, am 12. September 2017, gastieren Netopil und die Essener Philharmoniker im Rudolfinum in Prag beim diesjährigen Dvořák Festival, das er am Samstag, 23. September am Pult der Wiener Symphoniker mit Dvořáks „Te Deum“, der Sechsten Symphonie und Johannes Brahms‘ „Tragischer Ouvertüre“ abschließen wird.

Das Zweite Sinfoniekonzert der Saison am 28. und 29. September in der Philharmonie Essen bringt als Hauptwerk die „Reformations“-Symphonie Felix Mendelssohn-Bartholdys und geistliche Musik des 1946 geborenen lettischen Komponisten Pēteris Vasks: „The Fruit of Silence“ für gemischten Chor und Streichorchester.




Das Trauma des Kindes: David Bösch inszeniert in Essen „Elektra“ von Richard Strauss

Elektra (Rebecca Teem) mit einem Kinderstühlchen (Foto: Matthias Jung)

Von den Gegenständen ihrer Kindheit umgeben, sinnt Elektra (Rebecca Teem) auf Rache (Foto: Matthias Jung)

Blut überall. Es klebt am Boden, es haftet an den Wänden, es besudelt alle, die zu tun haben mit diesem Schlachthof von einem Königshaus. An der Wand eine weiß leuchtende Inschrift, wie im Wahn herausgekratzt aus den rotbraun geronnenen Schichten. „Mama, wo ist Papa?“, steht da, kurioserweise auf Englisch. Denn wir befinden uns im Palast der Klytämnestra und des Aegisth, jenes ehebrecherischen Paares, das den rechtmäßigen König Agamemnon hinterrücks erschlug.

Hier haust Elektra, Tochter Klytämnestras, Protagonistin aus der gleichnamigen Oper von Richard Strauss: traumatisiert, halb verwildert, erfüllt von der Gier nach Rache, aus der sie Lebenskraft saugt. Regisseur David Bösch zeigt sie uns im Essener Aalto-Theater als eine Frau, die nie erwachsen wurde. Gemäß den Erkenntnissen der Freud’schen Psychoanalyse, die dem Dichter und Strauss-Librettisten Hugo von Hofmannsthal vertraut waren, interpretiert Bösch die Tragödie als ein psycho-pathologisches Werk mit hysterischen Zügen.

In dieser Lesart bleibt Elektra in ihrer inneren Entwicklung stehen, seit sie den blutigen Mord an ihrem Vater mit ansehen musste. Bösch zeigt sie uns als kranke Frau, wehrloses Kind und gefährliche Psychopathin in einem. Sie liebkost Stofftiere, kratzt sich verlegen die Arme und sinnt tückisch auf Mord. Anders als ihre Schwester Chrysothemis, die sich nach einem normalen Leben in Freiheit sehnt, kennt Elektra keine Zukunft. All ihre Gedanken enden bei der Erfüllung ihres Rachewunsches.

Ungleiche Schwestern: Elektra (Rebecca Teem, l.) und Chrysothemis (Katrin Kapplüsch. Foto: Matthias Jung)

Ungleiche Schwestern: Elektra (Rebecca Teem, l.) und Chrysothemis (Katrin Kapplusch. Foto: Matthias Jung)

Das Konzept der Regie ist schlüssig und entspricht den bis zum Wahnwitz aufgepeitschten Emotionen. Das wirkmächtige Einheits-Bühnenbild von Patrick Bannwart und Maria Wolgast wird von Michael Bauer psychologisch einfühlsam ausgeleuchtet. Weniger glücklich wirkt die Personenführung. Fast alle Akteure agieren 110 Minuten lang gleich: Sie taumeln, greifen sich immerzu an den Kopf und raufen sich die Haare. Zwischendurch wird gerne mal an der Rampe gesungen.

Musikalisch erreicht diese Elektra-Produktion ein gutes Niveau, ohne überragend zu wirken. Die Amerikanerin Rebecca Teem, die in Essen bereits als Brünnhilde zu erleben war, wirft sich mit nachgerade animalischer Emphase in die Titelpartie hinein. Mag manche Pianostelle im Dialog mit Orest ihren Sopran auch in Verlegenheit bringen, so zeigt die Sängerin doch keine ernsthaften Intonationsprobleme und gibt Elektra eine Fülle von Nuancen mit. Sie kann hasserfüllt keifen, verführerisch schmeicheln, in tückischer Reserve lauern und sich bis zum wilden Aufschrei steigern. Katrin Kapplusch klingt als Chrysothemis monochromer, befeuert die Tragödie aber immer wieder durch Klänge haarsträubender Hysterie.

Für Klytemnästra (Doris Soffel, l.) nimmt das Gespräch mit ihrer Tochter (Rebecca Teem) eine schlimme Wendung (Foto: Matthias Jung)

Für Klytämnestra (Doris Soffel, l.) nimmt das Gespräch mit ihrer Tochter (Rebecca Teem) eine schlimme Wendung (Foto: Matthias Jung)

Kammersängerin Doris Soffel zelebriert die Klytämnestra als amoralische Zombie-Diva. Sie verlässt sich dabei auf die Erfahrung, die sie aus ihrer großen Karriere mitbringt, und wird für ihre enorme Bühnenpräsenz gefeiert, obgleich sie die Partie mit erheblichen stimmlichen Verformungen präsentiert. Almas Svilpa schlägt als Orest einen ernsten, angemessen düster grundierten Ton an.

Die Essener Philharmoniker haben ihre Strauss-Qualitäten seit der Ära Soltesz nicht verloren. Spannend wird dieser Abend durch die Vielzahl musikalischer Bezüge, die sie unter der Leitung von Tomáš Netopil aufdecken. Ohne die expressive Partitur zu glätten, klingen da plötzlich Arabella-Schmelz und Rosenkavalier-Romantik an. Dann wieder dringt dumpfes Brüten aus dem Orchestergraben, schauerliches Sausen und niederschmetternde Wucht.

Dass eine Untat nicht mit einer weiteren Untat aus der Welt geschafft werden kann, zeigt Bösch am Ende mit grausamer Konsequenz. Die Kinder des Agamemnon, sie sind verdammt: seien sie nun gerächt oder nicht.

Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/vorschau/premieren/elektra.htm, Karten: 0201/ 8122 200).

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen). 




Magierin am Schlagzeug – Evelyn Glennie und die Dortmunder Philharmoniker retten Alberich

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gastierte bei den Dortmunder Philharmoniker. Foto: Jim Callaghan

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gab sich die Ehre bei  den Dortmunder Philharmonikern. Foto: Jim Callaghan

Am Ende von Richard Wagners „Götterdämmerung“, die den vierteiligen „Ring des Nibelungen“ beschließt, ist eben jener Nibelung, Alberich, mit dem alles begann, verschwunden. „Er ist entmachtet – schlimmer: er scheint vergessen“, schreibt der Wagnerexeget Peter Wapnewski. Und in der Tat: Alberichs letzter Auftritt, eine düster somnambule Begegnung mit dem Sohn Hagen inmitten der „Götterdämmerung“, ist zugleich sein gespenstischer Abschied aus dem Zyklus.

Wagners Opernmythos im Allgemeinen, besonders aber das geheimnisvolle Abtauchen des Auslösers dieses Strudels aus Fluch, Verrat und Mord, endend erst im reinigenden Weltenbrand, inspirierte den Amerikaner Christopher Rouse zur Komposition des Stücks „Der gerettete Alberich“.

Es soll offenbar eine Art Ehrenrettung sein. Der Nibelung darf sich noch einmal austoben, in Form eines Konzerts für Schlagzeug und Orchester. Weil Rouse diesen Fiesling als Getriebenen, Ausgegrenzten sieht, dessen üble Taten als Abwehr zu verstehen sind. Der musikalische Fortgang ist indes alles andere als ein Freispruch: Das Wüten fasziniert, verschreckt zugleich und endet nicht in Wohlgefallen. Im Grunde verschwindet Alberich erneut.

Nun haben die Dortmunder Philharmoniker dieses außergewöhnliche Werk in ihr Programm genommen. Und mit der Solistin Evelyn Glennie die Grande Dame des Schlagzeugs gewonnen, eine Könnerin von Gnaden, Magierin des Rhythmus, die gleichermaßen impulsiv wie konzentriert zu Werke geht. Ja, die britische Musikerin ist ein Phänomen, hat sie doch bereits im Kindesalter den Großteil ihres Gehörs verloren.

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Das wilde Spiel des Alberich beginnt ohne ihn – wenn das Orchester unter Leitung von Mario Venzago die letzten Takte eben der „Götterdämmerung“ intoniert, noch einmal das Liebesmotiv aufklingen lässt. Dann erst ergreift Glennie, kniend, als gelte es, eine Beschwörung einzuleiten, das hölzerne, hohle Guiro (ein lateinamerikanisches Schrapinstrument), und erzeugt durch Reibung eine krächzende Geräuschkulisse. Fast klingt es wie das hämische Lachen des Nibelungen.

Das Orchester grummelt einstweilen vor sich hin, dann aber steigt die Erregung, die Solistin hämmert auf Woodblocks und Tom Tom ein, das Tempo zieht massiv an, um sich alsbald zu beruhigen. Das Fluch-Motiv macht sich breit, Glennie nutzt es zu einer Kadenz auf dem Marimbaphon, bis sich schließlich die Musik in einem dissonanten Schrei entlädt. Höhepunkt vor dem Ausklang: das orgiastisch anmutende perkussive Duell zwischen der Solistin und den wunderbaren Schlagzeugern der Philharmoniker.

Trotzdem ist der Komponist Rouse kein Neutöner. Er nimmt Wagners Motive, teils im Original, teils verfremdet oder in Verschränkung, und webt sie ein in seine Musik, die auf die Collagetechnik Charles Ives’ verweist, mitunter auch die „Rock meets classics“-Abteilung streift. Aufregend ist das allemal, zumal die Solistin, die das Stück bereits zur Uraufführung spielte, voller Elan zu Werke geht. Da bleibt kein Auge trocken, vielleicht aber der eine oder andere Wagnerianer ratlos zurück.

Umringt wird dieser „Alberich“ von Richard Strauss’ Tondichtung „Don Juan“ und Beethovens 7. Sinfonie. Alle drei Werke dirigiert Mario Venzago mit nervöser Energie, stets nach vorn gebeugt, wenn auch ohne größere körperliche Mätzchen. Gleichwohl schafft er es kaum, wo nötig, die Musik zu beruhigen. Oft fehlt es an dynamischer Ausgewogenheit. Der berühmte rauschhafte Aufschwung des „Don Juan“ klingt nicht wie aus einem Guss, die unterschwellige, betörende Erotik kann sich selten großzügig verströmen. Die Feinheiten der Strauss’schen Instrumentationskunst gehen im fahrigen Dirigat unter. Dieser Verführer rast wie ein Gespenst an uns vorbei.

In Beethovens großer Sinfonie vom Rhythmus wiederum geht es kontrollierter zu, klingen die Aufschwünge des 1. Satzes aber ziemlich kurzatmig, wird die dynamische Sprengkraft, der eruptive Gestus dieser Musik nicht wirklich ausgereizt. Und wo die Holzbläser es verstehen, schöne, warme Linien zu formen, bleiben andererseits die Hörner ungewöhnlich blass. So pendelt dieser Konzertabend zwischen Spannung und Enttäuschung.




Zwischen Talkshow und Happening – die Triennale auf musikhistorischer Lesereise

Blick auf die skandalträchtige Uraufführungschoreographie von Strawinskys "Sacre". Foto: Christoph Sebastian

Blick auf die skandalträchtige Uraufführungschoreographie des  „Sacre“. Foto: Christoph Sebastian

Ach Du lieber Gott! Da hopsen und tanzen seltsame Hutzelmännchen, mit Vollbart verziert und Bärenfell behangen, wie Indianer auf dem Kriegspfad umeinander, und das zu Igor Strawinskys archaischer, brutaler, rhythmusgesättigter „Sacre“-Musik.

Es sei gestattet, ein wenig zu lachen, auch wenn hier, als filmisches Dokument, die Rekonstruktion der Uraufführungschoreographie gezeigt wird (1913 in Paris, von Waslaw Nijinsky), die immerhin einen der größten Theaterskandale des beginnenden 20. Jahrhunderts ausgelöst hat. Sodass die Musik im tumultuösen Lärm des erhitzten Publikums beinahe unterging.

Nicht zuletzt auf Eklats dieser Art hat der amerikanische Musikkritiker Alex Ross wohl bei der Titelgebung seines Buches geblickt: „The Rest is Noise“ erzählt eine Geschichte von der tönenden Moderne, die nicht wenige Zeitgenossen als Lärm abtaten, von einer Moderne, die andererseits den Lärm der Welt durchaus spiegelte. Der Autor entwirft dabei ein großformatiges Gemälde, das die musikalische Entwicklung des vergangenen Jahrhunderts in Beziehung setzen will zu politischen, philosophischen, soziologischen Strömungen jener Epoche. Ein überquellendes Kompendium, nicht frei indes von steilen Thesen, „Vielleicht“- und Konjunktivsätzen, Halbwahrheiten.

Sei’s drum: Triennale-Intendant Johan Simons hat das Buch ins Herz geschlossen und schon als Chef der Münchner Kammerspiele szenische Lesungen erarbeitet. Die finden nun ihre sechsteilige Fortsetzung in Schauspielhäusern des Ruhrgebiets. Diese Kooperation mit Theatern des Reviers, anfangs vollmundig beschworen, vereinzelt realisiert, dann aber schmählich fallen gelassen, erfährt also nun eine gewisse Renaissance. Das ist nur recht und billig: dass die Triennale sich bei allen europäischen Leuchtturmprojekten noch der Leistungsfähigkeit der traditionsreichen städtischen Bühnen und ihrer Ensembles bewusst wird.

Stephanie Schönfeld in der Rolle des Buchautors Alex Ross. Foto: Christoph Sebastian

Stephanie Schönfeld in der Rolle des Buchautors Alex Ross. Foto: Christoph Sebastian

Johan Simons’ Musikvermittlung der besonderen Art startet im Essener Grillo-Theater und verhandelt zunächst die letzte Jahrhundertwende, das Fin de Siècle, mithin die Komponisten Mahler und Strauss, um sich dann im 2. Teil hauptsächlich eben des „Sacre“ anzunehmen.

Der eingangs erwähnte Videoschnipsel bleibt alleiniger Filmbeitrag, ansonsten wird fleißig rezitiert. Doch längst nicht alles, was wir in der Lesefassung von Julia Lochte und Tobias Staab zu hören bekommen, entstammt direkt dem Buch. Manche Zitate gehen weit darüber hinaus. Ross’ Werk wird zum Steinbruch, andere Quellen (zu erschließen aus den Anmerkungen des Buches?!) kommen hinzu. Das Schöne ist: Wenn in Simons’ Inszenierung die Figuren selbst sprechen, wenn also die Zeitzeugen etwa über den „Sacre“-Skandal in Form einer aufregenden Collage berichten, gewinnt die Geschichte weit mehr Authentizität als durch die Einlassungen von Alex Ross.

Da gibt Axel Holst einen fein formulierenden Harry Graf Kessler, Stefan Diekmann einen spitzzüngigen Jean Cocteau, und die resolute Ingrid Domann zitiert im Agitpropstil harsche Kritiken aus der zeitgenössischen Weltpresse. Der wunde Punkt von Strawinskys Musik ist schnell benannt: die Dissonanz. Sie ist im übrigen in Ross’ Buch das Element, das die Entwicklung der tönenden Moderne geprägt hat. Sie emanzipiert sich indes nicht erst, das sei nur am Rande angemerkt, seit den späten Stücken eines Franz Liszt. Es gibt Werke der Renaissance, die würde der arglose Hörer im 20. Jahrhundert verorten.

Gestatten: Richard Strauss, Alma und Gustav Mahler (Thomas Büchel, Janina Sachau, Jens Winterstein, v.l.n.r.). Foto: Christoph Sebastian

Gestatten: Richard Strauss, Alma und Gustav Mahler (Thomas Büchel, Janina Sachau, Jens Winterstein, v.l.n.r.). Foto: Christoph Sebastian

Vieles von Ross’ Text, der, wie erwähnt, mit Strauss und Mahler beginnt, wird von Stephanie Schönfeld gelesen. Sie sitzt auf der T-förmigen Bühne auf einem Drehstuhl, fungiert als Wegbereiterin für den Einsatz der jeweiligen „Zeitgenossen“. Thomas Büchel (Strauss) und Jens Winterstein (Mahler) wirken dabei eher verhalten, lümmeln sich auf ihren Plätzen, wollen hintersinnig witzig sein, verleihen dem Abend aber leichte Zähigkeit. In der hinteren Reihe weitere Akteure: etwa Axel Holst als nöliger Kaiser Wilhelm oder Jan Pröhl als teils bärbeißiger, teils gesetzter Debussy.

Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus Talkshow und studentischem Happening. Es ist ein unterhaltsamer Abend mit Stärken und Schwächen. Musiker der Bochumer Symphoniker streuen hier und da klingende Beispiele ein, etwa zwei Sätze aus Debussys Streichquartett.

Über allem schwebt die Frage zur Rolle des Publikums, das einst etwa Strauss’ modernistische „Salome“ bejubelte, das „Sacre“ aber erst allmählich goutierte. Debussy und Schönberg wiederum hatten für ihre Zuhörer mitunter nur Verachtung übrig. Die Vorstellung im „Grillo“ indes wird einhellig beklatscht. Dennoch bleiben Zweifel inhaltlicher Art. Die amerikanische Sicht auf einen Teil der europäischen Musikgeschichte mutet nicht zuletzt etwas salopp an.

Die weiteren Stationen der Lesereise finden sich unter www.ruhrtriennale.de




Klangfarbenrausch in kühler Perfektion – das Cleveland Orchestra im Konzerthaus Dortmund

Petra Coddington Fotografenmeisterin

Seid ausgebreitet, ihr Klänge! Franz Welser-Möst dirigiert das Cleveland Orchestra. Foto: Petra Coddington

Boston, New York, Philadelphia, Chicago und Cleveland – aus diesen Städten kommen, so sagen es jedenfalls ehrfurchtsvoll viele Musikfreunde, die fünf besten Orchester zumindest der Vereinigten Staaten, wenn nicht sogar der Welt. Nun sind solcherart Platzierungen, vorgenommen unter ästhetischen Gesichtspunkten, immer mit Vorsicht zu genießen. Doch ohne Zweifel sind diese „Big Five“ in Sachen technischer Präzision, Klangbild oder Musikalität ziemlich weit oben anzusiedeln.

Was nicht heißen soll, dass die Berliner oder Wiener Philharmoniker, das Concertgebouw Orkest Amsterdam oder das London Philharmonic hintenan stehen. Erstaunlich aber ist, dass sich über viele Jahrzehnte eine deutliche Differenz des Klangbilds im europäisch-amerikanischen Vergleich entwickelt und gefestigt hat. Hier die wärmeren Farben, die bessere Mischung der Valeurs, jenseits des Teiches eine hellere, sehr präsente Tönung, oft auch ein sehr strukturbewusstes Musizieren.

Punktgenaue Einsätze fürs präzise Spiel. Foto: Petra Coddington

Punktgenaue Einsätze vom Pult aus fürs präzise Orchesterspiel. Foto: Petra Coddington

Solche Beobachtungen mögen ein wenig abstrakt anmuten. Umso mehr ist das erste Gastspiel des Cleveland Orchestra im Dortmunder Konzerthaus ein Glücksfall: Denn dessen Interpretation von Olivier Messiaens „Chronochromie“ und Richard Strauss’ „Alpensinfonie“, Musik, die sich nicht zuletzt durch einen wahren Taumel an Klangfarben auszeichnet, macht klar, dass Vergleiche dieser Art ihren Sinn haben.

Besonders spannend wiederum wird die Angelegenheit dadurch, dass Franz Welser-Möst am Pult, Chef des Orchesters seit 2002 und bis 2022 vertraglich gebunden, bereits mit gehörigem Erfolg auch die Wiener Philharmoniker dirigiert hat. Europa und Amerika – nah beieinand’.

Der gebürtige Linzer Welser-Möst ist von hohem Wuchs, aristokratischem Habitus und elegantem Charme. Entsprechend stilvoll dirigiert er: ohne körperliche Entäußerung, mit Augenmaß und punktgenau. Das mag ein bisschen trocken wirken, erfüllt aber den Zweck höchster Präzision im Orchester. Und die Leidenschaft, das Aufgehen in Klangmagie, kommt nicht zu kurz.

Der Mann am Pult also, er gebietet Respekt, und ist doch nicht unnahbar. Ein paar Worte ans Publikum gelten Messiaens „Chronochomie“, Anfang der 1960er Jahre entstanden, spröde anmutende Musik, dennoch voller Reichtum, in Form stilisierter Vogelstimmen und Naturgeräuschen. Der Komponist habe das Werk einen sonnendurchfluteten Protest gegen die Zwölftöner genannt, sagt Welser-Möst mit der Empfehlung, sich diesem Licht entspannt hinzugeben.

Dann beginnt das große tönende Leuchten, sehr hell, bisweilen gleißend, weil Messiaen als bekennender Katholik stets die Himmelsmächte beschwor. Ein Leuchten, nur hier und da mit dunklen Farbtupfern grundiert (Gong, Kontrabässe), vom Cleveland Orchestra licht und rein und glasklar dahingezaubert, innerhalb der markant gezeichneten Strukturen wirkmächtig vor uns ausgebreitet. Und so fremd das Werk anmutet, mit all seinen Exotismen, Verschlingungen und Spreizklängen, so stark ist seine Zugkraft.

Foto: Petra Coddington

Höchste Konzentration und stilistische Eleganz zeichnen den Dirigenten aus. Foto: Petra Coddington

Gegen die „Alpensinfonie“ muss es freilich ins Hintertreffen gelangen, weil Strauss’ Musik eben einem klaren Programm folgt und sich dabei derart illustrativ gibt, dass Sonnenaufgang, Jagdszene, das Gleißen des Wasserfalls, Vogelgezwitscher und Gewitter für jeden offen erkennbar ist. Als liefe vor uns ein imaginärer Film ab. Doch wer sich so erwartungsvoll in den Kinosessel fallen lässt, hat die Rechnung ohne die Wirte auf dem Podium gemacht. Und ist am Ende vielleicht sogar ein wenig enttäuscht.

Denn Welser-Möst dirigiert diesen spätromantischen Brocken aus dem Geist der zuvor erklungenen Moderne. Setzt auf Strukturen statt auf alpine Folklore, kitzelt noch die kleinste Nebenstimme im großorchestralen Getümmel heraus. Sodass sich etwa im Donnerwüten eine auf- und absteigende Klarinettenfigur hervortut, als würde der Wind ein Blatt zuerst nach oben, dann abrupt zu Boden schleudern. Der Dirigent lässt zudem zügig musizieren, was einigen Spannungsbögen die Kraft kostet. Dafür wird erkennbar, dass dieses Werk im Umfeld der so neu tönenden „Elektra“ entstanden ist.

Das Cleveland Orchestra musiziert dabei so, wie man es von einem der „Big Five“ eben erwartet. Technisch höchst präzise – die Trompeten etwa geben sich selbst in höchsten Höhen keine Blöße –, im Klangbild äußerst transparent, dabei ziemlich aufgehellt. Und wenn der Österreicher Welser-Möst den Amerikanern schwungvoll satten Streicherfluss abverlangt, fehlt eben jene Wärme, die er von den Wiener Philharmonikern sofort bekommen würde. Die Differenz zwischen europäischen und US-Orchestern ist in mancher Hinsicht evident, unbelastet von Klischees.

Im Konzerthaus zählt indes am Ende nur, dass das Publikum heftigst applaudiert für ein aufregendes Konzert. Überraschung hier, Enttäuschung dort nicht ausgeschlossen. Und mancher hat vielleicht sogar Unvermutetes für sich entdeckt – Messiaen und Strauss noch im Gehör.

 




„Nordischer“ Ton: Duo Tal & Groethuysen eröffnet in Duisburg das Klavier-Festival Ruhr

Eröffnung bei strahlendem Wetter im Landschaftspark Duisburg Nord: Das Klavier-Festival Ruhr versammelt wieder Pianisten aus aller Welt. Foto: Werner Häußner

Eröffnung bei strahlendem Wetter im Landschaftspark Duisburg Nord: Das Klavier-Festival Ruhr versammelt wieder Pianisten aus aller Welt. Foto: Werner Häußner

Der „nordische Ton“ klingt leicht, unbeschwert, spielerisch. Er hat nichts von dunklen Polarkreisnächten, eher etwas vom hellen finnischen Sommer, von der leuchtenden Frische schwedischer Frühlingstage. Er beschwört keine nebelverhangenen Wälder, sondern das flimmernde Grün des Schattenspiels in einem Mai-Garten. Yaara Tal und Andreas Groethuysen halten aus ihrem Programm alles Schwere, Lastende heraus. Sie eröffnen das Klavier-Festival Ruhr in Duisburg mit Mozart, Grieg und Strauss.

Mit dem „nordischen Ton“ als Leitlinie manövriert sich ein Festival in erhebliche Definitions-Schwierigkeiten. Da gibt es „nordische“ Komponisten, die eigentlich „international“ sein wollten, wie der ebenfalls zu Festival-Ehren kommende Jean Sibelius anlässlich seines 150. Geburtstags. Und da gibt es andere, die vielleicht auf die nationale Karte gesetzt haben, die aber heute keiner mehr kennt und von denen man kaum einen international renommierten Pianisten überzeugen kann. Wie wäre es zum Beispiel mit dem vor 200 Jahren geborenen Norweger Halfdan Kjerulf, der deutsche Romantik und norwegische Volksmusik in zahlreichen Klavierwerken verbunden hat? Das wäre ein „nordischer“ Ton – aber vermutlich würden sich Sponsorengattinnen für den schwergängigen Namen kaum begeistern lassen.

So bleibt es bei dem, was man so gemeinhin als „nordisch“ kennt, und mit dieser Dramaturgie kann auch das Duo Tal & Groethuysen gut leben. Immerhin: Die C-Dur-Sonate Mozarts (KV 545) und die c-Moll-Fantasie (KV 475) erklingen in der Gebläsehalle des Duisburger Landschaftsparks in einer Bearbeitung Edvard Griegs: Der Norweger hat eine Stimme hinzukomponiert und damit den Mozart-Ton entschieden romantisiert. Griegs Peer Gynt Suite (op. 46) in einem Arrangement für zwei Klaviere des britischen Spezialisten Richard Simm geht über gepflegte Hausmusik hinaus, wirft Blicke auf die Schichten unterhalb der weltberühmten Melodien. Yaara Tal gibt gemeinsam mit ihrem Ehemann und Klavierpartner Andreas Groethuysen dem lyrisch verhaltenen feinen Licht ebenso Raum wie der leisen Resignation von „Åses Tod“ und dem dunklen Marcato der „Halle des Bergkönigs“, das sich zu donnernden Tonketten im Bass steigert.

Seit 30 Jahren zusammen, seit 1997 regelmäßig zu Gast beim Klavier-Festival Ruhr: Das Duo Yaara Tal und Andreas Groethuysen. Foto: KFR/Frank Mohn

Seit 30 Jahren zusammen, seit 1997 regelmäßig zu Gast beim Klavier-Festival Ruhr: Das Duo Yaara Tal und Andreas Groethuysen. Foto: KFR/Frank Mohn

Richard Strauss‘ „Till Eulenspiegel“ lässt gemischte Gefühle zurück: Nicht, weil das Duo mit dem technisch anspruchsvollen Stück Probleme hätte – dreißig Jahre gemeinsamen Musizierens führen zu einer bewundernswerten Vertrautheit. Auch nicht, weil Bearbeitungen – diese stammt von Otto Singer junior – oft durch Reduktion strukturelle Einblicke gewähren, die sonst gerne mit dem üppigen Orchesterklang bemäntelt sind. Sondern eher, weil die Farben des Orchesters fehlen und Strauss eben nicht nur strukturell, sondern auch farbig-plastisch gedacht hat. Dennoch: Das Duo findet zu burleskem Charme und spritzigen Dialogphasen. „Nordisch“ freilich ist darin nichts.

Ein wenig enttäuschend blieb ausgerechnet Mozart, sonst ein Paradekomponist der beiden Virtuosen. In der „Sonata facile“ – die alles andere als „leicht“ ist – finden sie zu ausschwingenden melodischen Phrasierungen und zu einem apart zärtlichen Ton. Aber das Andante ist im Tempo nicht nur rasch, sondern auch angespannt; das Rondeau zu neutral in der Artikulation und damit weder spritzig noch beglückt mit dem sprühenden Witz Mozarts.

In der Fantasie (KV 475) entdecken Tal & Groethuysen nicht so sehr die auf Beethoven weisenden Kühnheiten in Chromatik und Modulation, sondern eher die klassische Gemessenheit, von Grieg lyrisch-romantisch eingedunkelt. Und Mozarts Sonate für zwei Klaviere (KV 448) demonstriert, wie traumwandlerisch sich die Beiden im lebendig flüssigen Tempo verstehen, lässt aber den Charme des „con spirito“ vermissen, will im zweiten Satz nur punktuell zur poetischer Tiefe und atmender Phrasierung vorstoßen und bleibt im dritten flach und rasch. „Heruntergehudlet“ schimpfte Mozart einmal in einem Brief über eine solche Demonstration fehlerfreier, aber auch seelenarmer Geschwindigkeit.

Der „nordische Ton“ bleibt im Programm präsent

Das Klavier-Festival wird in den kommenden rund 60 Konzerten in 20 Städten dem „nordischen Ton“ weiter nachspürenm aber auch dem 100. Todestag von Alexander Skrjabin Tribut zollen. So spielt Olli Mustonen am 27. April in Duisburg eine eigene Komposition – schlägt sozusagen den aktuellen „nordischen Ton“ an –, widmet sich aber auch Sibelius als Klavierkomponisten und stellt Griegs Ballade g-Moll op. 24 vor. Henri Sigfriedsson spielt am 10. Mai in Bottrop einen Sibelius-Abend. Skandinavisch geht es auch am 13. Mai in Schloss Herten zu, wenn Miah Persson, begleitet vom Klavierfestival-Urgestein Graham Johnson auch unbekanntere Lieder etwa von Ture Rangström und Wilhelm Stenhammar singt.

Jean Sibelius auf einem historischen Foto von 1913.

Jean Sibelius auf einem historischen Foto von 1913.

Am 19. Mai widmet sich dann in Essen in der Philharmonie Mikhail Pletnev den 23 Préludes op. 11 von Alexander Skrjabin. Und der junge Pavel Kolesnikov spielt am 31. Mai in Moers in einem der 25 bereits ausverkauften Konzerte die Fis-Dur-Sonate op.30 Skrjabins – die einen Tag später von Gabriela Montero in Düsseldorf wiederholt wird. Am 2. Juni bringt Rafał Blechacz mit „Pelimannit“ („Die Geiger“) das Opus 1 des 1928 geborenen Einojuhani Rautavaara, eines der wichtigen lebenden Komponisten Finnlands.

Am 5. Juni spielt in Dortmunds Harenberg Center der Sieger des Grieg-Wettbewerbs, der Norweger Joachim Carr, Stücke von Grieg und Nikolaj Medtner. Und am 6. Juni folgt ihm in der verdienstvollen Reihe „Die Besten der Besten“ der vielfache Wettbewerbssieger Andrey Gugnin mit Sibelius, Skrjabin und der Siebten Sonate von Sergej Prokofjew. Originell das Programm des norwegischen, in Köln unterrichtenden Cembalisten Ketil Haugsand. Er konfrontiert am 9. Juni in Schloss Hohenlimburg Bach und Buxtehude mit dem 1758 gestorbenen Johan Helmich Roman, dem „Vater der schwedischen Musik“ und mit dem in Memel geborenen und bis zu seinem Tod 1787 in Trondheim wirkenden Johan Daniel Berlin.

Am 15. Juni kehrt Joseph Moog zum Klavier-Festival zurück und widmet sich im Konzerthaus Dortmund mit den Bochumer Symphonikern unter Steven Sloane dem fis-Moll-Klavierkonzert Skrjabins. Und zum Abschluss des Klavier-Festivals am 4. Juli greift das WDR Sinfonieorchester unter dem Gastdirigenten Hannu Lintu noch einmal kraftvoll zum nordischen Repertoire und spielt Carl Nielsens „Helios“-Ouvertüre und Jean Sibelius‘ Zweite Symphonie. Igor Levit krönt das Programm mit Griegs Klavierkonzert.

Info: www.klavierfestival.de




Festspiel-Passagen I: Der Sound der Zwanziger Jahre in der Bauhausstadt Dessau

Um ihn geht es bei dem Musikfestival in Dessau: Kurt Weill,  lässig und cool, 1935 in Salzburg aufgenommen. Foto: Kurt Weill Fest

Um ihn geht es bei dem Musikfestival in Dessau: Kurt Weill, lässig und cool, 1935 in Salzburg aufgenommen. Foto: Kurt Weill Fest

„In eins verschmolzen sind Wort und Töne“ singt die Gräfin in Richard Strauss‘ „Capriccio“: Für sie ist die Frage nach dem Vorrang von Text oder Musik in der Oper gelöst. „Zu einem Neuen verbunden“ sind sie. „Eine Kunst durch die andere erlöst.“ Wenn es denn so harmonisch wäre. In einer Zeit, in der Strauss und sogar der Wortfanatiker Wagner das Übertiteln ihrer Bühnenwerke erdulden müssen, weil es an artikuliertem Singen mangelt, stellt sie die Frage auf ganz andere Weise neu.

Das gilt auch für das Abschlusskonzert des Dessauer Kurt Weill Festes: Sara Hershkowitz produzierte die Töne des programmatischen Schlussmonologs aus „Capriccio“ mit einem wie Messing blitzenden Sopran, mit monochromen Vokalen, ohne sprachorientierte Flexibilität und vor allem meist wortunverständlich. Da erlöst keine Kunst die andere.

Das 23. Kurt Weill Fest in Dessau hat sich unter dem Motto „Vom Lied zum Song“ aufgemacht, der Sprache und ihrem Verhältnis zur Musik nachzuspüren. Intendant Michael Kaufmann – bis 2008 in gleicher Funktion an der Philharmonie Essen und auf unschöne Weise geschasst – hatte schon Recht, wenn er meinte, man müsse eigentlich von der Arie und vom Kunstlied ausgehen. Aber im „Lied“ konzentriert sich die angesprochene Problematik: Es ist – anders als eine auf gesangliche Virtuosität oder Expression angelegte Arie – ohne den Text tödlich amputiert.

HK Gruber dirigierte in Dessau die "Dreigroschenoper". Foto: Sebastian Gündel

HK Gruber dirigierte in Dessau die „Dreigroschenoper“. Foto: Sebastian Gündel

Die Verbindung von Sprache, Ton und Bild war für Weill in seinen Bühnenwerken eine faszinierende Herausforderung. Er hatte in seinen „Songs“ diesen Primat des Textes akzeptiert, ohne die Musik an ihn zu verraten: für das Duo Brecht/Weill eine Quelle des Konflikts, der sich in den Proben zur „Dreigroschenoper“ exemplarisch entzünden sollte. Beim diesjährigen Kurt Weill Fest ließ sich nicht nur in diesem Schlüsselwerk für die Moderne wie für das Brecht-Theater – aufgeführt von HK Gruber und dem Ensemble Modern – der Wort-Klang-Problematik nachspüren.

Als Weill gemeinsam mit Bertolt Brecht und dem Filmemacher Carl Koch 1927 eine Revue über das Ruhrgebiet plante, sollte schon dieses Werk ein „neues Ineinanderarbeiten von Wort, Bild und Musik“ begründen. Da das „Ruhrepos“ von rechten Kreisen in Essen torpediert wurde, erprobte der aufstrebende Komponist sein Konzept dann im gleichen Jahr in „Royal Palace“: In einer überflüssig halbszenischen Form mit ein paar Dias an der Rückwand war dieses frühe Bühnenwerk das Kernstück des Abschlusskonzerts im Anhaltischen Theater.

"Letzter Tango in Berlin": Ute Lemper war zu Gast beim Kurt Weill Fest in Dessau. Foto: Sebastian Gündel

„Letzter Tango in Berlin“: Ute Lemper war zu Gast beim Kurt Weill Fest in Dessau. Foto: Sebastian Gündel

Weill und sein Librettist Yvan Goll schufen mehr als ein Zeitstück: „Royal Palace“ ist ein Hotel, das – ähnlich wie in Vicki Baums 1929 erschienenen Roman „Menschen im Hotel“ – eine Metapher für die moderne Lebenswelt ist. Wie so oft bei Weill gibt es Momente des Melodrams und des Sozialstücks. Aber das Parabelhafte gewinnt die Oberhand: Die Offenbachiade einer Frau mit zwei Liebhabern – einem verflossenen und einem zukünftigen – neigt sich zur schwermütigen Schau auf verlorene Existenzen, von Goll noch durch einen geheimnisvoll-märchenhaften Zug verstärkt. Die letzten Worte lassen gar an Büchners „Woyzeck“ denken, die Parabel über das Scheitern des verlorenen Menschen der Moderne schlechthin.

Die unterschiedlichen Stile der Musik hat Weill dramaturgisch sehr präzis eingesetzt. Klavier und Glocken zu Beginn und am Schluss mögen an Transzendentes mahnen; der verhaltene ostinate Rhythmus erinnert schon an minimal music, aber auch an das „Grundrauschen“ einer ständig in hektischer Bewegung befangenen Welt. Ausgiebige rhythmische Bewegungsimpulse, der Reflex auf moderne Zeittänze und eine grotesk verzerrte Zirkusmusik spiegeln die Unruhe, das Getriebensein der Zeit.

Dazwischen müssen sich Menschen ihren echten, eingebildeten, vorgetäuschten Gefühlen stellen, einsam, haltlos, orientierungslos. Der Sopranpart der Dejanira fordert eine dramatische Sängerin mit dem Esprit einer Diseuse – und Sara Hershkowitz sucht beiden Polen gerecht zu werden. Rainer Trost, der „Liebhaber von morgen“, zeigt eine vortrefflich beherrschte Stimme; Markus Raabs rauer Bass passt zur Rolle des Ehemanns; Jens Müller, der „Liebhaber von Gestern“ lässt ebenso wie Andromahi Raptis als namenloses Sopransolo nicht vergessen, dass Weill die gestalterische Potenz seiner Darsteller heftig herausfordert. Verstehen kann man kaum etwas: Weills Sprach-Sorgfalt wird auf der Bühne schmählich verraten, ertrinkt auch immer wieder im Mega-Sound der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz.

Unter Ernst Theis‘ meist nur taktgebendem Stab kann das Orchester aus Ludwigshafen nur punktuell zeigen, was in ihm steckt. Die riesige Bühne des Dessauer Theaters erweist sich als akustische Falle: Undifferenzierte Lautstärke, breiige Tutti, Mangel an Detail-Finesse dürfte nicht nur den Musikern und dem Dirigenten in die Schuhe zu schieben sein. Dennoch sind in diskreten Stellen der Streicher und in massiven Einlassungen der Bläser Schwächen hörbar, die mit der Akustik nichts zu tun haben.

Cornelia Froboess, Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes, bei ihrem Programm "Liederliches". Foto: Sebastian Gündel

Cornelia Froboess, Artist-in-Residence des Kurt Weill Festes, bei ihrem Programm „Liederliches“. Foto: Sebastian Gündel

In Richard Strauss‘ Suite „Der Bürger als Edelmann“ ist zwar die Imitation der Tänze aus der Lully-Zeit gut getroffen. Aber Ernst Theis erweist sich – wie in der „Mondscheinmusik“ aus „Capriccio“ – als Nummer-Sicher-Dirigent: Der Metrik fehlt die souveräne Gelassenheit, den Phrasen der schwingende Atem, den Übergängen die Raffinesse der Agogik, den Farben die Eleganz. Der „Strauss-Ton“, gebildet aus exquisit zu mischenden Farben und sorgsam hergestellter Balance der Instrumente, will sich nicht einstellen.

Die vielen intimen unter den 57 Veranstaltungen waren es, die wohl mehr als die großformatigen Aufführungen die empfindliche Balance zwischen den Polen von Musik und Sprache ausmaßen. Da war mit Cornelia Froboess als „Artist-in-Residence“ eine Schauspielerin zu Gast, die als Schlagersängerin begonnen hatte und bis heute eine vielfach preisgekrönte Theaterkarriere verfolgt. Sie brachte gemeinsam mit dem Gitarristen Sigi Schwab Heinrich Heine zum Klingen oder las Texte und Briefe von Kurt Weill, seinem Komponistenkollegen Ernst Krenek oder dem großen Kabarett- und Revue-Komponisten der Weimarer Zeit, Friedrich Hollaender.

Der Dessauer Dichter Wilhelm Müller. Grafik aus einen zeitgenössischen Buch.

Der Dessauer Dichter Wilhelm Müller. Grafik aus einen zeitgenössischen Buch.

Und noch ein anderer stand im Fokus des Weill Festes, einer, den man zunächst nicht mit der Moderne verbindet, wohl aber mit der Bauhausstadt: der Dichter Wilhelm Müller, 1794 in Dessau geboren, 1827 ebenda verstorben. Ein Romantiker mit kritischem Geist, mit wachem Blick auf fragwürdige Entwicklungen in der Gesellschaft. Haltungen, die ihn mit Kurt Weill verbinden. Von dem Dichter stammen die Zyklen „Die schöne Müllerin“ und „Winterreise“, die Franz Schubert noch zu Müllers Lebzeiten vertont hat. Sie stehen exemplarisch für die Emanzipation der Musik von der bloßen Begleitung zur Trägerin einer Aussage, die über die Worte hinaus und in ihre Tiefen hineinreicht.

Am Beginn des Festes stand mit „Braver Soldat Johnny“ eine Erstaufführung: Das MDR Sinfonieorchester unter Kristjan Järvi spielte eine instrumental erheblich erweiterte Neufassung der ersten Broadway-Musicals Weills, „Johnny Johnson“. Das Stück mit einem Text des Pulitzer-Preisträgers Paul Green war 1936 für Weill der nötige Erfolg, der ihm den Zugang zum Broadway öffnete. Inhaltlich knüpft es an Jaroslav Hašeks „Soldat Schwejk“ an – eine brillante Politsatire mit einem tristen Ende, ein Bekenntnis des Pazifisten Kurt Weill gegen die groteske Sinnlosigkeit des Krieges.

Das Musical ist in Europa nie richtig zur Kenntnis genommen worden. Immerhin hat das Kurt Weill Fest 2002 in Bitterfeld die originale Fassung gespielt. Die neue Bearbeitung des Komponisten und Produzenten Gene Pritsker – mit Järvi schon aus Studienzeiten bekannt – verwandelt die federleichte Combo Weills in ein süffiges Orchester und liefert dick aufgetragene Filmmusik, die Kristjan Järvi mit der entsprechenden Opulenz in Szene setzt. Das Ergebnis mag nicht überzeugen; Weills Musik wird breiter, aber nicht stärker.

Der Schauspieler Bernhard Bettermann hat das Libretto zurechtgestutzt. Ein Sechser-Ensemble, darin er selbst, Partnerin Mimi Fiedler und Sohn Tim, trägt Dialoge und Songs vor: Das Lesen vom Manuskript funktioniert bei pointierten Musical-Texten nicht, vor allem, wenn gesprochen wird, als habe man die Sätze vorher gerade mal überflogen. Das war eine Stellprobe, keine festivalreife Aufführung. Und über die stimmlichen Ergüsse der Akteure auf der Vorderbühne bleibt besser der Mantel des Schweigens gebreitet; der piepsige Vortrag der Bettermann-Partnerin Mimi Fiedler mag als bezeichnendes Beispiel genügen.

Abschluss-Pressekonferenz des Kurt Weill Festes Dessau. Von links: Intendant Michael Kaufmann, Artist-in-Residence 2016 Ernst Kovacic und der Vorsitzende der Kurt-Weill-Gesellschaft, Thomas Markworth. Foto: Kurt Weill Fest

Abschluss-Pressekonferenz des Kurt Weill Festes Dessau. Von links: Intendant Michael Kaufmann, Artist-in-Residence 2016 Ernst Kovacic und der Vorsitzende der Kurt-Weill-Gesellschaft, Thomas Markworth. Foto: Kurt Weill Fest

Für das Kurt Weill Fest 2016 sind die großen Linien gezogen. Intendant Michael Kaufmann stellte bei der Abschluss-Pressekonferenz mit dem Geiger Ernst Kovacic den nächsten Artist-in-Residence vor. Der Österreicher ist nicht ohne Bedacht gewählt: Er ist Vorstandsvorsitzender der Ernst Krenek Privat Stiftung in Krems (NÖ) – und Weill und Krenek sollen anlässlich des 25. Todestages des österreichischen Komponisten im Mittelpunkt stehen. Geplant sind Aufführungen von Weills „Der Zar lässt sich photographieren“ und Kreneks „Der Diktator“, mit denen die Zusammenarbeit mit dem Anhaltischen Theater unter seinem neuen Intendanten Johannes Weigand erneuert wird.

Fest steht auch, dass Kovacic das Erste Violinkonzert Kreneks spielt, das 1925 in Dessau uraufgeführt wurde. Mit 16.500 Besuchern hat das Weill Fest in diesem Jahr einen neuen Rekord erreicht; mit dem Theater Magdeburg und der Stiftung Moritzburg in Halle sind neue Kooperationspartner im Boot. Die Hoffnung, dass die Theater in Dessau und Magdeburg trotz der desaströsen Sparpolitik der Regierung von Sachsen-Anhalt neue Impulse für szenische Aufführungen von Bühnenwerken Kurt Weills setzen, ist laut Intendant Michael Kaufmann begründet. Von daher darf das 24. Kurt Weill Fest „Krenek, Weill & die Moderne“ mit Spannung erwartet werden. Und für das 25. Fest im Jahr 2017 – Kaufmann hat einen Vertrag bis 2018 – hört man schon von Plänen, die hoffnungsfroh stimmen.

Info: www.kurt-weill-fest.de




Die Kunst als Insel: Das Aalto-Theater zeigt „Die schweigsame Frau“ von Richard Strauss

Auf Brautschau: Sir Morosus (Franz Hawlata) macht die Bekanntschaft von Carlotta (Liliana de Sousa)

Auf Brautschau: Sir Morosus (Franz Hawlata) macht die Bekanntschaft von Carlotta (Liliana de Sousa)

Recht überschaubar ist die Zahl der Opernfans, die von sich behaupten können, „Die schweigsame Frau“ von Richard Strauss je auf der Bühne erlebt zu haben. Selbst im Essener Aalto-Theater, das Stefan Soltesz in seiner Zeit als Opernintendant und Generalmusikdirektor der Essener Philharmoniker zu einer wahren Strauss-Hochburg formte, stand die einzige komische Oper des Komponisten noch nie auf dem Spielplan.

Neben so wuchtigen, schillernden und opulenten Meisterwerken wie „Elektra“, „Salome“ und „Der Rosenkavalier“ wirkt „Die schweigsame Frau“ wie ein Fliegengewicht, das angenehm und unterhaltsam, aber ohne größeren Tiefgang vor sich hin plappert. Wenig schmeichelhafte Worte findet der Kritiker Ulrich Schreiber in seinem „Opernführer für Fortgeschrittene“: Das Werk sei ein „tönendes Flachrelief“, musikalisch oft nicht weit entfernt vom Kunstgewerbe.

Gleichwohl hat Soltesz’ Nachfolger Hein Mulders beschlossen, der „Schweigsamen Frau“ eine Chance zu geben. Mit der Regie beauftragte er den Flamen Guy Joosten, der am Aalto-Theater kein Unbekannter ist und an der Rheinoper Düsseldorf „Die Frau ohne Schatten“ in Szene setzte. Mit der „Schweigsamen Frau“ begibt er sich nun auf das tückische Terrain des scheinbar Leichten. Er hat sich auf eine Oper eingelassen, die zwischen allen Stühlen sitzt: für eine Operette ist sie zu wenig bissig, für eine „Buffa“ entwickelt sich die Handlung zu schleppend. Das Libretto von Stefan Zweig neigt zur Geschwätzigkeit, und nur allzu leicht klingen die zahlreichen musikalischen Zitate nach einer eher uninspirierten Collage.

R.Strauss | Die schweigsame Frau Premiere am 14.03.2015 | Aalto Opernhaus Essen

Wie den Schatz heben? Darüber grübelt die Operntruppe von Neffe Henry (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Indes berührt Joosten die spröde Schöne mit leichter, liebevoller Hand. Und oh Wunder: Das Stück beginnt zu atmen, ja sogar leisen Witz zu entwickeln. Maßgeblichen Anteil daran hat die Ausstattung von Johannes Leiacker, der das Heim des ebenso verschrobenen wie wohlhabenden Engländers Sir Morosus als einsame Insel samt Kakteen und Schatztruhe zeichnet. Durch Kriegserlebnisse stark lärmempfindlich geworden, will der alte Mann vor allem Ruhe um sich her. Am liebsten zöge er sich ganz zurück vom lauten Getriebe der Welt. Sinnfällig verweist das Bühnenbild so auch auf die Lebensgeschichte von Richard Strauss, der sich am liebsten ganz auf seine Kunst zurückgezogen hätte und sich doch tief mit führenden Nazi-Größen einließ.

Manch vermeintliche Schwäche der Komödie münzen Joosten und Leiacker flugs in eine Stärke um. In der Ouvertüre greifen sie das Mittel der Collage auf, indem sie Szenen aus bekannten Seefahrer- und Piratenfilmen amüsant auf die Musik zuschneiden. Das eher blass gezeichnete Personal der Oper wird bei Joosten und Leiacker zu einer Gruppe leichtlebiger Paradiesvögel. Die Haushälterin tritt auf wie eine Samba-Tänzerin. In der Operntruppe von Neffe Henry, der – welche Schande! – ein Tenor geworden ist, tummeln sich Stars und Sternchen aus unserer Zeit, Amy Winehouse inklusive.

Aminta (Julia Bauer) spielt die vermeintlich schüchterne Timidia (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Aminta (Julia Bauer) spielt die vermeintlich schüchterne Timidia (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

Das könnte platt wirken, wären die Kostüme nicht zu ironisch-elegant dafür. Der quirlige Barbier Schneidebart zieht die Strippen, als sei er eine Mischung aus Gaetano Donizettis „Malatesta“ und dem berühmten Faktotum aus Rossinis Oper. Er fädelt es ein, dass der alte Hagestolz Morosus sich auf die falsche Frau einlässt: nämlich auf Henrys Frau Aminta, die ihm als vermeintlich schüchterne Timidia den Kopf verdreht, nach der Hochzeit aber zum keifenden Hausdrachen mutiert. Wie das bunte Völkchen den verknöcherten Alten zur Räson bringt, ist durch das komödiantische Talent des Ensembles und durch gute sängerische Leistungen vergnüglich anzusehen und anzuhören.

Mit keinem Geringeren als Franz Hawlata (Sir Morosus, Bass) und mit der grandios höhensicheren Julia Bauer (Aminta, Sopran) verfügt die Produktion über zwei Hauptdarsteller, die der Produktion über den zuweilen pauschalen Plauderton des Librettos hinweg helfen. Martijn Cornet ist auch vokal ein schillernder Barbier, der bei guter Textverständlichkeit viel Esprit anklingen lässt. Michael Smallwood meistert die Tenorpartie des Henry nicht immer ohne Probleme, lässt aber keine grundsätzlichen Zweifel an seiner Leistung aufkommen.

Unter der nicht weiter auffälligen Leitung des Briten Martyn Brabbins zeigen die Essener Philharmoniker, dass sie sich noch immer gut auf die Partituren von Richard Strauss verstehen. Bei so viel Farbenreichtum und Differenzierungsvermögen fallen Patzer nicht weiter ins Gewicht, auch wenn ihnen ein Hornsolo in der Premiere zum Opfer fiel. Wer eine Repertoirelücke schließen möchte und „Die schweigsame Frau“ endlich einmal kennenlernen möchte, ist in Essen am rechten Platz.

Termine und Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-schweigsame-frau.htm




Europäische Spitzenliga: Daniel Harding und Renaud Capuçon in der Philharmonie Essen

Weltklasse-Geiger: Renaud Capuçon. Foto: Paolo Roversi

Weltklasse-Geiger: Renaud Capuçon. Foto: Paolo Roversi

Dass Richard Strauss sich selbst als Held seines Lebens gesehen hat, dröhnte uns in den letzten Wochen im Ruhrgebiet von beinahe jedem philharmonischen Standort entgegen. Die Komposition „Ein Heldenleben“ von 1898 stand in diesem Herbst schon in Düsseldorf, Duisburg und Dortmund auf dem sinfonischen Programm. Auch Daniel Harding ließ sich die Chance des Strauss-Jahres nicht entgehen und präsentierte in der Essener Philharmonie das monumentale Werk des 34jährigen, kombiniert mit dem Violinkonzert von Johannes Brahms.

Aber wie das Schwedische Radio-Symphonieorchester den Helden einmarschieren ließ, war dann doch einmalig: durchdrungen bis ins Detail, strukturbewusst und gleichzeitig sinnlich, beherrscht im Klang und gleichzeitig frei und gelöst. Nicht die Spur von den gern unterstellten lärmenden Geschmacklosigkeiten: Gerade in den faustisch anmutenden Sätzen, in denen die „Taten“ des „Helden“ geschildert werden, zeigt Harding mit den vortrefflichen Musikern, wie genial Strauss als Komponist gewesen ist. Solche tief gestaffelte und gleichzeitig spontan und klangsinnlich wirkende Arbeit mit dem Material erreicht zu dieser Zeit höchstens noch Gustav Mahler.

Das schwedische Orchester kann entspannt in der europäischen Spitzenliga mitspielen. Seit acht Jahren währt die künstlerische Partnerschaft mit Daniel Harding – zu spüren im Einverständnis der Musiker mit ihrem Dirigenten. Wie sorgsam Harding die Dynamik aufbaut, bis die Hörner strahlend das „Helden“-Thema bestätigen, zeugt von genauer Analyse, aber auch der Freude an der Wirkung der Musik.

Beherrschtes Spiel mit leisen Tönen

Die Schweden beherrschen das Spiel mit den leisen Tönen: feinste Abstufung statt krachende Wucht, Innenspannung im Piano statt extrovertiertes Getümmel, ausgearbeitete Kontraste statt vordergründiger Mischklang. Hervorzuheben sind die Solisten von den Harfen bis zum Fagott, die blendende Horngruppe, die samtweichen Tuben. Vor allem aber Konzertmeister Tomo Keller, der mit entspanntem, genau dosiertem Ton die zärtlichen Kantilenen erfüllte und auch die ironischen Brechungen gestaltete: Strauss‘ Gattin Pauline, die in den Violinsoli angeblich charakterisiert wird, war bekanntlich weniger eine schwärmerische Romantikerin als eine resolute, manchmal peinlich triviale Frau.

Tomo Keller war vor mehr als zehn Jahren Konzertmeister der Essener Philharmoniker und spielte auch in der Westdeutschen Sinfonia Leverkusen, bevor er über London und jetzt Stockholm eine internationale Karriere beschritt. 2005 brillierte er unter Stefan Soltesz in Essen mit dem Brahms-Violinkonzert. Dieses Epoche machende Konzert stand auch jetzt auf dem Programm – diesmal mit Renaud Capuçon als Solist.

Einverständnis auf glücklichem Niveau

Und der Franzose bestätigte seinen Rang: Die Rede vom „Ausnahme-Geiger“ ist in diesem Fall keine Plattitüde aus der PR-Abteilung. Schon der leuchtend schlanke, ebenmäßige, aber nicht polierte Ton überzeugt. Das Lagenspiel ist makellos, die Durchbildung figurierter Teile oder der „marcato“-Passagen des ersten Satzes ohne Fehl. Capuçon phrasiert ruhig atmend, ohne Hektik auch im dritten Satz, den Brahms ausdrücklich nicht zu lebhaft gespielt haben will. Jenseits all dieser geigerischen Vorzüge zeichnet sich Capuçon durch sein sensibles Eingehen auf das Orchester aus. Die Reaktionen bei gemeinsamen Einsätzen sind perfekt kalkuliert, die Dynamik in jeder Nuance abgestimmt.

Sicher: Ohne einen so umsichtigen Gestalter wie Daniel Harding wäre eine solche minutiös kontrollierte und dennoch wie selbstverständlich fließende und schwingende Interpretation nicht möglich. Einverständnis auf höchstem, glücklichem Niveau. Es bleibt festzuhalten: So energisch und feinsinnig, so klangvoll und dynamisch kontrolliert, so klug in der weiträumigen Anlage spielt das Konzert momentan kaum ein anderer. Glückwunsch an Renaud Capuçon für einen unvergesslichen Abend!




Philosophische Komödie: Richard Strauss‘ „Der Rosenkavalier“ in Krefeld

Ohne Rücksicht: Baron Ochs auf Lerchenau (Matthias Wippich) hat es auf das "Zoferl" der Marschallin abgesehen (Eva Maria Günschmann, Lydia Easley). Foto: Matthias Stutte

Ohne Rücksicht: Baron Ochs auf Lerchenau (Matthias Wippich) hat es auf das „Zoferl“ der Marschallin abgesehen (Eva Maria Günschmann, Lydia Easley). Foto: Matthias Stutte

An „Rosenkavalieren“ ist in diesem Strauss-Jahr 2014 wahrlich kein Mangel. Die jüngste Premiere ist nun aus Krefeld zu vermelden.

Düsseldorf hatte seine traditionelle Otto-Schenk-Inszenierung im Frühjahr wieder ausgegraben, Gelsenkirchen die 150-Jahrfeier der Geburt Richard Strauss‘ gar schon im Oktober vor einem Jahr begonnen (und jetzt mit der „Frau ohne Schatten“ erfolgreich fortgesetzt). In Dortmund wird die silberne Rose in der Regie des Hausherrn Jens Daniel Herzog ab 25. Januar 2015 überreicht. Und in Kassel, Frankfurt oder Weimar machen sich in den nächsten Monaten prominente Regisseure wie Lorenzo Fioroni, Claus Guth und Vera Nemirova an das oft als konservative Kehre im Wirken Strauss‘ verdächtigte Werk.

Aber das Bild einer vergangenen Zeit, mit „Fleiß und Mühe“ entworfen, hat schon der Librettist Hugo von Hoffmannsthal als Täuschung bezeichnet. Und das gilt auch für die Musik. So wienerisch nett sich die Walzertakte durch die Partitur wiegen: Sie sind doch eher Boten der grellen „Tanzmusi“ eines Gustav Mahler oder der verzerrten Dreiertaktgespenster eines Alban Berg als gemütvoller Rückblich auf Johann Strauß oder Joseph Lanner. Mihkel Kütson beharrt mit den Niederrheinischen Sinfonikern auf dieser sperrigen Lesart. Die Walzerseligkeit schwingt aufgeraut. Kein nostalgischer Goldblick, eher die innere Unruhe einer ins Gären geratenen Zeit.

1911 war ja noch alles „in Ordnung“. Und Strauss, mit der politischen Blindheit des karrierebesessenen Großbürgers geschlagen, ist sicher nicht der Mann, den man zum ausschlagenden Seismographen künftiger Verwerfungen adeln sollte: Er hat weder die Zeitwende 1914/18 erkannt noch bemerkt, wie sich mit dem verachteten und dennoch hofierten braunen Pack die finale Exekution ungebrochenen bürgerlichen Selbstverständnisses anbahnte. Aber bei Hoffmannsthal, da schwingt doch etwas mehr mit als die versonnene Philosophie der Zeit, die der alternder Marschallin so balsamisch von den Lippen fließt.

Die Zeit, das seltsame Ding: Szene aus dem ersten Aufzug der "Rosenkavalier"-Inszenierung von Mascha Pörzgen in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Die Zeit, das seltsame Ding: Szene aus dem ersten Aufzug der „Rosenkavalier“-Inszenierung von Mascha Pörzgen in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Regisseurin Mascha Pörzgen und ihr Bühnenkünstler Frank Fellmann kaprizieren sich nicht auf das Balancieren einer vermeintlich heilen Welt am Rande des Abgrunds. Sie sehen im „Rosenkavalier“ auch die Komödie, selbst wenn sich noch vor Beginn der Handlung ein riesiger Schatten über das halbdunkle Boudoir der Marschallin legt und ein Scheinwerfer nach einer der Uhren auf dem Wandsims fingert. Bestimmendes Element ist eine Kunstuhr, auf der ein Alter eine Stunde markiert, die mit dem zweiten Zeiger, einer güldenen Sonne, nicht vereinbar ist. Auf die Zeit verweist auch ein astronomischer Globus neben dem Bett der Marschallin, der Armillarsphäre Galileo Galileis ähnlich.

Standesdünkel, ins Räumliche gesteigert: Die Bühne von Frank Fellmann für den zweiten Aufzug des Krefelder "Rosenkavalier". Foto: Matthias Stutte

Standesdünkel, ins Räumliche gesteigert: Die Bühne von Frank Fellmann für den zweiten Aufzug des Krefelder „Rosenkavalier“. Foto: Matthias Stutte

Eine Idee von Prater und Jahrmarkt vermitteln die Kulissen im dritten Akt: Bewusst als solche eingesetzt, erinnern sie mit Wölkchen und Putten an die Dekors alter Karussells oder an die Wunderkabinette reisender Scharlatane.

Im zweiten Akt dagegen ist die Komödie von anderer Natur: Der Empfangssalon Faninals, tapeziert mit dem ins Riesige gesteigerten Adelsprädikat Kaiser Franz Josephs, steht für die begrenzte Weltsicht des neu gekürten Edlen. Fellmann bricht das enge Halbrund auf, wenn er für den Auftritt des Rosenkavaliers eine spiegelnd polierte Rampe in die aufklaffenden Wände einfahren lässt. Ein Steg in einen weiten Raum, der die Welt des biederen Faninal – in der Begegnung von Sophie und Octavian – endgültig transzendiert.

Mascha Pörzgen hat die komödiantischen Anteile zwar präsent gesetzt, aber nicht ausgebreitet; es ging ihr nicht um Ochsen-Klamauk und Beisl-Chaos. Gerade im dritten Akt zeigt sie das „Inszenierte“ an der Farce, die dem Baron auf Lerchenau vorgegaukelt wird. Da bemüht sich der junge Graf Rofrano überhaupt nicht, in die Rolle des „Mariandl“ zu schlüpfen, legt seine selbstbewusste Art des Verhaltens und Sprechens nicht ab. Schlechte „Comödi“ eben. Umso sensibler achtet Pörzgen aber auf die Wandlungen und die inneren Spannungen der Personen. Im ersten Akt etwa auf die emotionalen Wechselbäder des „Quin-quin“, zwischen pubertärer Schwärmerei und zu Tode betrübter Desillusionierung. Im dritten enthüllt Pörzgen, dass es dem jugendlichen Liebhaber der Marschallin nicht leicht fällt, auf die erfahrene, ältere Frau zu verzichten: Das Ringen um eine Entscheidung wird ihm nicht abgenommen.

Die Regisseurin hat ihre Arbeit aus den Figuren heraus entwickelt – eine heute nicht mehr selbstverständliche Kunst feiner Andeutungen, ein Verzicht auf allzu plakative Visualisierungen und allzu eindeutige Zuweisungen. So hat der Charakter der Marschallin etwas Schwebendes: Lydia Easley verkörpert eine Frau an einem Scheideweg ihrer Existenz, der sie bewegt, aber nicht haltlos macht. Easley hat im ersten Aufzug Mühe, mitzuhalten; vor allem, wenn sie der Dirigent mit Lautstärke bedrängt und sie einen nicht ausreichend gestützten, soubrettig grundierten Ton einsetzt. Aber mit ihrem Monolog und mit den Schlüsselstellen in den folgenden Akten gelingen Easley überzeugende Momente. Und als Gegenspielerin des Barons ist sie voll selbstbewusster Würde und Entschiedenheit.

Nahezu ideal: Eva Maria Günschmann (rechts) als Octavian, mit Linda Easley als Marschallin. Foto: Matthias Stutte

Nahezu ideal: Eva Maria Günschmann (rechts) als Octavian, mit Linda Easley als Marschallin. Foto: Matthias Stutte

Mit Eva Maria Günschmann hat Krefeld einen nahezu idealen Rosenkavalier; ein körperlich präsenter, gesanglich tadelloser Octavian, fähig zu nuancierter Charakterisierung, gesegnet mit einem exquisiten Timbre und einem leicht strömenden, unaffektierten Mezzo. Sophie Witte ist ihr eine ebenbürtige Partnerin mit ihrem leichten, klanglich erfreulich unverdünnten Sopran. Diese Sophie, das macht Witte mit leuchtender Stimme klar, hat einen unbeugsamen Charakter, mit dem sie dem Geschacher um Stand und Stolz aufrecht entgegentritt.

Für Matthias Wippich ist der Ochs eine Paraderolle. Nicht nur das künstliche Wiener Idiom beherrscht er vortrefflich; er kann auch mit der Tiefe spielen und im Zentrum die Farben seiner Stimme für geflissentlich annektierte Eleganz und sich entladende Grobheit einsetzen. Nur die Höhe dürfte weniger steif klingen, solider fundamentiert sein. Ganz und gar brünstiger Jupiter und von keinen Skrupeln geschlagen, stürzt er sich sogleich auf das „Zoferl“, lässt – auch ohne Rücksicht auf die Marschallin – nicht locker. Und im dritten Akt – hervorzuheben die bildkräftige, gekonnte Deklamation Wippichs – will er bis zum Schluss partout nicht verstehen, was er denn nun falsch gemacht haben könnte: Des Lerchenaus Charakter hat etwas selbstgefällig Brutales, das fürchten macht.

Krefeld muss sich auch in der Besetzung der weniger umfangreichen Partien nicht verstecken, bis hinein in die stumme Rolle des illegitimen Ochsen-Sohns Leopold (Ruben Knors). Markus Heinrich und Satik Tumyan sind ein zwischen Matrone und Mafia angesiedeltes „wälsches“ Gaunerpaar; Hayk Dèinyan ein anständiger Kommissarius, Sun-Myung Kim und James Park zwei geschäftige Haushofmeister. Debra Hays wirkt als Leitmetzerin angemessen schrill; der Sänger Kairschan Scholdybajew, ein goldgesichtiger Automat, wird von seinem Flötisten (Alexander Betov) sorgfältig aufgezogen wie Offenbachs Olympie in „Hoffmanns Erzählungen“. Sein italienischer Schmelz vertrüge allerdings noch etwas Öl. Auch Hans Christoph Begemann könnte als Faninal noch ein paar Facetten mehr ausarbeiten.

GMD Mihkel Kütson meidet mit den Niederrheinischen Sinfonikern den üppigen Wohlklang mit der Folge, dass sich die raffinierten Strauss’schen Klangmischungen eher spröde als magisch einstellen. In den – zu lauten – Eröffnungstakten leisten sich die Bläser merkliche Unsauberkeiten, die sich im ersten Akt immer wieder in belegter oder spitzer Tongebung fortsetzen. Allmählich formt sich der Klang, klärt sich die Balance, ohne freilich zu jenen ausgesuchten Mischungen zu finden, die man, des kühlen Kopfes ungeachtet, in den Momenten verinnerlichter Lyrik doch zu finden wünscht.

Alles in allem ein höchst beachtlicher „Rosenkavalier“, der sich im Vergleich behaupten wird. Das Theater Krefeld-Mönchengladbach hat wieder einmal gezeigt, dass es seinen künstlerischen Anspruch auf solide gesichertem Niveau behaupten kann.

Weitere Informationen:

http://www.theater-kr-mg.de/spielplan/musiktheater/der-rosenkavalier.htm




Empörung auf der Bühne, Verärgerung im Parkett: „Ariadne auf Naxos“ an der Rheinoper

Der Komponist (Maria Kataeva) sieht die Uraufführung seines neuen Werks in Gefahr (Foto: Hans Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein)

Der Komponist (Maria Kataeva) sieht die Uraufführung seines neuen Werks in Gefahr (Foto: Hans Jörg Michel)

Selten so ein dämliches Gesicht gesehen. Schon gar nicht auf einer Opernbühne. Dabei hat „Ariadne auf Naxos“ doch gerade erst begonnen. In der Titelpartie verzehrt sich die Primadonna vor Kummer über den Verrat des Theseus, kehrt sich in bitterem Schmerz von der Welt ab – und Truffaldin, ein Komödiant aus der Gruppe der leichtlebigen Zerbinetta, glotzt dumpf verständnislos wie ein RTL II-Fan, der versehentlich 3sat eingeschaltet hat. Womöglich hielt er Ariadne bislang für eine Meerjungfrau. Und Theseus für ein Wörterbuch.

Mit derlei Unvereinbarkeiten spielt Dietrich Hilsdorf in seiner ersten Strauss-Inszenierung, die er jetzt an der Rheinoper in Düsseldorf realisiert hat. Es ist, als habe der Regisseur mit „Ariadne auf Naxos“ ein ideales Gefäß für seine reiche Theater-Erfahrung gefunden. Das unbequeme Zwitter-Werk, das seine eigene Entstehung zum Thema erhebt und wie ein Irrlicht zwischen Schauspiel, Buffa-Komödie und Opera Seria schwankt, bietet ihm eine perfekte Vorlage für eine Persiflage über das Theater am Theater.

Natürlich ist das schon oft versucht worden, aber zickende Primadonnen, eitle Tenöre, renitente Orchestermusiker und herrschsüchtige Intendanten sind als Stoff zumeist rasch erschöpft. Hilsdorf hingegen eröffnet ein viel weiter gefasstes Panorama. Genüsslich spießt er auf, was uns auch heute sattsam bekannt vorkommt: solvente Geldgeber mit geringem Kunstverstand, erstaunlich unversöhnliche Verfechter der ernsten und der unterhaltenden Muse, sowie ein Publikum, dem ein Feuerwerk und ein feines Dinner ungleich wichtiger sind als die Musik, ohne die es ein sehr netter Abend hätte werden können.

Um die aus wenigen Holzbrettern zusammen gezimmerte Stehgreifbühne herum, die auf die italienische Commedia dell’arte verweist, bringt die Regie die Figuren mit Lust zur Weißglut (Bühne: Dieter Richter). Bis auf den blasierten Haushofmeister, Sprachrohr des mächtigen Geldgebers, ärgern sich eigentlich alle über die Zumutungen, die sie beim Einstudieren der Oper ertragen müssen. Der Haushofmeister seinerseits scheucht das reale Publikum der Rheinoper mehrfach von den Sitzen hoch, um den Willen seines Herrn über ein mitten im Parkett platziertes Mikrophon zu verkünden. Da heben sich Augenbrauen, da gibt es genervte Blicke, da reagieren die realen Operngäste mit genau der mühsam unterdrückten Empörung, die auf der Bühne schon längst dominiert. Also wirklich. Muss denn das sein?

Der Harlekin (Dmitri Vargin) tröstet die Primadonna (Karine Babajanyan. Foto: Hans Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein)

Der Harlekin (Dmitri Vargin) tröstet die Primadonna (Karine Babajanyan. Foto: Hans Jörg Michel)

Es ist erstaunlich, mit welch leichter Hand Hilsdorf das dissoziative Gesamtkunstwerk der Ariadne plausibel macht. Mit Hilfe der Beleuchtung (Volker Weinhart) trennt er Vorspiel und Oper, um sie später kunstvoll ineinander zu weben. Der Charakter des unvollendeten Meisterwerks inspiriert ihn zu einem quirligen Spiel, dessen Details hier nicht alle verraten werden sollen.

Gesungen wird nämlich auch noch, und das exzellent. Karine Babajanyan ist eine wunderbare Primadonna, die uns Ariadnes Schmerzen ebenso tief und glutvoll fühlen lässt wie ihren Jubel über die Begegnung mit Bacchus. Elena Sancho Pereg zeigt nicht nur stimmliche Artistik: Als lebenslustige Zerbinetta schraubt sie sich mit soubrettenleichtem Sopran in den Koloraturhimmel, schlägt auf der Bühne Rad und rutscht nach ihrer Bravourarie flugs noch in den Spagat. Maria Kataeva bringt uns die Bedrängnis des Komponisten mit Ausbrüchen nahe, die vor Zorn beben, während ihrem Parlando zuweilen eine gewisse Spröde anhaftet. Heldisch helle Kraft verströmt der Tenor von Roberto Saccà, der die gefürchtete Partie des Bacchus mit Bravour meistert. Ariadnes Najaden, Zerbinettas Harlekine und viel Theaterpersonal wuseln in steter Geschäftigkeit um diese Hauptfiguren herum.

Einige akustische Probleme bereitet die Platzierung der Düsseldorfer Symphoniker, die hinter einem Gazevorhang im hinteren Teil der Bühne musizieren. Unter der Leitung von Axel Kober gewinnt das Kammerensemble nach und nach einen glänzenden, elegant-biegsamen Klang.

(Termine und Informationen: http://www.operamrhein.de/de_DE/events/detail/12278019/)




Vom Grauen des Krieges: Gelsenkirchen zeigt „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss

Gudrun Pelker (Amme) und die Kaiserin (Yamina Maamar (Foto: Karl Forster/MiR)

Gudrun Pelker (Amme,l.) und die Kaiserin (Yamina Maamar (Foto: Karl Forster/MiR)

Diese Oper ist eine in Töne gegossene Überforderung. „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss verlangt ein mit rund 100 Musikern besetztes Orchester samt Orgel, Glasharmonika, chinesischen Gongs, TamTams, Wind- und Donnermaschine, einem Bläserseptett hinter der Szene und zwölf Blechfanfaren.

Hinzu kommen fünf stimmgewaltige Solisten für die Hauptpartien, Chöre und Kinderchöre sowie zahlreiche Statisten. Maßlos auch in ihren musikalischen Anforderungen, wurde die Märchenoper zu Strauss’ Lebzeiten öfter abgesagt als aufgeführt. Jetzt hat Gelsenkirchens Musiktheater das Renommierstück auf seinen Spielplan gehoben. Mit einer zuvor bereits in Kassel gezeigten Inszenierung seines Intendanten Michael Schulz startet das Haus höchst ambitioniert in die neue Spielzeit.

In der Region war „Die Frau ohne Schatten“ zuletzt am Essener Aalto-Theater zu sehen. Fred Berndt ließ sie dort auf einer zeitlosen Drehscheibe im Zeichen des Yin und Yang spielen. Bei Michael Schulz wird der monumentale Dreiakter zum düsteren Kriegsstück, überschattet von seiner Entstehungszeit zwischen 1913 und 1917. Der Kaiser ist ein ganz realer Herrscher: Zu Stein wird er nicht so sehr deshalb, weil die Kaiserin keinen Schatten wirft – also keine Kinder bekommen kann – sondern durch die fortschreitende Brutalität, mit der er seinen Machtanspruch behauptet. Der Färber Barak und seine Frau mühen sich mit einem Berg von Militärmänteln ab. Der Hurra-Patriotismus des Volkes, das im ersten Akt noch fleißig Fahnen schwenkt, wird alsbald von deprimierender Not gedämpft.

Die Färberin (Sabine Hogrefe) träumt von einem besseren Leben (Foto: Karl Forster/MiR)

Die Färberin (Sabine Hogrefe) träumt von einem besseren Leben (Foto: Karl Forster/MiR)

Wer diesen Regie-Ansatz als Trittbrettfahrerei im aktuellen Gedenkjahr abtun möchte, hat indes Unrecht, denn die faszinierend enigmatische Parabel von der Menschwerdung gewinnt aus dieser Perspektive neue Bedeutung. Sie berührt Fragen, die aktuell geblieben sind: Wie sehr und aus welchen Gründen werden Kinder eigentlich gewünscht? In welcher Welt werden künftige Generationen groß? Die pazifistische Botschaft des Stücks wirkt durch diesen Ansatz nicht wie sonst wolkig und lebensfern, sondern quälend und dringlich.

Das lähmende Grauen, das von dem unsichtbaren Geisterfürsten Keikobad ausgeht, entspricht den Monstrositäten eines Krieges, der dem Verstand ähnlich unbegreiflich bleibt. Mag die Inszenierung auch ein paar Schwachstellen haben, wenn allzu ausgiebig an Wunden gelitten wird oder ein eher sinnfreies Stühlerücken anhebt, entlockt sie der Partitur Bilder, die mal tief berühren, mal mächtig an den Nerven rütteln. Ohne sich in der rätselhaften Symbolik des Werks zu verstricken, zeichnet sie den Weg zweier Paare nach, die wie in der „Zauberflöte“ harte Prüfungen bestehen müssen, um (wieder) zueinander zu finden.

Mit Bezug auf Mozart zitiert die Bühne von Dirk Becker zunächst den berühmten Schinkel-Sternenhimmel, der von einem zeltartigen Vorhang freilich recht lieblos verunstaltet wirkt. Dafür wird das zweite Bild zum großen Wurf: eine Halle aus Glas und Metall, in der Arbeit und Elend nahe beieinander liegen. Düster und transparent zugleich, birgt sie Türen, Treppen und eine Brücke. Geister- und Menschenwelt treffen hier aufeinander, und es fragt sich nicht selten, welche von beiden gruseliger ist.

Im Orchestergraben, es ist kaum zu glauben, schafft die Neue Philharmonie Westfalen tatsächlich die große Synthese, die Strauss in „Die Frau ohne Schatten“ anstrebte. Die unbarmherzige Wucht der Elektra, das schillernde Farbenspiel der Salome, die kammermusikalische Feinheit der Ariadne und sogar der melodische Reichtum des Rosenkavaliers entfalten sich unter dem verblüffend ruhigen, gestisch eher sparsamen Dirigat von Rasmus Baumann, der seiner Lieblingsoper selbst in den wuchtigsten Klangeruptionen eine Aura der Transparenz lässt. Die klangliche Überfrachtung der Partitur wird so zum vielschichtigen, aufregenden Erlebnis.

Die zunehmende Brutalität des Kaisers (Martin Homrich) führt schließlich zu seiner Versteinerung (Foto: Karl Forster/MiR)

Die zunehmende Brutalität des Kaisers (Martin Homrich) führt schließlich zu seiner Versteinerung (Foto: Karl Forster/MiR)

Von den fünf kapitalen Hauptpartien sind die männlichen etwas schwächer besetzt als die weiblichen. Martin Homrich gibt dem Kaiser einen hellen, häufig unfokussiert flackernden Tenor mit einigen Intonationsproblemen. Urban Malmberg lässt seinen Bariton in der Rolle des Färbers Barak durchaus balsamisch strömen, kann im finalen Jubel aber keine Reserven mehr aktivieren. Das sieht bei den Sängerinnen anders aus: So keifend Sabine Hogrefe als Färberin auch ihrer Frustration Luft macht, so besitzt sie am Ende noch genug Kraft für den Wandel zu glühender Reue. Gudrun Pelker lässt die Stimme der Amme zwischen diabolischen Tiefen und schneidendem Kommandoton flackern, dass es manche Gänsehaut garantiert.

Und dann ist da noch Yamina Maamar: eine würdige Kaiserin, die von den erdenfernen Höhen des ersten Aktes an zu Tönen einer wachsenden Empathie für alles Menschliche findet. Da setzt sich eine Wärme durch, ein mitfühlendes Wissen, aus dem heraus die Kaiserin lieber auf ihr persönliches Streben nach Glück verzichtet, als zwei ohnehin geschundenen Menschen die letzte Chance darauf zu nehmen. Unerwartet, wahrscheinlich für sie selbst überraschend, schüttet diese große Frau das vermeintlich rettende Wasser des Lebens weg. „Ich will nicht“: Diese drei leisen Worte des Verzichts führen letztlich zur Erlösung.

Es gibt noch fünf Folgetermine: 5. und 19. Oktober, 2. und 14. November, 13. Dezember. Informationen: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/FrauOhneSchatten/




Schöne Stellen und irritierende Tempi – Gabriel Feltz und die Dortmunder Philharmoniker

Gabriel Fels steht seit einem Jahr als Chefdirigent am Pult der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures

Gabriel Feltz steht seit einem Jahr als Chefdirigent am Pult der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Thomas Jauk/Stage Pictures

Gabriel Feltz ist nun seit einem Jahr Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker. Zu Beginn seiner Amtszeit, im Spätsommer 2013, hat er mit dem Orchester Beethovens „Pastorale“ und Richard Strauss’ „Alpensinfonie“ interpretiert. Und während die Musik des Wiener Klassikers noch eher harmlos daherkam, atmete das Werk des spätromantischen Orchestrierungsmeisters revolutionären Geist. Hier ging es nicht mehr um alpine Idylle oder Naturmystik, sondern um Leben und Tod, Himmel und Hölle. Anders gesagt: Es ging ums Ganze.

Dirigent und Philharmoniker musizierten mit offenem Visier. Auch um den Preis, dass manche Schwäche offenbar wurde, etwa seltsame Ungereimtheiten hinsichtlich Tempo und Dynamik, sowie bisweilen der Mangel an Transparenz. Schnell konstatierten kundige Beobachter im Laufe dieser ersten Saison, dass Feltz eher dem Credo der Langsamkeit diene. Dies konnte, sei es bei Wagners „Tannhäuser“ oder bei Bruckner, bis hin zur lästigen Zerfaserung ausufern.

Andererseits ist der Dirigent, mit jedem kleinsten Fingerzeig seines Bewegungsvokabulars, offenbar auf alle Schönheit einer Partitur geradezu versessen. Was dann eben seine Zeit braucht. Und nicht unterschlagen sei, dass sein Carmen-Dirigat vor Energie nur so strotzte, die Musik Charme wie Esprit ausstrahlte, so licht wie dramatisch an uns vorbei sauste. Das Orchester schien beinahe wie verwandelt.

Nach dieser durchaus gemischten Bilanz lohnt der Blick auf die neue Saison allemal. Weil Feltz und sein Orchester uns auch einen Vergleich erlauben. Denn  diesmal stehen, zum 1. Philharmonischen Konzert der Spielzeit, wiederum Beethoven (2. Leonoren-Ouvertüre) und Strauss (Ein Heldenleben) auf dem Programm. Besondere Beachtung verdient darüberhinaus Viktor Ullmanns Klavierkonzert aus dem Jahr 1939, hier gespielt von dem jungen Pianisten Moritz Ernst. Das Programm trägt im übrigen den Titel „helden_haft“, passend zu jenen wahren, Möchtegern- und verzweifelten Helden, die an diesem Abend im Konzerthaus Dortmund musikalisch verhandelt werden.

Szene aus dem 3. Akt der Oper "Fidelio" (Leonore), Théâtre Lyrique, Paris, 1860. Foto: Bibliothèque nationale de France

Szene aus dem 3. Akt der Oper „Fidelio“ (Leonore), Théâtre Lyrique, Paris, 1860. Foto: Bibliothèque nationale de France

Bei Beethoven ist der wahre Held eine Frau. Leonore, die unter dem falschen Namen Fidelio ihren Mann Florestan im Kerker vor dem Tode bewahrt. Dunkles Raunen steht in der Ouvertüre für die Verzweiflung im Verlies, Feltz zelebriert es, in schönen dynamischen Abstufungen. Doch bisweilen, im Fortgang, scheint die Musik wie eingefroren, wie im luftleeren Raum schwebend. Erst langsam steigern sich Bewegung und Dramatik, das Klangbild ist dabei nicht immer plastisch.  Die hektischen Phrasen aber, kurz vor den signalhaften Trompetentönen, zeugen von atemloser Spannung. Dann jedoch beschränken sich Orchester und Dirigent auf einen eher gezähmten Jubel über den Triumph der Freiheit.

Davon kann bei Viktor Ullmann nicht die Rede sein. Der österreichische Komponist wurde 1944 in Auschwitz ermordet. Das Klavierkonzert entstand fünf Jahre zuvor in Prag, wurde aber ob der schrecklichen Umstände erst 1992 uraufgeführt. Die Musik ist zumindest teilweise ein Spiegel von Ullmanns rastlosem Lebensweg, der im Grauen endete. Verfolgung, Verzweiflung, auch bitterer Sarkasmus finden sich, andererseits lyrisch-romantische Passagen, die wie eine Reminiszenz an gute alte Zeiten wirken.

Der Pianist Moritz Ernst gilt als Experte für die Klaviermusik Viktor Ullmanns.Foto: Michael Baker

Der Pianist Moritz Ernst gilt als Experte für die Klaviermusik Viktor Ullmanns. Foto: Michael Baker

Und es ist erstaunlich, wie sehr das Orchester sowie der vorzügliche Pianist Moritz Ernst die Stimmungen in aller Klarheit nachzeichnen. Aufregend attackierend der Beginn, fein das lyrische Fortschreiten in regelmäßigem Puls, frech der skurrile, scherzohafte Teil à la Mahler, versehen mit einer Prise Jazz. Der Solist, der ganz unspektakulär zu Werke geht, entpuppt sich allerdings als unerbittlicher Rhythmiker. Bar jeden virtuosen Gehabes erschließt er uns besonders die bedrohliche Atmosphäre des Stücks. Die Dortmunder Philharmoniker wiederum sind Partner auf Augenhöhe.

Bleibt Richard Strauss’ „Heldenleben“. Feltz scheint mit seinem Dirigat an die Interpretation der „Alpensinfonie“ anzuknüpfen. Was Ironie, was Glanz – geht es doch in erster Linie um Kampf. Und dabei oft um Überzeichnung. Das Holzbläserplärren (Des Helden Widersacher) hat mehr beleidigenden denn humoristischen Charakter. Die große Schlacht ist ein wütendes Lärmen der Welt. Feltz’ athletisches Dirigieren hat etwas vom Agieren eines Dompteurs. Doch muss, um im zirzensischen Bild zu bleiben, der Tiger gleich durch drei brennende Reifen springen?

Zuviel, zuviel: Dieser Held ist ein Narziss, der es in allem übertreibt. Das schränkt, musikalisch gesehen, die Durchhörbarkeit spürbar ein. Die Strauss’sche Klangschönheit, aus der Leidenschaft heraus, kommt zu kurz. Einiges lässt immerhin aufhorchen: die Präzision der Horngruppe etwa oder der balsamisch dunkle Ton der Soloklarinette. Schön gestaltet auch das Violinsolo (Des Helden Gefährtin). Doch der Dialog mit dem Orchester kehrt sich ob breiter Tempi zu einem doppelten Monolog um.

Ein Jahr also ist Gabriel Feltz nun Leiter der Dortmunder Philharmoniker. Er hat seine eigenen Vorstellungen. Worauf das, was die Entwicklung des Orchesters angeht, hinauslaufen soll, ist bisher kaum zu erkennen. Das Potenzial des Klangkörpers jedenfalls ist enorm. Doch noch wechseln überzeugende Abende mit enttäuschenden.




Heldenleben und Geigenlyrik – Start der Konzertsaison in Düsseldorf und Duisburg

Spielzeitauftakt in Düsseldorf und Duisburg. Zwei Mal „Heldenleben“, zwei Violinkonzerte: Der Vergleich zwischen den Düsseldorfer Symphonikern und den Duisburger Philharmonikern liegt nahe.

Die Düsseldorfer feiern nach dem Abschied von Andrey Boreyko den zweiten Teil ihres 150-Jahre-Jubiläums ohne Generalmusikdirektor; bei den Duisburger Philharmonikern wirkt GMD Giordano Bellincampi, der 2012 den Posten von Jonathan Darlington übernommen hatte, inzwischen prima etabliert. Sorgen hat das Orchester aber wegen seiner Spielstätte: Die Mercatorhalle wird erst Ende 2015 wieder zu bespielen sein. Bis dahin hat der Klangkörper seine Heimstatt im Theater am Marientor gefunden.

Duisburg: das Theater am Marientor, bis Ende 2015 Spielstätte der Duisburger Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Duisburg: das Theater am Marientor, bis Ende 2015 Spielstätte der Duisburger Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Dieses ist als Musicaltheater nicht optimal, aber „wir haben mit unseren Technikern eine tragbare Lösung gefunden“, berichtet Intendant Alfred Wendel. Bei Strauss‘ „Heldenleben“ konnte man sich davon überzeugen: Die komplexe Struktur der Tondichtung war einwandfrei durchhörbar, der Klang des Orchesters kam rund und detailreich auch bei den hinteren Plätzen an. Zudem sind die Sessel sehr bequem: Kein Grund also, die Duisburger wegen ihrer Spielstätte zu meiden.

Auch künstlerisch animierte das Eröffnungskonzert der Abo-Reihe zum Wiederkommen: Bellincampi lässt einen Strauss mit deutlich mehr Konturen, mehr Trennschärfe in den Registern, delikateren dynamischen Abstufungen spielen als zwei Tage zuvor Gastdirigent Alexandre Bloch bei den Düsseldorfer Symphonikern in der traditionsreichen Tonhalle.

Bellincampi staffelt Streicher und Bläser klanglich, ohne den Reiz der Mischung durch zu harte Reibungen zu beeinträchtigen, sorgt für treffsicher gesetzte Akzente, für herrlich weit ausgezogene Linien, für ätherische Pianissimo-Stimmungen und filigrane Geflechte etwa zwischen Bläsern, Streichern und Harfen in „des Helden Weltflucht“.

In Düsseldorf stand das „Heldenleben“ auf den Tag genau 66 Jahre nach dem Tod Richard Strauss‘ auf dem Programm des ersten Sinfoniekonzerts „Sternzeichen 01“. Alexandre Bloch geht mit etwas mehr auffahrender Energie als sein Duisburger Kollege an die Herkules-Aufgabe heran, lässt das Pathos kalkuliert und damit noch frappanter wirken. Die skurrilen Einwürfe der Holzbläser im zweiten Satz – wenn „des Helden Widersacher“ zu Wort kommen – lässt er nicht so vornehm gerundet gellen, krächzen und furzen wie Bellincampi in Duisburg.

Bloch schärft das Zärtliche und das Burleske. Aber vor allem im vierten Satz erschlägt er die Konturen und die dynamischen Zwischenstufen in dröhnendem Klang. Findet er im dritten Satz den typisch leuchtenden Strauss-Ton („Rosenkavalier“!), hat er im vierten keinen Sensus für das Wechselspiel von Steigern und Entspannen. Ungeniertes Pathos auch am Ende: Das „Heldenleben“ endet in brachialen Choralmassen – vielleicht angemessen für Strauss, der sich selbst ja stets als den „Helden“ seines Daseins empfunden hat und von Selbstzweifeln, so weit wir das wissen können, nicht angekränkelt war.

Strauss schrieb in seine Tondichtung dankbare Aufgaben für den Konzertmeister des Orchesters ein: Dragos Manza erfüllte die Soli in Düsseldorf mit leuchtendem, substanzvollem Ton, feierlich und flink, zärtlich und zurückgenommen, im letzten Satz mit einer bezaubernd beruhigten Kantilene, die wiederum an den „Rosenkavalier“ erinnert.

In Duisburg wählte Siegfried Rivinius einen leichten, filigranen, locker geführten Klang, der sich im dritten Satz gefühlvoll, aber bestimmt gegen die dunkel grundierten Piano-Akkorde des Blechs und der tiefen Streicher durchsetzt. Diese Strauss-Gattin – man sieht in der Solovioline ein Porträt von Pauline de Ahna – bezirzt ihren Richard schmeichelnder und lyrischer als die saftig-erotischere Version in Düsseldorf.

Der Eingangsbereich der 1925/26 erbauten Düsseldorfer Tonhalle mit der Büste Clara Schumanns im Vordergrund. Foto: Werner Häußner

Der Eingangsbereich der 1925/26 erbauten Düsseldorfer Tonhalle mit der Büste Clara Schumanns im Vordergrund. Foto: Werner Häußner

Doch nicht genug des Geigen-Genusses: In beiden Konzerten spielten Solistinnen Höhepunkte des Violinrepertoires: Midori brillierte in Düsseldorf mit Alban Bergs Konzert; Chloë Hanslip empfahl sich in Duisburg mit Brahms. Midori – im Gegensatz zu den glatten Mädchenfotos der Werbung eine zierliche, elegante Dame – nimmt den Untertitel „Dem Andenken eines Engels“ zur Richtschnur ihrer Interpretation: Vom sanften, aus kaum hörbarem Pianissimo ansteigenden Beginn bis zum verklärt ätherischen Verklingen bleibt sie in der Sphäre einer lyrischen Innerlichkeit; auch der intensivierte, mit schönem Vibrato geadelte Ton führt selbst am Rand des Todesabgrunds nicht über die gefassten Grenzen hinaus: Hier kämpft kein Mensch mit dem Tod – Berg hat sein Werk im Andenken an die erst 18jährige Manon Gropius geschrieben, die an Kinderlähmung starb –, hier geht eine schöne Seele von einer Existenzebene in die andere. Das Aufbegehren, die fahle Resignation, der Schrecken und das Ergeben sind stets gekleidet in einen entschärften, unendlich delikat geformten Ton.

Chloe Hanslip und GMD Giordano Bellincampi beim Sinfoniekonzert der Philharmoniker. Foto: Sabine Smolnik

Chloe Hanslip und GMD Giordano Bellincampi beim Sinfoniekonzert der Philharmoniker. Foto: Sabine Smolnik

Auch Chloë Hanslip hütet sich in Duisburg davor, das Brahms’sche Violinkonzert dramatisch aufzuladen. Den „pastoralen Charakter“ führt die 1987 geborene englische Geigerin konsequent durch, trotz – oder sogar gegen – die markanten Rhythmisierungen des Seitenthemas. Hanslips Ton ist so gekonnt kontrolliert, dass er stets locker und frei bleibt: Es gibt keine forcierten Figurationen, keinen angestrengt aufgeladenen Klang. Hier nimmt sich jemand bewusst zurück, um der Musik Johannes Brahms‘ zu dienen: Bedacht eher auf die Integration in die formvollendeten Verläufe des Dialogs von Solist und Orchester als bestrebt, sich mit Expression in der Vordergrund zu spielen.

Doch diese Art, die etwa in Hanslips Aufnahme zweier Violinkonzerte von Max Bruch jedem fetten Sentiment entgegenwirkt, führt bei Brahms auf Dauer zu reizlosem Ablauf. Technisch makellos, strukturell durchdacht, aber entvitalisiert und langatmig. Etwas mehr Temperament statt englischer Contenance, und Hanslip könnte mit Brahms voll überzeugen.

Ausblicke auf die Konzertsaison 2014/15

Duisburgs GMD Giordano Bellincampi. Foto: Duisburger Philharmoniker

Duisburgs GMD Giordano Bellincampi. Foto: Duisburger Philharmoniker

Mit der Violine geht es bei den Duisburger Philharmonikern im Januar 2015 weiter, wenn Frank Peter Zimmermann – berühmter „Sohn der Stadt“ – das Sibelius-Konzert spielt. Und mit Kolja Blacher hat das Orchester auch einen geigenden „Artist in Residence“ für diese Spielzeit: Blacher spielt Robert Schumanns und Carl Nielsens Violinkonzerte, einen Solo- und einen Kammermusik-Abend, unter anderem mit Dimitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 15 in einer Bearbeitung für Kammerensemble. Im nächsten Sinfoniekonzert am 1. und 2. Oktober dirigiert Bellincampi, dessen Vertrag bis 2017 verlängert wurde, unter anderem Mahlers Vierte.

Die Düsseldorfer Symphoniker feiern ihr 150jähriges Bestehen im Oktober mit einem Festkonzert am 29. Oktober, bei dem drei ehemalige Generalmusikdirektoren am Pult stehen. Das nächste Sinfoniekonzert unter dem Titel „Sternzeichen 02“ bringt am 26., 28. und 29. September Sir Neville Marriner zurück nach Düsseldorf. Auf dem Programm; Richard Strauss‘ „Metamorphosen“ und Joseph Haydns „Paukenmesse“, unter anderem mit einem der besten jungen deutschen Tenöre, Uwe Stickert.

Im Oktober spielt Herbert Schuch eine Rarität des Repertoires: Viktor Ullmanns Konzert für Klavier und Orchester, 1939/40 vor der Deportation des Komponisten nach Theresienstadt geschrieben. Im November präsentieren die Symphoniker eine weitere Seltenheit im Konzertsaal: Hans Pfitzners C-Dur-Sinfonie op. 46, kombiniert mit der unverwüstlichen Neunten Ludwig van Beethovens. Einmal nicht den Wiener Titanen, sondern Georges Gershwin spielt Rudolf Buchbinder dann im Dezember. Programme also, die Neugierige in die Tonhalle locken werden.




Festspiel-Passagen XI: Mozart und Strauss – Neuinszenierungen in Salzburg

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger "Don Giovanni". Foto: Michael Poehn

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger „Don Giovanni“. Foto: Michael Poehn

Wenn sich nach sexueller Bedrängnis und ohnmächtiger Eifersucht Zerlina und Masetto in einem Moment der Ruhe wiederfinden, wenn sie sich in Duettino und Arie der Zerlina („Vedrai carino“) nach allen emotionalen Stürmen wiederfinden, entkleiden sich Valentina Nafornita und Alessio Arduini, schlüpfen in Unterwäsche in eines der Zimmer des düsteren Hotels, entziehen sich dem Zugriff des allgegenwärtig scheinenden Don Giovanni. Und dem sehnsuchtsvoll dem Paar nachblickenden Don Ottavio zeigen sie, was die Sinnspitze sexuellen Begehrens sein sollte: die liebende Begegnung, auf die er – mit Donna Anna – vergeblich hofft.

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Das war einer der flüchtigen Momente im Salzburger „Don Giovanni“ Sven-Eric Bechtolfs, der gezeigt hat, wohin diese Inszenierung hätte führen können. Es gab noch andere solche Augenblicke verdichteter Deutungs-Energie in der Arbeit des Salzburger Schauspielchefs: Etwa, wenn Donna Anna ein Messer in der Hand hält und Don Giovanni ihren Arm zum Todesstoß gegen den Komtur führt.

In solchen Momenten gewinnen Personen eine Dimension, die über das konkrete Spiel hinausgeht – sie werden zu Symbolgestalten des psychischen Dramas: Donna Anna befreit ihre Persönlichkeit, vom triebhaften Impuls Giovannis geleitet, aus patriarchalischen Fesseln. Dass sich dann ihre Schuldgefühle in Rachegelüsten manifestieren, für die sie Don Ottavio benutzt, bleibt in der Inszenierung unausgeleuchtet – so wie manche Ecken in der ragenden Halle eines Dreißiger-Jahre-Hotels, die Rolf Glittenberg als Einheits-Schauplatz auf die breite Bühne des „Hauses für Mozart“ gebaut hat.

Kraftlose Bühne für einen überflüssigen „Don Giovanni“

Es mag an dem unverbindlich kraftlosen Schauplatz liegen, dass Bechtolfs Inszenierung die konsequente Verortung auf der Meta-Ebene des existenziellen Dramas verfehlt hat und letztlich doch bei der Komödie um einen Testosteronbolzen hängengeblieben ist, dem der Teufel den Cocktail für die „Champagnerarie“ mixt. Es mag auch am plakativen Don Giovanni von Ildebrando d’Arcangelo liegen, der die Zwischentöne der Figur weder szenisch noch stimmlich präsent zu setzen verstand: Wenn auch von der Anlage der Rolle her Eleganz oder Subtilität nicht gefragt waren, sind doch massive Attacke im „Ständchen“ und uniformierter, klobiger Ton selbst in Rezitativen nicht angemessen.

Salzburg: Ildebrando D'Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Salzburg: Ildebrando D’Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Wie überhaupt die Salzburger Sängerbesetzung enttäuschte. Selbst Luca Pisaronis stimmschönem Leporello gelang es nicht, sich zu flexibler Leichtigkeit zu befreien. Die Donna Anna der Lenneke Ruiten schlug sich mit dünn-gefährdetem Timbre und verquälten Spitzentönen durch ihre Partie.

Anett Fritsch dagegen überzeugte als Donna Elvira mit substanzreichem Klang und ausgeglichenen Koloraturen. Andrew Staples gab Don Ottavio in der Tradition englischer Kathedraltenöre mit dünn-blassem Klang und substanzlos verengter Höhe; Tomasz Konieczny bewegte sich als Komtur am anderen Ende der Tonskala mit unfreiem Bass. Nur das Paar Zerlina – Masetto (Valentina Nafornita und Alessio Arduini) ließ den Reiz entspannten Singens und drucklos gebildeter Phrasen erleben.

Auch das Dirigat von Christoph Eschenbach rettete die Aufführung nicht: zu spannungslos schon das Adagio der Ouvertüre, die Tempi ohne vibrierende Brillanz, die Artikulation ohne Prägnanz. Den Wiener Philharmonikern gelangen Momente faszinierender Piano-Kultur.

Doch Festspiel-Faszination blieb aus – dafür stellt sich die Frage ein, wozu man in Salzburg nach nur drei Jahren überhaupt eine „Don Giovanni“-Neuinszenierung, einen „Da Ponte-Zyklus“ braucht. Einen echten Zyklus mit den vorzüglichen Libretti des Dichters hat es noch nie gegeben – da müssten sich Theater oder Festspiele einmal verständigen, auch diejenigen zur Diskussion zu stellen, die Antonio Salieri, Vicente Martín y Soler, Stephen Storace oder auch Francesco Bianchi vertont haben. Und Mozart – Da Ponte – Zyklen sind, mit Verlaub, überflüssig, da die drei Opern sowieso überall und ständig im Repertoire zu finden sind.

Atmosphäre des Epochenabschieds in Kupfers „Rosenkavalier“

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger "Rosenkavalier" Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger „Rosenkavalier“ Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Die zweite Neuinszenierung dieser Festspiele gilt einem ihrer Mitbegründer: Richard Strauss. Zum 150. Geburtstag dieses so bedeutenden wie schillernden Komponisten des 20. Jahrhunderts hatte Noch-Festspielchef Alexander Pereira ausgerechnet das gängigste Werk gewählt: „Der Rosenkavalier“ ist als Epochen-Abschiedswerk mit Blick auf den Ersten Weltkrieg keine originelle, aber eine sinnvolle Wahl – und Altmeister Harry Kupfer vergegenwärtigte dieses unbestimmte Gefühl des Abschieds – für das die Fürstin Maria Theresia von Werdenberg steht – mit einer sich jeder plumpen Aktualisierung enthaltenden Regie.

Entscheidende Anteil an der atmosphärischen Dichte des Abends haben die Bühnenbilder von Hans Schavernoch: Raumfüllende Projektionen illustrieren beziehungsreich Schauplätze und geistige Haltungen: vergehende Barock-Herrlichkeit, aber auch zeitgeistiger Klimt-Jugendstil für die Marschallin; gusseiserne Dachkonstruktionen für den aufsteigenden Faninal, der sich freilich zu gerne im Glanz herrschaftlichen Barocks spiegeln würde. Und die Riesenrad-Gestänge des Praters drohen hinter einem Beisl, das als Illusionsarchitektur unter doppeltem Aspekt aufzufassen ist: In seinem imitierten Realismus steht es für die Kulisse des Schmierentheaters, das ebenso für den Lerchenauischen Gefoppten gespielt wird wie es der Ochs selbst als tragikomischer Wiener Vorstadt – Don Juan aufführt.

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Dass sich Harry Kupfer keiner Regie-Outrierung bedienen muss, um seine Figuren in Ruhe und Tiefe zu entwickeln, wird auch sichtbar. Intensive, beziehungsvolle Momente – wie die vor dem Bild herbstlich kahler Praterbäume im Nebel in Gedanken versunkene Marschallin – entstehen nicht im unermüdlichen Drang von Regisseuren, deutungswütig auch noch die marginalste Szene mit Bewegung füllen zu müssen.

Für dieses Konzept war Krassimira Stoyanova die passende Besetzung: eine Marschallin, die in einem Moment jugendlich spontan, im anderen abgeklärt, ja melancholisch wirkt. Auch die feinen Mezzo-Lasuren ihrer positionssicheren Stimme, der ruhevolle Atem der Legati, die ausgeglichenen Register, die lyrische Innigkeit leuchten den Charakter einer Frau aus, die nicht nur die eigene Jugend im Wissen um die Zeit schwinden sieht.

Kupfer deutet den Epochenabschied fein aus, wenn er es am Ende offen lässt, ob nicht der dunkelhäutige Chauffeur ihres Luxuswagens an die Stelle des Grafen Rofrano treten wird. Kupfer gibt der Marschallin so einen Zug ins Ambivalente, der sie ihrem Vetter Ochs annähert und ihre philosophische und moralische Unfehlbarkeit mildert.

Den "Walfisch" gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger "Rosenkavalier"-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Den „Walfisch“ gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger „Rosenkavalier“-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Mit Günther Groissböck rührt Kupfer auch an der überkommenen Konzeption des Barons Ochs auf Lerchenau: Nicht der gemütliche rotwangige Tölpel, sondern ein schneidiger, gewandter Typ, skrupellos, hochmotiviert, wenn es darum geht, die Frauenzimmer auf die vielerlei Arten, wie sie es (angeblich) wollen, zu nehmen.

Die aufgemachten Striche in diesem ungekürzten „Rosenkavalier“ verdeutlichen die aggressive Sexualität dieses Vertreters der Moderne, der Moral auf Konvention eindampft, die nur zu beachten ist, wenn sie nützlich ist oder dem adligen Blute dient.

Kupfer braucht keine Braunhemden oder Hakenkreuze, um zu zeigen, wohin der Weg dieser Moderne führt. Ochs ist einer ihrer Protagonisten, und Kupfer zeigt nach dem so wundervoll konzentriert wie virtuos inszenierten dritten Aufzug, dass der Rückzug seiner Truppe – auch die keine lerchenauischen Tölpel, sondern bedrohliche Schläger – keine Niederlage sein muss.

Melancholie des Abschieds - und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des "Rosenkavalier". Foto: Monika Rittershaus

Melancholie des Abschieds – und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des „Rosenkavalier“. Foto: Monika Rittershaus

Groissböck ist Niederösterreicher und beherrscht das Idiom perfekt, um dem Charakter seiner Figur Ausdruck zu geben; für den Sänger gibt es noch Entwicklungspotenzial, nicht nur in der Tiefe, auch in der Freiheit der Tonbildung.

Die Liste der luxuriösen Besetzung setzt sich fort mit Sophie Koch, wohl derzeit die prominenteste Darstellerin des Octavian, und Mojca Erdmann als selbstbewusst zu ihrem „Ich“ vordringender Sophie, deren kleiner Soubrettenstimme freilich blühender Glanz und eine tadellose Höhe fehlt. Adrian Eröd bestätigt als Faninal seinen Rang, für den er als Bayreuther Beckmesser die Messlatte hoch gelegt hatte.

Andere blieben hinter ihren Möglichkeiten zurück, so Silvana Dussmann als zu spitzstimmige Marianne Leitmetzerin, Rudolf Schasching als Valzacchi und Stefan Pop als italienischer Sänger mit flackerndem Legato und dünn gefüllter Höhe.

Die Wiener Philharmoniker durften im wie zu Karajans Zeiten hochgefahrenen Graben demonstrieren, wie vertraut sie mit dem Strauss’schen Idiom umgehen. Franz Welser-Möst bemüht sich, leider oft vergeblich, die Lautstärke zu zügeln, die Sänger nicht zu verdecken. Er legt offen, etwa im Vorspiel, dass die „Rosenkavalier“-Musik bei aller silbrigen Geschmeidigkeit und süßen lyrischen Verführung auch mit „Salome“ verwandt ist. Doch den schimmernden Glanz der Übergabe der „Silbernen Rose“ lässt er nicht geheimnisvoll-innig, das weltentrückte Terzett am Ende nicht ätherisch enthoben aus dem Orchester fließen. Ein handfester, kein subtiler „Rosenkavalier“: Welser-Möst hat noch einen Weg vor sich, bis er die Deutungs-Raffinesse seiner Vorgänger erreicht hat.




Genial, aber politisch naiv: Musikforscher Ulrich Konrad über Richard Strauss

„Salome“, „Der Rosenkavalier“, „Elektra“: Richard Strauss ist nicht erst im 150. Jahr seiner Geburt auf der internationalen Opernbühne präsent. Er mag nicht zu den meistgespielten Komponisten gehören, zu den meist geschätzten zählt er auf jeden Fall. Kein Dirigent kann es sich leisten, auf Strauss zu verzichten; kein Opernhaus geht an seinen Hauptwerken vorbei. Und dennoch ist der Mensch Richard Strauss seltsam ungreifbar.

Bewandert in Sachen Strauss: Der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad. Foto: Werner Häußner

Bewandert in Sachen Strauss: Der Musikwissenschaftler Ulrich Konrad. Foto: Werner Häußner

Seine Selbstinszenierung war „wasserdicht“: Nach außen ein bayerischer Großbürger, nach innen undurchschaubar. Auch die Forschung zu Richard Strauss kommt erst in Gang. Im Interview mit Werner Häußner erklärt Ulrich Konrad, Vorstand des Instituts für Musikforschung an der Universität Würzburg und anerkannter Strauss-Experte, was in Sachen Strauss noch nachzuholen ist.

Sie haben sich lange mit Richard Strauss beschäftigt. Haben Sie einen Zugang zu seiner Person gefunden?

Letztlich ist die Person Richard Strauss hinter ihrem bürgerlichen Habitus undurchdringbar. Selbst auf Fotos zeigt er stets eine Maske; es gibt nur ein paar Bilder, auf denen er einmal lacht. Was hinter dieser Stirn vorging, wissen wir nicht. Es gibt auch keinen Skandal in diesem Leben. Mit seiner Frau Pauline de Ahna führte er ein unverbrüchliches Lebensbündnis. Sein äußerlich geordnetes Leben entspricht in keiner Weise dem Klischee der Künstlerexistenz.

Und sein politisches Denken? Immerhin war Strauss Präsident der Reichsmusikkammer in der NS-Zeit …

Ich würde ihn als politisch naiv bezeichnen. Strauss hat sich immer mit den Mächtigen arrangiert. Er war ein schonungsloser Realist und dachte völlig unidealistisch. Als die Nazis an die Macht kamen, war Strauss viel zu berühmt, um nichts mit der Sache zu tun haben zu können. Das Regime biedert sich ihm an, und er macht mit, weil er die Chance sieht, seine kulturpolitischen Vorstellungen durchzusetzen: weg mit Lehár, weg mit Komponisten wie Gounod. Die Moderne hielt er für ‚Bockmist‘. Er glaubte allen Ernstes, die Nazis würden auf ihn hören und er könnte sein konservatives Ego-Programm durchsetzen. Erst spät hat er gemerkt, wie ihm die Felle davonschwimmen.

Ein Beispiel für seine politische Naivität: Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Post abgefangen und mitgelesen würde. Daher zieht er in einem berühmten Brief an Stefan Zweig über die Nazi-Ideologie her, was ihn in den Augen des Regimes diskreditiert hat. Aber in diesem Brief ist Strauss vollkommen ehrlich. Auch seine Reise nach Theresienstadt, um durch persönliches Erscheinen die Großmutter seiner Schwiegertochter aus dem KZ zu holen, gehört hierher: Strauss glaubte im Ernst, die Nazis würden nachgeben, wenn er, der berühmte Komponist, persönlich vor dem Lagertor steht.

Strauss‘ Denken war also von keinen Idealen oder gar von religiösen Werten bestimmt?

Die Unterschrift von Richard Strauss. Foto: Wikimedia

Als in Berlin 1918 das Kaiserreich zusammenbricht, notiert Strauss nur, dass ein Konzert ausfalle und er stattdessen Skat gespielt habe. Er nimmt ein welthistorisches Ereignis nur beiläufig wahr. Für ihn als Agnostiker zerbricht kein metaphysisches Weltbild – der Leser von Max Stirner und Friedrich Nietzsche hatte keines. Für ihn ist alles immer weltlich, seine Religion heißt Arbeit. Der bedeutende Mensch schafft aus sich selbst heraus die große Tat – da braucht es keine religiösen oder metaphysischen Verweise. So zeigt es sich auch in seinen Werken: Bei ihm gibt es das Spiel mit den Göttern, aber keine geistliche Musik, und seine Götter sind zweifelhafte Helden … .

Strauss hat tatsächlich keine geistlichen Werke geschrieben, von den vier Sätzen einer Messe in seiner Jugend (1877) abgesehen.

Der Theaterzettel der Uraufführung von „Salome“ an der Dresdner Oper, 9. Dezember 1905.

Diese Werke des Zwölfjährigen sind Übungsstücke, keine Bekenntnismusik. Es gibt keine religiöse Musik bei Strauss, das Religiöse wird allenfalls aus einer völlig säkularen Perspektive gesehen: das ist der Gestus des „Zarathustra“. Eine Art von Weltanschauung findet sich höchstens in der Motette „Die Schöpfung ist zur Ruh‘ gegangen“ auf Worte von Friedrich Rückert. Aber auch da geht es um die künstlerische Arbeit.

Strauss‘ Familie war ja nach 1870 altkatholisch.

Ihn hat das nicht tangiert. In seinem Werk finden sich wenige Themen aus dem Alten Testament: der Prophet Jochanaan in „Salome“, die „Josephslegende“. Aber ihnen begegnet er mit Spott und Ironie: Über die religiösen Debatten der Nazarener macht er sich in „Salome“ musikalisch lustig. Jochanaan nimmt er nicht ernst. Und mit dem keuschen Bürschlein in der „Josephslegende“ kann er nichts anfangen. In einer „atavistischen Blinddarmecke“ werde er nach einer Melodie für den Joseph suchen, schreibt er in einem Brief. Auf „Heiligkeit“ reagiert er – wie übrigens auch auf alle Ideologien – ironisch.

Und wie ging er mit dem katholischen Bekenntnis seiner Frau um?

Das war zunächst einmal eine bayerische Tradition. Mir ist nicht bekannt, dass in der Familie Strauss in irgendeiner Form ein religiöser Alltag stattgefunden hat. In der Erziehung der Kinder spielte Religion oder Glaube keine Rolle. Wert legte Strauss auf die humanistische Bildung, die Lektüre altgriechischer Autoren, die Lektüre Goethes.

Vor 100 Jahren brach der Erste Weltkrieg aus. Hat Strauss in irgendeiner Weise in seinem Werk auf diese „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ reagiert?

Dass der erste Weltkrieg die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ein für alle Mal zerschlagen hat, ist in Strauss‘ Erleben zunächst nicht präsent. Strauss hat nicht den geringsten Zweifel: Er macht deutsche Musik. Eine nationalistische Perspektive, die er übrigens auch mit Schönberg teilt. Im Zuge der Entstehung der „Frau ohne Schatten“ zwischen 1911 und 1915 schreibt er in einem Brief an Hugo von Hoffmannsthal, er verspreche, dies sei die letzte romantische Oper gewesen. Offenbar war Strauss bewusst, dass in dieser Zeit etwa zu Ende gegangen ist.

Schlägt sich dieses Bewusstsein im späteren Werk nieder?

Richard Strauss im Jahre 1922. Foto: Ferdinand Schmutzer/Österreichische Nationalbibliothek

„Intermezzo“, uraufgeführt 1924, ist ein schönes Beispiel: Auch ein Mann wie Strauss – er war bereits 60 Jahre alt – begreift zumindest, dass sich die Welt um ihn herum ändert, auch wenn er das nicht nachvollziehen kann oder will. Beobachtbar ist auch ein Nachlassen seiner Produktivität in den zwanziger Jahren. Seinen Opern – „Intermezzo“ 1924 und „Die ägyptische Helena“ 1928 – war der Erfolg zwar bei der Uraufführung, aber nicht dauerhaft gewogen. Das änderte sich erst 1933 wieder mit „Arabella“.

Zu spüren ist in dieser Zeit eine gewisse Richtungslosigkeit: Strauss will den „Menschen der Gegenwart“ auf die Bühne stellen. Er dachte an eine Art gesellschaftskritischer Spieloper – was für Hoffmannsthal unvorstellbar war. Strauss reagierte also nicht mit radikaler Veränderung, sondern mit einer Unsicherheit in der künstlerischen Orientierung. Bedenkenloses Weitermachen war für ihn nicht vorstellbar. In „Intermezzo“ ist zu sehen, wohin Strauss gehen wollte; letztlich hat er dann in „Die ägyptische Helena“ vor dem intellektuellen und kulturellen Überbau kapituliert, der in Hoffmannsthals schwerem Bildungstheater angehäuft ist. Das Verhältnis zwischen Strauss und dem Dichter, das meistens idealisiert wird, ist in der Forschung auch noch nicht bewältigt.

Die Strauss-Forschung bedürfte ja auch einiger Impulse durch das Jubiläumsjahr …

Diese Impulse kommen nicht aus den Jubiläen, sondern von der Forschungsstelle Richard Strauss in München. Am Institut für Musikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität ist im Februar 2011 das Langzeit-Editionsprojekt „Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss“ in Angriff genommen worden. Kooperationspartner des Projekts ist das Richard Strauss-Institut in Garmisch-Partenkirchen mit seinem seit 2009 durchgeführten DFG-Projekt „Richard-Strauss-Quellenverzeichnis“. Die philologisch orientierte Forschung ist damit in Gang gekommen.

Das Heim eines Großbürgers: Die Villa von Richard Strauss in Garmisch. Foto: Wikimedia/Josef Lehmkuhl

Was bisher fehlt, ist unter anderem eine Übersicht über die reichhaltige Korrespondenz Strauss‘ und ein umfassendes Quellenverzeichnis. Diese Forschungen dürften die wissenschaftliche und hoffentlich auch öffentliche Wahrnehmung von Richard Strauss verändern. Strauss selbst hielt wissenschaftliche und biografische Forschung zwar für überflüssig, es sei denn, es ging um die Darstellung seines künstlerischen „Heldenlebens“. Aber auch im Wissenschaftsbetrieb war Strauss – nicht zuletzt durch den Essay von Theodor W. Adorno zum Jubiläumsjahr 1964, der unabsehbare Folgen hatte – kaum ein Thema: Mit einer Arbeit zu Strauss anzutreten, hätte damals das Ende der akademischen Karriere bedeutet.

Diese Situation hat sich erst im Zuge der Postmoderne gelockert: Durch den historischen Abstand werden die Dinge entspannter gesehen. Die ideologische Ausrichtung auf die Wiener Schule und die Frage Adornos nach dem zeitgemäßen Material ist relativiert. Auch mit dem artifiziellen, spielerischen Umgang mit der Vergangenheit in Strauss‘ späten Werken lässt sich vielleicht aus postmoderner Perspektive heute mehr anfangen.




Ein Ort kultureller Öffentlichkeit: Die Philharmonie Essen feierte Zehnjähriges

99 gold'ne Luftballons? Es waren sicher mehr, die Eingangsbereich und Foyer der Philharmonie schmückten. Foto: Werner Häußner

99 gold’ne Luftballons? Es waren sicher mehr, die Eingangsbereich und Foyer der Philharmonie schmückten. Foto: Werner Häußner

Vor 110 Jahren hat Richard Strauss höchstpersönlich den alten Essener Saalbau eröffnet. Mit einem neuen Stück, seiner „Sinfonia domestica“ als europäischer Erstaufführung. Vor zehn Jahren, am 5. Juni 2004, erklang das erste Konzert im neuen Saalbau unter Leitung von Stefan Soltesz. Auch jetzt spielte das heimische Orchester, dirigierte Tomáš Netopil die Strauss’sche Tondichtung. Und davor sein „Festliches Präludium für Orgel und großes Orchester“ aus dem Jahr 1913, als die Welt des alten Europa noch in Ordnung schien.

Beziehungsreicher hätte das Programm des Festkonzerts zum Zehnjährigen der Philharmonie Essen nicht zusammengestellt sein können. Es rückt den Saalbau und die Institution in den Blick, die ihn mit musikalischem Leben füllt. Es würdigt mit Richard Strauss einen der wichtigen Musik-Jubilare des Jahres 2014. Und es verweigert sich nicht der Zeitgenossenschaft. Dem selbstgewissen Dauerlärm von Richard Strauss` bombastischer Ouvertüre widersetzt sich ein sensibles, leises, suchendes Stück: Wolfgang Rihms „Verwandlung 6“. Geschrieben hat es der wohl bekannteste unter den deutschen Komponisten der Gegenwart im Auftrag der Philharmonie Essen. Und finanziert hat diese „Musik für Orchester“ die Ernst von Siemens Musikstiftung.

Festredner Claus Leggewie. Foto: Volker Wiciok

Festredner Claus Leggewie. Foto: Volker Wiciok

Das muss erwähnt werden. Denn bei aller Festlaune im Saalbau: Das finanzielle Korsett sitzt knapp. Ohne die Stiftung als Sponsor hätte es wohl keinen Rihm zum Jubiläum gegeben. Claus Leggewie, Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, bediente in seiner Rede nicht nur den berechtigten Stolz und die Zufriedenheit über das Erreichte. Sein Plädoyer für Einrichtungen wie die Philharmonie als Orte kultureller Öffentlichkeit verband er mit dem „Ausdruck echter Sorge“: Auch an einem Feiertag sei es unmöglich, von Bedrohungen kultureller Autonomie nicht zu sprechen.

Leggewie erhofft sich „eine Debatte über den Wert öffentlicher Kultur und kultureller Öffentlichkeit“. In Häusern der Kultur – Theatern, Philharmonien, Opernhäusern, Museen, Lichtspielhäusern – kommen Menschen ins Gespräch und reden sich bisweilen die Köpfe heiß. Es sind Orte, an denen sich gesellschaftliche Erfahrung verdichtet. An denen sich, wie im Theater im alten Griechenland, die Bürger ihrer selbst bewusst werden. Originalton Leggewie: „Glücklich ist das Land, das solche Ressourcen ererbt hat, pflegt und auf den neuesten Stand bringt, das Kultur nicht als Luxus oder Spektakel abtut, sondern als moralische Bildung ernst nimmt, Kinder und Jugendliche sehr früh einbezieht und sich bewusst ist, dass eine Gesellschaft ohne diese sinnstiftende, oft auch verstörende und aufrüttelnde Grundlage arm dran ist.“

Die Philharmonie im Saalbau zu Essen sei ein herausragendes Beispiel für einen solchen Ort bürgerlichen Gemeinsinns, der kulturelle Höhepunkte, soziale Geselligkeit und demokratischen Diskurs verbindet. „Der Saalbau hat Essen das urbane Flair einer Großstadt gegeben.“ Hannelore Kraft hat es gehört – die Ministerpräsidentin saß in der ersten Reihe –, OB Reinhard Paß auch.

Uraufführung zum Jubiläum "10 Jahre Philharmonie Essen". Komponist Wolfgang Rihm und Dirigent Tomás Netopil freuen sich über den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Uraufführung zum Jubiläum „10 Jahre Philharmonie Essen“. Komponist Wolfgang Rihm und Dirigent Tomás Netopil freuen sich über den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Noch weiter vorne, auf dem Podium, gaben die Essener Philharmoniker ihr Bestes, um dem eröffnenden Strauss-Schinken mehr als „kolossalen“ Festesglanz abzugewinnen. Das Gebräu, angesetzt durch Roland Maria Stangier mit bedeutungsschweren Orgelakkorden, verkocht zum Glück, bevor es gänzlich ungenießbar wird.

Anders die „Sinfonia domestica“, mit der vor 110 Jahren Richard Strauss persönlich den alten Saalbau eröffnet hatte. Das ungenierte Selbstporträt seiner Familie zeigt Strauss als Perfektionisten der Farben, als Zauberer einer kaum zu bremsenden Orchester-Virtuosität. Der ausgiebige Einsatz aller Instrumente gibt den Philharmonikern Raum, sich zu entfalten. Dazu feuert sie ihr Chef Tomáš Netopil mit Elan an. Trillernde Fanfaren des Blechs stürmen die heitere Ruhe der Familienidylle wie eine Horde tobender Kinder; Hörner und Trompeten spielen sich Echos zu; Flöte und Klarinette tanzen miteinander wie in einem Ländler. In solchen Momenten spiegelt die häusliche Sinfonie etwas von der geordneten, behaglichen Ruhe, auf die Strauss so bedacht war. Aber auch die burleske Bewegungsfreude kommt zum Zug, wie wir sie zum Beispiel aus „Till Eulenspiegel“ kennen. Fugen spielen Fangen; Holzbläser in hoher Lage erinnern an Gustav Mahlers verzerrten Volkslied-Ton. Und die Uhr, die auch im „Rosenkavalier“ schlägt, erinnert behutsam an den unerbittlichen Gang der Zeit.

Ort der kulturellen Öffentichkeit: Der Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen. Foto: Volker Wiciok

Ort der kulturellen Öffentichkeit: Der Alfried Krupp Saal der Philharmonie Essen. Foto: Volker Wiciok

Wolfgang Rihm fordert das Orchester anders, weil das feine Gespinst seiner Klänge höchste Konzentration verlangt. „Verwandlung“ hat mit Stillstand und Fortgang von Zeit zu tun, wenn eine Rassel den ersten Rhythmus anklingen lässt, der sich bis zum Einsatz von vier Schlagzeugern steigert. Dazwischen tasten sich schüchtern-gebrochene melodische Motive durch die Stille, verbinden sich vorsichtig, wachsen zusammen und stützen sich gegenseitig. Wie Rihm das kreisförmige Schema des Stücks klangsinnlich neu füllt, hat nichts mit dem strotzend selbstsicheren Souveränität des Bayern zu tun: Der badische Meister aus Karlsruhe äußert sich nicht weniger selbstbewusst, aber er zeigt, wie er sich auch der Brüchigkeit seiner Welt stellt.

Die Feier in der Philharmonie hat viele Menschen aus der Essener Bürgerschaft versammelt, die sich des Wertes der Musik, der Bedeutung der Kultur für ein Gemeinwesen bewusst sind. Es wird sich zeigen, wie weit die Entschlossenheit reicht, wenn sich der finanzielle Horizont wieder verdüstert. Auch Hans Schippmann, scheidender Aufsichtsratsvorsitzender der Theater und Philharmonie Essen, scheint da seine Zweifel zu haben, wenn er den Entscheidungsträgern mit geradezu flehenden Worten ans Herz legt, die Zukunft der TuP zu sichern. Essen wäre gut beraten, die Philharmonie als Zeichen kultureller Bewusstheit und gelingenden Strukturwandels auch künftig leuchten zu lassen.




„Und in dem ‚Wie‘, da liegt der ganze Unterschied“: Camilla Nylund singt Richard Strauss in Essen

Camilla Nylund. Foto: Markus Hoffmann

Camilla Nylund. Foto: Markus Hoffmann

So etwas nennt sich Pech: Zum zweiten Mal musste Anja Harteros, „Residence“-Künstlerin der Philharmonie Essen, ein Konzert absagen. Eine hartnäckige Krankheit hat ihren Auftritt unmöglich gemacht. Als Einspringerin kam Camilla Nylund an die Ruhr – und die blonde Finnin als „Ersatz“ anzusprechen, wäre mehr als ungerecht.

Im Gegenteil: Häufiger als Harteros, die sich auf das italienische Fach und 2013 fast ausschließlich auf Verdi konzentriert hat, singt Nylund seit Jahren Strauss: Ariadne in Frankfurt, Salome und Feldmarschallin in Wien, Chrysothemis in Amsterdam, Daphne in Dresden. In der Region war Nylund 2010 in Köln im „Rosenkavalier“ zu erleben; demnächst singt sie Salome in Philadelphia und Arabella in Hamburg – unter Essens Ex-GMD Stefan Soltesz.

An ihn musste bei dem Konzert öfter denken, auch wer keine Nostalgie pflegt: Unter Friedrich Haider waren die Essener Philharmoniker ziemlich weit weg von den raffiniert polierten Klängen, die Soltesz bei Strauss zu modellieren pflegte. Schon in der Szene der Ariadne „Ach, wo war ich? … Es gibt ein Reich, wo alles rein ist…“ nahm Haider wenig Rücksicht auf die eher mit lyrischer Innigkeit als mit dramatischer Attacke agierende Sängerin, ließ sie mit expansiver Energie zudecken.

Das Orchesterzwischenspiel aus der leider auch im Strauss-Jahr 2014 nicht gespielten launigen Miniatur „Intermezzo“ mag in dem verschmolzenen Klangbild, das Haider pflegt, noch hingehen. Aber im Schlussmonolog der Gräfin aus „Capriccio“ gewinnt das Orchester kein Profil, erstickt die leuchtende Finesse der Instrumentation in dickem Schwall, treten die harmonischen Spannungen nicht hervor, die Strauss vor allem durch die Holzbläser erzeugen will. Und Camila Nylund scheint sich im Konversationston dieser Partie auch nicht wohl zu fühlen: die Artikulation ist unscharf, der Stimme fehlen die Farben, um dieses Selbstgespräch plausibel und beredt zu gestalten.

Auch nach der Pause bleibt’s eher wuchtig als elegant. Die „Rosenkavalier“-Walzer poltern lieber lerchenauisch aufgebläht als in silbriger Eleganz zu schweben. In den Finalszenen aus „Arabella“ bleiben die Holzbläser wieder unterbelichtet. Und unter den Ausschnitten aus Opern von Ermanno Wolf-Ferrari erreicht nur das Vorspiel zu den „Vier Grobianen“ diskrete Eleganz; die Suite aus der Oper „Der Schmuck der Madonna“ – die man auch gerne einmal auf der Bühne kennenlernen würde – war weniger in die glühende Schärfe des italienischen Verismo gekleidet als in einen breiig aufgetriebenen Klang.

Camilla Nylund präsentiert sich vor allem im Lyrischen als exquisite Strauss-Sängerin. Ihre Stimme gebietet nicht über die klangliche Expansion, die für dramatische Zuspitzung nötig wäre, aber sie hat eine leuchtende Mittellage, eine natürlich wirkende Noblesse im Ton und eine funkelnde Höhe. So singt Nylund eine beredte Feldmarschallin und eine jugendlich strahlende Arabella, der man abnimmt, dass ihre Liebe über alle spießigen Niederungen ihrer Umgebung erhaben ist.




Verklärung im Diesseits: Riccardo Muti und das Chicago Symphony Orchestra in Essen

Riccardo Muti. Foto: Todd Rosenberg

Riccardo Muti. Foto: Todd Rosenberg

Es gehört zum halben Dutzend der amerikanischen Spitzenorchester, ist auf zahllosen Aufnahmen unter berühmten Dirigenten festgehalten und garantiert für eine technische Brillanz, die weltweit nur von wenigen Klangkörpern erreicht wird: Das Chicago Symphony Orchestra machte bei seiner Winter-Tournee Station in Essen. Die Philharmonie als einer von vier europäischen und einziger deutscher Auftrittsort: Das ist eine Auszeichnung.

Chefdirigent Riccardo Muti steht – wie 2007, beim letzten Besuch der Chicagoer Musiker – am Pult und rahmt das Konzert mit zwei Werken Giuseppe Verdis, einem der „Jubilare“ des Jahres 2013. Zur Eröffnung die Ballettmusik aus „Macbeth“, höllisch ausgelassene und dämonisch erhabene Musik, die leider in szenischen Aufführungen – auch am Aalto-Theater – so gut wie immer fehlt. Und die „Nabucco“-Ouvertüre als Zugabe: ein Zugstück, das Klangpracht und Präzision des amerikanischen Spitzenorchesters zur Geltung bringt.

Seine technische Klasse zeigt das bald 125 Jahre alte Orchester in Prokofjews „Romeo und Julia“-Suite: Violinfiguren aus einem Guss und mit hinreißendem Schwung, ein schmeichelndes Klarinettensolo, auratische Mixturen aus Harfe und sehnsuchtsvollem Saxofon. Der stählerne Marschrhythmus in den „Masken“ ist auf pure Überwältigung angelegt; die feinen Abstufungen von Piano und Pianissimo lassen den Atem anhalten. Mit praktischen Folgen: Husten-Alarm gab es diesmal im Alfried Krupp Saal nicht, dafür klimperten die Armreife manch eleganter Dame wie die Ketten der Gefangenen im „Nabucco“-Chor.

Riccardo Muti, 72 Jahre alt und inzwischen eine Dirigenten-Legende, agiert ohne Show, gibt dem Orchester viel Freiheit. Das ist nicht immer vorteilhaft. Der erste Trompeteneinsatz in der „Macbeth“-Ballettmusik geht um ein Haar schief, weil der Maestro zu hastig beginnt. Das erste Orchester-Crescendo will nicht klingen. Die unheimliche Posaunen-Hymne markiert den Höhepunkt, das Erscheinen der düsteren Göttin Hekate, ohne majestätische Düsternis, weil die Balance mit den Streicher-Begleitfiguren nicht passt. Den Sostenuti, die für die lauernde Leere nach dem Ende des Spuks stehen, fehlt das gläsern-fahle Zwielicht. Dem Hexenwalzer des dritten Teils gibt Muti dann allerdings die expressive rhythmische Markanz, die seine Verdi-Dirigate gemeinhin auszeichnet – nachhörbar auf vielen Plattenaufnahmen, unter anderem einem „Macbeth“ mit Fiorenza Cossotto in der Titelpartie.

Zum „Auftakt“ des Strauss-Jahres 2014 bringt das Orchester aus Chicago „Tod und Verklärung“ mit. Das Werk des 24jährigen ist geprägt von der Klangsinnlichkeit der Musik an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, aber auch von der spätromantischen Sehnsucht nach dem Ausgriff in Sphären jenseits irdischer Begrenzung. Der Agnostiker Strauss hat diesen spätromantischen Impetus später trocken-ironisch wegerklärt mit dem Bedürfnis, ein Stück zu schaffen, das in c-Moll beginne und in C-Dur ende.

Das ist Strauss gelungen – und wie! Die Raffinesse klanglicher Entwicklungen ist kein Selbstzweck. Ihre tiefe symbolische Bedeutung ist mit dramatischer Unmittelbarkeit zu greifen – da braucht es auch nicht das später hinzuerdichtete „Programm“. So wundert es ein wenig, dass ein genuiner Opern-Dirigent wie Muti auf den szenografischen Aspekt so wenig Wert legt. Das Orchester findet die Streicher-Bläser-Balance nicht so, dass die Mischklänge expressive Konturen erhielten.

Zu Beginn freilich erblüht die Idylle in schönster, weiträumiger Phrasierung, auch nach dem ersten Einschnitt durch einen markanten Trommelschlag baden sich Oboe, Harfen und Violinen in süßen Harmonien, die später durch das tiefe Blech und die Bassklarinette in sanfter Wehmut umflort, aber nicht in herber Düsternis gebrochen werden. Der dünne Faden zwischen dem letzten machtvollen Eintritt des Todesmotivs und der anbrechenden Verklärung ist irdisch direkt gewoben, statt sich im Pianissimo zwischen den Sphären zu spinnen. Und das Aufwölben der Motive auf das abgeklärte C-Dur zum Schluss hin geht ohne Haltungswechsel einher. Der Auftakt des Strauss-Jahres 2014 bleibt diesseitig.




Menscheln und Musik – die Dortmunder Philharmoniker werben mit einem Heftchen

Gabriel Feltz ist der neue Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Theater Dortmund

Gabriel Feltz ist der neue Chefdirigent der Dortmunder Philharmoniker. Foto: Stadt Dortmund

Die Spannung steigt. Noch ein paar Tage, und für die Dortmunder Philharmoniker beginnt ein neues Kapitel ihrer nunmehr 125jährigen Geschichte. Weil mit Gabriel Feltz, als Generalmusikdirektor (GMD) des Orchesters, ein neuer Chef am Pult stehen wird, der gleich ordentlich ranklotzen will. Mit Beethovens 6. („Pastorale“) und der großdimensionierten „Alpensinfonie“ von Richard Strauss – zwei Werke im Spannungsfeld zwischen Naturlautmalerei und Programmmusik. „natur_gewalten“ ist das 1. Philharmonische Konzert denn auch übertitelt.

Feltz und die Philharmoniker unterwerfen sich also unverzüglich einer mehrfachen Prüfung. Wie dirigiert der neue Mann, wie wirkt er aufs Publikum? Wie meistert das Orchester die gewaltige alpine Herausforderung?  Fragen, deren Beantwortung gewiss einiges über das aktuelle Standing des Dortmunder Klangkörpers sagen wird, der in den letzten fünf Jahren durch Jac van Steen in günstiges Fahrwasser gelenkt wurde.

Doch dem Orchester geht es nicht nur um Leistungsschau. „Wir wollen menscheln“, sagt die Geigerin Barbara Kohl. Das klingt nach Philharmonikern zum Anfassen, und so ist es wohl auch, zumindest indirekt, gemeint. Helfen soll dabei ein neues Medium, das sich „Klangkörper“ nennt. Mehr sagt der Untertitel aus: Menschen – Musik – mittendrin. Das Publikum soll eben nicht nur Konsument im Konzert sein.

Geklotzt wird mit dem schmalen Heftchen freilich nicht. Akribisch gefaltet, wie es ist, passt es in jede Damenhandtasche. Aufgefächert bietet es immerhin Platz für eine große Geschichte, eine Karikatur und kleinere Beiträge. Logisch, dass in der ersten Ausgabe ein großes Porträt von Gabriel Feltz zu finden ist. Eine Homestory darüber, wie es sich so lebt in der neuen Heimat Dortmund.

Die Initiative zu dieser Art Kommunikation sei aus dem Orchester selbst gekommen, sagt Barbara Kohl. Sie zählt ebenso wie der Bassposaunist Paul Galke zum Redaktionsteam, das durch Orchestermanager Rainer Neumann und Gerhard Stranz ergänzt wird. Stranz wiederum ist Vorsitzender der Initiative „Publikum Pro Philharmonie Dortmund“ (PPP). Das Projekt trägt sich durch Sponsoren. Die Auflage beträgt 3000 Exemplare. In dieser Saison soll zu jedem zweiten Philharmonischen Konzert ein Heftchen erscheinen. Abseits dieses Mediums konventioneller Art ist das Orchester auf Facebook wie Twitter zu finden. Eine erweiterte Netzpräsenz ist in Arbeit. „Ohne geht es heute nicht mehr“, sagt Rainer Neumann.

Am Ende aber gilt der (abgewandelte) Satz: Wichtig ist das Konzert. Als Ereignis, bei dem letztlich über Qualität und Akzeptanz entschieden wird. Dies umso mehr vor dem Hintergrund, dass Feltz als Nachfolger Jac van Steens nicht die erste Wahl des Orchesters war. Inzwischen beeilt man sich hinzuzufügen, die Zusammenarbeit verlaufe professionell. Nun, vielleicht fügt sich noch alles zu schönster, andauernder Harmonie. So die Musen (und der Kulturdezernent) es wollen. Wir sind gespannt.

Das erste Philharmonische Konzert findet am 17. Und 18. September im Konzerthaus Dortmund statt (jeweils 20 Uhr). Informationen unter www.theaterdo.de und www.doklassik.de

Facebook: Dortmunder Philharmoniker

Twitter: #doklassik




Eine Ära geprägt: Der Dirigent Stefan Soltesz nimmt Abschied von Essen

Der Mann wirft einen prüfenden Blick ins Parkett des Aalto-Theaters, dreht sich um, schaut scharf in die Runde. Ruhe. Jeder Atemzug scheint kontrolliert. Spannung. Erwartung. Dann ein kurzes Anspannen der Schultern, ein Schlag – und die ersten dunklen Akkorde von Richard Strauss‘ „Frau ohne Schatten“ fluten den Raum: transparent, untergründig, mit dräuendem Nachdruck.

Stefan Soltesz. Foto: Matthias Jung

Stefan Soltesz. Foto: Matthias Jung

Stefan Soltesz beim Dirigieren: Das war stets eine Studie wert. Zu beobachten, wie er über den Rand seiner Brille eisblaue Blicke wirft. Zu verfolgen, wie der Finger hochschnellt, einem Sänger „Achtung“ signalisiert, im Abtauchen den Einsatz markiert. Mitzufiebern, wie er bald hundert Frauen und Männer im Orchestergraben antreibt, mitreißt, befeuert. Oder wie er mit unendlicher Geduld eine Innenspannung in der Musik aufbaut, einen schwerelosen Bogen trägt, eine Entladung vorbereitet.

Wucht und Macht: Nur sehr dosiert setzt Soltesz diese Mittel ein. Er weiß, dass sich die Riesengebärde, der massierte Klang schnell abnutzen. Gerade bei Richard Strauss, der so viele Dirigenten zu knalliger Koloristik verführt, setzt Soltesz auf Transparenz, auf Präzision, auf luftiges Acryl statt auf fettes Öl. Er hat damit einen Trend gesetzt, den andere inzwischen auch entdeckt haben. Ähnlich arbeitet er mit Partituren Puccinis: „Tosca“ oder „La Bohème“ sind bei ihm Chefstücke. Da gibt es keine hingeschmierte Kapellmeister-Routine, keine zuckersüße Opulenz. „Madama Butterfly“ gewinnt bei ihm emotionale Intensität aus einem – fast möchte man es so nennen – emotionsgedrosselten Zugang: Sehr nah am Notentext, mit allergrößter Sorgfalt gelesen.

Auch der üppige Orchesterzauber liegt ihm

Auf diese Weise setzte Stefan Soltesz am Aalto-Theater auch Vincenzo Bellinis „I Puritani“ mit einer suggestiven Qualität um, die das schnell vergebene Prädikat „einzigartig“ wirklich einmal verdient hat. Wer weiß, wie hilf- und lieblos Bellini-Opern abgewedelt werden, musste bei Soltesz ins Schwärmen geraten: So präzis, nuanciert, gleichzeitig auf die kantable Entwicklung geachtet und mitgeatmet sind die scheinbar einfachen, in Wahrheit unendlich sensiblen Notenbilder des sizilianischen Meisters selten in klingender Musik vollendet worden. Soltesz kennt nicht nur die Noten – er kennt auch die Tradition, wie sie zu lesen sind. So hat er die weiten, schwermütigen Seelenlandschaften Bellinis erschlossen,

Na gut: Auch Soltesz will sich dem Glanzvollen, dem Üppigen, der saftigen Entfaltung orchestralen Zaubers nicht entziehen. Sonst würde er Strauss nicht so lieben – obwohl er nicht als „Strauss-Dirigent“ gelten will. In der „Frau ohne Schatten“ ist er mit solchem Streben in seinem Element: Da klingen das Leuchtende und das Fahle, die schwelgerischen Aufschwünge und die harten Attacken, die sorgsam ausbalancierten Mischungen und die aggressiven Tutti. In der Wiederaufnahme im Aalto-Theater gibt es schon nach dem ersten Aufzug Bravi, nach dem zweiten Begeisterung, nach dem dritten eine herzliche, enthusiastische Ovation.

Szenenfoto aus der Inszenierung von Strauss' "Die Frau ohne Schatten" am Aalto-Theater Essen. Foto: Bernd Schmidt

Szenenfoto aus der Inszenierung von Strauss‘ „Die Frau ohne Schatten“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Bernd Schmidt

Das Publikum in Essen liebt den Dirigenten, jubelt ihm zu, bereitet ihm in diesen Tagen bei seinen Abschiedsvorstellungen einen herzlichen, von Zuneigung und Hochachtung geprägten Empfang. Ein Flug der Herzen. Aber auch eine Ovation, die in der Stadt merkwürdig wenig Widerhall findet: Die Frage nach der Form von Soltesz‘ Abschied nach sechzehn Jahren Intendanz in Essen, die Kabale um den Titel des „Ehrendirigenten“: seltsame, hinter vorgehaltenen Händen geführte Debatten. Es scheint zur Unkultur unserer Zeit zu gehören, dass man Menschen wie Soltesz nicht mehr mit großzügiger, freier Anerkennung verabschieden kann.

Vielleicht hat er es seinen Partner auch nicht einfach gemacht: „Mal will er, mal will er nicht“, seufzte Hans Schippmann, Aufsichtsratsvorsitzender der Theater und Philharmonie, in der WAZ. Soltesz selbst hat seinen Abschied aus der machtvollen und in Deutschland seltenen Kombination des Intendanten und Generalmusikdirektors gern mit feinem Humor leichter dargestellt, als er ihm vielleicht fällt. Es ist nicht einfach, nach sechzehn Jahren äußerst erfolgreicher Arbeit in der letzten Saison den komplexen Betrieb zusammenzuhalten und bis zum letzten Tag zu motivieren.

Kämpferischer Theatermensch mit eindeutigen Positionen

Sicher: Soltesz war kein einfacher Chef, kein unkomplizierter Partner. Seine Wutausbrüche sind legendär. Dass seine Musiker auf der Stuhlkante spielen, wenn er dirigiert, ist ein offenes Geheimnis. Es gab heftige Worte, aber im Endeffekt war allen klar: Ohne Soltesz` unerbittliches und manchmal auch mit harten Bandagen durchgesetztes Regiment wäre die Qualität nicht möglich gewesen, die Essen über Häuser vergleichbarer Größe hinaushebt. Das hat dem Aalto-Theater beispielsweise 2008 das ehrenvolle Doppel des „Opernhauses des Jahres“ und des „Orchesters des Jahres“ eingebracht.

Und wer den Betrieb kennt – und der „Theatermensch“ Soltesz kennt ihn wie kaum ein zweiter – weiß, dass Koordination, Minimierung von Reibungsverlusten, aber auch der Kampf an den Fronten von Verstiegenheit oder Schlendrian aufreibend sind: Ein „netter Kerl“ erreicht da wenig. Dass er vor der Politik nicht kniff, muss man ihm hoch anrechnen. In der Debatte um die katastrophale Finanzlage der Städte und die notwendige Haushaltskonsolidierung bezog er eindeutig Position. Was er in einem offenen Brief vom 7. Januar 2010 in die Diskussion warf, ist ein ebenso schlüssiges wie notorisch nichtbeachtetes Argument:

„Die Kultur wird … zu einem Hauptverantwortlichen für die finanzielle Malaise der Kommunen gestempelt. Dass die Kultur dies nicht ist, wissen Sie genau. Selbst bei völliger Streichung der Kulturförderung wäre eine Haushaltskonsolidierung auch nicht ansatzweise erreicht. Die Staatsausgaben für Kultur in Deutschland betragen über alle öffentlichen Haushalte hinweg 0,8 Prozent der Etats. Ich appelliere daher dringend an Sie, das Thema Kultur weit hintanzustellen, wenn Sie über Haushaltssanierung diskutieren.

Als Stefan Soltesz mit der Spielzeit 1997/98 seinen Posten antrat, war noch nicht klar, mit welchem hingebungsvollen Einsatz er sich künftig seinem Stammhaus widmen würde. War er doch bereits ein Dirigent mit weitreichendem Aktionsfeld und hoher Reputation: von Hamburg bis Berlin, von München bis Amsterdam. Er brachte Leitungserfahrung mit, war in Braunschweig Generalmusikdirektor und in Antwerpen Chefdirigent. In Wien steht er seit seinem Debüt mit Rossinis „Barbiere di Siviglia“ 1983 regelmäßig am Pult, leitet in der kommenden Saison erneut den „Barbiere“ und Puccinis „Tosca“.

Entrée und Abschied mit Richard Strauss

Für Essen wählte er sich als Entrée ein Strauss-Werk, das nicht häufig gespielt und gerne gering geschätzt wird: „Arabella“. Das Publikum ging mit, erinnert sich der Dirigent, und so kam 1998 die „Frau ohne Schatten“ in der heute noch tragfähigen Regie von Fred Berndt heraus. Soltesz setzte auf Strauss: 1998, im 50. Todesjahr des Komponisten, folgte noch die Rarität „Daphne“ in einer Inszenierung Peter Konwitschnys, später „Elektra“, „Ariadne“, dann eine ehrgeizige „Ägyptische Helena“ und „Der Rosenkavalier“. Mehr Strauss gab es nicht einmal in München oder Dresden – und irgendwie ist es schade, dass ausgerechnet im Strauss-Jahr 2014 diese spezielle Essener Tradition abbricht: das sensible Alterswerk „Capriccio“ oder die Petitesse „Intermezzo“, von Soltesz dirigiert, wären das Schlagobers auf dieser feinen, reichen Tafel gewesen.

Der "Parsifal" Joachim Schloemers in Essen. Szene aus dem ersten Aufzug im Bühnenbild von Jens Kilian. Foto: Thilo Beu

Der „Parsifal“ Joachim Schloemers in Essen. Szene aus dem ersten Aufzug im Bühnenbild von Jens Kilian. Foto: Thilo Beu

Soltesz ist ein Pragmatiker: Die großen Stücke des gängigen Repertoires gehören für ihn zu jedem publikumsfreundlichen Spielplan: Mozart, Verdi, Puccini, Wagner. In Essen machte sich Soltesz 2008 an seinen allerersten „Ring“. Seine letzte eigene Premiere war Wagners „Parsifal“: musikalisch krönender, szenisch verunglückter Schlussstein der Reihe der zehn Opern des Bayreuther Kanon, die er im Lauf der Jahre in Essen dirigiert hat. Ausgrabungen waren seine Sache nicht – auch wenn er sich einen Meyerbeer durchaus auf der Aalto-Bühne hätte vorstellen können.

Gelegentlich ließ er sich auf Ausflüge ein: Verdis „Luisa Miller“, Umberto Giordanos „Andrea Chenier“, Alexander Borodins „Fürst Igor“ oder Händels „Hercules“ kamen unter seiner Intendanz heraus – und vor kurzem zum Verdi-Jahr „I Masnadieri“ nach Schillers „Die Räuber“. Soltesz machte sich auch für Aribert Reimanns „Lear“ stark und erinnerte an Hans Werner Henzes kluge Reflexion über das Künstlerdasein: „Elegie für junge Liebende“. Dass er sich 2008 mit Christian Josts „Die arabische Nacht“ abplagte, zeigte, wie undankbar der Einsatz für Zeitgenössisches sein kann.

Alles was ist, endet, sagt Erda im „Rheingold“. Das ist für sterbliche Menschen auch gut so. Mit dem Weggang von Stefan Soltesz geht eine lange, stabile und künstlerisch fruchtbare Ära am Aalto-Theater zu Ende. Seine Nachfolger werden die Akzente anders setzen. Die Zeiten, in denen eine starke Persönlichkeit Orchester und Ensemble prägte, sind wohl auf absehbare Zeit vorbei. Gastdirigenten kommen, neue Regisseure, andere Schwerpunkte im Spielplan. Soltesz‘ Erbe ist eine Herausforderung: Das hohe Niveau will gehalten sein. Die Zuversicht ist groß, dass es gelingt.

Als Dirigent wird Soltesz dem Essener Publikum erhalten bleiben: Am 10. November leitet er die Wiederaufnahme von „Tristan und Isolde“; weitere Vorstellungen der „Zauberflöte“, des „Fliegenden Holländer“, von „La Traviata“, „Ariadne auf Naxos“ und „Madama Butterfly“ sind geplant. Seine „riesige Musizierlust“ kann er wieder außerhalb Essens ausleben – bei Gastspielen, die er zugunsten seines Stammhauses stets zurückgestellt hat. In der kommenden Saison steht er u.a. in Wien, Budapest („Der Rosenkavalier“ und „Elektra“), Warschau („Lohengrin“) und Hamburg („Arabella“) am Pult.

Die letzten Vorstellungen: Strauss, Die Frau ohne Schatten, am 21. Juli (ausverkauft); Puccini, Tosca, am 14. Juli (Restkarten); Mahler, Sinfonie Nr. 2, am 18. und 19. Juli in der Philharmonie (ausverkauft).




Herkules oder Sisyphos – Hein Mulders stellt sein erstes Philharmonieprogramm vor

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Hein Mulders, neuer Intendant der Essener Philharmonie und der Aalto-Oper. Foto: Philharmonie Essen

Der Held ist noch etwas müde. Langsam nur schwingt er sich auf, um mehr und mehr im Glanz zu erstrahlen. Es ist ein satt orchestrales Leuchten, das uns über Lautsprecher geboten wird, Richard Strauss’ sinfonische Dichtung „Ein Heldenleben“, als Introduktion zur Präsentation des neuen Philharmonie-Programms in Essen. Und wer mag, darf sich die Frage stellen, inwieweit der neue „Superintendant“ der Stadt, der Niederländer Hein Mulders, ein Held ist angesichts der gewaltigen Aufgabe, die es zu bewältigen gilt.

Jedenfalls ist es in NRW einmalig, dass der Chef der Philharmonie zugleich die Oper, hier das Essener Aalto-Theater, führt. Vergleichbares würden Dortmund, Düsseldorf oder Köln wohl weit von sich weisen. Mulders aber will den Kraftakt wagen, mit der Zeit wird sich dann herausstellen, ob er als tatkräftiger Herkules oder als stressgeplagter Sisyphos gelten darf. Eines jedoch scheint schon jetzt festzustehen: Der neue Mann will in seiner ersten Saison, der Spielzeit 2013/14, wenn die Philharmonie zehn Jahre alt wird, klotzen und nicht kleckern.

Denn mit avisierten 130 konzertanten Eigenveranstaltungen legt Mulders im Vergleich zu seinem Vorgänger Johannes Bultmann noch eine ordentliche Schüppe drauf, einem Plus von etwa 25 Prozent entsprechend. Zehn thematische Reihen enthält das neue Programm, zwischen 14 Abos kann das geneigte Publikum wählen. Gleichwohl gilt, dass auch der „Superintendant“ das Rad des Musikbetriebs nicht neu erfinden kann. Gutes bleibt, etwa die höchst erfolgreiche Reihe „Alte Musik bei Kerzenschein“, anderes wird erweitert – wie das sehr avancierte Neue-Musik-Projekt „NOW!“, das sich in der neuen Saison dem Phänomen des Klangs im Raum widmet.

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Dirigent Mariss Jansons eröffnet die Philharmoniesaison 2013/14. Foto: BR/Matthias Schrader

Keine Spielzeit ohne „Stars“. Ein Konzerthaus muss Namen bieten, um das Publikum zu locken. Und damit wird in Essen wahrlich nicht gegeizt: Nehmen wir nur die neue Residenzkünstlerin, die Sopranistin Anja Harteros. Oder berühmte Dirigenten wie Riccardo Muti, der mit dem Chicago Symphony Orchestra gastiert, Lorin Maazel, der die Münchner Philharmoniker leitet, nicht zuletzt Valery Gergiev und das London Symphony Orchestra. Eröffnet wird die Saison 13/14 übrigens mit dem Gespann Mariss Jansons und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks: Am 5. September 2013 erklingen dann zwei Schlüsselwerke der klassischen Moderne – Bartóks Konzert für Orchester und Lutoslawskis gleichnamiges Opus.

Im Mittelpunkt aber steht die Programmmusik und mit ihr das Oeuvre Richard Strauss’, dessen 150 Geburtstag im nächsten Jahr ansteht. Dann erklingen diverse Symphonische Dichtungen wie eben auch „Ein Heldenleben“, das kaum zu hörende Festliche Präludium für Orgel und Orchester, zudem Lieder und Opernszenen. Strauss dirigierte im übrigen 1904 zur Eröffnung des Essener Saalbaus seine „Sinfonia domestica“ – ein Werk, das 2014 die Philharmoniker der Stadt mit ihrem neuen Chef, Tomás Netopil, interpretieren werden.

Vieles mehr wäre hier zu nennen: etwa die neuen Formate „Wege zu Bach“, „Piano lectures“ oder „Entertainment“. Doch da sei den Neugierigen die Lektüre des güldenen Spielzeitbüchleins oder das Studium der Internetseiten (www.philharmonie-essen.de) empfohlen. Verwiesen sei zudem auf Hein Mulders zweite Pressekonferenz über die neue Opernspielzeit. Erste Verzahnungen werden gewiss erkennbar sein. Für die Philharmonie aber gilt, dass der „Superintendant“ wohl auch an der Marke von 75.000 Besuchern gemessen wird, die Vorgänger Johannes Bultmann zuletzt erreichen konnte. Wir sind gespannt.




Rätselhafter Ausklang: Strauss‘ „Alpensinfonie“ in der Philharmonie Essen

Aufführungen der „Alpensinfonie“ von Richard Strauss sind stets ein herausforderndes Ereignis: Gebraucht wird ein Riesenorchester und ein Dirigent, der die Klangmassen nicht nur wuchtig und monumental ausspielt, sondern gliedert, staffelt und zügelt.

Marc Albrecht versuchte mit dem Nederlands Philharmonisch Orkest in der Philharmonie Essen sein Bestes: Er hielt die Dynamik im Zaum, damit die Höhepunkte wirken. Er nahm die lautmalerischen und die effektvollen Stellen zurück, damit das Werk nicht allzu sehr zu einer tönenden Gebirgspostkarte verkommt.

Vor allem aber konnte er zeigen, dass Strauss nicht bloß gewaltige Filmmusik geschrieben hat, sondern die literarischen Naturbilder im Sinne der Romantik aufzufassen sind: Aus der tonal verdunkelten Tiefe steigt der musikalische „Wanderer“ auf zu leuchtend ungebrochener C-Dur-Vollkommenheit, um sich dann Stürmen und Gewittern zu stellen und in einem rätselhaften Cluster in der Tonart b-Moll die Wanderung „ausklingen“ zu lassen. Die „Nacht“, die sich am Ende einstellt, ist nicht mehr romantisch-samten, sondern irritierend dunkel; das b-Moll des Nebels lässt sie undurchsichtig werden.

Wer die Sinfonie vom Ende her betrachtet, fragt sich, ob die filmischen Schauplatz-Bezeichnungen der Sätze nicht eher ihren Sinn verschleiern als erhellen. Und es schleicht sich ein Verdacht ein, den der Komponist Helmut Lachenmann einmal geäußert hat: Dass Strauss hier näher an Mahler und Schostakowitsch rückt, als die Bewunderer und Verächter des umstrittenen Werks wahrnehmen. Albrechts Verdienst war es, die Sprödigkeiten nicht zum samtenen Klang zu glätten, sondern als Ausdrucks-Ausrufezeichen stehen zu lassen. Reibungslose Schönheit hatten die Niederländer nicht im Sinn. Andererseits will Albrecht auch das Illustrative, das Vordergründige nicht leugnen. Aber die „gespenstische Emphase“, die Lachenmann in dieser Musik vernehmen will, macht er greifbar.

Einige Besucher des Pro-Arte-Konzerts wollten sich der Wanderung nicht aussetzen. Sie ließen sich in der Pause die Mäntel geben und begnügten sich mit Beethovens Viertem Klavierkonzert – wohl in der Meinung, diese Musik sei tiefgründiger oder verständlicher als der Strauss-Brocken. Irrtum: Sie ist nur vertrauter. Alexei Volodin spielte mit lockerer, eleganter Hand, klassizistischer Noblesse, Detail-Aufmerksamkeit und emotionaler Betroffenheit, vor allem im mittleren Satz, den er gemeinsam mit dem Dirigenten zum expressiven Adagio verlangsamte. Über den Gebrauch des Pedals und die saloppe Präzision mancher Stelle ließe sich streiten; ebenso über das überdrehte Tempo in der Chopin-Zugabe.




Die Wiener Symphoniker in Essen: Sachte pocht das Schicksal …

Die Wiener Symphoniker waren auf Tournee in Deutschland, unter anderem in Köln, Düsseldorf und Essen. Mit Alison Balsom, neben Tine Thing Helseth eine der jungen Startrompeterinnen der Klassik-Szene, und mit Gerhard Oppitz, dem gereiften, stets gesetzte Ernsthaftigkeit ausstrahlenden deutschen Pianisten.

In der Essener Philharmonie präsentierte das Orchester unter Dmitrij Kitajenko ein durch und durch wienerisches Programm: Beethovens Fünfte und Haydns Trompetenkonzert. Dazu die „Rosenkavalier“-Suite als kleinen Vorgeschmack auf das Strauss-Jahr 2014; eines der Stücke, in denen sich der nostalgische Blick auf ein barockes Ideal-Wien erfüllt. Der nächste Strauss-Jahr „Preview“ wird übrigens schon am 12. März geboten: Das Nederlands Philharmonisch Orkest spielt dann in der Essener Philharmonie die „Alpensinfonie“.

Doch vor dem „Rosenkavalier“ pochte es erst wieder einmal an die imaginäre Pforte, das legendäre Schicksal: Kitajenko ließ das so berühmte wie unscheinbare Beethoven’sche Motiv jedoch nicht die künftigliche heroische Entwicklung dräuen, sondern setzte es in luftigem Piano in den Saal, ließ das Orchester dann ein dumpfes Forte spielen und hatte eigentlich erst im Seitenthema den „Bogen“ raus: Die Wiener ließen es in ihrem sanften, unverwechselbaren Streicherklang erblühen; auch die warmen Holzbläser weckten schönste Erwartungen.

Instrumental wurden die auch eingelöst, „szenisch“ allerdings nicht immer: Beethovens suggestive Rhetorik ließ Kitajenko ziemlich kalt. Er befrachtete das Eingangsmotiv nicht mit poetisch-romantischer Schwere, sondern beließ es bei dem Hinweis auf seine zunehmend strukturgebende Bedeutung. Das war eher ein Beethoven aus dem Geiste Haydns, weniger jener politisch-musikalische Feuerkopf, der in seine Fünfte Symphonie ungeniert französische Revolutionsmusik einbaute.

Neben den Details, in denen sich Kitajenko als genau beobachtender, konzeptuell denkender Kopf erwies, neben spannenden Crescendi und Momenten schwungvoller Frische stand eine merkwürdige Erschlaffung von Beethovens hochgespannter Idee: die drängende Dynamik, das ungeduldige Losbrechen aus Stauungen, der stürmerische Gestus blieben altmeisterlich distanziert.

So wechselte man ohne Bruch zu Haydn hinüber: Der hatte im Wien des Jahrhundertwechsels 1800 andere Revolutionen im Sinn als sein Kollege drei Jahre später. Er schrieb für Anton Weidingers „Klappentrompete“, die damals eine aufmerksam registrierte, grundlegende Verbesserung dieses Blechblasinstruments brachte. Haydn kostet die Innovation genüsslich aus und verwandelt die Trompete zu einer Primadonna, der er musikalische Kabinettstückerln geschrieben hat, wie sie die Zuhörer wohl aus der letzten opéra comique im Ohr hatten.

Für Alison Balsom genau das richtige Material, um souveräne Könnerschaft zu demonstrieren, von virtuosen Sprüngen bis zum schmeichelnden Dolce, vom tackernden Staccato bis zum kantablen Legato, vom schmetternden militärischen Fanfarenklang bis zu einem Piano, dessen Süße jedem Wiener Zuckerbäcker Konkurrenz androht. Dass Balsom auch anders kann, dass sie auch die „schmutzigen“, zwielichtigen Töne beherrscht, zeigte sie nach dem begeisterten Beifall in Astor Piazzollas „Libertango“ als Zugabe.

Im „Rosenkavalier“ schien sich Kitajenko eher in die derbe lerchenauische Ochsen-Gemütlichkeit verguckt zu haben als in die wehmütig verblassende Rokoko-Finesse der Marschallin und ihres Liebhaber-Buben. Recht behäbig zeigt schon das Hornsignal zu Beginn, dass wir mit dem Beisl rechnen müssen, weniger mit dem Ballsaal. Für ein rundum farbenfrohes Porträt des rustikalen Barons freilich ließ Kitajenko das Metrum zu wenig schlendern; auch der Kontrast zur Raffinesse der gläsern-ätherischen Welt der „Silbernen Rose“ erinnerte eher an den Stil einer ländlichen Skizze als an eine verfeinerte Silberstift-Zeichnung.

Die herzlich applaudierenden Zuhörer in diesem wieder fast ausverkauften „Pro Arte“-Konzert schickten Kitajenko und die Wiener Musiker dann „Ohne Sorgen“ ins „Krapfenwald’l“, wo der Kuckuck auch mal aufwärts schlägt und die Vogerln tirilieren: die Strauß-Polkas erweisen sich eben immer wieder als Sorgenkiller und Stimmungsraketen!




Sternstunde des Strauss-Gesangs: Anja Harteros im Konzerthaus Dortmund

Anja Harteros erntete als Strauss-Interpretin Ovationen (Foto: Pascal Amos Rest/Konzerthaus Dortmund)

Manch gefeierte Gesangsstimme unserer Tage gleicht ja einem Stück Haute Couture: Das Material ist luxuriös, die Verarbeitung aufwändig und der Zuschnitt perfekt. Es gibt aber auch Stimmen, die trotz aller Gesangstechnik im Kern natürlich geblieben sind. Stets gefährdet und gerade dadurch kostbar, lassen sie den durchgestylten Gala-Glanz mühelos erblassen.

Eine solche Stimme besitzt Anja Harteros, die jüngst im Konzerthaus Dortmund mit Liedern von Richard Strauss zu erleben war. Begleitet wurde die Sopranistin vom Concertgebouw-Orchester Amsterdam, das aufgrund einer Erkrankung seines Chefdirigenten Mariss Jansons unter der Leitung des 27-jährigen Franzosen Alexandre Bloch spielte.

Für die Tournee mit den „Königlichen“ hat die Sängerin sechs Lieder mit melancholischem Grundton ausgewählt. So beschwören „Waldseligkeit“ und „Zueignung“ die Einsamkeit des Liebenden, „Allerseelen“ und „Morgen!“ gar die Wiedervereinigung im Jenseits. Die Harteros taucht das in flammende, üppig changierende Farben der Wehmut. Weit und mühelos greift ihr Sopran ins Mezzo-, ja sogar ins Alt-Register aus. Ihre langen Legato-Bögen, die selbst im Mezzopiano unangestrengt über das Orchester hinweg schweben, erreichen im „Wiegenlied“ eine delikate, silbrige Zärtlichkeit. So sehr sie „Morgen!“ in fahle Transzendenz taucht, so glühend lässt sie die Emotionen in der „Zueignung“ überströmen. Jedes Wort kann sich aus dem Munde dieser Sängerin unversehens zum Himmel weiten, jede harmonische Rückung kann neue Welten eröffnen. Anja Harteros begegnet der hohen Liedkunst von Richard Strauss mit Bescheidenheit und Größe, mithin als überragende Interpretin.

Vor großen Herausforderungen stand der junge Einspringer Alexandre Bloch. Nach der brillanten, schwungvoll musizierten Ouvertüre „Der Widerspenstigen Zähmung“ aus der Feder des Niederländers Johan Wagenaar hatte der Dirigent zwei Schwergewichte der Orchesterliteratur zu bewältigen: Jörg Widmanns „Teufel Amor“, inspiriert von einem Gedichtfragment von Friedrich Schiller, sowie die Tondichtung „Tod und Verklärung“ von Richard Strauss. Beide Mammut-Partituren zeugen von rauschhafter Instrumentierungskunst und behandeln das Orchester äußerst virtuos.

Beherzt schöpft Bloch aus den Klangmöglichkeiten, die ihm das Amsterdamer Spitzenensemble bietet. In Jörg Widmanns 2011 entstandenen Sinfonischen Hymnos spielt er mit Registern, als habe er eine große Orgel vor sich. Bloch arbeitet sich vom grüblerisch-bedrohlichen Dröhnen der Blechbläser vor, steigert das Werk zu Apotheosen, die wiederum ins Geisterhafte abgleiten. Selbst im robusten Dauer-Forte legt er viele spannende Schichten frei. Im Herzen bleibt er dabei ein Romantiker, der uns Widmanns Werk als Fortschreibung von Traditionslinien zeigt, die von Richard Strauss und Gustav Mahler in die Zukunft weisen. In „Tod und Verklärung“ setzt er der schleppenden, nachtschwarzen Einleitung ein leidenschaftliches Aufbegehren entgegen, das immer neu auflodert. Die Verklärungsmusik klingt indes überraschend diesseitig. Den letzten Perspektivwechsel, der alles zuvor Erklungene wie von oben herab betrachtet, enthält Alexandre Bloch uns an diesem Abend vor.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Klangwuchtiger Wahn – Die Rheinoper zeigt „Elektra“ als stetes seelisches Dahinwelken

Elektra, das Racheweib (Linda Watson), die Axt umschlingend. Foto: Matthias Jung

Plötzlich geht ein Ruck durch die Reihen. Ein paar Herrschaften schicken sich an, das Theater zu verlassen. Mitten im Stück. Ohne offensichtlichen Grund. Denn auf der Bühne wird weder bildmächtig gefoltert, noch blutig gemordet. Keine Orgien im Müll, keine Schändungen, nichts. Was also geschieht hier?

Positiv betrachtet, aus der Sicht der Kunst, in diesem Falle der Musik, spült die fantastische Kraft und Wucht der Klänge, die Wahn, Obsession und Deformation artikulieren, diese Menschen aus dem Düsseldorfer Opernhaus. Kein Wunder, wenn „Elektra“ gegeben wird, Richard Strauss’ revolutionär exzessiver Einakter mit all seinen dynamischen Extremen – hier sensibel, aber schon bedrohlich, dort immer noch lauter, brachialer, schockierender. Ins Negative gewendet aber heißt dies: Wer’s nicht aushält, der muss fliehen. Daraus einen Vorwurf zu stricken, ist indes Unsinn. Strauss hat sich in „Elektra“ einem dionysisch-pathologischen Rausch (auch der Orchesterfarben, bis hin zum Geräusch) ergeben, der im Grunde die Neurose auf die Bühne bringt. Kranke zu betrachten, wie sie seelisch dahinwelken, ist nicht jedermanns Sache.

Andere mögen diesen Abend im Düsseldorfer Opernhaus als Katharsis erkennen. Wer dieses tönende Stahlbad der Ekstasen durchschritten hat, sieht manch Nervositäten des Alltags mit einem milden Lächeln. Dass dies ein Werk leisten kann, das vor immerhin mehr als 100 Jahren uraufgeführt wurde, ist beachtlich. Dass Richard Strauss es mit „Salome“ und „Elektra“ bei seinem Ausflug in den wild-wuchernden Jugendstil und den harschen Expressionismus bewenden ließ, darf umso bedauerlicher registriert werden.

Es ist hier nicht zuletzt deshalb soviel von der Musik die Rede, weil die Düsseldorfer Neuproduktion der „Elektra“ ihre nervöse Spannung zuallererst aus der brodelnden Energie gewinnt, die aus dem Orchestergraben steigt. Dann muss von einer starken bis phänomenalen Sängerleistung die Rede sein. Zum Schluss von einer Regie, die, wie angedeutet, keinen Grund für reflexhafte Flucht liefert. Die sich mitunter gar der exaltierten Interaktion verweigert. Die andererseits ein wuchtiges Bühnenkonstrukt gewissermaßen mitsprechen lässt.

Grau, verwinkelt, unheimlich: Das Haus der Elektra. Foto: Matthias Jung

Roland Aeschlimann hat dies in Form eines gewaltigen Hauses erbaut und auf die Spielfläche gewuchtet. Flackernde Lichter. Fensterlose Löcher, aus denen bisweilen Tote herausbaumeln, graue Mauern, die das Innere weitgehend verbergen. Erst am Ende, wenn Elektras Bruder Orest aus Rache die Mutter und deren Liebhaber gemeuchelt hat, bekommen wir Einblick. In ein Eingeweide, das so deformiert ist wie die Seelen der Menschen.

Elektra also, gefangen in der Beschwörung ihres erschlagenen Vaters Agamemnon und ihrer Gier nach Vergeltung. Gefesselt vom eigenen Wahn und daraus resultierender Einsamkeit. Doch ach: So sehr Linda Watson die Partie betörend, verstörend, aufbegehrend singt, in leuchtenden Farben und in größter Kraft, so wenig körperliche Exaltation lässt Regisseur Christof Nel zu. Das Racheweib wirkt kalt, mitunter wie unbeteiligt. Selbst die große Mutter-Tochter-Szene, mit Renée Morloc als Klytämnestra, die ihre Stimme bis in die Überzeichnung treibt, bleibt ein eher zahmes Duell.

Immerhin darf sich Morloc wie eine Besessene, von Träumen Geplagte austoben, so wie Elektras Schwester Chrysothemis (Morenike Fadayomi, mit einigen Problemen bei der Stimmfokussierung), dauererregt an einem Brautkleid herumnestelt. Pure Statik hingegen umgibt den totgeglaubten Bruder Orest. Doch in seiner steifen Würde wirkt der Mann eminent bedrohlich, weil Hans-Peter Königs Bass noch das größte, stärkste orchestrale Wirbeln trefflich übertönt.

So soll erneut von den Düsseldorfer Symphonikern die Rede sein. Die Dirigent Axel Kober anfangs zügelt, um ihnen alsbald freien Lauf zu lassen. Und die doch, trotz aller Klangwucht, stets die Balance halten zu den Solisten, die ungemein textverständlich singen. Damit wird diese Rheinopernproduktion zu einem singulären Ereignis.

Wohl dem, der bis zu den letzten brutalen Schlägen des Orchesters ausgehalten hat. Sehr sehr schade allerdings, dass es nur noch eine Vorstellung gibt, am 7. Oktober.

Karten unter Tel.: 0211/8925-211

www.operamrhein.de

 




Wagner, Maazel, Tristan: In Essen feiert man den „Meister“ etwas anders

Richard Wagner wird 2013 erwartungsgemäß groß gefeiert. Ringe beginnen und Ringe enden, allenthalben eifern Regisseure zu zeigen, was noch nie erschaut, versuchen Dirigenten aus den Partituren zu lesen, was noch nie erlauscht. Staatsopern beschäftigen sich mit den Haupt- und Staatsaktionen der Wagner-Bühne. Den Rest überlässt man den Kleinen und schürt damit das von den Wagner-Vergötterern der Bayreuther Kreise propagierte Vorurteil, erst ab dem „Holländer“ beginne der „echte“ Wagner.

So wird es grad ein wenig „Rienzi“ geben – obwohl ein Experte wie Egon Voss dafür plädiert, in diesem Werk sei das Wagner’sche Idiom erstmals zweifelsfrei durchgehend hörbar. Die Rhein-Ruhr-Region kann ab 9. März 2013 in Krefeld Wagners Versuch erleben, die zeitgenössische französische und italienische Oper zu übertreffen (Regie: Matthias Oldag). Keinen Anwalt finden „Das Liebesverbot“ oder gar „Die Feen“ – mit Ausnahme von Leipzig, das mit Bayreuth kooperierend beide Werke szenisch bringt –, obwohl die Lebenskraft dieser frühen Opern in den letzten Jahren immer wieder auch auf der Bühne zu bestaunen war – zuletzt beim „Liebesverbot“ in Meiningen, das ab 2. Februar 2013 dort wieder dem Spielplan steht.

Dass Hinrich Horstkotte vor den Toren Dresdens, in Radebeul, das „Liebesverbot“ inszenieren darf (Premiere am 8. Dezember 2012), zeichnet nicht nur dieses Mini-Opernhaus aus, sondern ist auch eine schallende Ohrfeige für die keine halbe Stunde Straßenbahnfahrt entfernte Semperoper, der statt des überall gespielten „Tristan“ ein „Rienzi“, uraufgeführt 1842 in Dresden, gut gestanden hätte.

So hebt sich die Essener Philharmonie unter ihrem scheidenden Intendanten Johannes Bultmann aus dem meist überflüssigen Wagner-Gefeiere durchaus mit einem Programm der klügeren Sorte heraus: Unter dem Titel „Tristan Akkord“ rückt Wagners folgenreiches harmonisches Experiment in den Blickpunkt. Der „Tristan-Akkord“ avancierte zum Fanal für den Aufbruch in die musikalische Moderne und hielt Generationen von Musikern in seinem Bann. Wobei die Folge von fünf Sinfoniekonzerten auch die Rolle von Franz Liszt beleuchtet, den man mit Fug und Recht als den kühneren Neuerer bezeichnen darf. Hat er doch schon 1854 in seiner „Faust-Sinfonie“ ein Zwölftonthema verwendet. Aber an Wagner schieden und schärften sich die Geister der kommenden Generationen, und der Akkord aus „Tristan und Isolde“ wurde zur Chiffre für das Neue.

Dieses Neue faltet sich auf bei sonderbaren Hitzköpfen wie Alexander Skrjabin, den das Russische Nationalorchester am 11. November mit seiner Sinfonie „Poème de l’extase“ vorstellen wird. Auch Rachmaninow und Elgar – die beiden anderen Komponisten im Programm – wären ohne Wagner nicht denkbar. Liszt und Skrjabin sind dann die Eckpfeiler einer Klaviermatinee von Evgeny Bozhanov am 14. April. Und am 18. Mai spielt das WDR-Sinfonieorchester Liszts „Faust-Sinfonie“.

Bereits am 6. Oktober ist das hr-Sinfonieorchester zu Gast in der Philharmonie. Auf dem Programm: Arnold Schönbergs „Pelléas et Mélisande“ op.5, 1905 uraufgeführt. Das eher durch seine Verwendung von Leitmotiven mit Wagner korrespondierende Werk ist eine hervorragende Ergänzung zu Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ von 1902, die – leider am gleichen Tag – im Aalto-Theater Premiere hat.

Dass die weit verzweigten Verästelungen des französischen „Wagnérisme“ unbeachtet bleiben; dass von Emmanuel Chabrier bis Vincent d’Indy und Ernest Chausson nichts zu hören ist; dass auch die deutsche musikalische Wagner-Rezeption zwischen kritikloser Imitation und kreativer Transformation durch seinen Sohn Siegfried Wagner unbeleuchtet ist, lässt das Konzept rudimentär bleiben. Für solche konsequente Durchformung eines Programm-Gedankens fehlt dann wohl das Geld und – bei vielen Mainstream-Musikern – auch der Wille.

Den „Tristan-Akkord“ selbst brachte zur Eröffnung der Konzertreihe kein Geringerer als Lorin Maazel zum Klingen: Kaum im Amt als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, kam er mit seinem neuen Orchester, den Münchner Philharmonikern, in den Alfried-Krupp-Saal. Immer wieder war er in Essen gern gesehen: 2005 und 2008 mit dem New York Philharmonic Orchestra, 2010 mit den Wiener Philharmonikern, 2011 mit Mahlers Fünfter und dem Philharmonia Orchestra London. Nach glänzendem Erfolg mit Mahler in München und Bruckner beim Lucerne Festival brachte Maazel nun Schubert, Wagner und Strauss mit – und die Münchner Philharmoniker zu ihrem Debüt in Essen!

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Maazel hat viele unvergessliche Abende dirigiert – und auch dieser wird im Gedächtnis bleiben. Allerdings nicht, weil die Interpretation des 82jährigen überzeugt hätte. Denn Maazel scheitert im „Tristan“-Wunschkonzertstück an einem ins schier Endlose gedehnten Tempo; in Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“ an seinem Verständnis von „sehr breit“, das er nicht endenwollend dehnt. Als wolle er in die Spuren von Sergiu Celibidache treten, mit dem die Münchner legendär langsame Konzerte spielten, zerstückelt er die Erregungskurve des „Tristan“-Vorspiels in statische Klangfarbinseln, lässt das Orchester auf der Stelle brodeln, nimmt der Musik das Sehrende, Strebende, Sehnsuchtsvolle.

Dafür entdeckt der klarsichtige Analytiker im „Liebestod“ Begleitfiguren, die sonst im Fieber untergehen, als seien sie ein Welt-Ereignis. Und wenn sich die Musik vor dem ekstatischen Höhepunkt endlich in Bewegung setzt, baut Maazel noch schnell ein Ritardando ein und nimmt dem Schwung die Kraft. Immerhin: Der „Tristan-Akkord“ selbst erklingt in sezierter Klarheit, wie man es von Maazel nicht anders erwartet hat.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Auch die Fanfare aus Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“, vielen bekannt aus Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, verliert so ihre Dynamik und ihre rhythmische Schärfe. Die Bläser winden sich auf Schneckenbahnen, die Celli grummeln, bis ein Fagott Erlösung verheißt. Maazel kostet aber auch die phänomenalen Spieleigenschaften der Münchner aus und lässt hören, mit welcher musikalischen Weltklasse er die nächsten drei Jahre zusammenarbeitet.

Schuberts Vierte zu Beginn war zum Glück kein Einspielstück, sondern eine farbige Demonstration, was der 19jährige Komponist von Mozart, Gluck und seinem Lehrer Salieri abgelauscht und in aufkeimender Individualität verarbeitet hat.




Ludwig Thuille: Erfinderische Musik mit lyrischer Pracht

Vor 150 Jahren wurde in Bozen der Komponist Ludwig Thuille geboren. Seine Werke sind heute weitgehend unbekannt. Als Lehrer jedoch hat er eine ganze Musikergeneration geprägt. Und seine Harmonielehre ist bis heute im Gebrauch.

Ganz eminent habe das Orchester gespielt, berichtete Richard Strauss am 24. Februar 1886 aus Meiningen, „mit solcher Lust, Liebe und Präcision, dass Du Deine helle Freude gehabt hättest“. Der 21-jährige Kapellmeister hatte soeben mit der weltberühmten Meininger Hofkapelle die F-Dur-Symphonie seines Freundes Ludwig Thuille uraufgeführt. Beide Musiker sollten ein Leben lang befreundet bleiben. Doch so intensiv Thuille die musikalische Welt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beeinflusst hat, so nachhaltig vergessen sind seine eigenen Kompositionen. Zum 150. Geburtstag Thuilles erinnert sich kaum eine musikalische Institution des einst bedeutsamen Komponisten, Kompositionslehrers und Musiktheoretikers. Lediglich in seiner Geburtsstadt Bozen spielt das dort ansässige Haydn-Orchester seine „Romantische Ouvertüre“ in einem Konzert unter Johannes Debus am 13. Dezember.

Leider blieb auch der Impuls wirkungslos, den das Stadttheater Hagen 1998 unter dem stets an Entdeckungen interessierten Chefdramaturgen Peter P. Pachl mit der mutigen Ausgrabung von Thuilles Märchenoper „Gugeline“ gegeben hatte. Bis heute steht etwa eine Wiederaufführung seiner Erfolgsoper „Lobetanz“ aus, die Felix Mottl 1898 in Karlsruhe uraufgeführt hatte und die es bis Berlin und New York geschafft hat. „Gugeline“ in Hagen hat damals mit ihrer musikalischen Sprache überrascht: Thuille erreicht schon 1901 Elemente einer klanglichen Raffinesse und harmonischen Komplexität, die man sonst nur mit Richard Strauss identifiziert. Vor allem in der sinnlichen Pracht seiner lyrischen Erfindungsgabe erweist er sich als eigenständiger schöpferischer Geist, der nicht durch Vergleiche mit später wichtiger gewordenen Komponisten aufgewertet werden muss.

Am 30. November 1861 in Bozen geboren, erfährt der Knabe mit dem rätoromanischen Namen im Stift Kremsmünster ersten geregelten Musikunterricht und lernt als Chorsänger eine weitreichende Musiktradition kennen. Entscheidend für seine Bildung wird Pauline Nagiller, Witwe des Tiroler Kapellmeisters Matthäus Nagiller. Sie holt Thuille als 15-jährigen Vollwaisen nach Innsbruck. Durch sie lernt er die Familie Strauss kennen. Sie sorgt auch für Unterricht durch den Bruckner-Schüler Josef Pembauer. Erste Lied- und Klavierkompositionen entstehen. Pembauer empfiehlt den begabten Jungen zu Joseph Rheinberger nach München. Ab 1879 studiert er dort an der Königlichen Musikschule.

Ulrich Urbans Einspielung der gesammelten Klavierwerke von Ludwig Thuille (Telos/Naxos)

Ulrich Urbans Einspielung der gesammelten Klavierwerke von Ludwig Thuille (Telos/Naxos)

Sein Opus eins, eine Sonate für Violine und Klavier, veröffentlicht Thuille als 19-jähriger. Ein Jahr später, 1882, besiegelt er mit seinem selbst gespielten D-Dur-Klavierkonzert ein ausgezeichnetes Examen. Auf Betreiben seines Lehrers Rheinberger – dem er später nachfolgen sollte – erhält Thuille schon 1883 eine Berufung als Klavier- und Harmonielehrer an die Münchner Musikschule. Dort unterrichtet er bis zu seinem plötzlichen Herztod im Jahr 1907. Das Telegramm mit der Todesnachricht klebt Richard Strauss in sein Tagebuch ein.

Der passionierte Jäger führt in München ein bürgerliches Leben in ruhigen Bahnen. Musikalisch zieht es Thuille durch die Bekanntschaft mit dem Wagner-Anhänger Alexander Ritter zu den „Neudeutschen“ und zur Oper. Strauss führt 1897 in München Thuilles erste Oper „Theuerdank“ auf, ein Misserfolg, der dem Komponisten jedoch ein Drittel des Prinzregent-Luitpold-Preises eingebracht hat. Seine Oper „Lobetanz“ wird an der Metropolitan Opera nachgespielt; deren Intendant Giulio Gatti-Casazza bezeichnet Thuille als „deutschen Puccini“. Strauss widmet dem Freund seine Tondichtung „Don Juan“.

Als Pädagoge entfaltet Thuille eine kaum zu überschätzende Wirkung. Gemeinsam mit Max von Schillings sammelt er in der „Münchner Schule“ damals bedeutende Komponisten um sich. Zu seinen Schülern zählt etwa Hermann Abendroth, von 1911 bis 1914 Musikdirektor in Essen, dann bis 1934 Chefdirigent des Kölner Gürzenich-Orchesters. Oder Walter Braunfels, seit 1925 gemeinsam mit Abendroth Direktor der neu gegründeten Kölner Musikhochschule. Hervorgetreten ist Thuille mit einer gemeinsam mit Rudolf Louis herausgegebenen Harmonielehre, die für Jahrzehnte als Standardwerk verwendet wurde. Sie gilt als Wegweiser in ein modernes harmonisches Denken, von dem auch Thuilles rund 200 Schüler profitierten.

Thuilles kompositorisches Schaffen umfasst rund siebzig Werke. Gespielt wird heute nur noch ab und zu sein Sextett für Klavier und Bläser op. 6. Der Komponist hat sich der Kammermusik intensiv gewidmet. CD-Aufnahmen der letzten Jahre zeigen ihn als einen eigenständigen Musiker, der seinen individuellen Weg sucht, ohne zum Sturm auf das Bestehende zu blasen. So hat das Signum Quartett seine beiden frühen Streichquartette von 1878 und 1881 in A-Dur und G-Dur eingespielt (Capriccio C 5049).

Bei cpo gibt es das groß angelegte Es-Dur-Klavierquintett op. 20 in einer Aufnahme mit dem Vogler Quartett und dem Pianisten Oliver Triendl. Dieser hat sich auch für das Klavierkonzert Thuilles eingesetzt: Es ist, zusammen mit der F-Dur-Symphonie, in einer Einspielung mit dem Haydn-Orchester Bozen unter Alun Francis erhältlich (ebenfalls bei cpo). Der Pianist Ulrich Urban hat schließlich bei Telos die Werke für Solo-Klavier auf einer CD zusammengefasst. Und erst vor wenigen Wochen erschienen beim Label Thorofon zwei Platten. Die eine umfasst 25 Lieder: Alle sind zum ersten Mal eingespielt, sieben davon stammen aus Thuilles Nachlass und sind Uraufführungen. Auf der anderen mit dem Titel „Zauberdunkel und Lichtazur“ singt die Sopranistin Rebecca Broberg weitere Thuille-Lieder neben anderen seiner Zeitgenossen Anton Urspruch (1850-1907) und Erich J. Wolff (1874-1913).

Otto Julius Bierbaum, einer der literarischen Großmeister der Jahrhundertwende, hat nicht nur die Libretti zu „Lobetanz“, zu „Gugeline“ und zu dem kühnen Tanz-Melodram „Die Tanzhexe“ geschrieben. Er hinterließ auch einen Nachruf in Gedichtform für den plötzlich verstorbenen Freund. Darin heißt es:

Denken wir an Dich, Ludwig, der du ein Mensch warst, dessen Gegenwart
Heiter den Geist der Schwere vertrieb und die Herzen erwärmte.




Café zur Sehnsucht – Dortmund zeigt Francesco Cavallis Oper „L’Eliogabalo“

Eliogabalo (Christoph Strehl, M.) lässt sich von den Intriganten Zotico (Hannes Brock) und Lenia (Elzbieta Ardam) beraten. Foto: Jauk

Es war kein Geringerer als Claudio Monteverdi, der den 14jährigen Francesco Cavalli 1616 als Sänger an den Markusdom von Venedig holte. Und dieser junge Eleve wurde im Laufe des Jahrhunderts zum wohl berühmtesten venezianischen Opernkomponisten. „La Calisto“ oder „La Didone“ entpuppten sich als Glanzlichter der Spätrenaissance, mit Wirkung weit über Italien hinaus.

Cavalli hatte indes auch das Glück des Tüchtigen. Denn sein Aufstieg in Venedig ging einher mit einem Boom an Theatergründungen. 1637 eröffnete das Teatro San Cassiano, bald gab es bis zu sieben Spielstätten. Die Gattung Oper, ganz jung noch, gewann an Statur. Und Cavalli war einer ihrer wichtigsten Baumeister. Sein spätes Bühnenwerk allerdings, „L’Eliogabalo“, 1667 entstanden, sollte nicht mehr gefallen. Der Geschmack des Publikums wechselte schnell, das Werk geriet in Vergessenheit.

Es ist den Streitern für die „Historische Aufführungspraxis“ zu danken, dass uns Cavallis Opern erneut ins Bewusstsein gerückt sind. „L’Eliogabalo“ etwa brachte René Jacobs 2004 in Innsbruck heraus. Und nun hat sich das Theater Dortmund des Dreiakters um den dekadenten, lüsternen römischen Imperator Marcus Aurelius Antoninus (Heliogabal) angenommen. Frisch musiziert, in einer wunderbar unaufgeregten, bisweilen komödiantischen Inszenierung.

Die Geschichte über diesen Kaiser, der sich als Jugendlicher noch an die Macht putschte und mit 18 schon seine Mörder fand, hat Cavalli nicht als blutrünstiges Drama vertont, sondern als sorgsam gestaltete Abfolge von Gefühlsschwankungen und seelischen Nöten. Die Personen und Paare, die um den Sonnengleichen tanzen wie Gestirne, schwanken zwischen Liebe und Eifersucht, Loyalität und Abscheu.

Mit der Einführung eines Intrigantenpaars, eines buffonesken darstellerischen Elements also, begründete der Komponist zudem eine Tradition, die sich noch in Richard Strauss’ „Rosenkavalier“ wiederfindet. Als Buffo-Charakter mit philosophischen Anwandlungen ist darüber hinaus die Figur des Dieners Nerbulone zu sehen (den der Bassist Christian Sist herzerfrischend spielt und nuancenreich singt) – ein Typus, der seine Hoch-Zeit vor allem in den Opern Rossinis fand.

Gleichwohl hat Cavalli die kleinen Dramen der Hauptpersonen in den Vordergrund gestellt, die Regisseurin Katharina Thoma eindringlich nachzeichnet. Moderne Kostüme (Irina Bartels) symbolisieren dabei, dass die im Stück verhandelten Themen allgemeingültig sind. Und wenn auf der eigentlich spärlich möblierten Bühne, mit vielen hohen Portalen höfische Größe darstellend, eine Drehtür in eine kärglich bestuhlte Gaststätte führt (Ausstattung: Stefan Hageneier), dann entsteht vor unseren Augen das Café zur großen Sehnsucht.

Liebe und Lamento: Giuliano (Ileana Mateescu, l.) und Eritea (Tamara Weimerich). Foto: Jauk

Es ist in dieser leisen, dennoch berührenden Inszenierung wohl nur konsequent, dass Eliogabalo (markant gesungen von Christoph Strehl) sich nicht wie ein Tier, sondern eher in Don-Giovanni-Manier den Frauen (bisweilen auch den jungen Knaben) zuwendet. Beraten von den Intriganten Lenia/Zotico (Elzbieta Ardam und Hannes Brock als Urkomödianten) setzt er auf List und Tücke. Ein bisschen kläglich wirkt er dabei, alles andere als souverän.

Die Frauen, Eritea (Tamara Weimerich) zunächst, dann auch Flavia Gemmira (Eleonore Marguerre), wanken dennoch zwischen Hingabe an den Herrscher (mit der Aussicht, Kaiserin zu werden) und Treue zu ihren Liebsten. In der Mischung von rezitativischen Ausbrüchen, zweifelndem Lamentoso sowie inniger Liebeserklärung singen beide betörend schön und differenziert, wie auch ihre Partner John Zuckerman (des Kaisers Cousin Alessandro, Flavias Verlobter) und Ileana Mateescu (des Herrschers 1. Prätorianer, mit Eritea verlobt).

Dass selbst eine relativ kleine Rolle wie die der Atilia (unglücklich verliebt in Alessandro) mit Anke Briegel vorzüglich besetzt ist, gibt dem Dortmunder Intendanten, Jens-Daniel Herzog, in einem Punkt schon jetzt recht: Das beinahe durchweg neu verpflichtete Ensemble hat erhebliche Qualität. Die Dortmunder Philharmoniker wiederum, in kammermusikalischer Besetzung, um Cembalo/Organum (Andreas Küppers) und Theorbe/Barockguitarre (Johannes Vogt) klangfarblich bereichert, liefern unter der Leitung des Alte-Musik-Experten Fausto Nardi ein großartiges Beispiel feiner Gestaltung und rhythmischer Frische.

Eine durchweg gelungene Produktion also, deren Premiere aber leider vor halbvollem Haus stattfindet. Schon jetzt dürfte dem neuen Intendanten klar sein, wie viel es zur Publikumsbindung noch bedarf.

Infos zur Aufführung/Termine/Karten:

http://www.theaterdo.de/event.php?evt_id=1314&sid=4c1beb1c05cfcb34a811d02f849ce3de

 

 

 




„Merlin“ – Isaac Albéniz‘ wirrer Opernschinken in Gelsenkirchen

König Arthur (Lars-Oliver Rühl) hält das Schwert des Mächtigen. Foto:MiR/Beu

Endlich mal keine „Carmen“, „Traviata“ oder „Zauberflöte“ – allesamt Opernhits, die landauf, landab heruntergenudelt werden. Dafür bekommen wir „Merlin“. Das ist der Zauberer aus der Artus-Sage. Das ist hehrer Stoff, große Oper, ja großes Kino. Da hat sich schon Richard Wagner prächtig bedient, haben sich unzählige Literaten, später Filmemacher inspirieren lassen.

„Merlin“ also. Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) lädt zur Deutschen Erstaufführung einer Oper, die indes schon über 100 Jahre alt ist. Sie stammt von dem Spanier Isaac Albéniz. Geschrieben auf das Libretto eines reichen Briten namens Francis Burdett Money Coutts. Ein exzentrischer Kauz und glühender Wagnerianer, der sich im wahnhaften Wetteifern mit dem Bayreuther Meister an einer Artus-Trilogie abarbeitete.

Albéniz wiederum, als meisterlicher Pianist in Europa eine Größe, als Komponist vor allem mit Klavierwerken glänzend, wollte in den 1890er Jahren die Oper für sich entdecken. Vielleicht war auch da ein wenig Geltungsbedürfnis im Spiel, der unbedingte Wille, als Spanier im Konzert des mitteleuropäischen Musikdramas mitzumischen. In London jedenfalls fanden Albéniz  und der „Literat“ zusammen. Leider: Denn dieser Begegnung bedurfte es in der Musikgeschichte nun wirklich nicht.

Das Ergebnis nämlich war „Merlin“: schrecklich unbeholfen im dramaturgischen Verlauf, unsäglich das Libretto, krude und wüst in der musikalischen Gestaltung. Albéniz serviert uns Wagner light in Verbindung mit übersteigertem Verismo. Eine Melange, die oft in pur Plakativem mündet. Offenbar hatte der Komponist wenig Gespür dafür, die Szenerie klanglich differenziert zu zeichnen. „Merlin“ ist ein wirrer „Schinken“, der an Richard Strauss’ wenig später erschienene „Salome“ nicht mal kratzen kann.

Trotz allem hat sich das MiR an die Ausgrabung gewagt, acht Jahre nach der Uraufführung in Madrid. Hat das Werk mutig eingekürzt auf drei konzentriert gefasste Akte. Und hat sich an diesem „Schatz“ gehörig verhoben. Regisseur Roland Schwab präsentiert Archetypen, keine Charaktere. Ausstatter Frank Fellmann zeigt im wabernden Nebel oder mystischen Blau eine Straße ins Nirgendwo, einen gestrandeten Wagen. Merke: Die Sehnsucht nach dem Sagenhaften ist auch der Moderne nicht fremd.

Blonder Racheengel: Nivian (Petra Schmidt) tötet Merlin (Björn Waag). Foto: MiR/Beu

Die Ritter kommen hingegen ritterlich daher (Kostüme: Renée Listerdal), wenn Artus, wie ein tumber Siegfried, das Schwert aus dem Stein zieht und König wird. Nach dem Krieg mit den Anhängern der grundbösen, verräterischen Morgan sehen wir aufgespießte Köpfe. Im Schlussakt plötzlich Merlins Ende, blutig gerichtet von seiner Sklavin Nivian.

Wahn, überall Wahn. Die Regie hat den Figuren vor allem aufgesetzte, exaltierte Posen verordnet. Bjørn Waag (Merlin), Lars-Oliver Rühl (Arthur) und Majken Bjerno (Morgan) singen überwiegend am oberen Ende der Ausdrucksskala, was den Stimmen nicht bekommt.  Einzig Petra Schmidt (Nivian) verströmt bisweilen lyrische Wärme in differenzierter Dynamik. Dirigent Heiko Mathias Förster wiederum führt Chor und Neue Philharmonie Westfalen einigermaßen unfallfrei durch die wüste Partitur.

Am Ende haben wir gegen zehn Uhr die Oper verlassen und wähnen uns um die Mitternacht. Wir hören „Iberia“ – wunderbarer Albéniz.

 




Sturm und Drang – Vilde Frang

Irgendwo weit draußen muss es eine Quelle geben, der von Zeit zu Zeit aparte Fräuleinwunder entspringen, die eine Geige in die Hand nehmen und die Welt mit Musik verzaubern. Sie sind von klein auf im Reich der Töne zuhause, vollbringen Außerordentliches auf ihrem Instrument. Voila, hier also ist Vilde Frang.

Die Norwegerin, zarte 24 Jahre jung, studierte bei Kolja Blacher, und die Namen ihrer Mentoren flößen Ehrfurcht ein: Gidon Kremer, Martha Argerich, Anne-Sophie Mutter. Ein Glückskind betritt die Szene, und hat uns nun zwei CD’s geschenkt. Zeigt keine Angst, sondern greift sich zunächst nahezu grimmig entschlossen große Virtuosen-Brocken: die Violinkonzerte von Sibelius und Prokofiev (Nr.1).

Wie schnell fliegen da die Finger, wie präzise, wie zwingend ist ihre Gestaltungskraft. Süchtig aber macht ihr Ton, der fahl verhangen schimmert oder strahlend glänzt. Der schneidend-attackierend oder uns ganz schroff ans Ohr kommt. Gerade richtig für die kühne, wilde, satt-lyrische Musik eines Sibelius. Und dann erst die Fratzenhaftigkeit in Prokofievs Scherzo: Ein Spuk ist das, eine böse, garstige Narretei. Vilde Frang liebt kernige Akzente, zuckt aber (noch) zurück vor Schwebendem, etwa vor der finalen Entrückung des letzten Satzes. Eine junge Frau agiert im Geiste des Sturm und Drang. Schade nur, dass das WDR Sinfonieorchester Köln unter Thomas Søndergård teils brav und klanglich wenig präsent dieses Bild trübt.

Grieg, Bartók, Strauss – es ist nicht gerade die gängige Violinsonaten-Literatur, die sich die junge norwegische Geigerin Vilde Frang für ihre Kammermusik-CD ausgesucht hat. Doch ihres Mottos getreu, im unerschöpflichen Fundus klassischer Musik stets neues zu entdecken, bleibt uns das gängige Repertoire eines Beethoven, Schumann oder Franck verwehrt. Macht aber nichts: Das Hineinhören ins Frangsche Raritätenkabinett öffnet Horizonte – was gleichermaßen für drei außergewöhnliche Werke wie auch für das Spiel der Künstlerin gilt, ihren kongenialen Partner und Mitgestalter am Klavier, Michail Lifits, selbstredend eingeschlossen.

Griegs 1. Violinsonate mag in ihrem romantischen Gestus an Schubert erinnern, doch der bisweilen fahle, schneidig folkloristische, auch melancholische Ton kann das Nordische nicht verleugnen. Faszinierend wiederum zu hören, wie Vilde Frang zwischen verhangenem und strahlend jubilierendem Klang zu wechseln weiß. Saubere Technik und kristalline Intonation tun ein übriges. Weit mehr aber berührt, ja erschüttert ihre Deutung der Bartókschen Solosonate, ein Jahr vor seinem Tod komponiert. Schroff, brüchig, zerklüftet kommt die Musik daher – technisch höchst komplex. Frang schafft es mit ihrem analytischen Zugriff, diesen Schwanengesang in höchster Expressivität zu vermitteln. Zwischen Melancholie, Schmerz und Raserei irrlichtern Figurationen und Klänge, wie unter Atemnot herausgepresst.

Richard Strauss‘ jugendliche, frische Sonate ist herber, verwirrender Kontrast. Wunderbar hell funkelt die Geige, zudem in allerlei Schattierungen kann das Instrument klingen. Und das Aufblitzen eines kecken Konversationstons im Finale zeigt, wie auch Michail Lifits aller technischen Raffinesse gewachsen ist.

Die beiden CD’s sind bei EMI Music erschienen.

 

Der Text war in veränderter Form auch in der WAZ zu lesen.