Zum Tod des Dortmunder Theatermachers Rolf Dennemann

Rolf Dennemann auf der Theaterbühne. (Foto: © Guntram Walter)

Der Dortmunder Theatermacher, Schauspieler und Autor Rolf Dennemann ist gestorben – viel zu früh mit 71 Jahren.

Ein einziges Mal hat Rolf Dennemann an einem Autorentreffen der Revierpassagen teilgenommen, doch kann ich leider nicht behaupten, ihn wirklich näher gekannt zu haben. Umtriebig, ja getrieben schien er an jenem Abend zu sein. Er hat sich denn auch vorzeitig verabschiedet. Rückblickend betrachtet, war es ein geradezu gespenstischer, ungemein betrüblicher Abend, denn auch einen anderen unserer Autoren, den schmerzlich vermissten Kulturkenner Martin Schrahn, habe ich damals zum allerletzten Mal gesehen. Wie nichtsahnend wir geplaudert haben…

Vor Jahren hat Rolf Dennemann hin und wieder für die Revierpassagen geschrieben. Vor allem ist mir seine dreiteilige Serie „Krankenhausreport“ in Erinnerung geblieben, in der er 2014 höchst eindrücklich seine teilweise bizarren Erfahrungen beim Klinik-Aufenthalt beschrieben hat. Daraus und aus weiteren Notizen ist einige Zeit später die Vorlage zu einem seiner Theaterprojekte geworden. Alles wurde ihm zur Szenenfolge.

Nachdem ein anderes Medium kurzerhand nur die Pressemitteilung der Stadt Dortmund als Nachruf auf Rolf Dennemann publiziert hat, erlauben wir uns mit den folgenden Absätzen ausnahmsweise ein ähnliches Verfahren, freilich in transparenter Darbietung. Hier also der (leicht gekürzte) Wortlaut der städtischen Würdigung:

„Rolf Dennemann war ein kreativer Geist in vielen Bereichen der regionalen und überregionalen Kulturszene. Er hat sie durch seine Ideen, Inszenierungen, Inspirationen und sein Engagement für die Kulturschaffenden sehr geprägt.

(…) Dennemann wurde in Gelsenkirchen geboren und lebte seit den 1990ern in Dortmund. Er war freischaffender Regisseur, Autor, Festivalleiter und Schauspieler. Außerdem war er als Gründungsmitglied und geschäftsführender Vorstand prägend für die künstlerischen Produktionen des Vereins „Artscenico“ in Dortmund. Er war langjähriger Leiter des internationalen Theaterfestivals „off limits“ und hat (…) bedeutende internationale Produktionen nach Dortmund geholt. Von 1996 bis 1998 leitete er den „Theaterzwang“ (jetzt „Favoriten“), ein (…) Festival der freien Theaterszene aus NRW in Dortmund (…)

Rolf Dennemann (…) war Spezialist für ortsspezifische Inszenierungen auf ehemaligen Industriegeländen – in Parks, Hotelzimmern, sakralen Räumen, Brachflächen oder Wohnblöcken. Mehr als 50 (…) performative Theaterstücke hat er produziert. Dabei war ihm nicht nur wichtig, sich der besonderen lokalen Bedeutung der Orte im Ruhrgebiet zu nähern, sondern damit auch andere Menschen anzusprechen, die nicht zum Stammpublikum im Theater gehören. (…)

Als Schauspieler war Dennemann nicht nur auf Bühnen präsent. Er arbeitete für Kino- und Fernsehproduktionen unter anderem mit dem Dortmunder Regisseur Adolf Winkelmann in seinen Filmen „Nordkurve“, „Eine einzige Tablette“ und „Junges Licht“. Auch andere deutsche Regisseure setzten auf den Schauspieler: Tom Tykwer („Der Krieger und die Kaiserin“), Fatih Akin („Solino“) und Detlev Buck („LiebesLuder“) zum Beispiel, auch für den „Tatort“ stand er schon als „Ruhrgebietsoriginal“ vor der Kamera. (…)

„Rolf Dennemann hat die Kulturszene auf vielfältige Weise geprägt. In der Region und hier in Dortmund hat er viele Spuren hinterlassen, er wirkte aber auch international auf Festivals und in Projekten und führte die Menschen zusammen. Als Mensch, als Künstler, als kreativer Querdenker wird er sehr fehlen“, so Kulturdezernent Jörg Stüdemann.“

 

 




Chancen am Borsigplatz: Der soziale Ertrag des Bierbrauens und andere Aktionen

Bei „Public Residence: Die Chance“, einem künstlerischen Experiment in der Dortmunder Nordstadt, ging es um kulturelle Teilhabe und soziale Kreativität. Das Projekt endete im Mai, soll aber nachwirken. Gastautorin Isabelle Reiff, selbst Mitglied im eingetragenen Verein „Borsig11“, zieht eine Bilanz aus Veranstaltersicht:

„Das ist zynisch, dass Sie das hier machen!“ So begann ein längeres Streitgespräch, das der Künstler Frank Bölter mit einem Politiker der Linken auf dem Kleinen Borsigplatz führte. Anlass dazu bot eine eigenwillige Kunstaktion im Rahmen von „Public Residence: Die Chance“. Das Projekt basiert auf einer Kunstwährung, die an die Quartiersbewohner ausgegeben wird und echte Euros wert ist. Der Geldwert kann sich aber nur in einem gemeinschaftlichen Projekt entfalten.

Diese Bedingung hatten vorher die geldgebende Montag Stiftung und der austragende Verein „Borsig11“ gesetzt. Frank Bölter war also darauf angewiesen, bei den Nachbarn ganz verschiedener Façon und Herkunft den gemeinsamen Nenner zu finden. Und welcher war es dann? Die Liebe zum Bier!

Resultat einer speziellen Kunstaktion unter Anleitung von Frank Bölter: Selbstgebrautes vom Borsigplatz. (Foto: Frank Bölter)

Resultat einer speziellen Kunstaktion unter Anleitung von Frank Bölter: Selbstgebrautes vom Borsigplatz. (Foto: Frank Bölter)

Selber Bier zu brauen ist im Fahrwasser der US-amerikanischen Craft-Beer-Bewegung regelrecht zu uns herübergeschwappt: Immer mehr Menschen fangen hierzulande an, in ihrer Freizeit Bier zu brauen – in der Garage, im Kabuff oder Gartenhaus. Frank Bölter veranstaltete diese Arbeit open air im öffentlichen Raum und zwar an einem Lieblings-Treffpunkt höchst passionierter Biertrinker.

„Hinter jedem einzelnen, der hier den ganzen Tag rumsitzt und säuft, stecken Suchtkrankenakten, kaputte Familiengeschichten, gescheiterte Laufbahnen und Offenbarungseide. Und jetzt kommen Sie und wollen denen zeigen, wie man selber Bier braut!“, beschwerte sich der Lokalpolitiker, während Bölter damit zu tun hatte, Kastanien-Blätter aus dem Sud zu fischen, weil es an diesem Tag wieder so stürmte.

Während der Politiker sich echauffierte, als sei sonst niemand zugegen, mischten an dem Stunden währenden Brauvorgang nicht nur Leute mit, die den Kleinen Borsigplatz zu ihrer zweiten Heimat erkoren haben. Auch Nachbarn, eine angehende Diplom-Braumeisterin und Neugierige rebelten, schroteten und rührten.

Später tauchte noch Kurti auf: Im Knast habe er siebeneinhalb Jahre lang selbst immer Bier gebraut. Das Rezept könne er beim nächsten Mal mitbringen. Gerhard hatte in weiser Voraussicht Malzmyrrhe dabei. Er rühmte sich einer Zusatzausbildung zum Biersommelier. Peter packte nach Ablass des Suds wortlos den übriggebliebenen Brauteig ein und kehrte später unverhofft mit daraus gebackenen Brötchen zurück.

Für Bölter war es ein Etappenziel, „Menschen miteinander in Kontakt zu bringen, die sich sonst eher aus dem Weg gehen“. Mehr noch „gewinnt man beim Selberbrauen ein Stück weit die an die Sucht abgegebene Verantwortung für die eigene Person durch die gewonnene Portion Selbstermächtigung zurück“. Den Satz sollte man zwei Mal lesen. Ob der Politiker Orhan dann anders darüber denkt, den „Alkis“ vom Kleinen Borsigplatz das Bierbrauen beizubringen?

Alle Künstler während des Public-Residence-Jahres waren (wie vorher schon das Projekt „2-3 Straßen“) vor die schwierige Aufgabe gestellt, Menschen zu mobilisieren, die, was ihre erwerbsmäßigen Beteiligungschancen in dieser Gesellschaft angeht, die Hoffnung mehr oder weniger aufgegeben haben. Dass ihre Väter großteils nur wegen der Arbeit hierher zogen, steht auf einem anderen Blatt. Das Quartier um den Borsigplatz ist heute das mit der höchsten (Langzeit-)Arbeitslosigkeit in Dortmund.

Führung durchs Stadtquartier: Matthias Hecht alias Dr. h. c. Wilfurt Loose (vorn), dahinter (mit roter Kappe) Rolf Dennemann. (Foto: Isabelle Reiff)

Führung durchs Stadtquartier: Matthias Hecht alias Dr. h. c. Wilfurt Loose (vorn), dahinter (mit roter Kappe) Rolf Dennemann. (Foto: Isabelle Reiff)

Geblieben ist das gelernte Malocher-Verständnis von Arbeit: Arbeit kann nicht Spaß machen, ist Frondienst, bei dem ein anderer das Meiste verdient. Bildungslücken, fehlende Sprachkenntnisse, Schicksalsschläge (wozu auch das Wegziehen ganzer Industrien zählt) erschweren die persönliche Neuorientierung. Übrig bleibt das Gefühl, Opfer der Umstände zu sein, eben nicht seines Glückes Schmied.

Tradierte Sozialprogramme verstärken oft noch diese Selbstwahrnehmung. Können künstlerische Ansätze hier neue Perspektiven eröffnen? Auf dieser Überzeugung fußt das Programm der Montag Stiftung Kunst und Gesellschaft aus Bonn. Insgesamt 200.000 Euro hat sie für den Borsigplatz bereitgestellt: Der Betrag bildet die Basis der „Chancen“-Währung, außerdem wurde aus diesem Topf die Arbeit von sieben Künstlern bezahlt.

Sie kamen auf die Idee, Straßen umzubenennen, Gärten anzulegen, ein Repair-Café zu gründen. Es wurde öffentlich gekocht, getanzt, Theater gespielt. Ein bis vor Kurzem noch leer stehendes Ladenlokal ist jetzt ein beliebter Nachbarschafts-Treff (Oesterholz 103). Fortbestehen soll auch das Geschmacksarchiv, bei dem vergessene Rezepte nachgekocht werden, genau so die Jugend-Theatergruppe Kielhornschule. Einige im Quartier bieten jetzt sogar selbst Workshops an – vom Möbelbau aus Paletten bis zum Meditationskurs.

Aber viele machen auch nicht mit; umso mehr Chancen sind übrig geblieben – also Noten mit echtem Geldwert. Jeder Anwohner hat ein Anrecht auf 100 davon. Ungefähr die Hälfte hat ihre Chancen noch gar nicht ergriffen. Das bedeutet, dass viele, die rund um den Borsigplatz leben, immer noch Gelegenheit haben, sich auf etwas zu einigen, was sie in ihrem Stadtteil verwirklichen und dann gemeinsam mit denen ihnen zustehenden Chancen finanzieren wollen.

Ohne sehr viel Kommunikation und Überzeugungsarbeit kann das nicht gelingen. Jetzt müssen andere in die Lücke springen, die die Künstler hinterlassen haben. Einer ist immerhin hier geblieben, weil er seit 15 Jahren in der Oesterholzstraße wohnt: Rolf Dennemann hat als freischaffender Künstler, Autor, Regisseur und Schauspieler (und gelegentlicher Mitarbeiter der „Revierpassagen“) vorher schon Partizipationsprojekte angezettelt, in den Kleingärten in der Nordstadt zum Beispiel, auf dem Hauptfriedhof oder in einem Rentnerwohnblock in Essen. “Bitte kein Wasser runterschütten”, hieß eine der Aktionen.

Dennemann ist nicht der gefällige Typ, so einer „will auch nicht andere um Chancen anbetteln“. Dafür weiß er, wie das Quartier am Borsigplatz tickt. Er hat die Veränderungen, denen es unterworfen ist, über viele Jahre beobachtet. Und er kennt die wichtigen Protagonisten im Viertel. Ein klarer Vorteil gegenüber den kurzfristig zugezogenen Künstlern. Und so kommt die von Dennemann initiierte Stadtteilführung „Borsig-VIPs“ so gut an, das man ihm unaufgefordert Chancen zusteckt. Er hat sich dafür aber auch die stadtbekannte Annette Kritzler ins Boot geholt und Matthias Hecht, der alias Dr. h.c. Wilfurt Loose den Quartiersforscher zum Allerbesten gibt. Dennemann ist daher weiter auf „Spurensuche“, sammelt Geschichten und Erinnerungen von Anwohnern und deckt en passant die geheimen Berühmtheiten im Viertel auf.

Wenn die stadtbekannte Kritzler diese ehrenvollen Namen bei ihrer Führung sonor verortet und Loose das auch noch akademisch untermauert, kommt man kaum umhin, zu glauben, dass die östliche Nordstadt in Wirklichkeit voller öffentlichkeitsscheuer Stars steckt. Wahrscheinlich sind sogar noch längst nicht alle aufgespürt. Drum: Wer ungeahnte Anekdoten, verschollene Dokumente oder sonstige Quartiersgeheimnisse auf Lager hat, sollte Dennemann was erzählen. – Vielleicht ist der Borsigplatz in ein paar Jahren – weit über seine Bedeutung für den BVB hinaus – ein Stadtteil mit vielen Mythen und Legenden.




Revierpassagen-Texte wurden bühnenreif: Rolf Dennemanns Krankenhausreport „Unterwegs mit meinem Körper“

Wenn ein gelegentlicher Mitarbeiter der „Revierpassagen“ ein Bühnenprogramm entwickelt und aufführt; wenn noch dazu sehr lesenswerte Textvorlagen zu diesem Projekt als Beiträge in den Revierpassagen gestanden haben – dann, ja dann machen wir umso lieber ein bisschen Reklame dafür.

(Foto: d-man)

Eine Station der Krankenhaus-Odyssee (Foto: d-man)

Die Rede ist von Rolf Dennemann und seiner szenischen Lesung „Unterwegs mit meinem Körper“, die kürzlich erfolgreich Premiere hatte. Der Autor, Regisseur und Schauspieler schildert seine Odyssee durch diverse Krankenhäuser des Landes. Es halten sich dabei erzkomische und durchaus ernsthafte Aspekte die Waage. Anders gesagt: Sie folgen einander in aberwitziger Weise.

Hand aufs hoffentlich nicht allzu kranke Herz: Wann habt ihr zuletzt über die Rolle des Hagebuttentees in deutschen Kliniken nachgedacht? Und was haltet ihr von der künstlerischen Ausstattung unserer Krankenhäuser? Und das sind nur die harmlosesten von vielen, vielen Fragen…

Einen gewissen Vorgeschmack erhält man, wenn man sich noch einmal – ebenso schaudernd wie genüsslich – Rolf Dennemanns dreiteiligen Revierpassagen-Text „Krankenhausreport“ (Links stehen am Ende dieses Beitrags) zu Gemüte führt. Doch natürlich hat Rolf Dennemann seine Erlebnisse für die Bühne noch einmal ganz anders bearbeitet.

Auch darf man sicher sein, dass die Präsenz Rolf Dennemanns und der Schauspielerin Elisabeth Pleß den Texten noch einige weitere Dimensionen verleiht, zumal auch Bild- und Videoprojektionen zum Repertoire gehören.

So. Ich denke, jetzt haben wir genügend Vorfreude auf die weiteren Auftritte geweckt. Der nächste begibt sich am Freitag, 17. April (20 Uhr), im Dortmunder „Theater im Depot“, ein weiterer am 29. Mai in Gelsenkirchener Consol Theater. Da ahnt man schon: Unter den Absurditäten des stationären Gesundheitswesens ächzen auch ansonsten scharf rivalisierende Revierstädte gemeinsam.

Weitere Infos auf Rolf Dennemanns Internet-Seite: www.artscenico.de

Die drei Teile des „Krankenhausreports“, erschienen im Februar 2014:
http://www.revierpassagen.de/23415/der-krankenhausreport-teil-1-ich-nehme-dann-das-einzeldoppel/20140209_1733

http://www.revierpassagen.de/23421/der-krankenhausreport-teil-2-wir-sind-die-gruenen-damen/20140211_1004

http://www.revierpassagen.de/23424/der-krankenhausreport-teil-3-das-bekommen-sie-jetzt-alles-von-uns/20140212_1217




Getanzte Lebensläufe – persönliche Eindrücke zwischen Litauen und Dortmund

Vom 8. Bis 12. Oktober fand in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, das internationale Tanzfestival AURA24 statt. Die Dortmunder Produktionsgruppe artscenico war dabei. Zusammen mit der Tanzcompagnie Aura wurde die Koproduktion „CVs – Curricula vitarum“ realisiert. Der Tänzer und Choreograph Paul Hess hat das Vorhaben mit einem internationalen Ensemble umgesetzt, das dort neu zusammengestellt wurde. Als verantwortlicher Koproduzent bin ich zum Festival und zur Premiere nach Kaunas gereist. Hier einige persönliche Eindrücke:

Koproduktion artscenico/Dortmund und Aura/Kaunas

Koproduktion artscenico/Dortmund und Aura/Kaunas (Foto: Rūta Taraškevičiūtė)

Die Zusammenarbeit mit Aura begann 2013 mit der Produktion „Heimat surreal“, die in Dortmund als Dreiteiler in der Schalthalle Phoenix-West, dem Rombergpark und am Kanal gezeigt wurde. Daraufhin wurde Paul Hess als Choreograph angefragt und eine Koproduktion vereinbart. Das Festival ist das renommierteste der freien Tanzszene in Litauen.

Thema in diesem Jahr war die Frage nach der Rolle des Maskulinen in der postmodernen Gesellschaft. „Unser“ Stück behandelt diese Frage quasi en passant. Das Rollenspiel beginnt in der Kindheit und zieht sich durchs Leben. Dazu ist die Sprache des Tanzes ein Mittel, das international barrierefrei verständlich ist. Neun Tänzerinnen und Tänzer aus Mexiko, Japan, Litauen, Brasilien und Italien bilden das neue Ensemble.

Ich besuche die Generalprobe und versuche, eine neutrale Haltung einzunehmen. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Wie weit greift die Befangenheit des Produzenten, die naturgemäß dazugehört? Ich nehme mir vor, nur zehn Minuten zu bleiben, um ein Premierenbesucher zu sein wie alle anderen: Offen und erwartungsvoll auf das Kommende harrend. Nach 40 Minuten sitze ich immer noch im Theatersaal der Universität Magnus. Der Theatersitz wird zum Sessel.

„Ich schaue sehr gerne zu“, merke ich. „Also wird es dem Publikum gefallen“, ist meine Schlussfolgerung. Ich stecke nicht in der Haut der Tänzer und des Choreographen, die an einem solchen Abend hypersensibilisiert sind und voll konzentriert. Das Werk ist vollbracht und doch wird es sich in Zukunft immer verändern. Das ist das Spannende an der darstellenden Kunst. Der Augenblick ist nicht wiederholbar, aber die Nuancen.

Foto Rūta Taraškevičiūtė

Foto Rūta Taraškevičiūtė

Premiere: Das Haus ist mit rund 400 Personen besetzt. Junges Publikum bildet die Mehrheit. Fast alles klappt. Man spürt die Anspannung. Die neun jungen Tänzer zeigen eine enthusiastische Performance mit vielen unterhaltsamen wie auch besinnlichen Sequenzen. Das Publikum applaudiert, Blumen werden gereicht, Gesichter und Körper entspannen sich bei Tänzern und Team.

Ich gebe die Zurückhaltung des professionellen Beobachters auf und freue mich bis drei Uhr morgens in der Bar der Galerie Urbana. Im nächsten Jahr kommt die Produktion ins Ruhrgebiet. Bis dahin ist für alle wieder ein weiteres Stück Lebenslauf vergangen, neue Erfahrungen kommen hinzu und wirken ins Stück hinein.

Entspannt schaue ich mir den Rest des Festivals an und finde es schade, dass es eine solche Veranstaltung zum Beispiel in Dortmund nicht mehr gibt. Ich erlebe ein abwechslungsreiches Programm mit unterschiedlichen Tanzkonzepten aus Schweden, Italien, Frankreich, Polen, Israel, Mexiko und Korea.

Es war ein guter Coup, zum Thema „Männer“ erstmals Gruppen aus Mexiko und Korea einzuladen. Es war erfrischend zu sehen, wie die Mexikaner mit dem Klischee der Machos spielten; eine geradezu umwerfend lebhafte Vorstellung der drei „Grouchos“ von Jaciel Neri & die Moving Borders mit Nosotros, die selbstironisch und witzig die Rolle des Mannes variieren. Das Publikum kam in Scharen und blieb anschließend in scharfer Partylaune mit Tequila und Tabasco-Snacks.

Internationaler kann es kaum sein. Hier zeigt sich die gelungene Umsetzung des artscenico-Konzeptes, internationale Kooperationen zu kreieren, die zwar die Welt nicht schöner machen, aber zumindest das Leben dort und die zeigen, dass abseits der unfassbaren Konfliktherde kreatives Miteinander nicht verloren geht.

„Welch ein salbungsvolles Fazit“, denke ich, während ich im Billigflieger sitze, der gleich in Dortmund landen wird. Back in reality, wieder ein Stück Lebensweg sinnvoll hinter mir lassend.




„Vorhofflattern“: Ein erregender Theaterabend

Foto: dman

Foto: dman

Was könnte man sich wieder aufregen: Über die miese Qualität von Taschentüchern heutzutage. Über die Scheiß-Tölen in der Stadt. Über Menschen auf Rolltreppen. Über die Erderwärmung und das trotzdem schlechte Wetter.

Wenn der Wutbürger sein eigenes Genörgel dann nicht mehr ertragen kann, besucht er einen Wut-Workshop. Dort sitzt er, probiert Modellbau als Substitution und versucht, konstruktiv mit seiner Wut umzugehen, was so einfach nicht ist: „Ich hasse Menschen, Tiere und Pflanzen. Aber Steine sind okay.“

„Vorhofflattern“ heißt das Stück von „artscenico performing arts“, das in Kooperation mit dem Dortmunder Theater im Depot und dem Theater Rottstraße in Bochum entstand. Die Gruppe um Rolf Dennemann, eigentlich Spezialist für ortsspezifische Inszenierungen, spielt diesmal nicht im Freien, nicht im Hotel oder auf dem Fried- oder Bauernhof, sondern ganz profan auf der Theaterbühne. Wut rauslassen lässt sich schließlich überall.

Wie ein überdimensionierter Stammtisch wirkt der schwarze lange Tisch, an dem die Darsteller (Karin Moog, Maximilian Strestik, Matthias Hecht, Manuela Stüßer) sitzen und Dampf ablassen. Was er seinen Darstellern in den Mund legt, hat Dennemann (Autor und Regisseur des Stücks) collagiert: Es sind Sätze aus Kommentaren in Sozialen Netzwerken und Internet-Foren, aufgeschnappt in Kneipen, gelesen in Leserbriefen. Es ist die vielleicht verzerrte, aber ungeschminkte öffentliche Meinung, die hier wütet: schreiend, zeternd, motzend, nörgelnd.

Um diesen Zustand der Dauer-Erregung auf der Bühne zu visualisieren, hat Dennemann starke Bilder gefunden. Schon vom Ankündigungsflyer glotzt schweinsäugig ein Pitbull in Lauerstellung. Im Stück taucht der Hund als Wackel-Dackel auf: Der Mensch (der Deutsche?) als ängstlich-angepasster Ja-Sager, dessen aufgestaute negative Energien sich an Nichtigkeiten entzünden und explodieren. Die vier Darsteller kommen und verschwinden wie Handpuppen im Puppentheater hinter ihrem schwarzen Podest und regen sich künstlich auf: Gegeben wird ein großartiges Wut-Theater der großen Posen.

Vorhof1

Foto: dman

Doch dann, plötzlich, bewegt sich ein Wesen auf dem Tisch. Es kriecht und schlängelt sich wie ein Wurm, und es ist zu groß, um es zu ignorieren. Die Workshop-Teilnehmer versuchen es, aber es wird nicht gelingen. Ist es etwa das hässliche, ungeliebte und bedürftige Selbst der Wütenden? Diese beginnen damit, das Wesen zu bandagieren wie eine Mumie. Die kümmerliche Kreatur muss gebändigt werden.

In einer eingespielten Simultan-Übersetzung der Rede eines schwedischen Arztes lernt der Zuschauer dann: Das Wesen steht für das Opfer eines Bombenanschlags. Trotz schlimmster Verletzungen kämpfe die Frau jeden Tag um eine bessere Zukunft im eigenen Körper. „Wir Menschen sind Wesen, die mit Narben gesund weiterleben können“, heißt es leider etwas aufdringlich, während sich die Bandagierte oben auf dem Podest sinnfällig ihrer Fesseln entledigt. Photini Meletiadis heißt die Tänzerin unter den Bandagen. Ihr Aufbegehren ist existenziell, ihre pure Körperlichkeit steht in krassem Gegensatz zum nun umso sinnloser scheinenden Aufbegehren der Unversehrten.

Diese, die vier Wut-Bürger, kauern am Ende unterm Tisch in vier kleinen Kabinen, gefangen im eigenen Unvermögen, mit der Welt und vor allem sich selbst klarzukommen.




Tanz mit der Waldfee: artscenico-Projekt im Dortmunder Wald

Foto: dman

Foto: dman

Natürlich ist darstellende Kunst immer flüchtig. Wer an verschiedenen Tagen das gleiche Theaterstück sieht, wird niemals exakt das gleiche sehen. Die Inszenierungen von artscenico allerdings sind besonders flüchtig. Denn die Dortmunder Künstlergruppe um Rolf Dennemann setzt nicht nur Menschen, sondern vor allem Orte in Szene.

Sie macht die Besucherinnen und Besucher zum Teil der Performance. Sie produziert Bilder, die man anhalten möchte, weswegen man hilflos zur Smartphone-Kamera greift. Und sie sorgt für eine fast exklusive Einmaligkeit des Kunst-Erlebnisses: Selten sind artscenico-Produktionen häufiger als vier, fünf Mal zu sehen. Wer dabei war, kann noch lange davon erzählen.

Industrierelikte und Hotelzimmer, Bauernhöfe und Schrebergärten hat artscenico bereits inszeniert. Am vergangenen Wochenende ging es in den Evinger Süggelwald, der, wie die Ankündigung verrät, seinen Namen den Schweinen verdankt, die die Bauern früher in den Wald trieben. „4rest“ ist ein Tanzprojekt in der rauen Natur, ein Spaziergang, der den Besuchern im weichen Licht der Dämmerung eine Ahnung von den Geheimnissen des Waldes vermittelt. Konzept und Choreografie stammen von der Kölner Choreografin und Tänzerin Photini Meletiadis.

Eine Frau im leuchtend Grünen Kapuzenpullover mit einem aus Korb geflochtenen Spiel-Ball lockt die Besucher in den Wald, wirft ihren Ball – und scheucht damit eine Gruppe Waldwesen auf, die blitzschnell davonschwirren. Wer sind sie? Und wohin? Die Spurensuche beginnt, angeleitet von der elfenhaften, milde lächelnden Frau in Grün – eine Vermittlerin zwischen den Welten, die die Aufmerksamkeit bald auf eine Lichtung, bald auf einen besonderen Baumstamm lenkt. Immer wieder hält sie an, horcht in den Wald – und der Zuschauer hört erst den Kuckuck rufen und sieht dann eines dieser scheuen Wesen in sicherer Entfernung im Dickicht hocken. Die eine scheint ihr Baby zu schaukeln. Eine andere ist offenbar auf Nahrungssuche. Eine dritte verfängt sich in einem Netz – oder webt sie es? Die Zuschauer flüstern, das Laub raschelt, die grüne Fee lächelt, der Wald kühlt und tut gut.

Foto: dman

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Mehr und mehr verlieren die Waldwesen ihre Scheu, kommen näher, scheinen neugierig auf die vielen Besucher, die nun zum Teil der Inszenierung werden: Einige bekommen aus Wald-Fundstücken liebevoll gefertigte Puppen geschenkt. Andere werden zu Bäumen geführt, um sie zu berühren und zu umarmen. Dann nehmen sich alle an die Hand, werden von den Wesen weitergeführt und stehen plötzlich vor einem gedeckten Tisch: Es gibt Weintrauben, Kirschen, Kokosnuss und Wasser aus Paprika-Bechern.

Offenbar sind die menschlichen Besucher nun im Wald akzeptierte Gäste, sie werden bewirtet und dürfen die harmonisch fließenden, fast symbiotischen Tänze der vier Frauen (Photini Meletiadis, Susanne Grau, Geraldine Rosteius, Kathrin Wankelmuth) auf offener Wiese anschauen. Es geht noch tiefer ins Gehölz, zu riesigen Pilzen an Baumstämmen oder versteckten, überraschend sonnendurchflutete Lichtungen, in denen plötzlich die gelb gewandtete Waldfee wie ein Engel erscheint und die Zuschauer fast blendet.

Kein Wort wird gesprochen, kein Konflikt aufgebaut und gelöst, keine Geschichte erzählt. Oder doch: Die von der Schönheit und Harmonie des Waldes, der in dieser Inszenierung nicht die Bühne bildet, sondern quasi das Drehbuch, zumindest die Regieanweisungen liefert. Der Spaziergang endet in einem Gehege, aus dem Steeldrum-Klänge kommen. Die Besucher dürfen eintreten und sind dem Tanz der Naturwesen nun ganz nah. Die Choreografin hat eine Tanz-Sprache des Waldes entwickelt, die sie sich bei Feen abgeschaut haben muss: Behutsam, aber auf der Hut, eingebunden in die Gruppe, aber jeder für sich.

Ein traum-hafter, phantastischer und Phantasie anregender Abend – der leider niemals wiederholt werden wird…