Zwölfstündiger Theatermarathon: Deutschlandpremiere nach Roberto Bolaños „2666“ am Schauspiel Köln

12 Stunden Theater: Das ist selbst für Begeisterte, Süchtige oder Menschen mit ganz viel Zeit eine Herausforderung. Das Schauspiel Köln hat es gewagt und mit „2666“ von Roberto Bolaño Ostern eine Produktion zur Deutschlandpremiere eingeladen, die bereits auf dem Theaterfestival von Avignon für Furore sorgte.

Szenenbild aus dem Oster-Event in Köln, basierend auf dem Roman „2666“ von Roberto Bolaño
(Foto: Simon Gosselin)

Um 11 Uhr am Ostersamstag ging es los, um 23 Uhr kamen wir etwas erschöpft, aber glücklich und an allen Sinnen geschärft aus diesem „Wahnsinnswerk“ wieder heraus. Zudem versunken in die unvergleichliche französische Sprache, deren Sätze noch tagelang in meinem Kopf nachhallten. Durch Übertitel konnte man aber der Handlung, teilweise auch auf Spanisch, Englisch und ein wenig auf Deutsch, gut folgen.

Vier Pausen mit Eintopf und Osterbraten

Außerdem hatte sich das Schauspiel Köln mit dem begleitenden Menü, das in vier Pausen serviert wurde, viel Mühe gegeben: An langen österlich dekorierten Tischen im Foyer des Depots gab es Eintopf, Kuchen, Sandwiches und Osterbraten sowie gute Gespräche mit anderen Zuschauern über das soeben im Theatersaal Erlebte. Doch was geschah eigentlich dort?

Basierend auf dem Kultroman 2666 des chilenischen Autors Roberto Bolaño, entfaltet der französische Regisseur Julien Gosselin mit seiner Kompanie „Si vous ne pouviez lécher mon coeur“ eine ganze Welt, in der es um europäische und südamerikanische Literatur und Literaturforschung, um Verbrechen, Korruption und Gewalt in der mexikanischen Stadt Santa Teresa und um die deutsche Vergangenheit geht.

Auf den Spuren eines deutschen Schriftstellers

Konkret erzählt Bolanos Jahrhundertroman, der 2004 ein Jahr nach seinem Tod erschien, die Geschichte des (fiktiven) deutschen Schriftstellers Benno von Archimboldi, 1920 geboren, dem vier Literaturwissenschaftler auf der Spur sind – denn niemand kennt ihn persönlich. Die Engländerin, ein Franzose, ein Spanier und ein Italiener treffen sich auf Konferenzen in ganz Europa, um das Geheimnis von Archimboldis Identität zu lüften und für eine literarische Sensation zu sorgen. Schließlich führt sie ihre Spur in die von Korruption und Gewalt gegen Frauen geschüttelte Stadt Santa Teresa im Norden Mexikos. Hier treffen sie auf den spanischen Gelehrten Amalfitano und dessen Tochter Rosa, die wiederum Bekanntschaft mit dem amerikanischen Journalisten Fate macht, der über 200 grausame Frauenmorde in Santa Teresa recherchiert.

Szene aus dem letzten Teil von 2666
(Foto: Simon Gosselin)

Die Inszenierung folgt einem schnellen Rhythmus und erzählt die komplizierte Geschichte erstaunlich stringent und anschaulich. Die Live-Kamera wird nahezu kongenial eingesetzt und verbindet die Handlungsebenen und Räume. Besonders beeindruckend gerät der dritte Teil, der hauptsächlich in einer mexikanischen Disko angesiedelt ist: Die Bässe brummen derart, dass man es körperlich spürt und das Gefühl hat, im Hexenkessel mit dabei zu sein.

In der Fremdheit so nah

Die Figuren kommen einem in ihrer Fremdheit erstaunlich nah – wie im Reality TV. Zugleich fesselt einen die unglaubliche intellektuelle Aura und manchmal fast ausschweifende Sprachgewalt dieses außergewöhnlichen Romans. Die großartigen Schauspieler schaffen es, dass die Kopfgeburten zum Leben erweckt werden und sich auf der Bühne sozusagen manifestieren.

An die Nieren geht der vierte, „Der Teil von den Verbrechen“, in dessen Zentrum die Frauenmorde stehen. Gosselin verzichtet zwar weitestgehend darauf, gewalttätige Bilder zu zeigen, aber blendet alle Fälle im Polizeiberichtstil nacheinander auf einer Leinwand ein, so dass die schier endlose Folge von schrecklichen Details des Tathergangs über zwei Stunden nahezu unerträglich wird – entsprechend der Monstrosität der Verbrechen selbst.

Im letzten Teil schließlich wird das Leben Hans Reiters erzählt, der sich später Archimboldi nannte: Beginnend mit seiner Jugend, über seine Erfahrungen und (Un)Taten als Soldat im Zweiten Weltkrieg bis hin zu seiner Entwicklung zum Autor in der Nachkriegszeit.

Zweifacher Blick auf Naziverbrechen

Interessant ist der zweifache Blick des südamerikanischen Schriftstellers und des französischen Regisseurs auf die Naziverbrechen im Dritten Reich, der sich schon im Bühnenbild (Hubert Colas) ausdrückt: Die Handlung spielt meist in einem mit Rauch bzw. Gas gefüllten Plastikkasten. Zum Ende hin laufen die Handlungsstränge wieder im mexikanischen Santa Teresa zusammen, denn der Neffe Archimboldis sitzt wegen der Frauenmorde im Gefängnis ein – wirklich begangen hat er sie nicht, zumindest nicht alleine. Verantwortlich dafür ist eine korrupte mexikanisch-amerikanische Clique aus Verbrecher-Clans, Politikern und Geschäftsleuten, die die Frauen in sadistischen Orgien tötete und die Polizei zum Vertuschen zwang.

So ist die Geschichte des Romans leider auch eine der Gewalt in der Geschichte, die je nach System immer neue grausame Formen findet und finden wird – interpretiert man den Titel 2666 als zukünftige Jahreszahl, wie es wohl im Sinne Bolaños lag.

Wahrlich kein leichter Stoff, aber ein großes Kunstwerk.

Weitere Informationen:
www.2666.koeln und www.schauspiel.koeln




Zweierlei Spiel

Der im Jahr 2010 bei Anagrama in Barcelona posthum veröffentlichte Roman „Das Dritte Reich“ von Roberto Bolaño ist jetzt bei Hanser in gediegener, auch rein äußerlich ansprechender Ausgabe in der Übersetzung Christian Hansens erstmals auf Deutsch erschienen. Schon 1989 wurde dieser Roman von Roberto Bolaño vorläufig abgeschlossen; in seinem Nachlass fand sich die maßgebliche Schreibmaschinenfassung, auf der die jeweiligen Bucheditionen auf Spanisch und Deutsch, in Original- wie Übersetzungssprache, fußen.

Der über 300 Seiten starke, tagebuchartig geschriebene Roman liest sich übrigens ganz anders als der nur zunächst missverständliche und dann doch zutreffende Titel „Das Dritte Reich“ es uns erwarten lässt. Schnell drin ist man in dieser Lektüre; und sie gelingt auch weiterhin mühelos.

Zwei Paare aus Deutschland, Udo und Ingeborg aus Stuttgart sowie Hanna und Charly aus Oberhausen, verbringen ihren Sommerurlaub in zwei verschiedenen Hotels eines vom Tourismus geprägten Ortes an der spanischen Küste in der Nähe von Barcelona, kennen sich vorher nicht, lernen sich im Urlaub mehr oder weniger kennen.

Eine Urlaubsgeschichte also? Ja und nein.

Man sollte sie nicht unbedingt schon im Urlaub lesen, lieber erst danach.

Udo Berger, 25 Jahre alt, macht mit seiner Freundin Ingeborg nicht den Urlaub, den man – zumal für den ersten gemeinsamen Urlaub – erwarten könnte: Er ist nur ganz selten am Strand, meistens hält er sich allein in seinem Hotelzimmer auf und beschäftigt sich vordringlich und geradezu arbeitsmäßig mit einem wochenlang andauernden Brettspiel, einem Kriegsspiel, des Namens „Das Dritte Reich“. Er, der Landesmeister in diesem Sport genannten Spiel, will nämlich unter anderem einen Artikel für eine Fachzeitschrift über neue zielführende Varianten dieses Spiels schreiben. Ehe Charly, der versierte Surfer, beim Windsurfen im Meer plötzlich unauffindbar verloren geht, ehe Hanna nach Oberhausen abreist und ehe auch Ingeborg den spanischen Küstenort wieder in Richtung Heimat verlässt, während Udo – vorgeblich zur etwaigen Identifizierung des verschollenen, wahrscheinlich zu Tode gekommenen, noch immer nicht aufgefundenen Charly – am Ort allein zurückbleibt, erfahren wir nicht allzu viele Details zum Spiel, das den Verlauf des 2. Weltkrieges in Europa imaginär je nach Spielerglück und strategischer Fähigkeit des jeweiligen Spielers (und Udo ist der amtierende Landesmeister) neu zu gestalten vermag.
Ein Tretbootsverleiher am Strand, der wegen seiner erschreckenden körperlichen Entstellung immer nur „der Verbrannte“ genannt wird, entwickelt sich zwischendurch – gleichsam aus dem Stand – zu einem Mit- und Gegenspieler des Udoschen Spiels. Zu einem zunächst harmlos erscheinenden, lange unterschätzten, schließlich übermächtig werdenden Gegner. Vielleicht zu einem Feind?

Erwähnt sei, dass noch einige andere geheimnisvolle und wichtige Personen in diesem Roman vorkommen und die Figurenkonstellation noch etwas dichter machen, abgesehen von dem Zimmermädchen Clarita und dem Nachtportier vor allem noch fünf weitere: die attraktive 35jährige Hotelchefin Frau Else und ihr geheimnisvoll im Hintergrund bleibender todkranker Mann, des weiteren die beiden spanischen Gelegenheitsbekannten des deutschen Urlaubsquartetts, El Lobo und El Cordero, sowie Conrad, der daheimgebliebene Freund und Telephonpartner Udos in Stuttgart.

Udo ergeht es wegen seines Spiels übrigens manchmal genauso wie vielleicht dem Buch Bolaños bei noch uneingeweihten, immerhin potentiellen Leser…n wegen seines Titels: Er wird des öfteren irrigerweise für einen Nazi gehalten, der den verlorenen Weltkrieg im Spiel nachträglich gewinnen will. Und wirklich hat er im Spiel die Position der Deutschen eingenommen und sein schließlicher Gegenspieler, der Entstellte, spielt den Part der Alliierten. Und es sieht so aus, als könnte der aus der Geschichte des 2. Weltkriegs bekannte Verlauf des Krieges auf Grund der strategischen und taktischen Fähigkeiten des professionellen Spielers entscheidend verändert werden und der Kriegsausgang schließlich ein anderer sein. Es ist aber der Verbrannte, der außenseiterische Anfänger, der schließlich überraschend doch gewinnt und so zu einem den geschichtlichen Resultaten ähnlichem Ergebnis gelangt, mit spezifisch der Figurenkonstellation des Romans geschuldeten Implikationen.

Mindestens zweierlei, wenn nicht dreierlei scheint mir in diesem interessanten und gut lesbaren Roman besonders wichtig zu sein. a) RB entwickelt in diesem relativen Frühwerk schon eine bestimmte Version seines Spiels mit Erzählschlüssen. Im Verlauf des Erzählens wird ein ganz bestimmter Schluss (bzw. ganz bestimmte Schlüsse) plausibel, fast zwingend nahegelegt; selbst wenn diese Schlüsse nun, wie es schließlich der Fall ist, nicht faktisch die des Romans sind, werden sie von uns Leser…n dennoch nicht vergessen und wirken gedanklich und atmosphärisch nach. b) Am Ende des Romans scheint Udo Berger, der auf den ersten Blick Gescheiterte, kein Spieler mehr zu sein; wir erinnern uns aber, dass er ja der Schreiber dieses Tagebuchromans ist und zwischendurch einen – bei Interpreten oft auf Unverständnis stoßenden, wie ich jedoch meine, durchaus verräterisch aufschlussreichen – Vergleich von deutschen Generälen als Militärstrategen mit ganz bestimmten deutschsprachigen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gewagt hat. Man versuche doch einmal daraufhin das Kapitel „Meine Lieblingsgeneräle“ (S.248ff) ansatzweise parabolisch zu lesen. Was hier über die Verfahrensweisen beim Spielen dieses Kriegsspiels gesagt wird, wäre in Parallele zu setzen zu den Verfahren der genannten Schriftsteller. Auch die Romane, die RB fortan (also nach 1989) selber noch zu schreiben gedenkt, unterliegen den hier auf den Seiten 248f. angedeuteten vielfältigen Verfahrensweisen des Spiels. In diesem Sinne ist auch schon „Die Naziliteratur in Amerika“ und nicht erst „Die wilden Detektive“ und „2666“ ein großes Spiel, das die Offenheit für Varianten kennt. Wir erinnern uns, dass schon Cortázars großer „Rayuela“-Roman sich als ein Spiel gegeben hat, das an das uns meistens aus der Kindheit bekannte Hüpfspiel „Himmel und Hölle“ anknüpft.

Man wird es mir wohl kaum verargen, dass ich während der Schilderungen des Duells zwischen Udo Berger und dem Verbrannten im Roman mich auch an berühmte Schach-Duelle in Prosaerzählung (Zweigs „Schachnovelle“) und Film (Ingmar Bergmans „Das Siebente Siegel“) erinnert gefühlt habe; zumal die Ähnlichkeit des Kriegspiels „Das Dritte Reich“ mit dem allbekannten Schachspiel – in der Art nämlich, dass es dieses an Komplexität sogar noch weit übersteige – eigens und ausdrücklich im Roman selbst genannt wird.

Keine schlechte Pointe dieses ersten Bolaño-Romans scheint mir die zu sein, dass der Spieler A (der Kriegsspiel-Spieler) sich im Prozess fortlaufenden Tagebuchschreibens zuguterletzt in Spieler B (den Schriftsteller) verwandelt hat; und dass diese Verwandlung Bolaño, der A und B in Personalunion in sich vereinte, bereits mit seinem allerersten Roman und nicht erst beträchtlich später überzeugend gelungen ist.

Roberto Bolaño: „Das Dritte Reich“. Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Christian Hansen. Hanser Verlag, München. 320 Seiten, 21,90 €.




Geschichten vom Herrn Kaum (5)

Herr Kaum und Roberto Bolaños neueste posthume Bücher

Dass sich Herr Kaum seit „2666“ für die Bücher von Roberto Bolaño interessiert, ist längst kein Geheimnis mehr. So kam, als er im August gerade in Salzburg war, die deutsche Übersetzung des frühen, nachgelassenen Bolaño-Romans „Das Dritte Reich“ soeben neu heraus und lag in stattlicher Anzahl und in Form einer schon äußerlich ansprechenden Ausgabe des Hanser Verlags deutlich sichtbar in der Rupertus-Buchhandlung und auch bei Höllriegel aus.

Anfang September in Florenz nun fand Herr Kaum überraschend eine 2011 bei Anagrama in Barcelona erschienene, insofern also originalsprachige Ausgabe von „Los sinsabores del verdadero policía“ vor, bedauerlicherweise zum stolzen Preis von 23,00 €. Da es sich aber um das einzige in der sehr großen Florentiner Buchhandlung zur Verfügung stehende Exemplar handelte und da ein trotz behutsam gewaltiger Beseitigungsanstrengungen des Verkäufers offenbar unentfernbarer Hässlichkeitsfleck über die Seiten 153 bis 266 hinweg auf der inneren Außenseite des Buches (wie heißt doch gleich der Fachausdruck?) bleibend zu sehen war, dachte Herr Kaum, das Buch vielleicht etwas billiger bekommen zu können. Der Verkäufer jedoch beharrte auf dem vollen Preis.

Stunden später ging Herr Kaum nochmals in dieses Schatzhaus der Bücher hinein, griff sich den Band aus dem Regal – der Verkäufer vom Vormittag war nicht mehr da – , ging schnurstracks aus dem ersten Stock zur Kasse im Erdgeschoss, verwies stumm, aber erkennbar zahlen wollend auf den bösen Fleck und bekam sofort von der Kassiererin 3,45 € Preisnachlass.




Eine Zeit in der Hölle

Zwei Halbwüchsige, Bruder und Schwester, haben ihre Eltern bei einem Autounfall verloren. Seither bleiben auch ihre Nächte seltsam taghell. Es ist ein bedrohliches Gleißen in der Welt. Immerzu. Und alle Nähe ist zunichte. Die Geschwister fühlen sich „wie Vögel in einem Sandsturm“. Es gibt keine Zuflucht.

Roberto Bolaños illusionslos lakonischer, nur 110 Seiten starker „Lumpenroman“ bewegt sich sehr nah am erlittenen Augenblick und wirkt zugleich verhangen, traumverloren, surreal; ganz so, als könne dies alles nicht wirklich sein, als sei die Realität rundum ausgetröpfelt. Zitat: „…wobei wirklich nur eine andere Unwirklichkeit bezeichnet, eine weniger zufällige, besser gerüstete Unwirklichkeit…“ Unversehens, in den schlaflos hellen Nächten, blitzen manchmal Gesichte und Visionen auf.

Bruder und Schwester verharren im wunschlosen Unglück, sie können nicht einmal richtig weinen oder den Verstand verlieren. „Wider Erwarten ging das Leben unverändert weiter.“

Ohne je in einen Klageton zu verfallen oder aufzubegehren, beschreibt die Schwester als Ich-Erzählerin namens Bianca desolate Zustände. Die Waisen verdingen sich mit niederen Jobs. Sie hilft in einem Frisiersalon aus, er in einem Bodybuilding-Studio. Ganz unten. Dort, wo man völlig ratlos oder besonders klarsichtig sein kann.

Ihre „Freizeit“ besteht aus schier endlosen Fernseh-Sitzungen. Ohne Lust, um die Zeit zu töten und um vollends fühllos zu werden, leihen sie sich in Videotheken Dutzende Pornos aus. Sie rauschen halt vorüber.

In einem Frauenmagazin füllt die Schwester einen Fragebogen aus. Auszug:

„Wenn Du ein Fisch wärst, welche Art Fisch würdest Du sein?
Einer von denen, die man als Köder verwendet…“

So wird es kommen. Eines Tages tauchen zwei Kumpane des Bruders auf und setzen sich in der Wohnung fest. Einfach so. Fraglos. Rätselhafte Typen. Sie bleiben anonym, werden lediglich als Bologneser und Libyer bezeichnet. Sie sind von einer kriminellen Aura latenter Gewaltsamkeit umwölkt, doch sie bleiben stets höflich und räumen regelmäßig die Wohnung auf. Auch scheinen sie selbst kläglich einsam zu sein. Von Zeit zu Zeit schläft die Schwester mit je einem der beiden. Sie will dann gar nicht wissen, mit wem.

Irgendwann planen die drei Männer einen verworrenen Coup. Die Schwester wird als erotischer Köder auf den erblindeten Ex-Schauspieler (Spezialität: Gladiatorenschinken) und einstigen „Mister Universum“ Maciste angesetzt. Nacht für Nacht gibt sie sich dem monströsen Muskelmann hin – und sucht in der weitläufigen Villa vergebens nach dem Tresor. Nicht lustlos, ja sogar mit Anflügen von Liebesähnlichkeit vollzieht sich der allnächtliche Akt. Vielleicht ist es ja nur die Sehnsucht nach wohltuender Stille vor Ausbruch des Wahnsinns. Doch Bianca wachsen tatsächlich neue Kräfte zu, als wäre sie endlich im Leiden gestählt. Sie schickt den Bologneser und den Libyer fort. Und das war es. Kein Wort und keine Geste zu viel in diesem Roman.

Der allererste Satz des Buches hatte so gelautet: „Jetzt bin ich Mutter und auch eine verheiratete Frau, aber vor gar nicht langer Zeit war ich eine Kriminelle.“ Damit begann der unentrinnbare Sog, eine Zeit in der Hölle.

Der vor einigen Jahren verstorbene Chilene Roberto Bolaño (1953-2003) ist mit Büchern wie vor allem dem Riesenroman „2666“ zur unverhofft (und spät) entdeckten Größe der Weltliteratur geworden. Auch der kurz vor dem Tod verfasste „Lumpenroman“ (Originaltitel „Una novelita lumpen“) kann nur Teil eines großen Werkes sein. Man spürt es – noch in der Übersetzung – in jeder Satzmelodie.

Roberto Bolaño: „Lumpenroman“. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Carl Hanser Verlag, 110 Seiten. 14,90 Euro.