Die Zukunft als Vorwand: Lauter irrwitzige Verwicklungen im Revier des Jahres 2000

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Das Revier im Jahr 2000: Alles ist aus dem Ruder gelaufen. Die Bundesregierung stümpert mit Notverordnungen, in den Verkehrshinweisen wird empfohlen, das Ruhrgebiet „weiträumig zu umfahren“, denn dort rebelliert die Bevölkerung mit Fabrikbesetzungen und Plünderungen.

Fast alle, in vorderster Front die Frauen der Arbeitslosen, machen mit – bis auf die Männer vom Schlage Mani Mack. Der ist sogar drauf und dran, sich von einem Betrüger für „fünf Blaue“ (500 DM) eine vermeintlich goldene Arbeitszukunft im Musterländle Baden-Württemberg aufschwatzen zu lassen.

„Fünf Blaue und ein Mann im Schrank“, vom Ruhrfestspiel-Ensemble im Recklinghäuser „Depot“ uraufgeführtes Stück von Jürgen Fischer, vermehrt nicht die Inflation der im Einheitsmuster gestrickten Ruhrgebiets-Revuen, bezieht dafür aber Anregungen vom italienischen Farcenschreiber Dario Fo. Keine Frage: Jürgen Fischer hat sich besonders von der Personenkonstellation in Fos „Bezahlt wird nicht“ inspirieren lassen. Das führt weg vom Revier-Klischee, mitunter aber auch weg vom Revier.

75 Minuten lang turbulente Verwicklungen ohne Verschaufpause, aber kaum einmal der Versuch einer konkreten Zukunftsschau ins „Revier 2000″. Letztere bleibt Vorwand für Kabinettstückchen und erschöpft sich in einer bloßen Vergrößerung, ja Vergröberung des heutigen Ist-Zustands.

Immerhin liefert der Text reichlich Spielmaterial für publikumswirksame Komik. Besonders die Szenen, in denen groteske Körperverwicklungen den aberwitzigen Verzweigungen der Handlung entsprechen, verraten intensive Probenarbeit und Lust am Detail (Regie: Wolfgang Lichtenstein). Beifall auf offener Szene erhalten vor allem Heinz Kloss („Mani“) und Petra Afonin („Angela“). Gekonnt auch die scheinbare Unbedachtheit, mit der die Darsteller immer wieder neben Rollen treten und gleichsam die eigene Künstlichkeit und Bedingtheit karikieren.

Der „Revierschwank mit beschränkter Hoffnung“ (Untertitel) verwehrt zwar am Ende eindeutige Antworten, hat aber zuvor schon so angelegentlich und pflichtschuldigst auf Solidarität sowie 35-Stunden-Woche verwiesen, daß dem Sinnverlangen Genüge getan ist.




Gute Geschäfts beim Weltuntergang

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Was auf der Erde vorgeht, mißfällt der übrigen Planetengemeinschaft. Ein Ungeziefer namens „Mensch“ soll sich auf dem blauen Ball eingenistet haben und nichts als Unfug treiben. Also beschließen Venus, Mars und Saturn unter Vorsitz der Sonne, einen vorbeisausenden Kometen auf die Erde zu hetzen, auf daß der unbotmäßige blaue Planet untergehe. Der Komet aber verliebt sich beim Anflug in sein Opfer und dreht im letzten Moment ab.

„Der Weltuntergang“, am Sonntagabend vom Ensemble der Ruhrfestspiele im ehemaligen Straßenbahndepot Recklinghausen aufgeführt, stammt von einem Autor, der jetzt allenthalben wiederentdeckt wird: Jura Soyfer, 1912 in Charkow als Sohn eines jüdischen Industriellen geboren, Emigration nach Wien, in den 20er Jahren einer der wichtigsten Satiriker in Österreich, 1939 im KZ Buchenwald mit 26 Jahren an Typhus gestorben.

Soyfers Weltuntergangs-Visionen, seinerzeit durch den Faschismus heraufbeschworen, sind für Recklinghausen aktualisiert worden. Nicht mehr die Hitlerei, sondern die Weltmächte und ihre Atomwaffenarsenale, so muß man wohl interpretieren, stellen nunmehr die virulenteste Bedrohung der Menschheit dar.

Nach dem planetarischen Vorspiel geht es um die Reaktionen, die die Entdeckung des herannahenden Kometen hienieden auslöst. Professor Guck ortet die Katastrophe als erster und findet gar ein Mittel, sie abzuwenden, doch davon will niemand etwas wissen. im Gegenteil: Es herrscht „business as usual“, die Geschäfte gehen besser denn je, es werden fleißig „Weltuntergangs-Anleihen“ gezeichnet, die Sorgen der Politiker und Diplomaten müssen sich somit nur noch auf die Erhaltung der freien Marktwirtschaft, der heimischen Wahlkreise und ihrer Tennisplätze richten.

Ein Prediger beschwört unterdessen eindringlich das nahende Ende, ruft zur Umkehr auf und offeriert dann Hosenknöpfe, die jegliches Inferno überstehen sollen. Und auch die Journalisten bekommen ihr Fett ab. Nicht das drohende Ende der Menschheit macht die Reporterin nervös, sondern der Drucktermin für ein Extrablatt, das 5 Minuten vor dem großen Knall erscheinen soll.

Das allgemeine Chaos wird adäquat in Szene gesetzt (Bearbeitung und Regie: Bernd Köhler). Die Zuschauer, wie auf zwei Stadiontribünen einander gegenübersitzend, zwischen, neben und über denen sich das Spiel als Musik-Revue der großen Dekadenz entfaltet, müssen ständig die Sitzhaltung wechseln. Schlagartig verlagert sich das Geschehen auf immer andere Spielflächen, dehnt sich auch schon mal auf die ganze Halle aus. Im Prinzip ist es sinnvoll, gerade dieses Stück nicht in einer herkömmlichen „Guckkastenbühne“ zu spielen. Im generellen Szenen- und Schauplatzwechsel gehen jedoch einige verhaltenere Szenen unter.

Die schauspielerischen Leistungen überzeugen. Heinz Kloss und Meinhart Zanger tun sich besonders hervor, speziell in einer gemeinsamen Szene als deutscher und amerikanischer Diplomat. Jürgen Mikol als Professor Guck vermeidet zu recht, einen spleenigen Wissenschaftler darzustellen. Seine Gesangseinlagen sind jedoch kein Ohrenschmaus.




Nach mancher Qual doch noch Glanzlichter – Ruhrfestspiel-Ensemble fünf Stunden lang im „Depot“

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Gleich vier neue Produktionen stellte jetzt das Ensemble der Ruhrfestspiele vor – und das erstmals in seiner neuen Spielstätte, einem ehemaligen Straßenbahndepot.

Das Depot ist ein vorzüglicher Ort fürs Theater. Es umfaßt eigentlich drei Spielstätten, so daß zur Einweihung zwei Stücke zeitlich parallel gegeben werden konnten (im „Magazin“ und in der „Werkstatt“). Das fünfstündige Mammutprogramm startete jedoch im Theatersaal des früheren Tramschuppens, und zwar mit „Prometheus und Herakles 5″ von Heiner Müller. An diesem gewichtigen Brocken hat man sich überhoben. Mag sein, daß die wahre Fließbandarbeit des Ensembles, deren erste Ergebnisse hier im Zusammenhang zu sehen waren (künftige Aufführungen erfolgen separat), einen Großteil jener Energie aufgesogen hat, die Müllers Aischylos-Bearbeitung kosten müßte.

Wolfgang Lichtensteins Inszenierung konzentrierte kaum, brachte wenig „auf den Punkt“. Im Prometheus-Teil (Hauptrolle: Bernd Köhler) mühte man sich, nicht immer sinnvermittelnd, mit Müllers hochkomplizierter, klassizistischer Sprache ab. Dann kam Herakles 5 (Meinhardt Zanger) mit Blaumann und Schutzhelm, befreite den Lichtbringer Prometheus und setzte zu einem Solo über die Reinigung des Augias-Stalls an, das wohl als Kabinettstückchen zu werten wäre, mit dem Beginn aber so gut wie nichts mehr zu tun hatte. Durch den allzu jähen Sturz auf die Alltagsebene wurden kaum fruchtbare Widersprüche aufgetan. Statt sich dialektisch zu entfalten, geriet das ganze Stück gleichsam in Schieflage.

Weiter ging’s mit „Die Wende“, einer mit Bochumer Opel-Arbeitern entwickelten Produktion, Szenen zum Thema Arbeitszeitverkürzung. Da zeitgleich „Antreten zum Doppelbeschuß“ (Produktionsleitung: Jürgen Fischer) lief, mußten sich die Besucher entscheiden. Meine Wahl fiel auf den „Doppelbeschuß“. Die Qual folgte prompt. Neckische Vergleiche gewisser Beate-Uhse-Produkte, die den Pershing-Raketen in punkto Stab-Form ähneln, mit eben jenen Atomwaffen, waren da noch das – in jeder Hinsicht – Harmloseste. Die gemeinsam mit Oberhausener Gewerkschaftern erarbeitete Szenenfolge läßt zwar hie und da „die Muskeln spielen“, erwägt gar Generalstreik gegen Stationierung, bleibt aber im Grunde bieder. Über die zentrale, immer wiedergekäute These „Kapitalismus = Krieg“, an der gewiß „etwas dran“ ist, kommt das nicht hinaus. So bleiben gut gemeinte Ansätze flach und eindimensional.

Doch noch ein versöhnender Ausklang: Im Hauptsaal beendet die 100-Minuten-Revue „Wer andern eine Grube gräbt“ (Leitung: Wolfgang Spielvogel) den Marathon. Schwachpunkte fallen hier weniger ins Gewicht. Mit insgesamt 20 „Nummern“, Texten so unterschiedlicher Autoren wie Loriot, Franz Xaver Kroetz oder Peter Alexander (seine Bergmannsschnulze „Schwarzes Gold“ wird der verdienten Lächerlichkeit preisgegeben), werden immer wieder Glanzlichter gesetzt. Vielleicht liegt in solchen Produktionen eine ganz spezielle Stärke und Zukunft des Ensembles.