Hier steppt (nicht nur) der Bär: Robert Wilson inszeniert Kiplings „Dschungelbuch“ in Düsseldorf als Musical

Die Tiere sind los: Düsseldorfer Szene aus „Das Dschungelbuch“ (Foto: Lucie Jansch)

Schließ Deine Augen und spitz Deine Ohren, dann hörst Du die Geräusche des Dschungels: das Brüllen des Tigers, das Zischen der Schlange, das Heulen der Wölfe und das Keckern der Hyäne. Nun öffne sie wieder und Du siehst einen zauberhaften Urwald aus Licht und Farben, den Robert Wilson gemeinsam mit seinem Team auf die Bühne des Düsseldorfer Schauspielhauses gebracht hat.

Die Inszenierung folgt dabei der unverwechselbaren Bildsprache, die Robert Wilson kreiert und die inzwischen zu seinem Markenzeichen geworden ist: Üppig wuchernde Vegetation und ausladende Schlingpflanzen sind dabei seine Sache nicht, er konzentriert sich ganz auf die Figuren, die sehr stilisiert und dabei witzig charakterisiert jede ihre unverwechselbare Eigenheit leben.

Die Kostüme spiegeln auch ein Stück Popkultur wieder und die Bezüge zu Hollywood sind offensichtlich – teilweise spielt die Handlung sogar an einem Filmset. So bezieht sich Wilson nicht nur auf Rudyard Kiplings Romanvorlage des Dschungelbuchs, sondern auch die Rezeptionsgeschichte des Stoffes im Film wird ihm hier zum Bühnenmaterial.

Lichtzauber und höchst originelle Musikmischung

Farbenfroh und bunt wird der Dschungel dabei besonders durch Licht, das auch die Stimmung der Szenen untermalt. Das Herzstück des Düsseldorfer Dschungelbuchs bildet aber die Musik des Duos CocoRosie: Rock, Folk, Gospel, Rap, Pop und Jazz mischen sich in ihrer großartigen Kreation aufs Originellste. Wir sitzen also eigentlich in einem Musical, mehr noch in einer Revue, die Szenen durch einzelne Songs gegliedert und von den Tieren als kultige Nummern dargeboten.

Wie in Hollywood… (Foto: Lucie Jansch)

Überhaupt die Tiere: Jedes einzelne von ihnen spielt und singt grandios, mit untrüglichem Showtalent gesegnet. Toll, was das Ensemble hier leistet und mit welcher Spielfreude es sich in die Physis der Tiere hineinversetzt. Allen voran entertaint Georgios Tsivanoglou als Baloo der Bär wie ein ganz Großer des Showgeschäfts, was vom Publikum dann auch öfter mit Szenenapplaus bedacht wird. Aber auch die Wölfe (Ron Iyamu und Judith Bohle) machen Spaß und André Kaczmarczyk als schwarzer Panther Bagheera gibt sich als glitzernde Drag Queen mit scharfen Krallen. Elefantös fungiert Rosa Enskat als Erzählerin und Mowgli wird von Cennet Rüya Voß als kindlicher Draufgänger gegeben.

In der Menschenwelt fühlt sich Mowgli zwar nicht so wohl, zumal Wilson dessen Mutter Messua (Tabea Bettin) als puritanische Siedlerin mit hochgeschlossenem Kleid und eckigen Bewegungen inszeniert. Doch von den Menschen bekommt Mowgli das Feuer und das ermöglicht ihm, seinen Widersacher, den Tiger Shere Khan (gut gebrüllt, Sebastian Tessenow) letztendlich zu besiegen.

Nach 90 Minuten Spielfilmlänge ist das Dschungelfieber dann auch schon wieder vorbei: Ein Stück für die ganze Familie, aber kein spezielles Kinderstück, dazu ist es vielleicht zu hintergründig. Doch wer coole Songs liebt und amerikanisches Musical, der ist hier richtig: Welcome to the jungle!

Karten und Termine: www.dhaus.de




Am Abgrund: Robert Wilsons „Der Sandmann“ nach E.T.A. Hoffmann – zwischen lauter Baukränen in Düsseldorf

Es ist dieser Tage nicht leicht, das Düsseldorfer Schauspielhaus zu erreichen, so umstellt ist es von Baukränen und Zäunen. Fast hat man Angst, es stürze in die riesige Baugrube hinein, die an seiner Frontseite klafft und vorher der Theatervorplatz war.

Langwierige Großbaustelle am Düsseldorfer Schauspielhaus. (Foto: es)

Wie kleine Zahnstocher stehen die runden Betonsäulen der Außenfassade am Abgrund und sehen nackt und verletzlich aus. Dennoch strömen Scharen von Menschen an der Baustelle vorbei dem Hintereingang zu und betreten das Haus von der Hofgartenseite her durch die Terrassentür. Denn für eine einzige Inszenierung öffnet das Schauspielhaus derzeit provisorisch seine Pforten: „Der Sandmann“ von Robert Wilson.

Keine Lust mehr auf Ausweichquartiere

Es ist ebenfalls nicht leicht, für diese Koproduktion mit den Ruhrfestspielen  Karten zu bekommen, was bestimmt auch mit der Sehnsucht der Düsseldorfer nach ihrem Schauspielhaus zu tun hat, die schon eine ganze Weile mit einem Ausweichquartier in der Nähe des Hauptbahnhofs vorlieb nehmen müssen.

Auch ich habe es vermisst, merke ich, als ich mit meinem Getränk im weitläufigen Foyer auf rosafarbenem Marmorboden stehe und auf den Gong warte: Das ist doch mal eine der darstellenden Kunst angemessene Architektur im Charme der späten 60er Jahre. Irgendwie habe ich keine Lust mehr auf diese ganzen Ausweichquartiere, nur weil die Politiker allüberall die Renovierung verpennt oder verschoben haben, um ihren Nachfolgern im Amt irgendwann die Kosten aufzubürden.

Erst der Spendenaufruf, dann der Spielplan

Blöderweise ist „irgendwann“ jetzt und in die meisten Häuser (Köln, Düsseldorf, Dortmund etc.) kommt man gar nicht mehr rein, über die Renovierungskosten wird gestritten. Inzwischen haben sich Düsseldorfer Bürgerinnen und Bürger bereits zusammengeschlossen, um Spenden für ihr Theater zu sammeln. Ruft man die Website des Theaters auf, ploppt einem als erstes der Spendenaufruf entgegen, bevor man noch auf den Spielplan schauen kann, was man überhaupt sehen möchte…Dabei ist eine Theaterrenovierung doch eigentlich eine öffentliche Aufgabe, oder?

„Der Sandmann“.
Regie, Bühne, Licht: Robert Wilson
(Foto: Lucie Jausch/Düsseldorfer Schauspielhaus/Ruhrfestspiele)

Altmeister Robert Wilsons Sandmann jedenfalls hat es durch die Hintertür auf die Bühne geschafft und mit ihm ein herzzerreißendes, poetisches, unheimliches, kitschiges und skurriles Theatermusical – Kreuzung zwischen Zauberer von Oz, Ziggy Stardust und Gespenstern der schwarzen Romantik à la E.T.A. Hoffmann.

Eine Art kindlicher Verzückung

Die obligatorischen Wilson-Stühle schweben bei Neonlicht durch die Luft, doch die Story wird durch dramaturgisch klug ausgewählte Schlüsselsätze und grandiose Darsteller so hintergründig und zugleich leicht erzählt, dass man in eine Art kindliche Verzückung gerät, begleitet von schauriger Angstlust, wenn der Sandmann den schlafunwilligen Kindern die Augen stehlen will.

Für die Wilson-Inszenierung jetzt nur ausnahmsweise geöffnet: das angestammte Schauspielhaus. (Foto: es)

Das vollbesetzte Haus tobt beim Schlussapplaus und es ist keineswegs nur Abopublikum 60 plus, sondern jede Menge junges Volk gekommen, womit die für Lokalpolitiker so wichtige Zielgruppenfrage bei der Hochkultur auch beantwortet wäre.

Doch statt einer Hausbesetzung wie in der Berliner Volksbühne (das wäre mal eine Idee!!!) trollen wir uns alle brav wieder durch die Hintertür und gehen durch den Garten in die Nacht. Vorsicht, nicht in die Baugrube fallen, sonst gibt es noch Verzögerungen und das Ganze wird nie fertig…

Wegen der großen Nachfrage gibt es am 27. und 28.10 zwei Zusatztermine für „Der Sandman“, weitere Infos: www.dhaus.de




E.T.A. Hoffmann, Robert Wilson und die Schwarze Pädagogik: „Der Sandmann“ bei den Ruhrfestspielen

Nathanael (mit roten Haaren: Christian Friedel), Mutter (Rosa Enskat) (Foto: Lucie Jausch/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Schrill, grell, bunt, die Figuren ausstaffiert wie biedermeierliche Scherenschnitte, ihre Bewegungen so künstlich und grotesk, wie es nur eben möglich ist: Seit Jahrzehnten liefert Regisseur Robert Wilson höchst eigenwillige Inszenierungen vorwiegend bekannter Theaterstoffe ab, die man infantil und ärgerlich redundant finden kann oder auch genial und radikal fokussiert.

Mal gerieten die Adaptionen etwas unterhaltsamer (wie vor vielen Jahren Büchners „Leonce und Lena“ beim Berliner Ensemble, mit Musik von Herbert Grönemeyer), mal etwas deprimierender (wie der „Woyzeck“ mit Musik von Tom Waits und Kathleen Brennan am Deutschen Theater), doch die Stilmittel kamen erkennbar immer aus dem selben Baukasten.

Coppola/Coppelius (Andreas Grothgar) (Foto: Lucie Jausch/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Augen verfüttern

Nun haben die Ruhrfestspiele in einer Kooperation mit dem Düsseldorfer Schauspiel den „Sandmann“ auf die Bühne gestellt, großes Musiktheater nach einer literarischen Vorlage von E.T.A. Hoffmann.

Ein Stück Schwarze Pädagogik, wenn man so will, bildet den Ausgangspunkt der Handlung. Mit dem Sandmann drohen die Eltern den Kindern. Wenn sie nicht brav zu Bett gehen, raubt er ihnen die Augen und verfüttert sie an seine Brut. Kaum hat der Knabe Nathanael (Christian Friedel) die Angst überwunden, da vermeint er im Advokaten Coppelius und im Wetterglashändler Coppola (beide gespielt von Andreas Grothgar) den Sandmann zu erkennen. Dann aber kauft er Coppola ein Fernglas ab, mit dem er die schöne Olimpia (Yi-An Chen) aus der Ferne sieht und sich in sie verliebt. Doch Olimpia ist ein Automat.

Szene (Foto: Lucie Jausch/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Angstvoll und fiebrig

Die Geschichte auf einen sozusagen rationalen Kern zu reduzieren, wird ihr allerdings nicht gerecht. Angstvoll, fiebrig, bar existentieller Gewißheiten ist das Leben des Heranwachsenden Nathanael, fast könnte man von einer „Hoffmann-Stimmung“ sprechen, die sich in dieser Inszenierung beunruhigend kraftvoll vermittelt.

Im Bühnengraben sitzen neun Musiker, die einen klassischen Streichersound ebenso zu formen wissen wie ohrenbetäubende Rock-Riffs, auf der Bühne spielt, tanzt, singt ein für all diese Einsätze ganz hervorragend geeignetes Ensemble. Die Musik und Songtexte stammen von Anna Calvi, frisch geschaffene Kompositionen, die indes nicht das stärkste Element dieses Theaterabends sind und manchmal etwas hilflos zwischen Wilsonscher Redundanzmanie und Andrew-Lloyd-Webber-Gefälligkeit schwanken. Trotzdem ist das Ganze sehr schön und opulent, stilistisch durchgeformt und in der konsequenten Ausgestaltung doch immer wieder auch atemberaubend.

Olimpia (Yi-An Chen) (Foto: Lucie Jausch/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Man weiß, was kommt

Mit Robert Wilson ist es eben ein bißchen so wie mit Beethovens Neunter: Man weiß vorher ziemlich genau, was man zu hören und zu sehen bekommt. In der einen Rechnung ist das Stück die Variable, in der anderen sind es Chor und Orchester; voll froher Erwartung strebt man der Veranstaltung zu, doch völlig Unerwartetes ist nicht in Sicht, ist auch gar nicht erwünscht.

Es ist dies eine Wilson-Produktion mehr für die Sammlung des persönlich Erlebten, und wenn der große Theatermann, 75 Jahre ist er mittlerweile alt, dereinst mit dem Regieführen aufhören wird, wird man sich über diese Sammlung freuen. Wer nun, wie ein geschätzter Zeitungskollege es tat, Robert Wilson anläßlich des Recklinghäuser Festspiel-Auftakts des Immergleichen zeiht, hat dieses Redundanzprinzip noch nicht verstanden.

In Berlin übrigens läuft seit fast 10 Jahren Wilsons Einrichtung von Brechts „Dreigroschenoper“ im Berliner Ensemble, missionarischer Inszenierungsstil trifft auf weltberühmtes Werk. Erstaunlicherweise funktioniert das sehr gut, trotz des reichen, unverwechselbaren Bühnenzierrats. Denn ein Stückevernichter ist Robert Wilson nicht, was doch sehr für ihn einnimmt.

  • „Der Sandmann“, weitere Termine: 8., 9. Mai, 20 Uhr
  • Ruhrfestspiele Recklinghausen, Großes Haus
  • www.ruhrfestspiele.de



„Kopf über Welt unter“: Ruhrfestspiele 2017 blicken auf den Menschen in seiner krisenhaften Verunsicherung

The Park Avenue Armory presents FLEXN WORLD PREMIERE A Collaboration of Reggie (Regg Roc ) Gray, Peter Sellars , and Members of the Flex Community in the Drill Hall, Park Avenue Armory on March 24, 2015. Light Sculpture & Lighting Design: BEN ZAMORA Sound Design: GARTH MACALEAVEY MUSIC: EPIC B THE COMPANY: ACE: Franklin Dawes Android : Martina Lauture Banks : James Davis Brixx : Sean Douglas Cal: Calvin Hunt Deidra : Deirdra Braz Dre Don: Andre Redman Droid: Rafael Burgos Droopz: Jerrod Ulysse Karnage: Quamaine Daniels Klassic: Joseph Carella Nicc Fatal: Nicholas Barbot Nyte: Ayinde Hart Pumpkin: Sabrina Rivera Regg Roc: Reggie Gray Sam I Am: Sam Estavien Scorp: Dwight Waugh Shellz: Shelby Felton Slicc: Derick Murreld Tyme: Glendon Charles Vypa: Khio Duncan YG: Richared Hudson Commissioned and produced by Park Avenue Armory Credit: Stephanie Berger

Park Avenue Armory kommt mit „Flexn“ zu den Ruhrfestspielen (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/ Stephanie Berger)

Donald Trump ante portas, der harte Brexit in brutalem Anmarsch, außerdem Putin, Erdogan, Islamisten und Populisten auf der tagespolitischen Besetzungsliste. Es ist alles ganz schrecklich. Und wenn die Welt so schrecklich ist, kann das Theater nicht abseits stehen, wenngleich es immer schwerer fällt, die Krisenhaftigkeit der Welt mit den Mitteln der Bühne, moralischen Gewinn erstrebend, zu bearbeiten.

Aufgeklärt im Sinne der stets zu preisenden Aufklärung sind wir nämlich allemal, und trotzdem fällt uns zu den Aktualitäten kaum noch etwas ein. Und den Theaterleuten möglicherweise auch nicht.

Folgerichtig wähnt Ruhrfestspiele-Intendant Frank Hoffmann „das Theater in der Themenkrise“. Und macht natürlich trotzdem weiter. Nur ist das Motto des anstehenden Festivals anders als in den Vorjahren keine europäisch-regionale Verortung des Veranstaltungsschwerpunktes à la „Frankreich“ oder „Mittelmeer“, sondern, wenn man so will, ein Seeelenzustand: „Kopf über Welt unter“ sind die Ruhrfestspiele 2017 übertitelt, und unter diese Zeile paßt Tieftrauriges ebenso wie Krachkomisches. Entsprechend ist das Programm ein bunter Strauß aus Themen und Produktionen geworden, recht europäisch alles in allem, mit einigen amerikanischen, arabischen oder auch chinesischen Einsprengseln.

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„Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann eröffnet die Ruhrfestspiele (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Annick Lavallee Benny)

Robert Wilson

Wie jedes Jahr gibt es viele prominent besetzte Lesungen, Kabarettisten und Comedians in reicher Fülle, Spaßacts im jugendlichen Fringe-Festival; doch am interessantesten sind sicherlich die großen Veranstaltungen im Festspielhaus, in der Halle König Ludwig 1/2 oder im Theater Marl.

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Horror mit Musik: Matthias Brandt (links) und Jens Thomas in „Angst“ (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Mathias Bothor)

Auf der großen Bühne geht es am 2. Mai los mit E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ in der Regie (plus Bühne und Licht) vom „Theaterzauberer“ Robert Wilson, eine Koproduktion von Ruhrfestspielen und Düsseldorfer Schauspielhaus – das wohl fulminanteste Projekt in diesem Jahr.

Ein dramatisches Schwergesicht ist ohne Frage auch August Strindbergs „Rausch“ als Koproduktion von Recklinghausen, Luxemburger Nationaltheater, Schauspiel Hannover und Deutschem Theater Berlin, bei der Hausherr Frank Hoffmann Regie führt. Bekannte Namen – Robert Stadtlober, Wolfram Koch, Jacqueline Macaulay und andere schmücken die Besetzungsliste des Stücks – das Strindberg „dreist“ (Hoffmann) eine Komödie nannte und das gnadenlos mit den Gefühlen und der Angst seiner Protagonisten spielt. „Die Ungewißheit des Menschen in einer sich radikal verändernden Welt“ sieht der Regisseur in „Rausch“ exemplarisch fokussiert: „Lassen Sie sich berauschen!“ (O-Ton Programmheft).

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Robert Stadlober in „Rausch“ von August Strindberg. Intendant Frank Hoffmann führt Regie (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Stephan Pabst)

Nur zwei Personen

Manchmal aber, und das ist eher ernüchternd, ist es reichlich leer auf der Bühne des großen Hauses. So wird am 7. Mai Matthias Brand zusammen mit dem Musiker Jens Thomas gleich zweimal nacheinander einen je anderthalbstündigen „gruselig-spannenden literarisch-musikalischen Abend“ mit dem Titel „Angst“ vorführen, die Intendanz garantiert dem Publikum „einen wohligen Schauer“.

Eher leer ist es auf der Bühne auch, wenn Sebastian Koch und Kerstin Avemo zusammen mit dem Orchester Wiener Akademie Mitte Mai ihr „Egmont/Prometheus“-Projekt zur Aufführung bringen. Der englische Autor Christopher Hampton hat für seinen Blick auf die dunklen Seiten der Romantik Material von Goethe, Shelley, Lord Byron und Beethoven verarbeitet, Regie führt Alexander Wiegold.

Zweimal wird „Berlin Alexanderplatz“ nach dem Roman von Alfred Döblin in der Regie von Sebastian Hartmann gegeben, eine Produktion des Deutschen Theaters Berlin. Langjährige Freunde der Ruhrfestspiele werden sich mit gemischten Gefühlen an Hartmanns Einrichtung von Sean O’Caseys „Purpurstaub“ vor einigen Jahren erinnern, einen Bühnenkoloß von etlichen Stunden ohne Pause, bei dem das Publikum ausdrücklich dazu ermuntert wurde, den Zuschauerraum nach Belieben zu verlassen und wieder zu betreten. „Berlin Alexanderplatz“ nun wird mit „4 Stunden, 30 Minuten, zwei Pausen“ angekündigt, was vor diesem Hintergrund eindeutig ein Fortschritt ist.

Katharina Lorenz (Emily), Fabian Krüger (Amir), Nicholas Ofczarek (Isaac), Isabelle Redfern (Jory)

„Geächtet“ von Ayad Akhtar in der Inszenierung des Wiener Burgtheaters; Szene mit Katharina Lorenz (Emily), Fabian Krüger (Amir), Nicholas Ofczarek (Isaac), Isabelle Redfern (Jory) (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Georg Soulek)

Häßliche Dinge

Erwähnt sei im Bereich des Schauspiels noch „Geächtet“, das vielgespielte, aktuelle Stück von Ayad Akhtar, das davon erzählt, wie Antisemitismus, Islamismus oder auch opportunistische Überangepaßtheit scheinbar plötzlich die Beziehungen fortschrittlicher amerikanischer Großstädter bestimmen, die so sicher waren, über all diesen häßlichen Dingen zu stehen. Das Stück kam in einer recht eigenwilligen Ausstattung (die Handelnden waren als Albinos geschminkt, somit frei von Hautfarbe oder „Rasse“) auch in Dortmund auf die Bühne der Ausweichspielstätte „Megastore“; bei den Ruhrfestspielen ist die Einrichtung des Wiener Burgtheaters in der Regie von Tina Lanik zu sehen.

Street Dance

Abschließend seien drei Gastspiele erwähnt: Dreimal wird das Deutsche Theater Berlin Elias Canettis „Hochzeit“ in der Regie von Andreas Kriegenburg zur Aufführung bringen. „Park Avenue Armory, New York“ zeigt in der Regie von Reggie (Regg Roc) Gray und Peter Sellars „Flexn“, ein Stück mit viel extremem Street Dance, neben dem Altbekanntes gleichen Namens wie gesitteter Gesellschaftstanz wirken soll. Behauptet jedenfalls die Ankündigung.

Schließlich haben wir noch „Wut“ von Elfriede Jelinek, in einer Produktion des Thalia Theaters Hamburg. Und damit soll es jetzt genug sein, obwohl natürlich noch sehr viel mehr zu berichten wäre. Im Internet ist das Programm vollständig abrufbar, an vielen Orten liegen Programmhefte zum Mitnehmen aus.

Ach ja, die Kunsthalle: 1947 gründete sich in Recklinghausen die Künstlergruppe „Junger Westen“, 70 Jahre ist das her. Unter dem Titel „Zwischen Krieg und Frieden – der schwierige Weg zur Avantgarde“ wird jetzt darauf Rückschau gehalten.

Der Kartenvorverkauf beginnt am Donnerstag, 19. Januar, ab 9 Uhr, Näheres dazu hier: https://www.ruhrfestspiele.de/de/tickets/bestellmoeglichkeiten.php




„Hier bin ich! Hier darf ich!“ – Wie Robert Wilson und Grönemeyer „Faust“ verjuxen

Während das Publikum noch Platz nimmt, wabern schon wilde Rock-Rhythmen und Folk-Balladen durch den Saal. Auf der Bühne posieren aufgekratzte Mimen, trällern ein Liedchen, wirbeln munter durcheinander.

Sie suchen sich und ihre Rolle, wollen auffallen und gefallen, denn „ihr wisst, auf deutschen Bühnen / probiert ein jeder, was er mag“. Goethes „Vorspiel auf dem Theater“ als chaotische Casting-Show und „Faust I und II“, die deutscheste aller deutschen Theater-Tiefbohrungen als munteres Musical. Das kann ja heiter werden.

Konfrontation: Faust (Fabian Stromberger, li.) und Mephisto (Christopher Nell). (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Konfrontation: Faust (Fabian Stromberger, li.) und Mephisto (Christopher Nell). (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Wird es auch. Denn der Theater-Regisseur, Möbel-Bauer und Licht-Designer Robert Wilson bolzt gut gelaunt und frei von jedes Gedankens Blässe im Berliner Ensemble die absolute Kurzversion eines überdimensional langen Textes auf die Bühne. Wofür Dichterfürst Goethe 500 Druckseiten und über 12.000 Verse benötigte und was in der legendären Expo-2000-Inszenierung von Peter Stein 14 Stunden dauerte: Bei Bob Wilson fliegt Goethes Mysterien-Ritt – vom Himmel über die Erde in die Hölle – in knappen vier Stunden dahin.

Dramaturgin Jutta Ferbers hat ganze Arbeit geleistet und mit der Axt alles weggeholzt, was nicht in Gesang und Tanz umgedeutet werden kann. Was es auf sich hat mit dem Gelehrten, der sich mit dem Teufel einlässt, warum Leidenschaft und Verstand, Genie und Wahnsinn, Versuchung und Verfehlung miteinander ringen: alles einerlei. Wer Goethes „Faust“ nicht kennt, wird ihn hier nicht finden.

Dafür aber (und das mutet paradox an, hatte doch BE-Intendant Claus Peymann jüngst wieder heftig gegen „Event“-Kultur polemisiert) bescheren Regisseur Wilson und Musiker Herbert Grönemeyer dem unterhaltungswilligen Publikum einen äußerst kurzweiligen Szenen-Reigen, bei dem deutscher Rock und kerniger Chorgesang einen faustischen Pakt eingehen und alle laut jubilieren: „Hier bin ich! Hier darf ich! Hier bin ich Mensch! Hier darf ich´s sein!“: Yeah! That´s Great! Gimme Five!

Szene mit (v. li.) Alexander Wanat, Joshua Seelenbinder, Nicolaas van Diepen, Marvin Schulze und Christopher Nell. (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Szene mit (v. li.) Alexander Wanat, Joshua Seelenbinder, Nicolaas van Diepen, Marvin Schulze und Christopher Nell. (Foto: Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Faust gibt es gleich in vierfacher Ausführung, Grete wird verdreifacht, Valentin verdoppelt: Das macht zwar keinen Sinn, wirkt aber irgendwie dynamisch. Da kann man die Text-Happen auch noch kleiner hacken und aufteilen und zudem mehr Akteure punktgenau mit dem Scheinwerfer ausleuchten und aus dem sinnfreien Bühnen-Gemurkse ein geheimnisvolles Gemälde aus Licht und Schatten machen.

Außerdem fällt dann nicht so ins Auge, dass Bob Wilson diesmal vor allem mit Schauspiel-Schülern arbeitet und sich weder für das komplizierte Stück noch für die komplexe Sprache Goethes interessiert.

Einzig Mephisto, gespielt von Christopher Nell, gewinnt Kontur und Farbe: ein androgyner, sanft salbadernder und hinterhältig grinsender Spielleiter, der alle anderen, vielfach geklonten Menschen-Monster durchs Geschehen schubst. Mal greift Mephisto den süffisant singenden Engeln an die Brüste, mal schaut unter dem Gewand eines Bischofs ein riesiger Penis hervor.

Das soll komisch sein, ist aber doch nur bieder. So wie die Musik von Grönemeyer, die schenkelklopfend lustig und selbstironisch sein möchte, aber doch nur mit ein paar wenigen Noten und simplen Melodien auf der Stelle tritt. „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche, / Hier wird´s Ereignis“, singt der „Chorus Mysticus“ zum großen Finale. Besser hätte man die Kritik an der ziellos durchs Faust-Mysterium flatterten Inszenierung nicht formulieren können.

Berliner Ensemble, nächste Vorstellungen am 17., 18., 19., 22. Mai., 14.,15.,16. Juni, Karten unter 030/28 40 81 55.

  • „Faust I und II“ ist die zweite Zusammenarbeit des 1941 geborenen US-amerikanischen Regisseurs, Architekten und Licht-Designers Robert „Bob“ Wilson mit dem 1956 geborenen deutschen Musiker und Schauspieler Herbert Grönemeyer.
  • Wilson und Grönemeyer begegneten sich zum ersten Mal 1978 am Schauspielhaus Köln, wo Wilson sein „CIVILwarS“-Projekt inszenierte und Grönemeyer als Schauspieler und Musiker tätig war.
  • Bereits für Bob Wilsons Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“ (2003 am Berliner Ensemble) schrieb Grönemeyer die Songs.
  • Grönemeyer befindet sich damit in einer Tradition von bekannten Singer-Song-Writern, die für Bob Wilsons Inszenierungen Lieder schrieben: David Byrne („The Forest“, 1988), Tom Waits („The Black Rider“, 1990, „Alice“, 1992, „Woyzeck“, 2000), Lou Reed („POEtry“, 2000, „Lulu“, 2011).



Triennale: Eiskalte Spannung – Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“

Winkler

Angela Winkler als „Mädchen“ in eisigem Blau. Foto: Julian Mommert/Triennale

Unten die plane, rechteckige, weitgehend leere, öd und unwirtlich wirkende Spielfläche. Alles umringt von steil ansteigenden Zuschauerblöcken. Dahinter schließlich haben sich Chor und Orchester platziert. Gewissermaßen als musikalische Umzingelung. Sodass die Klänge uns mal auf den Pelz rücken, mal wie aus dem Nichts entstehen, uns drangsalieren und enervieren, aber auch aufs Schönste erregen und erheben. Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern – Musik mit Bildern“ wird in einem Raum zelebriert, der bereits Teil des Interpretationskonzepts ist.

Dafür steht der amerikanische Regisseur Robert Wilson, der dieses Theaterkonstrukt als einen Operationssaal sieht. Wie passend: Denn die Geschichte vom armen Mädchen, das in der bitterkalten Neujahrsnacht keine Zündhölzchen verkaufen kann, sie anzündet, um sich für Augenblicke nur zu wärmen, das halluziniert und erfriert, wird gewissermaßen seziert, auf seelische Befindlichkeiten und körperliche Aggregatzustände hin untersucht. Mit einer überwiegend geräuschhaften Musik, die pendelt zwischen wahrhaft monströsem Suggestivklang und allerkleinstem Fragment.

Lachenmann hat dieses Märchen, das nicht zuletzt sozialkritische Züge trägt, um zwei Texte erweitert. Einer stammt von der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, ein ideologisch aufgeladenes Pamphlet gegen das „System“, in dem das Zündeln (!) als Akt des Widerstands gesehen wird. Der zweite Textzusatz ist das Höhlengleichnis Leonardo da Vincis, das einen Menschen beschreibt, der zwischen Angst und Neugier pendelnd darüber sinniert, ob er die Höhle betreten solle. Genau wie das Mädchen, schwankend zwischen Todesfurcht und Hoffnung auf ein besseres Jenseits.

Ein gutes Team: Regisseur Robert Wilson (li.) und Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Lucie Jansch/Triennale

Ein gutes Team: Regisseur Robert Wilson (li.) und Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Lucie Jansch/Triennale

Lachenmanns 1997 uraufgeführte „Oper“ steht im Zentrum der insgesamt sechs Wochen währenden Triennale, ragt wie ein fremder, wuchtiger, einsamer Monolith über alle bisherigen Festival-Produktionen hinaus. Weil Wilson zur Premiere in Bochums Jahrhunderthalle betörende Bilder findet: mit Hilfe von Licht, Farbe und den allseits bekannten knappen Gesten sowie mit zeitlupenhaften, in Erstarrung mündenden Bewegungen. Ganz im Dienste des Komponisten, der ja zuallererst das Zittern, Frieren und Verharren in Klänge gesetzt hat. Und dem es nicht darum zu tun war, ein Libretto linear musikalisch nachzuerzählen.

Das Mädchen, das ist Angela Winkler. Eine weißgewandete, angstvoll und stumm daherschleichende, fragile Ophelia, mit vom Eissturm gezausten Haaren. Deren stumpf blickende Augen zu leuchten beginnen, wenn sie staunend die Bilder einer besseren, warmen Welt imaginiert, die Wilson mit wenigen Requisiten und zauberhaften Licht-Spielen in Szene setzt. Winklers einziges Sprechen gilt dem erwähnten Höhlengleichnis. In expressiver, beinahe dadaistischer Manier wird der Text in seine Bestandteile, in Laute zerlegt, geht somit einher mit Lachenmanns Musik.

Anderes jedoch bleibt verrätselt: Steht doch Robert Wilson als Gestengeber oder Strippenzieher selbst auf der Bühne. So unterwirft er sich seiner eigenen Regie und leitet das Mädchen in doppeltem Sinne an. Als dessen Alter Ego, als Tod? Und was suggerieren die Menschen in dicken Mänteln, die kurz vor dem Erlösungsschluss im Halbdunkel über die Ebene stapfen?

Das freie Spiel mit Assoziationen, das Bedenken dessen, was zu sehen ist, wäre wohl ganz im Sinne Lachenmanns. Der uns mit unerhörten Klängen vom hörigen Hören, vom stets Gewohnten also, weglocken will. Dessen Musik nie brutal laut ist, sich andererseits in bisweilen ungeahnter Harmonie entfalten kann. Wort- und Gesangsfetzen, Atem-, Schleif- und Klopfgeräusche fügen sich zum fahrigen, wilden, großen Ganzen.

Üppiger Applaus, nicht zuletzt fürs Chorwerk Ruhr und das hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Emilio Pomárico.

Info über weitere Vorstellungen unter www.ruhrtriennale.de

(Der Text ist in kürzerer Form in der WAZ erschienen.)

 




Ewige Kindheit, zähflüssige Fantasie: Robert Wilson inszeniert „Peter Pan“ in Berlin

Peter Pan und Robert Wilson verbindet einiges: die Liebe zur Traumwelt einer grenzenlosen Fantasie, und, noch wichtiger, der niemals endende Versuch, nicht alt zu werden, ewig Kind zu bleiben.

Szene aus "Peter Pan" mit (in der Luft schwebend, von links) Christopher Nell, Sabin Tambrea, Stefan Kurt und Ensemble. (Foto: © Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Szene aus „Peter Pan“ mit (in der Luft schwebend, von links) Christopher Nell, Sabin Tambrea, Stefan Kurt und Ensemble. (Foto: © Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Endlich, mit 71 Jahren und nach unzähligen Inszenierungen, hat der Bühnenmagier und Theaterzauberer aus Waco/Texas in dem von James Matthew Barrie erfundenen Peter Pan jenen störrischen Helden gefunden, der so ist wie er selbst: ein greises Kind, das mit stoischer Gelassenheit seinen eigenen Weg geht und für die Welt der Erwachsenen nur ein müdes Lächeln übrig hat.

An Claus Peymanns Berliner Ensemble fliegt Bob Wilson jetzt mit dem Kindskopf Peter Pan (Sabin Tambrea), der neugierigen Wendy und ihren etwas dumpfen Brüdern, begleitet von der frechen Elfe Tinkerbell, ins Nimmerland. Dort kämpft er mit Käpt´n Hook (Stefan Kurt), trifft Indianer, Nixen, Krokodile. Was für ein großes Abenteuer! Möchte man jedenfalls hoffen. Doch es ist ein zäher und langweiliger Abend, ein in filmischer Zeitlupe erzähltes Kindermärchen, vorgelesen von einem Erwachsenen, dem allmählich die Fantasie ausgeht und der nur noch seine alten Ideen recycelt.

Ob der zwischen Opern- und Theaterbühnen rund um den Globus jettende Wilson in Paris die „Zauberflöte“ oder in New York den „Lohengrin“ inszeniert, in Hamburg den „Black Rider“ oder in Baden-Baden den „Freischütz“ auf die Bühne zaubert: Es sind immer die gleichen Licht- und Soundeffekte, die fragil gestylten Möbel und die leichenblass geschminkten Darsteller, die ihre Hände manieriert spreizen müssen und vorm Mund ein Mikroport haben, damit wir auch jeden Seufzer und jedes Ach und Weh hören. Design statt Sein und sanft dahin schlingernde Musik statt einer spannenden Story mit psychologisch ausgeleuchteten Figuren.

Von der US-Band CocoRosie hat Wilson sich eine bunte Perlenkette neuer Songs schreiben lassen. Sie klingen ein bisschen schräg und schlingernd, als hätte Tom Waits eine Verabredung mit Kurt Weill gehabt. Ganz nett und unterhaltsam, doch auch ein wenig flau und beliebig. Aber das macht nichts, will doch der altersmilde Wilson ohnehin niemanden erschrecken.

Weiteres Tableau aus "Peter Pan". (Foto: © Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Weiteres Tableau aus „Peter Pan“. (Foto: © Lucie Jansch/Berliner Ensemble)

Nur einmal gerät das Ganze fast ein wenig aus dem harmlosen, exakt choreographierten Tritt. Der androgyne Peter Pan und der zauselartige Hook kommen sich nah: Hook geht vor seinem Erzfeind Peter Pan in die Knie, streichelt ihm erotisch Schenkel und Gemächt, entblößt seinen Armstumpf. Hier haben sich zwei schwule Seelen gefunden. Doch schnell ist auch diese Versuchung dahin.

Ein paar schöne surreale Bilder, ein kurioses Bett aus Schafen, ein trauriges Krokodil, das mit blinkenden Augen über die Bühne irrt und lange suchen muss, bis es Hook gefunden und gefressen hat, ein paar kesse Einlagen von Christopher Nell, der als vorwitzige Tinkerbell zum heimlichen Star des Abends wird. Das war´s.

Berliner Ensemble, nächste Vorstellungen am 11., 12. Mai, 1. und 2. Juli. Karten unter 030/28 40 81 55.




Wortmusik: Robert Wilson liest John Cage bei der Ruhrtriennale

Komponist, Zen-Buddhist, passionierter Pilzsammler: John Cage wäre am 5. September 100 Jahre alt geworden (Copyright: Rex Rystedt)

Die Sehnsucht nach vollkommener Stille, die der amerikanische Komponist John Cage im schalltoten Raum der Harvard-Universität suchte und aufgrund körpereigener Geräusche doch nicht fand, führte 1952 zu seinem epochalen Werk 4’33’’, in dem nicht ein einziger Ton erklingt. Zwei Jahre vor der Uraufführung durch den Pianisten David Tudor hatte Cage die Grundzüge seines Denkens und Schaffens in seinem „Vortrag über nichts“ skizziert.

Der Sprachduktus folgt dabei einem strengen rhythmischen Muster: Cage schrieb eine Wortmusik, ein Duett zwischen Stimme und Stille, in dem es um nichts geht, oder wahlweise um alles. Tiefgründig Philosophisches trifft auf clowneske Alberei, zen-buddhistische Gelassenheit auf das nachgerade zwanghafte Aufzählen aller Abschnitte und Unterkapitel des Wortstroms.

Bei der Ruhrtriennale, die Cages Vortrag als „einen der zentralen Texte der experimentellen Literatur des 20. Jahrhunderts“ ankündigt, übernimmt es der berühmte Regisseur und Theaterkünstler Robert Wilson, die Botschaft des Komponisten unter die Festivalbesucher zu bringen – unterstützt vom Videokünstler Tomek Jeziorski und akustischen Einsprengseln von Arno Kraehahn. In ein weißes Nachthemd gekleidet, ganz Traumtänzer oder Pierrot lunaire, sitzt er in der Bochumer Jahrhunderthalle inmitten einer Wüste aus alten Zeitungen. Weiße Banner mit schwarz aufgemalten Cage-Zitaten dominieren die Bühne. Bevor die Vorstellung mit einer nicht erklärten Verspätung von 25 Minuten beginnt, zücken viele Besucher ihr Handy für ein Szenenfoto. Dann setzt der Lärm ein: unvermittelt, infernalisch. Es ist ein unbestimmbares computergeneriertes Getöse, das geschlagene zehn Minuten lang aus den Lautsprechern dröhnt und Ohren und Psyche an die Grenzen der Belastbarkeit führt. Eine Handvoll Besucher streicht bei diesem Präludium die Segel. Die anderen harren aus, ja halten sich in der Mehrheit nicht einmal die Ohren zu. Es müssen wohl treue Cage-Adepten sein, denn der Komponist wollte bekanntlich stets „alles hören, was es zu hören gibt“ – sogar in der Nähe startender Düsentriebwerke.

Wilson beginnt, indem er mit der Hand über die Buchseiten streicht. So macht er den Fluss der Zeit und der Worte sichtbar. Deutsche Übertitel gibt es für den im amerikanischen Original gehaltenen Vortrag nicht, aber das gemessene Tempo und die deutliche Diktion machen das Folgen leicht. Trotz äußerlicher Unbewegtheit ist Wilson, der in den 1960er Jahren von John Cage und Merce Cunningham beeinflusst wurde, die innere Beteiligung beim Vortrag anzumerken. Seine Stimme, warm und modulationsfähig, lässt die von Offenheit und Optimismus bestimmte Lebenseinstellung des Komponisten ebenso anklingen wie seinen skurrilen Humor, der das Publikum an diesem Abend immer wieder zum Kichern bringt. In der Endlos-Schleife, in der sich der Vortrag schließlich verfängt, flüstert, predigt und bellt er den Text heraus, bis Cage über eine Tonbandeinspielung schließlich selbst das Wort übernimmt, während Wilson auf der Bühne ein kleines Nickerchen einlegt.

Die Überblendung zeigt, wie verblüffend ähnlich Wilson-Cage und der echte Cage zu diesem Zeitpunkt klingen. Doch es dauert noch eine Weile, bis die vierzehnfache Wiederholung der immergleichen Sätze durchbrochen wird. Ein gequältes Aufstöhnen, unterdrückt und doch hörbar, können viele da nicht unterdrücken. Wer weiß, ob mancher nicht im Stillen dachte, was eine junge Frau einst frei heraus schrie, als sie Cages private Lesung dieses Texts in seiner New Yorker Dachwohnung miterlebte. Sie stürmte mit den Worten hinaus: „John, ich mag dich wirklich, aber das hier kann ich auch nicht eine Minute länger ertragen!“

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Zeitreise in die Zauberwelt – Bob Wilson inszeniert „Time Rocker“ im Hamburger Thalia-Theater

Von Bernd Berke

Hamburg. Die vielen Kamerateams konnten ihren Sendern erfolgreiche Prominentensuche melden: Zur Uraufführung von „Time Rocker“ in der Regie des texanischen Theaterzauberers Bob Wilson gab es erheblichen Auftrieb im Thalia-Theater – von etlichen Bühnenchefs oder Schauspielern (Mathieu Carrière, Ulrich Tukur) bis zum „Tagesschau“-Sprecher Wilhelm Wieben. Sie alle waren hergepilgert, um gleichsam ein Sakrament in Empfang zu nehmen.

Denn Bob Wilson läßt Theater nicht einfach spielen, er zelebriert es als Liturgie wie kein anderer; mit atemberaubenden Bilderfolgen und ungeheuren Licht-Erscheinungen. Nach „The Black Rider“ und „Alice“ war „Time Rocker“ bereits seine dritte Hamburger Weihe-Handlung. Diesmal hatte Lou Reed, seit seinen wilden Zeiten mit „The Velvet Underground“ eine unumstößliche Größe der Rockszene, die Musik geschrieben.

Kriminalstory führt ins Nirwana

In 31 Szenen mit 16 Songs schleusen uns Wilson, Reed und Texter Darryl Pinckney in eine ausgedehnte Zeitreise ein. Anfangs geht’s zurück bis in die vorchristliche Ära, später voraus in visionäre Zukunftswelten. Notdürftig verknüpft sind diese Fahrten durch eine Kriminalstory. Priscilla (herausragend auch als Sängerin: Annette Paulmann) und Nick (Stefan Kurt, fernsehbekannt durch den „Schattenmann“) werden in seltsam mechanisch abschnurrenden Slapstick-Szenen von Scotland Yard beschuldigt, ihren Herrn und Meister, den Erfinder Dr. Procopius (Hans Kremer), hingemeuchelt zu haben. Dabei ist der Mann auf Zeitreise gegangen, und in dieses grenzenlose Nirwana zwischen den Epochen flüchten ihm nun Priscilla und Nick nach.

Und schon hat die Inszenierung ihren ersten ganz großen magischen Moment. Wenn die Zeitmaschine in Form eines weißen Fisches erscheint und vor blauem Breitwand-Hintergrund davonsegelt, glaubt man sich versetzt ins Zauberreich.

Kurz darauf wandert ein kleines weißes Haus über die dunkle Bühne – und man sieht gleichzeitig, wie sich jemand die überlangen, phosphoreszierend grünen Fingernägel abbeißt. Bewegliche Steine, tanzende Würfel, leuchtende Altäre, alles gibt’s in diesen taumelnden Welten. Rätselvolles Theater mit Charisma.

Es ist, als ob Wilson ein wunderschönes großes Bilderbuch umblättere. Und wo sind wir Zuschauer nicht überall gewesen! In einen altägyptischen Tempel sind wir geraten, in eine chinesische Opiumhöhle, zwischen drei mannstolle Studentinnen („Klick mich an, ich bin deine Maus“) oder in eine Badeanstalt der Zukunft, wo nackte Körper schwerelos schweben.

Ein Stuhl stürzt minutenlang um

In all diesen seherischen Szenen entfaltet sich der typische Wilson-Stil der Verlangsamung. Wenn etwa ein Stuhl umstürzt, so sieht man diesen Vorgang in einer mehrminütigen, enorm spannungsgeladenen Zeitlupe. Überhaupt wird „Time Rocker“ zu einer Meditation über das Zeitempfinden, aber auch über das Geisterhafte des menschlichen Körpers in einer technisch entgrenzten Zukunft.

Der Zusammenhang ergibt sich nicht wie sonst im Theater, sondern eher wie im Traum oder wie in einer betörenden Kunstausstellung. Nur daß man hier keinen Rundgang unternimmt, sondern die Bilder an einem vorbeigezogen oder – wie seltene Schätze – gehoben werden.

Von bezwingender Kraft und Einprägsamkeit ist auch Lou Reeds Musik. Schönes Wechselspiel: Mal lassen sich die Töne von und in den Bildern treiben, mal peitschen see die Szenen voran.

Termine: 16., 17., 18., 19. Juni. Karten: 040 / 32 26 66.




Ruhrfestspiele: Theaterzauber zum Jubiläum – Mit Piccoli, Robert Wilson, Peter Brook

Von Bernd Berke

Hamburg/Recklinghausen. Mit berühmten Namen lockt Hansgünther Heyme, künstlerischer Leiter der Ruhrfestspiele, zur Jubiläumssaison 1996. Wenn die Festspiele 50 Jahre alt werden, kommen u. a. Bühnen-Koryphäen wie die Regisseure Robert Wilson und Peter Brook sowie der Schauspieler Michel Piccoli nach Recklinghausen.

Heyme selbst sorgt für die große Eigeninszenierung (Shakespeares „Was ihr wollt“) und spielt dabei gar selbst den Haushofmeister „Malvolio“. Nach dieser Premiere (4. Mai) wird zur rauschenden Ballnacht gebeten.

Heyme stellte das Programm in Hamburg vor und brachte dem Chef des Deutschen Schauspielhauses, Frank Baumbauer, zwei mit Schleifchen versehene Briketts als Gastgeschenk mit. Denn im Austausch zwischen Ruhr und Alster hatte vor einem halben Jahrhundert alles mit dem schwarzen Gold begonnen.

Es begann in einem harten Winter

Der Gründungsmythos: Unter großem persönlichen Risiko (Verstoß gegen Vorschriften der britischen Militärregierung) lieferten Recklinghäuser Bergleute im Winter 1946/47 den frierenden Hamburger Schauspielern wärmende Kohle. Die Mimen revanchierten sich mit Vorstellungen im Revier, und daraus erwuchsen allmählich die Ruhrfestspiele. Ein umfangreiches Buch und eine Sonderbriefmarke sollen ebenso an die glorreiche Festspiel-Historie erinnern wie ein von Alfred Biolek moderierter Abend in Recklinghausen.

Von seinem Jubiläumsprogramm ist Heyme so überzeugt, daß er tollkühn „allen schwachsinnigen Musical-Produktionen“ zwischen Bochum und Duisburg den Kampf ansagt. Immerhin hat er mit dem Bertelsmann-Verlag einen neuen Sponsor gewinnen können. Als absolutes Highlight stellte Heyme „La malade de la mort“ (Die Krankheit Tod) heraus. Der US-Theaterzauberer Robert Wilson wird dieses Stück von Marguerite Duras in Szene setzen, Kino-Berühmtheit Michel Piccoli spielt jenen alternden Mann, der sich für einige Nächte ein Mädchen kauft.

Gar nicht heimliche Liebe zu Lausanne

Lausanne scheint Heymes gar nicht mehr so heimliche Lieblingsstadt in Sachen Theater zu sein. Nicht nur Wilsons Inszenierung ist eine Koproduktion mit dem Théâtre Vidy-Lausanne, sondern auch Peter Brooks Deutung der „Glücklichen Tage“ von Samuel Beckett sowie zwei weitere Heyme-Inszenierungen: Goethes „Iphigenie auf Tauris“ (wird nahe der Recklinghäuser Zeche König Ludwig in einem Zeit gespielt, anschließend gibt’s Erbsensuppe beim Schein von Grubenlampen) und Sophokles‘ „Antigone“ als Wiederaufnahme.

Und nochmals Lausanne als Quellgebiet: Maurice Béjart kommt mit seiner Truppe zur Welt-Uraufführung des Tanzstücks „Messe für die heutige Zeit“. Vorgesehene Gastspiele beim „Europäischen Festival“ (Motto diesmal: „Kunst ist der Motor jeder Kultur“): Schillers „Don Carlos“ (Regie: Anselm Weber, Deutsches Schauspielhaus), George Taboris Inszenierung seines Stücks „Die Massenmörderin und ihre Freunde“ aus Wien, ein Fassbinder-Projekt aus Strasbourg und „Fura dels Baus“ aus Barcelona mit dem Stück „Manes“ um Geburt, Sex und Tod.

Komplette Programme, Kartenbestellungen (ab sofort): Ruhrfestspiele. Otto-Burrmeister-Allee 1. 45657 Recklinghausen. (023 61) 91 84 40.