Seelische Zerstörung: Floris Vissers penetrantes Bildertheater für Mozarts „Idomeneo“ in Köln

In der Gummizelle: Kathrin Zukowski (Ilia), Kinderstatist, Anna Lucia Richter (Idamante), Peter Bermes (Idomeneo). (Foto: Sandra Then)

Der alte Mann entkommt seiner Zelle nicht. Auf weiße gepolsterte Wände zeichnet er mit nervösem Strich immer wieder das gleiche Männchen, mit einem Dreizack in der Hand. Beim Familienbesuch rastet er aus, muss mit einer Spritze ruhiggestellt werden.

Floris Visser führt während der Ouvertüre von Wolfgang Amadeus Mozarts „Idomeneo“ die Titelfigur als einen Gezeichneten ein. Kein herkömmliches Regietheater-Irrenhaus-Setting: Denn die Zelle weitet sich, eröffnet einen Hintergrund in hyperrealistischem Licht, mit dem James Farncombe die felsige Strandlandschaft der Bühne Jan Philipp Schlößmanns in überzeichnet scharfe Konturen taucht. Der Naturalismus eines „Schauplatzes“ wird so ausgehebelt; der alte Mann, unschwer als Idomeneo zu identifizieren, beginnt durch seine innere Landschaft zu irren.

Mit seiner Inszenierung an der Oper Köln im Staatenhaus versucht Visser, diese Seelenwelt eines Menschen mit einer posttraumatischen Belastungsstörung einzuholen – einer psychischen Verwundung, die in Flashbacks Erlebnisse der eigenen Ohnmacht und Hilflosigkeit so intensiv zurückholen kann, dass die betroffene Person die Erfahrung wieder und wieder mit der gleichen emotionalen Intensität durchleidet und sogar unfähig sein kann, sie als Erinnerung zu identifizieren. So flutet Visser die Bühne mit heterogenen Bildern und Szenen, in denen Idomeneo doppelt präsent ist – als Uniform tragender Soldat Bestandteil des Geschehens; als Greis im Nachthemd ein stummer, staunender oder leidender Beobachter. Er steht im wahrsten Sinn des Wortes „neben sich“, wenn er sogar einmal den gemarterten Feldherrn Idomeneo in den Arm nimmt.

Unablässiger Aktivismus

Drei Stunden dichte, in kaum einem Moment ihre Tiefe und Komplexität verlassende Musik hat Visser szenisch zu bewältigen. Er setzt den langen Rezitativen einen unablässigen Aktivismus entgegen. Auch die Arien erlauben keine Ruhepunkte. Im Sinne des Konzepts ist das folgerichtig, denn ein Flashback kennt kein Innehalten und Reflektieren. Aber der Zuschauer, der nach dem Zeichenhaften der Aktionen sucht, wird von der Dynamik der szenischen Unermüdlichkeit zugeschüttet. Irgendwann stumpfen die visuellen Ausrufezeichen ab. Aber – das muss Visser zugestanden werden: Die penetrante Qual, die im Wiederholen traumatisierender Momente liegt, spiegelt sich in dieser Tretmühle der Zeichen wider.

Der Fluch der Gewalt gebiert das Trauma: Daniel Calladine personifiziert es in Floris Vissers „Idomeneo“-Inszenierung in Köln. (Foto: Sandra Then)

Visser verwendet Bilder aus den Kriegen der Gegenwart: Leichensäcke am Strand, Menschen, die Tote identifizieren müssen, das ertrunken angespülte geflüchtete Kind Alan Kurdi, die Anzüge von Abu Ghraib in Orange, Opfer mit verhüllten Köpfen, eine Trauerfeier an sandigem Gestade. Er verbindet diese Kriegs- und Gewaltchiffren mit Hinweisen auf den antiken Mythos: Eine schwarze Gestalt, „das Trauma“ (Daniel Calladine) geistert mit einem Beil durch die Szenerie, das auf den Tod Agamemnons und den Fluch der Atriden hindeutet. Anderes wirkt überzogen, etwa eine Szene, in der Idomeneo offenbar in den trojanischen Krieg abberufen wird, als er gerade mit seinem Kind Idamante am Strand ein Badetuch ausgebreitet hat. Deplatziert auch die griechische Fahne, neben der am Ende einträchtig eine türkische flattert. Solche allzu expliziten Verweise stören den psychologischen Gedankengang durch weit hergeholte politische Konkretion.

Zweifel am Sieg der Liebe

Wenn im Finale „die Stimme“ (Lucas Singer) – und, wohlgemerkt, nicht Neptun oder ein anderer der Götter – die Lösung verkündet, spricht der alte Idomeneo (Peter Bermes) tonlos auf der Bühne mit. Ein Funke Hoffnung? Ob aber wirklich die Liebe über alles siegt, zweifelt Vissers Schlussbild leise an: Sinnierend liest Ilia, die trojanischen Prinzessin, die eigentlich die „natürliche“ Feindin der Griechen sein müsste, ein Holzpferd ihres Kindes auf – ein Verweis auf das trojanische Pferd und die eigene, nach Vergeltung rufende Wunde?

Auch im Orchestergraben gelingt es nicht durchgehend, die Spannung zu halten. Bei aller Wertschätzung dieses genialen Wurfs eines 25-Jährigen neigt man dazu, die eine oder andere Kürzung in den Rezitativen als sinnvoll zu erachten. Rubén Dubrovsky verführt das Gürzenich Orchester schon in der Ouvertüre zu feinsinnig detailreichem Spiel. Er fasst den Klang mit scharfer Kontur, lässt luftige Bläserakzente setzen, hebt generell hervor, mit wie unermüdlicher Kreativität Mozart die Fallen gleichförmiger Wiederholungen, stereotyper Harmonie oder schematischer Instrumentation umgeht. Anderes, so das berühmte Quartett des dritten Akts, bleibt seltsam blass. Aber das Gürzenich Orchester spielt in der ganzen langen Zeit hoch konzentriert und verströmt elegant ausgewogenen Mozartklang.

Insgesamt eine gediegene Besetzung

Intendant Hein Mulders hat für diesen ambitionierten „Idomeneo“ eine insgesamt gediegene Besetzung verpflichten können: Sebastian Kohlhepp ist ein anfangs etwas kehlig intonierender, sich zunehmend frei singender Idomeneo, der in den Koloraturen seiner Arie „Fuor del mar“ alle inneren Qualen freilegt, da er die Bedrohung durch Neptun im fürchterlichen Meer seines Herzens weiter spürt.

Kohlhepp ist in den dramatischen Momenten ebenso sicher wie in dieser expressiven Beweglichkeit, die weniger auf technischen Glanz als auf den existenziell aufgewühlten Ausdruck achtet. Auch als Darsteller steigert er sich mit beinah stummfilmhafter Intensität in die Rolle eines Menschen, dessen furchtbarstes Schicksal ist, sich selbst nicht entkommen zu können. Floris Vissers Vorzeigetheater lässt ihn dabei keinen Moment allein. In der Arie „Vedrommi intorno“ erweitert er den Schauder vor dem bald zu vergießenden Blut: Eine nackter blutiger Junge erinnert Idomeneo wohl auch an die Opfer, die der Krieg um Troja gekostet hat. Die Orchesterbegleitung dieser Arie gehört übrigens zu den Höhepunkten des Abends.

Aus der Stimme gestaltete Musik

Anna Lucia Richter als Idamante. (Foto: Sandra Then)

Eine nahezu ideale Besetzung ist Anna Lucia Richter in der Rolle des Idamante: eine sanft geführter, ausgeglichener, leuchtender Mezzo, der den edlen, empfindsamen Charakter des jungen Prinzen in purem Wohllaut repräsentiert, ohne die entspannte Tonbildung aufgesetzten expressiven Gesten zu opfern. Gestaltung aus der Musik und aus dem Material der Stimme: Hier wird’s zur beglückenden Realität.

Auch Kathrin Zukowski punktet als Ilia mit kultiviertem Singen und einem zarten, gepflegten Timbre. Sie neigt allerdings zu flachen, manchmal dünn-ungestützten Tönen, die sie nicht nötig hat, um die lyrische Grundierung etwa von „Zeffiretti lusinghieri“ – einem vokalen Paradestück der Oper – zu sichern. Mit einer abgesicherten Stütze im Körper könnte Zukowski auch die ausdrucksvolle Deklamation in den Rezitativen technisch perfektionieren.

Ana Maria Labin stellt sich mutig und erfolgreich der Herausforderung, die „Furien der grausamen Unterwelt“ – bei Visser treten sie natürlich leibhaftig auf – in schneidender Dramatik zu beschwören und die bizarren Ausbrüche ihres wütenden Abgangs am Ende zu erfassen. Aber in ihrer Liebesarie im zweiten Akt zeigt sie auch ihre andere Seite, die einer zärtlich fühlenden Frau, die sich trügerischen Hoffnungen hingibt und daher umso herber enttäuscht wird. Anicio Zorzi Giustiniani darf sich als Arbace mit ausgeprägtem, manchmal zu grell nach vorne gedrängtem Ton ebenfalls in zwei Arien zeigen; John Heuzenroeder ist ein würdig gefasster Oberpriester.

Der Chor der Oper Köln (Rustam Samedov) ist eines großen Kompliments würdig für die wie selbstverständlich wirkende Integration in die szenische wie musikalische Seite der Aufführung. Floris Vissers Bildertheater ist durchaus eine Zumutung; wer sie als bloß illustrativ wahrnimmt, wird des Abends irgendwann einmal überdrüssig. Wer sie als Spiegel einer seelischen Zerstörung akzeptiert, wird in ihrer Penetranz die unheilvollen psychischen Abläufe erkennen, die – über den Kriegsheimkehrer Idomeneo hinaus – heute Tausende von Menschen innerlich überfluten.

Weitere Vorstellungen: 25., 28. Februar, 2., 8., 10., 13. März. Info: https://www.oper.koeln/de/programm/idomeneo/6687




Menschheitsfamilie mit Gott und Teufel: Dietrich Hilsdorf inszeniert in Essen Alessandro Scarlattis „Kain und Abel“

Ein von der Zeit ausgezehrter, nobler Raum, verblichene Tapeten, ein halbblinder Spiegel. Man sitzt bei Tische, zwei Violinisten spielen Tafelmusik. Die Gewänder entsprechen der Mode kurz nach Beginn des 18. Jahrhunderts. Es ist die Zeit, in der Alessandro Scarlatti in Venedig sein Oratorium über Kains Mord an seinem Bruder Abel geschrieben hat, eine der Schlüsselgeschichten des Alten Testaments aus dem vierten Kapitel des Buches Genesis.

Das Drama kennt keinen Ausweg: „Kain und Abel oder der erste Mord“ (Cain, overo il primo omicidio) von Alessandro Scarlatti am Aalto-Theater Essen. Von links: Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam), Tamara Banješević (Eva), Xavier Sabata (Gott), Philipp Mathmann (Abel). (Foto: Matthias Jung)

Am Aalto-Theater Essen kleidet sie Dietrich Hilsdorf mit seinen Ausstattern Dieter Richter (Bühne) und Nicola Reichert (Kostüme) ins Ambiente der Entstehungszeit, doch er pflegt damit keinen Historismus, sondern entwickelt ein hochartifizielles Zeichensystem, das für Scarlattis verkappte Oper aus dem Jahr 1707 komplexe Aspekte einer Deutung zulässt.

In seiner 20. Inszenierung für das Essener Theater – erinnert sei an die Skandale mit Verdis „Trovatore“ und „Don Carlo“, aber auch an spannende psychologisch fundierte Kammerspiele – macht Hilsdorf aus der biblischen Geschichte ein Familiendrama: Gott und der Teufel sind keine aus dem Off dröhnenden Übermächte, sondern heben am Tisch mit den Menschen das Glas, geraten mit ihnen in körperlichen Kontakt. Wesen aus Fleisch und Blut und dennoch durch ihre Positionen im Geschehen auf der Bühne oft seltsam enthoben: Ein treffend erfundenes Bild für die Präsenz des Transzendenten in, aber nicht seine Identität mit den Lebensvollzügen der Menschen.

Spannung in jedem Moment

Hilsdorfs Fähigkeit, die Bühne auch bei stillstehender Interaktion mit Leben und Spannung zu erfüllen, macht aus diesem pausenlosen 140-Minuten-Stück einen Abend ohne Leerlauf. In jedem Moment auf die Personen auf der Bühne konzentriert, erschließt er mit seinen Darstellern in präzis ausgeformten Gesten und Gängen ihre seelische Verfassung, ihre Emotionen, ihre inneren Entscheidungen. Und das in einem äußerlich handlungsarmen Verlauf, denn das Libretto des Kardinals Pietro Ottoboni – der gleichzeitig mit Scarlatti auch den jungen Händel förderte – stellt die theologische Reflexion gleichrangig neben die biblische Erzählung. Hilsdorfs Vorzug ist, dass er diese Ebene in seine Inszenierung integrieren kann. Der Provokateur von früher hat sich zum genau analysierenden Beobachter gewandelt.

Die Verführung tarnt sich weiblich-erotisch: Baurzhan Anderzhanov (Teufel), Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam). (Foto: Matthias Jung)

Hilsdorfs Zeichensystem lebt aus sinnenfrohen Details, die sich dennoch zu einem schlüssigen Ganzen fügen: Adam und Eva tragen Gewänder in der Bußfarbe Violett. Der Teufel tritt, in eine kostbar gearbeitete Prachtrobe gehüllt, als mondäne Frau auf – mit einer Anmutung von Macht und Erotik, die Kain in ihren Bann ziehen muss. Dass der Böse die Macht Gottes nachäfft, wird deutlich beim Entschluss zum Brudermord: Wie der Schöpfergott Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle streckt er den Finger aus, der quasi den mörderischen Funken auf Kain überträgt.

Das Böse bleibt in der Welt

Zwei Kerzen signalisieren die Opfer: Abels Kerze flammt hoch, Kains Kerze raucht nur. Zurücksetzung und die damit empfundene Ungerechtigkeit, Neid und der Dünkel des „Erstgeborenen“ motivieren die Tat Kains. Er bläst die Kerze des Bruders aus und erschlägt ihn unter der festlichen Tafel. Kain und Luzifer trinken sich zufrieden zu. Später wird Gott den Teufel aus dem Reifrock schälen und so die Täuschung aufheben: Im Untergewand am Rande sitzend, wird dieser die Trauer Adams und Evas beobachten und dabei versonnen einen Apfel schälen. Das Böse bleibt Bestandteil der Welt; es ist aber auch an der Rettung beteiligt: Wenn Adam am Ende auf die Menschwerdung Gottes in Jesus anspielt („aus meinem Blut soll der Erlöser geboren werden“), nagelt der Teufel ein Kreuz mit einem Corpus an die Wand. Das Ende bleibt ambivalent: Dass alle Protagonisten am Tisch die Suppe auslöffeln, wirkt unverkennbar ironisch, lässt aber eine endzeitliche Versöhnung nicht außer Acht. Familiendrama und universales Schöpfungs- und Erlösungsdrama gehen ineinander über.

Hilsdorf ist ein Regisseur, der – ursprünglich aus dem Schauspiel kommend – selbst in seinen provozierendsten Arbeiten nie vergessen hat, szenisch mit der Musik zu interagieren. In Essen führt die musikalische Sensibilität zu einer glücklichen Einheit von Bild und Klang, die über die Integration des Orchesters in das Bühnenbild hinausgeht. Dirigent Rubén Dubrovsky hält so den direkten Kontakt zu Szene, die Sänger und die Musiker stellen sich ideal aufeinander ein.

Inspirierte Musik Alessandro Scarlattis

Scarlattis Musik erweist sich in ihrer Tonarten-Dramaturgie und in ihrer vielfältigen, klangsensiblen Durcharbeitung geradezu als theologisch inspiriert. In ihrer Arie „Sommo Dio“ etwa äußert Eva die bittende Hoffnung auf Befreiung durch das „heilige Holz“ und das „geopferte Lamm“ und bringt damit die neutestamentliche, christologische Perspektive ein. Das Lamm, das Abel opfern will, ist ein anderer Verweis auf Christus, das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“. Die Arie steht in g-Moll, und in dieser Tonart kündigt sich das Erscheinen Gottes in einer Sinfonia – also zunächst rein instrumental – an.

Gott und Abel: Philipp Mathmann (Abel) und Xavier Sabata (Gott). (Foto: Matthias Jung)

Gottes Arie – durch die Art („mezzo carattere“) mit Abel verbunden – steht dann in F-Dur und hebt sich damit deutlich ab – die Transzendenz des Erlösung verheißenden Gottes wird betont, während er, wenn er Kain die Folgen seiner Tat klarmacht, das „menschliche“ g-Moll in G-Dur moduliert, verbunden mit einem unerbittlichen Streicher-Ostinato, welches das Schicksal des mit dem Kainsmal zugleich gezeichneten und vor dem Tod geschützten Mörders in scharfen, harten Akzentuierungen verdeutlicht.

Auf diese Weise schafft die dramatisch begründete, dennoch souverän formal gestaltete Musik Scarlattis eine enge Verbindung mit der Szene. Die Essener Philharmoniker sind in ihrem wachen, flexiblen, in Klang, Phrasierung und Artikulation nahe an historisch informierten Spezial-Ensembles. Eine fabelhafte Leistung der Musiker, die sich ja mit Repertoire aus allen Epochen befassen müssen, aber auch von Dubrovsky: Der Wahl-Wiener, der demnächst Händels „Alcina“ in Hannover und „Giulio Cesare“ in St. Gallen dirigiert, stellt die Beziehung zwischen Bühne und Orchester her und führt die Sänger sicher und in organischen, wenn auch manchmal sehr beschaulichen Tempi. Die Instrumente, etwa das Fagott in den g-Moll-Arien Evas oder die beiden Flöten sind szenisch zugeordnet, und für den Auftritt des Teufels pervertiert Felix Schönherr mit unheimlich schnarrenden Registern den sakralen Klang der Orgel.

Vorzügliche Sänger

Gesungen wird in Essen ebenfalls vorzüglich. Bettina Ranch führt ihren Mezzo elegant durch die Bravour und das Cantabile der Arien Kains, beleuchtet stimmlich die Facetten dieses Charakters, der sich keineswegs im „Bösen“ erschöpft und im Widerstand gegen die zweite Versuchung des Teufels, sich selbstbestimmt das Leben zu nehmen und damit ultimativen Widerstand gegen Gott zu leisten, einen heroischen Zug erhält.

Tamara Banješević kleidet die Trauer und Reue Evas, aber auch ihre Hoffnungen mit einem weich formenden, innigen, flexibel ausgestaltenden Sopran. Dmitry Ivanchey als gebrochener, am Stock gehender Mann in edlem Justaucorps, muss sich in seiner ersten „aria di bravura“ noch mit Mühe und fest sitzender Stimme durch Sechzehntelketten kämpfen, gewinnt aber im Lauf des Abends souveräne Präsenz. Xavier Sabata setzt einen virilen Alt für die Stimme Gottes ein, die er auch mit Schärfe und profunder Energie dramatisch aufladen kann.

Baurzhan Anderzhanov als mondäner Teufel. (Foto: Matthias Jung)

Baurzhan Anderzhanov kann mit seinem unverschleierten, in der Artikulation unbestechlichen, klanglich schlank-leuchtenden Bass in einer weiteren Glanzrolle am Aalto-Theater brillieren. An Philipp Mathmanns Stimme werden sich die Geister scheiden: Der Counter intoniert traumsicher, singt aber die Töne steif, manchmal überzogen schrill an und pflegt das geradlinige „weiße“ Timbre, das in Alte-Musik-Kreisen bisweilen sehr geschätzt wird, mit italienischem Belcanto aber wohl wenig zu tun hat. Dietrich Hilsdorf, der nach sieben Jahren an das Essener Haus zurückgekehrt ist – und in zwei Jahren eine neue Inszenierung verantworten wird – erhielt einhellige Ovationen; das gesamte Ensemble genoss den langen, herzlichen und verdienten Jubel des Publikums.

Vorstellungen am 30. Januar, 20. und 29. Februar, 4., 8., 13., 20. März und 3. Mai. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/kain-und-abel/3798/




Rossini-Rarität am „Opernhaus des Jahres“: Nationaltheater Mannheim zeigt „Tancredi“

Herrscher im inneren Konflikt: Filipo Adami als Argirio in der Mannheimer Neuinszenierung von Rossinis "Tancredi". Foto: Hans Jörg Michel

Herrscher im inneren Konflikt: Filipo Adami als Argirio in der Mannheimer Neuinszenierung von Rossinis „Tancredi“. Foto: Hans Jörg Michel

Das Nationaltheater Mannheim – gemeinsam mit Frankfurt „Opernhaus des Jahres“ 2015 – hat in dieser Saison einen Spielplan, der jedem auf Auslastung und Publikumsbedienung fixierten Theaterchef den Sorgenschweiß auf die Direktorenstirn treiben würde: Noch wehte Franz Schrekers „Der ferne Klang“ durch die mächtige Schachtel des Zuschauerraums, da kündigten sich schon Hans Werner Henzes „Die Bassariden“ an, gefolgt von Gioacchino Rossinis „Tancredi“.

Und so geht es weiter im Hause von Klaus-Peter Kehr: Am 10. Januar hat Jacques Fromental Halévys „Die Jüdin“ Premiere, sieben Wochen später Sergej Prokofjews „Der Spieler“. Und danach als Uraufführung Bernhard Langs „Der Golem“. Selbst der Mozart-Abschluss im Juli meidet Populäres, widmet sich dem „Idomeneo“. Zum Vergleich: In Essen mokieren sich bestimmte Kreise schon, weil einmal nicht die Braut verkauft, sondern aus dem slawischen Repertoire eine Kostbarkeit wie Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“ die spärliche Zahl der Neuinszenierungen eröffnete.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Rossinis erster Welterfolg „Tancredi“ von 1813 ist längst auf die internationale Opernszene zurückgekehrt – nur in Deutschland nicht. Schon in den siebziger Jahren tourte Marilyn Horne mit dieser Partie durch die Welt, und die kritische Edition (1977/1984) ermöglichte verantwortungsvolle Aufführungen. Die gab es in germanischen Gefilden auch, aber nur an speziellen Orten, bei den Schwetzinger Festspielen etwa (1992) oder beim Rossini Festival in Bad Wildbad (2001).

Mit der Mannheimer Inszenierung durch Cordula Däuper wagt es nun ein großes Opernhaus, „Tancredi“ ins Repertoire aufzunehmen. Zeit dazu wird’s, denn inzwischen stehen auch Sänger bereit, die Rossinis anspruchsvolle Partien stilistisch adäquat bewältigen und gestalten können. Und obwohl Librettist Gaetano Rossi das subtile Geflecht der Begründungen für den Verlauf der Tragödie – Vorlage ist Voltaires „Tancrède“ – radikal zerrissen hat, bleibt noch genug inhaltliche Substanz, um sich auch ohne Vorwissen auf die unglücklichen Figuren einlassen zu können.

Der Ritter Tancredi ist, weil Feind der herrschenden Familie, aus dem Syrakus des 11. Jahrhunderts verbannt, kehrt aber voll Sehnsucht nach der Heimat und seiner Geliebten Amenaide heimlich zurück. Er muss erfahren, dass sich die rivalisierenden Familien von Argirio – dem Vater Amenaides – und Orbazzano verständigt haben, weil die Stadt von Sarazenen bedroht wird. Unterpfand der Allianz ist Amenaide: Die heftig widerstrebende jungen Frau soll eine politisch alternativlose Ehe mit Orbazzano eingehen. Ihr Brief an Tancredi wird abgefangen und fälschlich als Schreiben an den Anführer der Sarazenen interpretiert. Amenaide droht nun als Verräterin der Tod – und auch Tancredi vertraut ihr nicht mehr. Er rettet sie zwar im ritterlichen Zweikampf mit Orbazzano vor der Hinrichtung, sucht aber dann aus enttäuschter Liebe den Tod in der Schlacht.

Die Musik wendet sich den Menschen zu

Rossis Libretto verweigert den stringenten dramaturgischen Zusammenhang. Die Aufklärung der Missverständnisse wäre – ähnlich wie in Webers „Euryanthe“ – problemlos möglich. Doch darauf kam es den mit Voltaire vertrauten Zuschauern der Entstehungszeit nicht an. Und die Ängste, Sehnsüchte und Träume, die Wut, Verzweiflung und Depression der handelnden Figuren, auf die Rossini sein Augenmerk richtet, vermitteln sich, von dramentheoretischen Einwänden unverstellt, heute wieder direkt und berührend.

Amenaide (auf dem Foto die Alternativbesetzung Tamara Banjesevic) ist das Opfer einer politisch geplanten Zweckheirat mit Orbazzano (Sun Ha). Foto: Hans Jörg Michel

Amenaide (auf dem Foto die Alternativbesetzung Tamara Banjesevic) ist das Opfer einer politisch geplanten Zweckheirat mit Orbazzano (Sun Ha). Foto: Hans Jörg Michel

Der Vater Argirio etwa ist kein standardisierter Bösewicht, kein unbeugsamer Politiker. Seine große Szene im zweiten Akt mit der bedeutsamen Arie „Ah! Segnar invano io tento“ zeigt ihn als zerrissenen Menschen. In seinem Inneren bringt der politische Druck die Stimme der Natur – die um Gnade für die Tochter wirbt – zum Schweigen. Das lässt ihn seelisch zerbrechen. Für diesen Moment wie auch für die Klagen Amenaides verliert Rossinis Musik ihre klassizistische Ausgewogenheit nicht, aber ihr sozusagen aus olympischen Höhen schweifender Blick wendet sich dem Menschen ganz nah und empfindsam zu. Nicht nur die kostbare Miniatur des Sicilianos der Einleitung zu „Di tanti palpiti“, dem „Schlager“ der Oper, weist voraus auf den Rossini der Experimente in Neapel, in denen er das romantische Gefühl in die Musik einsickern lässt, ohne ihre objektivierende Distanz aufzugeben.

Rubén Dubrovsky und das klein besetzte Orchester des Nationaltheaters nähern sich diesen Momenten seelenvoller Schönheit behutsam, mit sanfter Artikulation und drucklosem Klang. Dubrovsky achtet darauf, den Rhythmus federn zu lassen, die Bläser leuchtend und leicht zu halten, den Streicherapparat nicht in die Falle der Simplizität laufen zu lassen. Denn oft verleitet Rossinis kinderleicht anmutende Musik dazu, sie langweilig abzuspielen statt mit lebensvollen Nuancen zu formen. Nicht immer gelingt das: Die Ouvertüre gerät steif und mit zu massiven Tutti; das erwähnte Siciliano läuft im Metrum zu wenig flexibel ab. Da fehlt der Musik der Duft.

Das Heil der Inszenierung in der Reduktion gesucht

Unter den Sängern überzeugt ausgerechnet der als Rossini-Spezialist ausgewiesene Filipo Adami als Argirio am wenigsten: ein enger, nasig in die Höhe getriebener Ton, manchmal ein brüchiges Vibrato, eine kaum flexible Gestaltung der Linien. Eunju Kwon als Amenaide macht vor, wie’s gehen könnte. Sie hat die Leichtigkeit und den süßen Ton, die einwandfrei gebildeten Verzierungen und die verschatteten Farben für die Stellen der Resignation, der Trauer, der Depression. Im Duett mit dem Tancredi von Marie-Belle Sandis harmonieren die Stimmen delikat; im Duett mit Adamis Argirio laufen sie nebeneinander her.

Schutz, Rückzug, Verdrängung: Der Pappkarton ist in der Regie Cordula Däupers eine mehrdeutige Chiffre. Foto: Hans Jörg Michel

Schutz, Rückzug, Verdrängung: Der Pappkarton ist in der Regie Cordula Däupers eine mehrdeutige Chiffre. Foto: Hans Jörg Michel

Sandis singt ihre weltberühmte Auftritts-Cavatina nicht als Virtuosen-Demonstration, sondern verinnerlicht und mit viel Gefühl; als auffahrender Krieger fehlt ihr der Aplomb des Heroen, wie ihn Marilyn Horne unvergleichlich auf die Bühne gebracht hat. Aber Sandis weiß durch klugen Stimmeinsatz diese natürliche Begrenzung ihres Contralto wettzumachen. Reizend macht Ji Yoon mit der Arie des Roggiero auf sich aufmerksam. Sung Ha als Orbazzano gibt auch stimmlich den groben Militär, Julia Faylenbogen hat als Isaura keine Chance, sich zu profilieren,

Cordula Däuper und ihr Bühnenteam Ralph Zeger und Sophie du Vinage suchen ihr Heil in der Reduktion – nicht ohne Überzeugungskraft: ein Spielpodest in schwarzer Bühne, eine Brücke nach hinten zu einer Tür, wenige Requisiten, Kostüme, die Militärisches des 20. Jahrhunderts mit Elementen der napoleonischen Zeit der Entstehung der Oper reflektieren. Däuper interessiert sich für die Konstellationen von Seelenzuständen, versucht nicht, die antirealistische, kunstvolle Stilhöhe des Dramas mit quasi naturalistischer Aktion aufzufüttern.

Chiffren wie das Brautkleid oder ein in die Erde gepflanzter, nach dem Scheitern des Hochzeits-Deals wieder ausgerissenes Bäumchen spielen eine Rolle, ebenso ein Kinderpaar. Die beiden fegen über die Bühne, als Amenaide sich an ihren Geliebten erinnert; später wird ihr Vater das kleine Mädchen in einen Geschenkkarton stecken, so als wolle er sein Idealbild seiner Tochter konservieren. Die Elemente spielen eine Rolle – Erde auf dem Podest, Wasser als Regen, Luft und das finale Feuer, in dem Tancredi sein Ende findet. Man spielt in Mannheim den tragischen Schluss, den Rossini anstelle des „lieto fine“, des glücklichen Endes der venezianischen Uraufführung, wenige Wochen später für Ferrara konzipiert hat.

Rossini-Rarität auch in Frankfurt

Auch das andere „Opernhaus des Jahres“ hat eine Rossini-Rarität im Repertoire: Seit Dezember spielt Frankfurt wieder seine düster-überzeugende Version der „diebischen Elster“, eine kafkaeske Kleine-Leute-Geschichte mit einer rundum überzeugenden Ensemble-Leistung. Das Konzept, auch wenig Bekanntes in qualitätvollen Inszenierungen vorzustellen, durchzieht Bernd Loebes Intendanz bisher und wird sich auch fortsetzen: Im Herbst zeigte die Oper Michail Glinkas „Iwan Sussanin“ in einer musikalisch eindrücklichen, szenisch von Altmeister Harry Kupfer überraschend bieder arrangierten Aufführung. Am 23. Januar folgt die Neuinszenierung einer einst beliebten, aber seit Jahren nicht mehr aufgetauchten italienischen komischen Oper: „Le cantatrici villane“ („Die Dorfsängerinnen“) von Valentino Fioravanti. Und kurze Zeit später, am 31. Januar, erlebt Giuseppe Verdis verkanntes Meisterwerk „Stiffelio“ seine Frankfurter Erstaufführung. Dazu im April mit „Radamisto“ noch eine Händel-Rarität. Und das alles bei glänzenden Besucherzahlen. So geht Oper: lustvoll, originell, neugierig.

Rossinis „Tancredi“ in Mannheim am 16.01., 17. und 24.03. und 15.04.2016. Karten: (0621) 1680 150, www. nationaltheater-mannheim.de

Rossinis „La gazza ladra“ in Frankfurt zum letzten Mal in dieser Spielzeit am 08.01.2016. Karten: (069) 212 49 49 4, www.oper-frankfurt.de