Feinsinn und verhaltene Erotik: Ein Garten der Liebe im Globe-Theater Neuss

Xavier Sabata (links, Venus) und Roberta Mameli (Adonis) im Globe in Neuss. (Foto: Johannes Ritter)

Shakespeare hätte das wohl gefallen: Im rheinischen Neuss steht das „Globe“ am Rand der Galopprennbahn, eingekeilt von Bauzäunen, Parkplätzen, Funktionsgebäuden und einer schwer definierbaren Außengastronomie. Mitten unter dem Volk sozusagen, ein unauffälliger Holzbau, dem berühmten Londoner Theaterbau nachempfunden.

Innen schrauben sich 500 Plätze, nicht von englischer Eiche, sondern von feuersicherem Stahl getragen, in engen Kreisen in die Höhe. Meist von oben herab verfolgt der Zuschauer, was auf der Bühne geschieht. Nahe ist man den Darstellern – nirgends weiter entfernt als zehn Meter, heißt es auf der Homepage des Shakespeare-Festivals, das seit 1991 in dem nach Neuss geholten Bau Stücke von und um den elisabethanischen Dramatiker spielt.

Diesmal ging es weder um nachtschwarze Tragödien noch um deftige Komödiantik. Das „Globe“ wurde zum Schauplatz erkoren für feinsinnig höfische Kunst, eher geeignet für Plüschfauteuils als für Holzbänke (auf denen man erstaunlich gut sitzt!). Das Kulturamt Neuss hat sich für diesen „Neustart Kultur“ – gefördert aus dem gleichnamigen Programm des Bundesregierung – mit dem Festival Alte Musik in Knechtsteden zusammengetan, das im Herbst sein 30jähriges Bestehen feiern kann. Die Blockflötistin und rührige Organisatorin Dorothee Oberlinger steht mit ihrem Ensemble 1700 für ein mehr als gehobenes Level. Keine nette, barock kaschierte Unterhaltung also, sondern ein ernsthaftes Projekt.

Den Feinsinn hat man aus Italien importiert: Dort schrieb einer der führenden Komponisten des beginnenden 18. Jahrhunderts, Alessandro Scarlatti, irgendwann nach 1700 eine Reihe szenischer Kantaten, einer Kammeroper nicht unähnlich, gedacht für Aufführungen in privatem Rahmen in Palästen, Sommergärten oder Festsälen. Das für Neuss ausgesuchte Werk ist nicht unbekannt: Es wurde schon 1964 mit Brigitte Fassbaender unter Hans Stadlmaier aufgenommen. Man könnte es sich unschwer im Park einer römischen Villa vorstellen: „Il Giardino d’Amore“ bezieht die Natur ein in die züchtige Erotik zwischen Venus und Adonis. Bäume, Bäche, Vögel, Winde werden in Arien als Sinnbilder der verzehrenden Liebe und der martervollen Sehnsucht beschworen, bis sich für die beiden Liebenden Schmerz und Pein in Freude und Vergnügen verwandeln: ein heiteres, mit zarter Melancholie durchwebtes Drama, in dem Scarlatti sanft betrübte Tonarten und die Wehmut der Melodik sprechen lässt.

Der führende Opernkomponist seiner Zeit lässt auch in dieser Kantate seine Kunst ohne Nachlässigkeit im Niveau spielen. In der gut tragenden Akustik des intimen Raums können die Musiker des Ensembles 1700 Dynamik und Phrasierung, Modellierung des Tons und detaillierten Rhythmus so vielgestaltig ausformen, wie es Scarlattis Vorlage erfordert. Auch die Blockflöte Dorothee Oberlingers hat im Verein mit dem farbig besetzen Orchester (Laute, Harfe, Perkussion, sogar Trompete) und als Soloinstrument keine Probleme, sich durchzusetzen. So kann sie sich leisten, in einem der Kantate vorangestelltem Blockflötenkonzert Töne im Piano auszuhauchen und die Melodieführung Scarlattis, die in ihrer reizenden Elegie schon an das nächste Jahrhundert mit seinem „Melodramma“ pocht, in feinem Pastell aufzutragen. Damit sich Venus und Adonis nicht zu enthoben anschmachten, finden die Musiker jedoch auch den Ton des Dramas, etwa Konzertmeister Jonas Zschenderlein in einem entschieden artikulierten Violinsolo oder das Streicherensemble in zupackender Rhythmik.

Der dem Shakespeare-Theater „Globe“ in London nachempfundene Raum rückt Darsteller und Zuschauer ganz nah zusammen. Foto: Nicola Oberlinger

Auch den beiden Sängern kommt die Akustik entgegen. So zart wie im Globe könnte Xavier Sabata als Venus sonst wohl nicht die „geliebten Wälder“ fragen, wo ihr Schatz zu finden sei. Der tritt mit einem Speer auf, um den ihn mancher Wotan beneiden würde, und verkündet im antikisierenden Kostüm von Johannes Ritter, dass er keine Lust mehr hat, wilden Tieren mit Pfeil und Bogen nachzustellen und die Jagd künftig nur noch der Geliebten Venus gelten werde. Roberta Mameli verkündet das mit energischem Sopran der aus der Höhe zwitschernden Nachtigall und dem verzierungssüchtig begleitenden Sopranino.

Bei beiden Solisten fällt auf, dass ihr Vibrato oft nicht natürlich locker gebildet wird und damit eine ebenmäßige Tonbildung – eine essentielle Forderung des Belcanto – behindert. Auch die Intensivierung des Vibratos aus Ausdrucksmittel sollte nicht erzwungen wirken. Roberta Mameli verfügt über eine stupende Palette expressiver Mittel, die sie – eher einer modernen Richtung italienischer Stimmbildung folgend – oft druckvoll statt frei und geschmeidig einsetzt, was vor allem im Piano zu spitzen und engen Tönen führen kann. Dass Sabata wie Mameli fundierte Erfahrung in der Interpretation von Opernpartien des 17. und 18. Jahrhunderts mitbringen, lassen sie die vorzügliche Artikulation und die bewusste Ausgestaltung des Textes zum Vergnügen werden.

Die Regie von Nils Niemann orientiert sich an szenischen Vorgaben der historischen Schauspielkunst – gerade bei diesem rund 70minütigen, auf die Aktionen der Solisten konzentrierten Werk eine reizvolle Methode der Vergegenwärtigung. Torge Møller sorgt mit pastellfeinen Videoprojektionen dafür, dass dem hölzernen Bühnenambiente des Shakespeare-Theaters ein Hauch barocker Bildsinnlichkeit übergeworfen wird. Ein gut besuchter, künstlerisch hochwertiger Anfang, auf dessen Fortsetzung 2023 zu hoffen ist.




Festspiel-Passagen II: Händels „Giove in Argo“ in Bad Lauchstädt mit Sinn fürs Komische

Jupiter, das wissen wir aus der antiken Mythologie und von Jacques Offenbach, war nicht zimperlich, wenn es um seine Amouren ging: Europa näherte er sich als Stier, Leda als Schwan, Danae als Goldregen und, naja, Eurydike sogar als dicke goldene Fliege. Zu Georg Friedrich Händels Zeiten waren die erotischen Histörchen um den Göttervater noch wohlbekannt, und so konnten sich die Besucher seiner Oper „Giove in Argo“ schon denken, was Jupiter im Nordosten der Peloponnes zu suchen hatte …

2014 herrscht in Griechenland allerdings Depression, und so verlegt Kay Link in seiner Inszenierung von „Giove in Argo“ für die Händel-Festspiele Halle die göttlichen Eskapaden in einen verödeten Flughafen. Im angegammelten Ambiente des Terminals, das Olga von Wahl auf die Bühne des historischen Goethe-Theaters in Bad Lauchstädt gebaut hat, treffen sich die an den Abfertigungsschaltern des Schicksals Gestrandeten: Iside, Tochter eines ermordeten Königs und dürstend nach Rache. Osiris, ägyptischer König, ihr Verlobter, getarnt als biederer Tourist Erasto. Calisto, Tochter eines Mörders und Tyrannen, ein blondes Girl aus einem teuren College. Und Licaone, der den König von Argos ermordet und damit alle Unbill entfesselt hat, ebenfalls auf der Flucht: mit silbernem Geldkoffer durch den Zuschauerraum und über die Bühne. Die Flüge sind alle gecancelt: Aus dem Terminal entkommt die nächsten drei Akte keiner.

Flughäfen sind heute, was Bahnhöfe für das letzte Jahrhundert waren: Schauplätze des Abschieds, der Flucht, der Heimatlosigkeit, zufälliger Begegnungen und unaufhaltsamer Abläufe. Eine passende Metapher also, um das komplizierte Netzwerk der Handlung, aufgespannt von einem Libretto, das ursprünglich von Antonio Lotti für Dresden vertont wurde, zu verorten. Händel hat es benutzt, um 1739 in London in Windeseile eine Oper aus der Feder zu schütteln. Mit ihr wollte er zwei neue Sängerinnen präsentieren und der Konkurrenz in Covent Garden die Stirn bieten.

Für das Komponieren neuer Musik blieb wenig Zeit: „Giove in Argo“ ist ein „Pasticcio“. Die Arien entnahm Händel aus neun eigenen und einer fremden Oper, zwei Serenaden und einem Oratorium. Immerhin sechs Arien sind neu, ebenso einer der acht Chöre, zwei Ariosi und die Secco-Rezitative. Letztere sind allerdings nur für den ersten Akt erhalten; die der beiden anderen schrieb der Rekonstrukteur des Werkes, John H. Roberts, neu.

Lange hielt man die Oper für nicht mehr aufführbar, bis Roberts 2001 die fehlenden Arien entdeckte: Sie stammen von Francesco Araia, Kapellmeister der italienischen Oper am Hof in St. Petersburg, und sind an Qualität und Wirkung den Händel’schen Arien gleichwertig. „Giove in Argo“ blieb dennoch selten gespielt: Die Inszenierung anlässlich der Händel-Festspiele in Halle ist – laut der Datenbank des Händel-Hauses – erst die zweite nach der modernen Erstaufführung in Bayreuth 2006.

Die Flughafen-Metapher macht es dem Regisseur dank der Kostüme Olga von Wahls möglich, die Machtverhältnisse zu verdeutlichen. Die Götter treten als Flugpersonal auf – ohne das der Passagier an die Erde gefesselt bleibt: Jupiter in Pilotengala in Weiß und Gold, Diana und ihr Damen-Gefolge in adrettem Fliegerblau mit engen Röcken und Schiffchen im Haar. Als Jupiter sein erstes Opfer Iside umgurrt, rückt das Stück aus dem Schema der „opera seria“ in die Nähe einer Offenbachiade des 18. Jahrhunderts: Der gefährliche Unernst der Avancen des Gottes entspricht der rührend pubertären, schockierend radikalen Entschlossenheit der Iside: Für ihre Rache ist sie sogar zum Sex mit einem Mann bereit, der ihr sonst von Herzen gleichgültig wäre.

Beim zweiten Opfer, der höheren Tochter Callisto in knallrotem Dress, kommt der Göttervater seiner Tochter Diana ins Gehege: Die hat mit ihren militärisch gedrillten Jungfrauen im Sinn, das Oberschicht-Mädel für Abstand von den Männern und „Keuschheit“ zu gewinnen – aus welchen durchsichtigen Gründen, zeigt der unverhohlene Annäherungsversuch der Göttin. Wenn nach dem Hin und Her der drei Akte nach gut drei Stunden die Lösung naht, hat das Finale etwas von der ironisch-abrupten Art Offenbachs: Jupiter bestimmt einfach, wie es zu laufen hat, macht aber die Rechnung ohne seine düpierte Tochter Diana: Die ersticht den Mörder Licaone durch die Kulisse und lässt den obersten Gott durch ihre Damen in der Versenkung verschwinden, als fahre Don Juan in die Hölle. Frauen-Power trägt den Sieg davon.

Da Händel die Arien mit Bedacht auswählte, haben wir in „Giove in Argo“ eine Hitliste bezaubernder Musik von „Alcina“ bis „Teseo“. Und die Musik Francesco Araias in seinem großen Accompagnato „Iside, dove sei“ und der Arie „Ombra che pallida“ bewegt sich auf Augenhöhe mit Händel: Dessen Accompagnato des zweiten Akts eröffnet eine expressive Wahnsinns-Szene, mit der jede Sängerin brillieren kann, und die Händel mit grellen Dissonanzen selbst für Ohren des 21. Jahrhunderts musikalisch bezwingend aufrüstet.

Nun ist die Iside der Bad Lauchstädter Aufführung, Roberta Mameli, zwar eine höchst präsente Darstellerin, kann aber mit ihren gesanglichen Mitteln nicht überzeugen. Ihre Expressivität ergibt sich aus einer zweifelhaften Methode deklamierenden Sing-Sprechens, das aufs erste Hören wirkungsvoll ist, aber im Lauf des Abends eher verärgert als erfreut: Das beginnt bei einem mal kopfigen, mal in die Nase getriebenen Klang, führt sich fort über unklare Artikulation und endet bei dünnen, sentimentalen Piani. Von einer gleichmäßigen Bildung der Töne, einer stetigen Führung des Atems oder einer kontrollierten Emission – alles Grundforderungen des „Belcanto“ des 18. Jahrhunderts – kann keine Rede sein. Verwunderlich, dass „historisch informierte“ Dirigenten, die sich sonst um jede Darmsaite kümmern, mit einem solchen Gesangsstil zufrieden sind. Er hätte in der Tat eher seinen Platz in den Offenbach’schen Bouffes-Parisiens als im Theater Georg Friedrich Händels.

Erfolgreicher zeigt Natalia Rubiś als Einspringerin in der Partie der Callisto, wie solide Technik dem Ausdruck des Singens zuträglich ist: Mit ihrem hell timbrierten, schlanken Sopran lässt sie Staccati, punktierte Noten und elegante Figuren keck abspringen; erfüllt ihre Klagearie im dritten Akt mit feiner Wärme. Barbara Emilia Schedels harter, präziser Sopran, technisch fragwürdig, passt zur Figur der Diana als energischer Lesbe. Unter den Männern positioniert sich Krystian Adam als Jupiter – unter dem Decknamen Arete – vorteilhaft: Er lockert die anfangs angespannte Stimme, singt zunehmend geschmeidig, kann auch mit nuancierten Farben gestalten. Thilo Dahlmann (Erasto) artikuliert nicht sehr elegant, aber deutlich; Johan Rydh (Licaone) bietet festgefahrene, auf dem Atem gestoßene Töne.

Mit Werner Ehrhardt am Pult seines 2004 gegründeten Orchesters „l’arte del mondo“ stellen sich erlesenere Händel-Freuden ein. Ehrhardt pflegt einen gelasseneren, metrisch unangestrengten, freier schwingenden Klang als etwa Laurence Cummings in Göttingen. Lockere Tempi, ein nuanciertes Spiel der Streicher, entspannte Phrasierungen und angenehm saubere Bläser kennzeichnen das Ensemble. Ehrhardt entlockt seinen Musikern für jede Arie eine eigene, charakterisierende Färbung, schaut genau auf den Rhythmus, lässt auch Effekte nicht aus – etwa die düsteren Forte-Akzente der tiefen Streicher oder die dissonanten Blitze des zweiten Akts. Und auch der Chor, das mit vibratolos „weißen“ Stimmen singende Vokalensemble „l’arte del mondo“, findet einen locker schwingenden, rhythmisch aparten oder verdichtet dramatischen Klang.

Die Händel-Festspiele Halle haben mit „Giove in Argo“ wieder verdienstvolle Ausgrabungs-Arbeit geleistet. Die Regie Kay Links bricht mit Gespür für komische Nuancen das böse Spiel um Macht und Begehren auf, ohne ihm seine Brisanz zu nehmen. So gesehen könnte dieses Pasticcio das Händel-Repertoire durch eine ungewöhnliche Farbe ergänzen.