Einsam auf der Höhe der Kunst: Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ am Theater Hagen

Jonny (Kenneth Mattice) schwebt ein - und spielt auf. Foto: Klaus Lefebvre

Jonny (Kenneth Mattice) schwebt ein – und spielt auf. Foto: Klaus Lefebvre

Nein, eine optimistische Oper ist Ernst Kreneks „Jonny spielt auf“ nicht. Auch wenn der Komponist selbst in seinem Bandgeiger aus Amerika eine Figur des Urwüchsigen, Ursprünglichen und Freien gesehen hat. Roman Hovenbitzer inszeniert am Theater Hagen – im Vorgriff auf den 25. Todestag des Komponisten – die fast neunzig Jahre alte Erfolgsoper äußerlich als Künstlerdrama, im Kern aber als ein Stück über gespaltene Welten und Selbsttäuschungen.

Max, der Komponist, ersteigt einen Gletscher, bewegt sich auf der Bühne von Jan Bammes in einem weiß erstarrten, zerklüfteten Gebirge aus gestapelten Partituren vor einer abweisend geschlossenen, riesigen Eiswand. Er steht auf der Höhe seiner Kunst, aber erstarrt und einsam. Die Begegnung mit der Sängerin Anita imaginiert er vorher: Er stellt sie in einem Bühnenmodell nach. Ein Theater – Raum der Träume, der tieferen Wahrheiten?

Das Hotel, in das die beiden, mit einer aufkeimenden Liebe im Herzen zurückkehren, ist weniger ein Ort als ein Raum: ein Flügel, das schwer bewegliche Instrument mit den genau gestimmten Tönen, im Hintergrund klassische Statuen, das uralte geistige Erbe Europas. Ganz anders das Pariser Hotel, der Lebensraum Jonnys: Der Musiker aus der neuen Welt schwebt ein auf einer flirrenden Kugel, das Saxofon in den Händen – das leichte, transportable Instrument mit den „schmutzigen“ Tönen und der aufreizenden Form. So markiert Bammes – unterstützt durch seine eigenen Kostüm-Kreationen – Schauplätze als sinnliche Verdichtungen geistiger Zustände und schafft Räume, wie sie nicht häufig glücken.

Natürlich ist der Auftritt Jonnys eine Anspielung auf das Plakat der Ausstellung „Entartete Musik“ der Nazis, auf dem das Zerrbild eines schwarzen Menschen ein Saxofon bläst. Aber der Jonny in Hagen ist nicht schwarz – nicht wegen einer fragwürdigen political correctness, sondern weil er es heute als symbolische Figur nicht sein muss, um verstanden zu werden.

Dieser Jonny ist kein Sympathieträger, sondern ein kleiner Gauner. Er nimmt sich, was er braucht; er beansprucht alles, was „gut ist“, für sich. Jonny lebt die Entwurzelung, „Heimat“ ist für ihn eine flüchtige Erinnerung. Sein Umfeld ist das Hotel, das Symbol der unsteten Existenz moderner Menschen. Seine Liebe ist die flüchtige sexuelle Begegnung; seine Musik der Katalysator der neuen Zeit.

Der Komponist Max (Hans-Georg Priese) in der eisigen Einsamkeit am Gipfel seiner Kunst. Foto: Klaus Lefebvre

Der Komponist Max (Hans-Georg Priese) in der eisigen Einsamkeit am Gipfel seiner Kunst. Foto: Klaus Lefebvre

Dem Team des Theaters Hagen gelingt es, Kreneks Werk aus dem Ruch der „Zeitoper“ zu befreien: Was 1927 Ahnung, Hoffnung, Faszination war, ist heute nicht nur Rückschau, sondern lässt an die Bruchstellen der Gegenwart und die Unsicherheiten der Zukunft denken: Es gibt sie immer noch, die Leute wie den Stargeiger Daniello, die selbstgefällig das kulturelle Erbe für sich ausschlachten, oder die Manager, die bei der Kunst vor allem das tolle Geschäft im Auge haben.

Aber dieser Jonny bleibt nicht in einem selbstreferenziellen „Künstlerdrama“ stecken. Im Blick auf einen ambivalenten Freiheitsbegriff, aber auch in der Kritik an einem dualistischen Begriff vom Leben steckt Relevanz für die Gegenwart. Wenn der Chor am Ende den Anbruch einer neuen Zeit, die Überfahrt ins unbekannte Land der Freiheit besingt, setzt Bammes den Menschen die patinagrünen Strahlenkronen der Freiheitsstatue auf. Da trifft sich die Hagener Inszenierung mit derjenigen, die Frank Hilbrich und Volker Thiele 2014 für das Nationaltheater Weimar erarbeitet hatten. Der Gletscher reißt auf und verschwindet am Ende im Dunkel einer Sternennacht, deren blinkende Lichter nur billige Goldfolie sind. Und Max springt in letzter Sekunde auf den Zug auf, mit dem Anita Richtung Amerika abreist. Ob es der Zug ist, „der ins Leben führt“, bleibt offen.

Ambivalente Feier der Freiheit. Szene aus dem Finale von "Jonny spielt auf" am Theater Hagen. Foto; Klaus Lefebvre

Ambivalente Feier der Freiheit. Szene aus dem Finale von „Jonny spielt auf“ am Theater Hagen. Foto: Klaus Lefebvre

Musikalisch können Florian Ludwig und das Philharmonische Orchester Hagen ebenfalls auf ganzer Linie überzeugen. Die vielen filigranen Details sind sorgfältig ausgearbeitet, herbe Akkorde werden nicht geglättet, spannungsreiche Synkopen und elektrisierende Rhythmen haben Biss und Kontur. Aber auch Momente Korngold’schen Melos kommen nicht zu kurz. Die Musiker haben das Gespür für die Elemente, die Krenek aus Foxtrott und Swing seiner Zeit in seine musikalische Sprache überträgt. Eine „Jazz-Oper“ ist „Jonny spielt auf“, gegen alle immer noch auftauchenden Klischees, deswegen nicht.

Hagen kann mit einer luxuriösen Besetzung aufwarten: Edith Haller kommt zwischen Paris, Wien und den Bayreuther Festspielen (Elsa in „Lohengrin“) in Hagen vorbei und singt mit leuchtender, voluminöser, nur in der Höhe ein wenig angerauter Stimme die Sängerin Anita, schwankend zwischen besorgter Liebe und lockender Karriere.

Den „grübelnden Intellektuellen Mitteleuropas“ (Krenek) verkörpert Hans-Georg Priese mit kraftvollem, festem Tenor. Kenneth Mattice setzt für den Jonny viel körperliche Agilität und einen angemessen spröde timbrierten Bariton ein. Maria Klier gewinnt die Herzen als kecke Yvonne. Andrew Finden (Daniello), Rainer Zaun (Manager) und Keija Xiong (Hoteldirektor) komplettieren das Ensemble auf einem durchgehend qualitätvollen Niveau.

Es hat etwas vom Bild des geigenden Todes, wenn Jonny auf seiner gestohlenen Amati der alten Welt das Farewell spielt, während auf der Bühne ein Traum zerbricht und die szenische Klammer zum Beginn hergestellt wird – ein überraschendes Bild, das für Deutungen offen ist …

Wieder ist dem Theater Hagen in seiner seit mehreren Jahren gepflegten Serie von Opern des 20. Jahrhunderts ein großer Abend gelungen. Und erneut der Nachweis, wie wichtig solche kleineren Bühnen für das kulturelle Leben eines Landes sind. Bei den politisch derzeit aktiven Kulturvernichtern wird das – wie andere Hagener Erfolge, von Previns „Endstation Sehnsucht“ (2008/09) über Carlisle Floyds „Susannah“ (2011/12) bis Samuel Barbers „Vanessa“ (2014/15) – wohl wenig Eindruck hinterlassen. Zu Optimismus besteht kein Anlass.

Weitere Aufführungen: 30. Januar, 4., 14., 19., 24. Februar, 9. März, 2. April, 29. Mai. Tickets: (0 23 31) 207-3218. www.theaterhagen.de




Operetten-Spürsinn in Gießen: Amerikaner aus Westfalen schreibt „Tanz auf dem Pulverfass“

Der Mann war Westfale und stammte aus Herford. Sein Glück machte er aber – wie manch anderer – als Auswanderer in Amerika: Gustav Adolph Kerker, 1857 geboren, 1923 in New York gestorben, war ein Komponist der leichten Muse.

Investiert viel Sorgfalt in die Operette: der Dirigent Florian Ziemen.Foto: Rolf K. Wegst

Investiert viel Sorgfalt in die Operette: der Dirigent Florian Ziemen.Foto: Rolf K. Wegst

Gewichtige Fachbücher widmen ihm höchstens wenige Zeilen; seinen Zeitgenossen war er als Dirigent am Broadway, vor allem aber als Komponist, wohlbekannt. Sein Ruhm schwappte sogar über den Teich in die alte Heimat: Das Metropol-Theater Berlin bestellte bei ihm eine „amerikanische“ Tanzoperette, die 1909 unter dem Titel „Die oberen Zehntausend“ mit beträchtlichem Erfolg uraufgeführt wurde.

Aber nicht in Nordrhein-Westfalen erinnerte man sich an den als Zehnjähriger ausgewanderten Landsmann von damals: Das Stadttheater Gießen, bekannt für eine konsequente Politik origineller Ausgrabungen, setzte Kerkers Operette auf seinen Spielplan und gab ihr den – aus einem Songtext des Librettos von Julius Freund entlehnten – Titel „Tanz auf dem Pulverfass“.

Und siehe da: Was vor gut hundert Jahren als „gänzlich harmlose“ Groteske das wilhelminische Publikum Berlins höchlich amüsierte, was spätestens ab 1914 nicht mehr zu zeigen war, was der Biederkeit und Sentimentalität des Genres zwischen der Nazizeit und dem langsamen Siechtum der Operette ab den siebziger Jahren nicht anzupassen war, das wirkt heute frisch und aktuell – fast als sei es für unsere Zeit geschrieben:

„Wir tanzen auf einem Pulverfass, und grad‘ das, grade das, grade das macht Spaß. Man tanzt, und wenn schon die Lunte brennt. Man tanzt, man tanzt bis zum letzten Moment.“

Diese Mischung aus lästerlicher Chuzpe, sorglosem Zynismus und frivoler Unbekümmertheit trifft unsere neoliberale Zocker-Gesellschaft recht gut. Was sich da in dem Stück von 1909 tummelt, ist beileibe kein liebenswert überdrehtes, lustiges Völkchen, sondern eine Horde von Egomanen, Betrügern und Hasardeuren. Der größtmögliche Widerspruch zur Operette sentimentaler Prägung: „Liebe“ gibt es in diesem Stück nicht, höchstens Gier. Und alles, was attraktiv ist oder sein will, muss zumindest den Geruch des Geldes verströmen.

Goldene Schweinchen und rotes Herz: Kitsch gehört zur Selbst-Inszenierung des Kapitalismus. Foto: Rolf K. Wegst

Goldene Schweinchen und rotes Herz: Kitsch gehört zur Selbst-Inszenierung des Kapitalismus. Foto: Rolf K. Wegst

Gewinnen wird, wer am gerissensten die Verhältnisse ausnutzen und seine Mitmenschen täuschen kann. Im Gießener Falle ist das ein smarter junger Typ im goldenen Anzug: Millionärssohn James Boche (Tomi Wendt), der sein Insider-Wissen ohne Skrupel ausreizt. Die es trifft – die Millionäre Kahn-Stross und Théophile Boche, seinen Vater (Thomas Stückemann und Dan Chamandy) – sind um keinen Deut besser, nur eben etwas dümmer und nicht durchtrieben bis zu allerletzten Konsequenz: Jeder Anflug von Vertrauen oder Gefühl ist in diesen Konstellationen ein Fehler.

Ein monströses Weltbild, das Kerker mit federleichter Hand in rasch fassliche, eingängige Melodik und in Tanzrhythmen seiner Zeit fasst. Die Groteske triumphiert und das Absurde ist Urgroßvaters Operette so nahe wie unserem Zeitgeist. Hätte Roman Hovenbitzer der boshaften Satire vertraut, hätte der Abend unter die Haut gehen können. Aber dass der Regisseur die Figuren im günstigsten Falle flott über die Bühne tollen lässt und mögliche Studien der Charakterlosigkeit an vordergründige Späßchen verschenkt, nimmt dem Stück Brisanz. Zumal Choreograf Stefan Haufe eine Bewegungs-Klamotte an die andere reiht.

Da helfen dann auch die aktuellen Bezüge des Bühnenbilds von Hank Irwin Kittel nur wenig: die goldenen Sterne aus der Euro-Leuchtskulptur Ottmar Hörls in Frankfurt, der grüngeädert schwarze Marmor aus Lehman’s Bankfoyer, die Heuschrecken-Kostüme des Balletts und der hinzuerfundenen Conferencière Madame Criquet, die von der Schauspielerin Marie-Louise Gutteck mit dem heute üblichen Genäsel und Geschrei gegeben wird. Ein witziger Seitenhieb auf die Folgen der „Krise“ für die Kultur: Die Musiker schlüpfen in die Rolle eines billigen östlichen Reise-Orchesters, um dessen Qualität und Bezahlung es Streit gibt.

Das Ende ist jammervoll: Die Herren müssen ihre goldenen Bäuche abgeben, es winkt ein tristes Kleinbürgerleben. Wie so oft in Operetten ist der dritte Akt schwach: Wirklich neue Musik kommt nicht mehr vor, der Effekt der Handlung hält sich in Grenzen. Hier hätte es die straffende und belebende Hand des Regisseurs gebraucht.

Geschliffene Rhythmen, geschmeidige Melodik

Dass die musikalischen Petitessen Kerkers so richtig Spaß machen, ist vor allem dem Dirigenten Florian Ziemen zu verdanken. Er treibt dem Gießener Orchester die opernhafte Seriosität aus, was nicht ganz ohne Schrammen gelingt, animiert zu schlank geschnittenen Rhythmen und zu geschmeidiger Melodik, zu sprechenden Instrumentaleffekten und zu tänzerischer Verve. Kerker zieht in seiner Musik alle Register: die frech-kurzatmige Phrasierung eines Jacques Offenbach, die sinnbefreite Parlando-Virtuosität eines Arthur Sullivan, aber auch die eleganten melodisch-rhythmischen Reminiszenzen an die gute alte Wienerstadt und den schmissig-schnarrenden Ton der Märsche Paul Linckes. Und das Ganze gewürzt mit amerikanischer Tanzmusik.

Eine Melange, die jedem schmeckt, der eine simple Oberfläche nicht mit Oberflächlichkeit verwechselt. Ziemen hat die lockere und die präzise Hand für die funkelnden Halbedelsteine; er hatte sie bereits in Gießen mit Abrahams „Viktoria und ihr Husar“, in Bremen und Karlsruhe mit einem genial getroffenen Sound in Künnekes „Vetter aus Dingsda“ und jüngst in Berlin mit Kálmáns „Die Herzogin von Chicago“ bewiesen.

So viel Operetten-Spürsinn wünschte man sich öfter. Hin und wieder funktioniert’s – wie in der „Glücklichen Reise“ in Wuppertal in der vergangenen Spielzeit, in Krefeld/Mönchengladbach mit den „Lustigen Nibelungen“ von Oscar Straus oder in Gera mit „Du bist ich“ („Toi c’est moi“), einer vergessenen französischen Operette des Kubaners Moїses Simons mit einer hinreißenden Musik und einem „well made play“ als Libretto. Nordrhein-Westfalen hat ein Dutzend Musiktheater: Wie wär’s denn, meine Herrschaften?




Selbstgerechte Kälte: Carlisle Floyds Oper „Susannah“ in Hagen

Es gibt Alpträume, von denen man nie glaubt, sie könnten einem in der Wirklichkeit wieder begegnen. Carlisle Floyd hat in seiner Oper „Susannah“ einen solchen komponiert: realistisch, hart, unverstellt. Es ist kein Traum der Sorte, bei der die Fiktion sofort erkennbar wäre. Keine Monster, keine Chimären. Sondern Menschen, denen wir jeden Tag im Supermarkt oder Bistro begegnen. Vier ältere Damen, die sich angeregt unterhalten. Ein Dorffest.

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Rainer Zaun als Prediger Olin Blitch in Carlisle Flodys "Susannah" am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Und eine Katastrophe, ausgelöst von einem Skandal, der keiner ist: In einem Dorf, irgendwo im amerikanischen „Bible belt“, irgendwann in den fünfziger Jahren. Eine „Erweckungszeremonie“ soll gefeiert werden. Der Wanderprediger ist bereits eingetroffen, fehlt noch ein geeigneter Ort: ein Taufbach. Drei Dorfälteste machen sich auf den Weg, entdecken die ideale Stelle – doch dort finden sie Susannah, ein Mädchen, das am Rande des Dorfes lebt – und das nicht nur im geografischen Sinn. Sie badet nackt im Bach, wähnt sich unbeobachtet.

Am Abend weiß das ganze Dorf von der „unerhörten“ Szene – außer Susannah. Und dann greift der Mechanismus, der Menschen zu Sündern und zu Opfern macht. Das Dorf spielt sich zur moralischen Instanz auf, zum Rächer. Und das vermeintlich schuldige Opfer wird zum Freiwild: Verleumdungen, sexuelle Unterstellungen, schließlich eine Vergewaltigung. Selbst als Susannahs Schuldlosigkeit feststeht, wird ihr nicht verziehen. Wer einmal als sündig gilt, bleibt es.

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Ausgegrenzt: Jaclyn Bermudez als Susannah in Carlisle Flodys gleichnamiger Oper am Theater Hagen. Foto: Kühle/theaterhagen

Carlisle Floyd, erfolgreichster amerikanischer Komponist der Gegenwart, hat sein Werk in der McCarthy-Ära in den USA geschrieben und 1955 uraufgeführt. „Susannah“ ist – nach Gershwins „Porgy and Bess“ – die am meisten gespielte amerikanische Oper überhaupt. In Deutschland konnte sie nie Fuß fassen. Zu „konservativ“ klingt die tonal orientierte Komposition Floyds. Zu viel Puccini, zu wenig Boulez. Die Darmstädter Schule hatte für solche Seichtigkeiten aus dem unterentwickelten Opernland von jenseits des Teiches nur Verachtung und Polemik übrig.

Heute kümmern die Urteile von damals nicht mehr – dennoch fördern die verkalkten Blutbahnen des Theaterbetriebs Werke wie Susannah nur selten in die Nähe eines Herzens, das sich ihrer annimmt. Das Theater Hagen, innovativ wie kaum ein anderes dieser Größe und dennoch ständig um seine Existenz bangend, hat mit Floyds heute wieder beklemmend aktuellem Werk seine verdienstvolle Serie amerikanischer Opern fortgesetzt, in der man sich zum Beispiel an eine packende Aufführung von „Endstation Sehnsucht“ von André Previn erinnert.

Aktuell ist „Susannah“, weil die Spielarten einer bigotten Religiosität nie aussterben. Das Christentum, wie Floyd es in unverkennbarer Anlehnung an die alttestamentliche Geschichte der Susanna im Bade schildert, hat viel mit der selbstgefälligen Moral einer puritanischen Gesellschaft zu tun. Und wenig mit der biblischen Botschaft, die Einsicht, Umkehr und Barmherzigkeit in ihrem Zentrum trägt.

In Hagen erzählt Regisseur Roman Hovenbitzer mätzchenfrei in prägnanten, knappen Szenen. Die Ausstattung von Jan Bammes arbeitet mit Palettenholz und einem Podium, das sich zur Wand, zum Dach, zum Zaun verwandeln lässt – aber auch zur metaphysischen Schranke zur vernagelten Welt des Dorfes. Mit dem Licht, das durch die Ritzen fällt (Ulrich Schneider), ergeben sich ästhetisch reizvolle, aber stets inhaltlich abgesicherte Licht- und Schatten-Stimmungen.

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Kurzer Traum vom Glück: Jaclyn Bermudez (Susannah) und Jeffery Krueger (Little Bat). Foto: Kühle/theaterhagen

Die in den Untergrund verbannten sexuellen Begehrlichkeiten zeigt Hovenbitzer in verstohlenen Andeutungen, psychologisch schlüssig beobachtet: Susannah erzählt von Natur und Sternen, und der verklemmte „Little Bat“ McLean reibt sich das Glied. Bevor sich der Prediger Olin Blitch über die wehrlose Susannah hermacht, faltet er ihren Rock ordentlich und hängt ihn auf: Auch angesichts der monströsen Tat bleibt der Kodex der Wohlanständigkeit gültig. Das Ende schärft der Regisseur mit einer Anleihe an Lars von Triers religiös geladenem Film „Dogville“, der eine ähnliche Problematik behandelt. Es erinnert auch ein wenig an Brittens „Peter Grimes“: Der Mob marschiert, legt einen Brand. Vergebung gibt es keine, Einsicht schon gar nicht.

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Pogromstimmung: Das Finale von "Susannah". Foto: Kühle/theaterhagen

Im Orchester lässt Bernhard Steiner die Anleihen aufblitzen, mit denen Floyd seine Musik inhaltlich auflädt: Der hymnische Stil alter angelsächsischer Kirchenlieder ist zu hören, amerikanischer Squaredance, verträumte Anklänge an Country Music. Und immer wieder große Crescendi, liebevoll ausgebreitete Melodiebögen. Bei Floyds konservativer Harmonik darf man nicht an Werke wie Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ oder selbst Janaceks „Jenufa“ denken. Eher an die US-Film-Melodramen der vierziger Jahre.

Das Hagener Orchester ist an einigen Stellen überfordert: der Klang wirkt seifig, Einsätze klappen nicht, voller Klang bläht sich dicksuppig auf. Der Chor, von Wolfgang Müller-Salow einstudiert, bringt den bedrohlichen Ton der Masse eindrucksvoll ins Spiel.

Jaclyn Bermudez ist Susannah: eine Darstellerin, die dem Mädchen erst die unbekümmert ausgelassenen Züge gibt, dann die Unschuld einer schwärmerisch sich nach einem Hauch von Glück sehnenden Seele, später aber auch die Entschlossenheit, sich nicht zur „Sünderin“ abstempeln zu lassen. Auf das schäbige Spiel des Dorfes lässt sie sich nicht ein. Dazu passt ihr Sopran, der zärtlich lyrisch, aber auch schneidend prägnant klingen kann.

Rainer Zaun als Olin Blitch kann die unerbittlich ideologischen Seiten des Predigers ausdrücken, aber auch die inneren Qualen eines unendlich einsamen Mannes und seine Ohnmacht, als er erkennt, dass er die Lawine, die er losgetreten hat, nicht mehr bändigen kann. Dieser Blitch ist nicht als purer Bösewicht, sondern als glaubwürdiger, in sich gespaltener Charakter gezeichnet.

Wie destruktiv sich die verleugnete, verschwiegene, unterdrückte Sexualität in dieser Gesellschaft auswirkt, zeigt Jeffery Krueger als Little Bat exemplarisch: Er würde gerne, aber er traut sich nicht, kann sich nicht aus der moralischen Umklammerung der Autoritäten befreien. Aus lauter Angst wird er  zum Lügner. Krueger wäre glaubwürdiger, würde er nicht hysterisch überagieren – auch seinem Tenor bekommt das Übertreiben nicht.

Auch bei Sam Polk, Susannahs Bruder, grinst die Einsamkeit hinter der Fassade des starken Kerls hervor: Charles Reid zeigt den jähzornigen Alkoholiker als im Grunde zutiefst resignierten, an seinem Schicksal zerschellten Sonderling. Carlisle Floyds Oper moralisiert ihrerseits nicht, sondern zeigt die Menschen in den knappen, psychologisch beredten Szenen in all ihrer Komplexität als Täter und als Opfer. Unbedingt sehenswert!

Die nächsten Vorstellungen: 11. Mai, 10., 14., 17. und 24. Juni.
Tickets: (0 23 31) 207 32 18.