Junge Frau, ganz auf sich gestellt: Wuppertal würdigt das künstlerische Werk von Paula Modersohn-Becker

Paula Modersohn-Becker: „Kopf eines kleinen Mädchens mit Strohhut" (1904). Öl auf Leinwand (© Kunst- und Museumsverein im Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Kopf eines kleinen Mädchens mit Strohhut“ (1904). Öl auf Leinwand (© Kunst- und Museumsverein im Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Man muss es sich immer wieder vor Augen halten: All die Bilder der Paula Modersohn-Becker (1876-1907) stammen von einer sehr jungen Frau. Schon recht früh zeigt ihr Werk alle Anzeichen von Reife.

Mit ungefähr 20 begann sie vorsichtig tastend ihren künstlerischen Weg. Anfangs malte sie noch sichtlich unbeholfen. Aber dann! In wenigen Jahren hat sie das Ihre gefunden. Schon mit 31 Jahren ist sie gestorben und hat bis dahin nach ihrer eigensinnigen, sanft beharrlichen Art eine gewisse Vollendung erreicht. Ihre besten Bilder erstrahlen vor Innigkeit, sie sind von manchmal geradezu bestürzender Wahrhaftigkeit. Eher unscheinbaren Motiven wie Kinderbildnissen oder einfachen armen Leuten verleiht  sie etwas beispielhaft Monumentales, aber ganz und gar nichts Auftrumpfendes.

Spannungsfeld zwischen Worpswede und Paris

Als sie zwölf Jahre alt war, zog die Familie (der Vater war preußischer Bahn-Baurat) mit sieben Kindern von Dresden nach Bremen. Doch zwei andere, denkbar gegensätzliche Orte sind entscheidend für ihren künstlerischen Werdegang gewesen, den jetzt das Wuppertaler Von der Heydt-Museum in den Blick nimmt: das bei Bremen gelegene Dörfchen Worpswede mit seiner kleinen Künstlerkolonie, den vielen schlanken Birken, dem Teufelsmoor – und das leuchtende Paris! In der Silvesternacht 1899/1900 reist sie erstmals an diese Stätte ihrer Sehnsucht. Sie kehrt mehrmals dorthin zurück, manchmal für einige Monate.

Paula Modersohn-Becker: „Alte Armenhäuslerin", um 1905. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Alte Armenhäuslerin“, um 1905. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Zahllose Ausstellungen der damals avantgardistischen Künstler und Kunstströmungen (u. a. Cézanne, Gauguin, Van Gogh, Nabis, Fauves) sieht sie dort, sie studiert an der Académie Calarossi, lernt später den leidenschaftlich bewunderten Bildhauer Auguste Rodin kennen – durch Vermittlung des Dichters Rainer Maria Rilke, der zu jener Zeit Rodins Privatsekretär ist. Nach vorherigen Lehrjahren in Berlin, wo sie Einflüsse von Arnold Böcklin und Walter Leistikow aufnimmt, entfaltet sie an der Seine nach und nach ihr Talent.

Exemplarischer Lebenslauf

Eigentlich wird Paula die kleine Welt von Worpswede nun zu eng. Und doch kehrt sie immer wieder dorthin zurück. Ein Zwiespalt. Auch sonst sammelt sie Widersprüche: Eigentlich sehnt sie sich nach einem üblichen Familienleben, doch durch ihr Werk und ihr künstlerisches Streben emanzipiert sie sich zunehmend, ohne zur Feministin zu werden.

Sie heiratet den Maler Otto Modersohn, aber nach ein paar unerfüllten Jahren will sie sich von ihm trennen. Es kommt jedoch zu einer Art Versöhnung und sie, die immer Kinder haben wollte, wird endlich schwanger. Unfassbare Tragik: 18 Tage nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde stirbt Paula an einer Embolie. Ein als exemplarisch empfundener weiblicher Lebenslauf um 1900, der – mit erfinderischen Zutaten – vor zwei Jahren auch fürs Kino taugte, als Christian Schwochows Film „Paula“ mit Carla Juri in der Titelrolle herauskam.

Übrigens: Es hat sich eingebürgert, sie lediglich Paula zu nennen – ohne den etwas sperrigen Doppelnamen. Bei welchem männlichen Künstler verfahren wir ebenso? Sagen wir nur „Max“ zu Ernst oder Beckmann? Sagen wir bloß Pablo oder Salvador?

Zu Lebzeiten rundweg unterschätzt

Zurück ins Museum. Nach Bremen besitzt Wuppertal das zweitgrößte Konvolut an Werken Paula Modersohn-Beckers, immerhin 22 Gemälde umfassend. Sie bilden den Kern der Schau, die zuerst fürs Rijksmuseum Twenthe in Enschede (Niederlande) zusammengestellt wurde und nun quasi als „Re-Import“ in Wuppertal zu sehen ist, wo Beate Eickhoff als Kuratorin wirkt. Paula Modersohn-Beckers Schaffen wird (mit aufschlussreichen Seitenblicken auf einige Zeitgenossen) anhand von etwa 80 Arbeiten weitgehend chronologisch aufgeblättert, so dass man das zu ihrer Zeit weithin unbeachtete Aufblühen ihrer Fähigkeiten nachvollziehen kann.

Paula Modersohn-Becker: „Sitzender Mädchenakt mit Blumenvasen", um 1907. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Sitzender Mädchenakt mit Blumenvasen“, um 1907. Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Zu Lebzeiten hat sie nur ganz selten ausgestellt, sie wurde in Abhandlungen über Worpswede kaum je erwähnt, auch hat sie so gut wie keine Bilder verkauft. Wenn überhaupt einmal ein männlicher Kritiker über sie schrieb, ging es gleich recht ruppig und verletzend zu. Folglich glaubte sie zunächst nicht an sich selbst, sie war aber gottlob hartnäckig. Viele ihrer Bilder blieben unsigniert und trugen nur eine Jahreszahl.

„Hände wie Löffel…“

Selbst ihr Mann Otto Modersohn ahnte zwar ihre Begabung, mäkelte aber auch über ihren Malstil, und zwar wortwörtlich derart anmaßend: „Sie haßt das conventionelle und fällt nun in d. Fehler alles lieber eckig, häßlich, bizarr, hölzern zu machen. Die Farbe ist famos, aber die Form? Der Ausdruck! Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cretins…“ Außerdem sei sie auch noch – wie man heute sagen würde – beratungsresistent.

Paula Modersohn-Becker: „Sitzende Mutter mit Kind auf dem Schoß", 1906. Öl auf Pappe (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Paula Modersohn-Becker: „Sitzende Mutter mit Kind auf dem Schoß“, 1906. Öl auf Pappe (Von der Heydt-Museum Wuppertal)

Richtig ist, dass sie einem Ideal der Einfachheit frönte: „Es brennt in mir ein Verlangen, in Einfachheit groß zu werden.“  Insbesondere als Porträtistin wollte sie wahre, ungeschönte Menschen zeigen. Eine Frau mit grotesk langer Nase wird zu allem Überfluss im unvorteilhaften Profil dargestellt. Das Gegenteil von gefälliger Auftragskunst. Wenn das nicht authentisch ist…

„Die roten Rosen waren nie so rot…“

Auch der hochmögende Rilke erkannte ihr Wesen wohl erst recht spät, doch umso inbrünstiger. In Gedanken an sie schrieb er ein Gedicht, das so beginnt: „Die roten Rosen waren nie so rot / als an dem Abend, der umregnet war. / Ich dachte lange an dein sanftes Haar… / Die roten Rosen waren nie so rot.“  Manche Kunstfreunde, die es gerne menscheln sehen, spekulieren bis heute, ob Rilke nicht die bessere Wahl für Paula Becker gewesen wäre. Ach, wie müßig ist das!

Während die schöpferischen Herren in Worpswede (Otto Modersohn, Heinrich Vogeler, Fritz Mackensen u. a.) die Akademien verabscheuten und sich möglichst nur noch schwärmerisch in freier Natur ergehen mochten, erstrebte Paula gerade umgekehrt eine akademische Ausbildung, die ihr damals jedoch weitgehend verwehrt blieb. Private Institute standen ihr allenfalls offen, keine staatlichen. Vielleicht hat sie ihre Anlagen gerade deswegen umso eigenständiger entwickeln können. Sie war ganz auf sich gestellt. Schmerzliche Verheißung der Freiheit!

Ungeheuerliche Aktdarstellung mit Kind

Die Heimattümelei der allzeit in Worpswede verbliebenen Männer, die sich geradewegs stur weigerten, Einflüsse aus Frankreich aufzunehmen, machte sie später anfällig für nationalistische oder noch schlimmere Versuchungen. Geradezu revolutionär muten hingegen die „späten“ Bilder von Paula an: Wenn sie sich etwa selbst als Akt mit Kind darstellt (damals eine Ungeheuerlichkeit) oder wenn ihr aparte Mädchendarstellungen im deutlichen Gefolge des exotischen Gauguin gelingen, so wagt man kaum sich vorzustellen, was aus ihr noch hätte werden können.

Paula Modersohn-Becker auf der Veranda ihres Hauses, 1901 (Ausschnitt) (Foto: Atelier Schaub, Hamburg / Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen)

Paula Modersohn-Becker auf der Veranda ihres Hauses, 1901 (Ausschnitt) (Foto: Atelier Schaub, Hamburg / Paula-Modersohn-Becker-Stiftung, Bremen)

Auzfgrund ihrer jeweils allerneuesten Kunst-Erfahrungen in Paris ließ Paula Modersohn-Becker alsbald impressionistische Anwandlungen hinter sich. Courbet sagte ihr mehr als Monet. Sie hat nicht bloß die Natur nachgeahmt, sondern sich draußen ins Gras gelegt, die Augen geschlossen, sozusagen „innere Bilder“ aufgerufen und diese Bilder schließlich flächig konstruiert, in kühnen Perspektiven zugespitzt oder stilisiert. So darf sie bereits als eine Vorläuferin des Expressionismus gelten. Bei etlichen Besuchen im Pariser Louvre wurde sie überdies auf altjapanische Kunst und auf altägyptische Totenbilder von erhabener Einfachheit aufmerksam. Auch solche Spuren, welche die Wuppertaler Ausstellung getreulich nachzeichnet, finden sich in ihrem Oeuvre.

Riesiger Nachlass – nachlässig behandelt

So wenig Anerkennung war der Lebenden insgesamt zuteil geworden, dass man überrascht war, als sich etwa 700 vielfach beachtliche Gemälde und rund 1000 Zeichnungen in ihrem Nachlass fanden, der – das Wortspiel sei erlaubt – leider recht nachlässig behandelt wurde. Zudem ging hernach vieles im Gefolge der schandbaren Nazi-Ausstellungsaktion „Entartete Kunst“ verloren, anderes wurde im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs zerstört.

Und wie kam es, dass gerade in Wuppertal viele Bilder von ihr vorhanden sind? Nun, letztlich ist es dem vielfach in Bremen wirkenden Künstler Bernhard Hoetger (aus Hörde stammend, heute ein Stadtteil von Dortmund) zu verdanken, der den eigentlichen Gründervater des heutigen Museums, den Wuppertaler Bankier August von der Heydt, recht früh auf Paula Modersohn-Beckers Schaffen hinwies. So konnte es auch nicht ausbleiben, dass im nahen Hagen Karl Ernst Osthaus von ihrem Wirken erfuhr. Es waren Zeiten und Kreise, in denen Region keineswegs „Provinz“ bedeuten musste.

„Paula Modersohn-Becker. Zwischen Worpswede und Paris“. 9. September 2018 (Eröffnung ab 11:30 Uhr) bis zum 6. Januar 2019 im Von der Heydt-Museum, Turmhof 8, Wuppertal. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12 €, ermäßigt 10€, Katalog 20 €.

Weitere Informationen: http://vdh.netgate1.net/

 

 

 

 




Hilfe, die Zukunft ist da! Unser Science-Fiction-Leben

Und, wonach greifen Sie nach dem Aufwachen zuerst? Nun gut, es gibt vielleicht ein Küsschen für den Menschen neben uns. Aber dann schnappt man sich dieses kleine flache Gerät, das, neben einem einstaubenden Rilke-Band, auf dem Nachttisch liegt. Hat es nicht gerade so vertraut gebrummt?

Die Zukunft hat offenbar schon begonnen... (© Franz Ferdinand Photography) photo credit: Franz Ferdinand Photography <a href="http://www.flickr.com/photos/121184747@N06/21706059016">Science Fiction Treffen</a> via <a href="http://photopin.com">photopin</a> <a href="https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/">(license)</a>

Die Zukunft hat offenbar schon begonnen… Vielsagender Moment beim Science-Fiction-Treffen im Technikmuseum Speyer. (© Franz Ferdinand Photography) Photo credit mit Links: Franz Ferdinand Photography Science Fiction Treffen via photopin (license)

Hallo, du mein Wecker voller Musik, mein Telefon, meine Verbindung zur Welt, mein Minikino, mein Alleswisser, mein Immerfürmichda-Dings! Guten Morgen! Magst du mal eben meinen Puls fühlen? Natürlich, das kannst du auch, mein süßes Roboterchen. Denn wir leben unter Bedingungen, die in der Rock’n’Roll-Ära noch pure Science-Fiction waren. Hilfe, die Zukunft ist da!

Es soll sie ja geben. Ein paar ältere Herrschaften, die sich der neuen Technik verweigern. Sie haben kein Smartphone, sie kennen kein Internet: „Brauch ich nicht, will ich nicht“, murren sie. Doch sie kennen ihre Fernbedienung und lassen gerne ganztägig den Fernseher laufen. Früher flimmerte da ein Testbild, jetzt ist immer Seifenoper. Blöd, aber faszinierend.

Genau so etwas hatten wir befürchtet, damals, als wir den Fortschritt noch mit Skepsis sahen. Aber zum Glück gibt es – zumindest in der westlichen Zivilisation von Angela Merkel und Monsieur Macron – keinen dämonischen Staatsapparat, der uns dumm hält, um uns für fiese Ziele zu benutzen, was Dichter, Denker und wir Gelegenheitsrevoluzzer stets geargwöhnt hatten. Es ist vielmehr die betörende Technik, diese geschäftstüchtige Circe des 21. Jahrhunderts, die uns mit ihrem Zauberkünsten und Lockgesängen in ihren Bann gezogen hat. Und wir wollen uns nicht mehr von ihr trennen.

Captain Kirk, bitte kommen!

Denn sie macht uns das Leben schon sehr bequem. Wir müssen nie mehr wieder nach einer Telefonzelle suchen, nach Münzen kramen und uns über zerfledderte Telefonbücher ärgern. Unser Smartphone kennt sowieso alle Nummern, stellt jederzeit und überall die Verbindung her. Selbst aus der Gletscherspalte können wir noch Mutti anrufen, denn das Mobilfunknetz umfasst entlegenste Winkel der Erde. Und Akkus halten auch immer länger.

Tatsächlich funktionieren unsere Handys heute reibungsloser als der Kommunikator, mit dem Captain Kirk in der Fantasie von 1966 Kontakt zu den Kollegen vom Raumschiff Enterprise aufnahm. Ein ziemlich klobiges Klappding war das – und doch vollkommen utopische Technik für Menschen, die allenfalls ein knarrendes Walkie-Talkie kannten.

Allgegenwärtiger Begleiter: das Smartphone. (Foto: Joachim Kirchner / pixelio.de)

Allgegenwärtiger Begleiter: das Smartphone. (Foto: Joachim Kirchner / pixelio.de)

1966, das muss man mal bedenken, war noch nicht einmal das Fax-Gerät erfunden, das sich die Enterprise-Macher ausgedacht hatten. Wer hätte damals geahnt, dass auch das Bildtelefon mit beliebiger Projektion – dolle Sache in der Sternenflotte – für uns alle bald schon eine Selbstverständlichkeit werden würde? Gerade so, wie Captain Kirk und sein geschätzter Halbvulkanier Mr. Spock (der mit den spitzen Ohren) die knurrenden Klingonen-Generäle vor dem Zusammenstoß auf ihren Schirmen sehen konnten, gucken wir heute der Schwiegermutter über Skype in die Augen. Und dank Highspeed Flatrate kostet das nichts extra.

Das Ende der Geheimnisse

Die ewige Verfügbarkeit kann auch ein Fluch sein. Es gibt keine Ausreden mehr. Vorbei die Zeit, als man tatsächlich in die Ferien verschwinden konnte – mit dem vagen Versprechen, nach einer Woche vielleicht einmal anzurufen („Aber verlass dich nicht drauf …“). Ständige Statusmeldungen – „Sind jetzt am Autobahnkreuz“, „Haben die Meiers getroffen“, „So sieht der Strand aus“ – gehören zum Unterwegs-Sein. Und es werden zeitnahe Antworten erwartet. Schließlich verpetzt mir meine What’sApp sofort, wann die Lieben meine Nachricht gesehen haben.

Diskretion war gestern. Finstere Mächte, geheime Dienste könnten jede meiner Mails und Messages theoretisch auch gesehen haben. Da nützen Anti-Viren-Programme nichts. Wir wissen alle, dass die gründliche Bespitzelung des Einzelnen technisch kein Problem mehr darstellt. Genau das hat George Orwell, der alte Pessimist, in seinem 1948 vollendeten, von der Zeit überholten Zukunftsroman „1984“ befürchtet.

„Big Brother is watching you“ – ja, ja, der wie auch immer geartete große Bruder kann/könnte alle Räume und Straßen beobachten, unsere Gespräche abhören, unsere Handys und Autos jederzeit orten. In den 1970er-Jahren wären wir ausgeflippt vor Entsetzen. Heute ist die Privatsphäre ein weniger streng gehütetes Revier.

Keine Angst vor Big Brother

Mit kindlichem Vergnügen geben wir der Öffentlichkeit bei Facebook preis, wo wir heute Abend essen gehen, was wir auf dem Teller haben, wie süß der Hund wieder guckt. Die virtuellen Friends verdrehen schon die Augen, treiben es aber ähnlich. Ich poste, also bin ich, das ist die Devise der Social-Media-Gesellschaft.

Während die Vorsichtigen wenigstens kurz überlegen, was sie da unauslöschbar in die Welt setzen, so begeben sich tollkühne oder auch dummdreiste Freiwillige in die Arenen der Reality-Shows, scheuen weder Dschungelprüfungen noch Wohnzimmerknäste und lassen sich vor der Kamera demütigen. Eigentlich nicht zu fassen: Orwells Begriff vom „Big Brother“ ist seit der Jahrtausendwende der Titel der erfolgreichsten Sendung mit voyeuristischem Konzept.

Verzeihen Sie, Mr. Orwell, der Sie die Menschheit mit dem gruseligen Großen Bruder vor dem faschistoiden Überwachungsstaat warnen wollten! Wir Science-Fiction-Wesen haben aus Ihrem düsteren Zukunftsbild einen Witz gemacht. „Wir amüsieren uns zu Tode“, ermahnte schon in den 1980er-Jahren der Medienwissenschaftler Neil Postman die Welt. Aber wir leben noch, trotzen dem Terror und der Klimakatastrophe und gucken jetzt Serien gleich staffelweise auf Netflix. Unsere Empfindlichkeiten haben sich offenbar erheblich verändert. Die nicht abschaltbaren Teleschirme in Orwells 1984er-Szenario können uns einfach nicht mehr schrecken.

Seltsame neue Welt

Natürlich regen wir uns zwischendurch mal ein bisschen auf – über Gentechnik, Leihmütter, eingefrorene Eizellen, Embryonen aus dem Reagenzglas und geklonte Tiere. Lauter Phänomene aus der klassischen Science-Fiction-Literatur, die mir nichts, dir nichts Wirklichkeit geworden sind.

Immer wieder gern zitiert wird in diesem Zusammenhang der 1932 entstandene Zukunftsroman „Schöne neue Welt“ des britischen Intellektuellen Aldous Huxley. Noch heute beschäftigen sich artige Abiturienten mit dem pädagogisch konstruierten Stoff über einen globalen Staat, der die Menschheit in Großlabors aufzieht und perfekt kontrolliert. Für Vergnügungen ist gesorgt, allzu starke, individuelle Gefühlsregungen sind hingegen unerwünscht und werden von der Obrigkeit gewaltsam unterdrückt.

Da allerdings irrten Huxley und andere Vordenker. Es ist alles noch viel raffinierter. Wir in der Zukunft Angelangten dürfen durchaus individuell fühlen und handeln. Das allumfassende Netz bietet uns nicht nur ständige Konsum-, Kommunikations- und Unterhaltungsmöglichkeiten. Nein, es nimmt auch unsere Wutausbrüche und Verschwörungstheorien offenherzig entgegen, Tag und Nacht.

Liebesschwüre und Hasstiraden werden genauso tolerant gespeichert und leidenschaftslos verbreitet wie Referate über die Erderwärmung. Und was das Beste ist: Das System hilft uns bei dem Referat. Wie eines dieser allwissenden Elektronengehirne aus der Science-Fiction-Literatur weiß es Antworten auf alle Fragen. Gefüttert vom Wissen zahlloser einander kontrollierender Individuen, entwickelt es zum Glück (noch) kein gemeines Eigenleben wie der Supercomputer HAL 9000 aus Stanley Kubricks 1968er-Werk „2001 – Odyssee im Weltraum“. Aber das kann ja noch kommen.

Wo bleibt das eigene Wissen?

Bisher lieben wir unser allwissendes Elektronengehirn und googeln uns durchs Leben, auch wenn uns hin und wieder ein Unbehagen beschleicht. Was ist, wenn der große Stecker mal gezogen wird? Wenn die iCloud, diese mysteriöse Datenwolke der weltbeherrschenden Firma Apple, vom Wind des Unberechenbaren verweht wird? Wenn die Systeme kollabieren? Dann, werte Mitmenschen, bleibt, was derzeit nicht mehr allzu heftig gefördert wird: das eigene Wissen. Wohl dem, der dann noch Meyers Taschenlexikon in 25 leider veralteten Bänden besitzt! Das sind bekanntlich nur wenige Menschen.

Die Vernichtung der privaten Bibliotheken musste keineswegs, wie in Ray Bradburys 1953 erschienenem Science-Fiction-Roman „Fahrenheit 451“, mit Gewalt betrieben werden. Junge Leute schleppen sich bei ihren globalen Umzügen nicht mehr mit 100 Bücherkisten ab. Große Bücherwände sind aus den Katalogen der Möbelhäuser verschwunden. Zwar kaufen kultivierte Damen gerne Literatur zum Verschenken. Auch sieht man im Urlaub Leute mit Krimis auf dem Liegestuhl. Aber auf Dauer ist das e-book nun mal praktischer.

Alles ist so praktisch. Wir können über das Smartphone zu Hause das Licht anmachen. Wir müssen uns keine Zahlen und Fakten mehr merken. Das Auto fährt bald von selbst. Und schon jetzt führt uns das Navigationssystem zu jedem Ziel, das wir uns vorher über Streetview schon mal angeguckt haben. Wir müssen nicht mal mehr mit dem Finger auf Tasten drücken. Die Technik reagiert auch auf unsere Stimme.

Science-Fiction ist Realität geworden. Es wird Zeit, den eingestaubten Rilke-Band vom Nachttisch zu nehmen und mal wieder einfach so auf knisterndem Papier ein Gedicht zu lesen: „Wenn es nur einmal so ganz stille wäre …“. Dann denken wir noch mal nach. Über uns und die Zukunft, in der wir angekommen sind.




Sprache lieben, Sprache hassen

Gerade wenn man Sprache lieben gelernt hat, so kann man sie auch hassen; jedenfalls einige ihrer Ausprägungen. Wenn einem Schriftsteller erst einmal das süße Gift trefflicher Worte eingeträufelt haben, so erschrickt man umso mehr bei falschen Klängen. Haben einen Hölderlin, Rilke, Robert Walser, Kafka, Gernhardt oder Genazino (etliche andere Namen bitte freihändig einsetzen) mit ihren Tonfällen betört, so behagt manches aus den täglichen Niederungen nicht mehr. Dann muss man sich zuweilen klarmachen, dass doch längst nicht immer im hohen Ton gesprochen werden kann. Was wäre das für eine Welt? Man möchte doch bitte auch recht oft lax und nachlässig sein dürfen. Das ist Menschenrecht.

Doch es kann geradezu körperlich quälend sein, bewusstloses Gestammel zu vernehmen. Jetzt bloß kein wohlfeiles Wort über den Politikbetrieb und den journalistischen Jargon. Aber nehmen wir beispielsweise die seit Jahrzehnten immerzu großmäulig auftrumpfende Marktschreier-Sprache, die dich unentwegt mit Super, Mega, Turbo und Jumbo anbrüllt, dich aus grellrotgelben Prospekten anspringt. Viele sind gegen derlei Kanonaden abgestumpft, so dass die Dosis immer noch gesteigert wird. Den Konsumenten wird dabei immer weniger zugetraut. Satzlängen und Absätze, die man ihnen „zumutet“, werden tendenziell immer kürzer, die verbalen Anforderungen immer geringer. Das frisst sich vom gellenden TV-Privatsender allmählich in Bereiche hinein, die bislang noch immun zu sein schienen. Wo wird diese Nivellierung nach unten enden? Beim Bellen?

Doch auch an anderen Stellen des sprachlichen Spektrums wird Überdruss geschaffen. Ich denke an die in der Netzwelt gängigen, ach so coolen Bescheidwisser-, Dazugehörigkeits- und meinetwegen Zeitspar-Formeln wie „asap“ oder „aka“, Einwürfe wie „reloaded“ und „revisited“ oder das Getue um die jeweils allerneueste Echtzeit-Kommunikation, die recht zuverlässig mit dem Füllsel „2.0“ einhergeht. Vor der „Sprache 2.0“ kann einem allerdings bange werden. Freimütig sei’s zugegeben: Man ist selbst nicht völlig frei davon. Wie denn auch? Wie wollte man sich auch von allem fernhalten, was umgeht? Man kann ja nicht sämtliche Sozialmarken verwerfen. So einsam möchte kein Wolf sein.

Alle, die mit Sprache arbeiten und gar noch von komplexen Phänomenen der Kultur reden wollen, wandeln „auf schmalem Grat“. Ach, da sieht man’s bereits: Für diese Wendung müsste eigentlich eine Strafmünze ins „Phrasenschwein“ wandern. Dieses Tierchen wiederum wird mittlerweile so häufig bemüht, dass der Ausdruck „Phrasenschwein“ seinerseits ein Bußgeld zur Folge haben müsste. Und so fort. Im Grunde müsste man die Reflexionsschraube immer weiter drehen und sich jeden Tag eine neue, eine taufrische Sprache ausdenken, um solche „Klippen zu umschiffen“ (noch so eine verbrauchte Redefigur). Dann würde einen freilich niemand mehr verstehen.