Was darf uns die Kultur denn kosten? – Debatte um die Finanzen der Kulturhauptstadt

Alter Streit, der sich immer mal wieder entzündet: Wieviel Geld sollen „wir” für Kultur ausgeben? Genügt das, was die öffentliche Hand bezahlt – oder sollten Bürger, die es sich leisten können, freiwillig etwas drauflegen? Derzeit rankt sich die Debatte um die Finanzen der Kulturhauptstadt Ruhr 2010.

Als neulich in Düsseldorf die Förderbescheide des Landes NRW fürs „Dortmunder U” (Ex-Brauereiturm, künftig Museum und Zentrum der Kreativwirtschaft) überreicht wurden, gab’s neben aller Freude auch viele kritische Stimmen, so etwa im Internetportal http://www.derwesten.de/. Grundzug so mancher Äußerungen: Lieber Straßenbau, Schulen, Kindergärten und Schwimmbäder finanzieren – oder Hartz IV aufstocken . . .

„Hände weg
von meiner
Geldbörse!”

Gegen solch dringlichen Alltagsbedarf befindet sich Kultur seit jeher in der Defensive. Stets muss sie ihre finanziellen Ansprüche gut begründen und legitimieren, was ja völlig in Ordnung ist. Doch etliche Politiker sind auf diesem Ohr fast gänzlich taub. Denn massenhaft Wählerstimmen kann man mit den schönen Künsten nicht einheimsen. Eine kurzsichtige Art der Betrachtung.

Und so erntete denn auch Essens Stadtkämmerer Marius Nieland beileibe nicht nur Beifall, als er kürzlich vorschlug, jeder Bewohner des Reviers möge aus freien Stücken je einen Euro für die Kulturhauptstadt Ruhr spenden, deren Kassen bislang eher spärlich gefüllt sind. Die Reaktionen glichen im Großen und Ganzen jenen aufs „Dortmunder U”. Motto: Hände weg von meiner Geldbörse! Ja, es ist eine schwierige Gemengelage.

Nielands Idee ist ja an und für sich sympathisch, sie könnte Phantasien beflügeln. Aber ist sie nicht auch ein Blütentraum? Selbst Amtskollegen aus anderen Revierstädten bleiben skeptisch. Wie, bitte, soll das funktionieren? Per Überweisung? Mit Sammelbüchse an der Haustür? Mit Sparschweinen, die in den Rathäusern aufgestellt werden? Und: Ein Euro ist „gefühlt” nicht gleich ein Euro. Manche nehmen ihn aus der Portokasse, andere müssen ihn sich absparen.

Zudem kalkuliert Nieland ohne weiteres mit 5,4 Millionen Bewohnern (bzw. Euro) – vom Neugeborenen bis zur Hundertjährigen; von „kulturferneren” Menschen gar nicht zu reden. Größere Familien würden demnach rein rechnerisch mehr berappen, denn pro Kopf wäre ja ein Euro fällig. Wäre das gerecht?

Schnellere und stärkere Wirkung ließe sich erzielen, wenn sich mehr potente Sponsoren aus der Wirtschaft fänden. Fritz Pleitgen und Oliver Scheytt, die Geschäftsführer der Ruhr 2010 GmbH, arbeiten daran. Man kann ihnen nur Erfolg wünschen.

Mit Steuern und Abgaben finanzieren die Bürger ohnehin schon die Kulturhaushalte. Freilich: Die gesamten Kulturausgaben von Bund, Ländern und Gemeinden machen nicht einmal 0,4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus – rund 8 Milliarden Euro stehen jährlich zu Buche. Man darf schon fragen, ob dies für eine Kulturnation nicht beschämend geringe Werte sind.

Doch auch da gibt’s wieder Gegenpositionen, die sich untermauern lassen: Es gibt wohl kein anderes Land auf Erden, das eine so dichte kulturelle Infrastruktur hat wie Deutschland. Ungefähr jedes siebte Opernhaus weltweit steht bei uns. Kulturschaffende haben sich vielfach an namhafte Subventionen gewöhnt. Jede Kürzungsabsicht zieht daher einen Aufschrei („Kahlschlag!”) nach sich.

An dieser Stelle folgt in Debatten rasch der Ausruf: Und das alles für eine betuchte Minderheit? Nun, das wäre zu engstirnig gedacht. Man stelle sich die Städte ohne Theater, Opern, Museen und Bibliotheken vor. Es wären öde Kommerz-Wüsten. Ausgaben für Kultur erweisen sich in aller Regel als sinnvolle Investitionen. Viele Euros fließen in die Städte und Gemeinden zurück. Es kommen mehr Touristen und Tagesgäste, die Geld ausgeben – nicht nur an der Theaterkasse. Und schließlich konkurrieren Betriebe und Behörden in allen Städten um gut ausgebildete, qualifizierte Mitarbeiter. Viele von ihnen lassen sich vor allem durch kulturelle Angebotsfülle locken.

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INFO:

  • Die derzeitige Finanzlage der Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010:
  • Insgesamt stehen jetzt rund 52 Millionen Euro zur Verfügung. Das Geld kommt aus folgenden Quellen:
  • Der Regionalverband Ruhr (RVR) steuert 12 Millionen Euro bei.
  • Vom Land Nordrhein-Westfalen kommen 12 Millionen Euro.
  • Der Bund schießt 12 Millionen Euro zu.
  • Die Stadt Essen ist mit 6 Millionen Euro dabei.
  • Die Europäische Union (EU) stellt 1,5 Millionen Euro bereit.
  • Private Sponsorenmittel (bisher zugesagt): 8,5 Millionen Euro.
  • Was können die einzelnen Städte beitragen? Vor allem die Revier-Gemeinden, die unter Sparzwängen stehen, könnten eine Aufstockung ihrer Eigenmittel bestens gebrauchen.



Jede Kulturhauptstadt lernt von den Vorläufern – Internationales Treffen mit Etat-Vergleich in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Immer gern genommen: „Netzwerk“ und „Nachhaltigkeit“ lauten die Schlagworte, wenn etwas dauerhaft in Gang gesetzt werden soll. So auch jetzt beim Treffen der Kulturhauptstädte in Essen.

Das neu geknüpfte Netzwerk umfasst vorerst alle europäischen Kulturkapitalen der Jahre 2007 bis 2011. Wer künftig benannt wird, soll ebenfalls zum Kreis gehören und vom regelmäßigen Austausch profitieren. Auch aus etwaigen Fehlern der Vorläufer lässt sich etwas lernen.

Da wird etwa über den Umgang mit Politikern oder Sponsoren geredet – und über Visionen: Kultur soll europäische Wege noch mal anders bahnen als wirtschaftliche und politische Beziehungen.

Diesmal haben die Delegierten auch die Kulturhauptstadt-Etats miteinander verglichen. Und siehe da: Das doch recht kleine Linz (Österreich, 2009 an der Reihe) verfügt über 60 Millionen Euro öffentliches Geld. Essen und das Ruhrgebiet (2010) können nach jetzigem. Stand auf 48 Mio. Euro zurückgreifen. Sponsorenmittel nicht mitgerechnet. Apropos: Da wäre das Revier froh, wenn es die Marke von Liverpool (2008) erreichen könnte, wo aus Privatschatullen 12 Mio. Pfund (rund 17,6 Mio. Euro) fließen.

Glasgow als leuchtendes Vorbild

Beispiel für einen Lerneffekt des Essener Treffens: Stavanger (Norwegen, 2008) hat Projektvorschläge fürs Hauptstadtjahr völlig ins Belieben gestellt und gleich über 700 erhalten, darunter etlicher Unsinn. Man musste mühsam sortieren und dabei viele Leute enttäuschen. Im Revier (500 Projekt-Ideen) hat man zeitig vorgefiltert.

Parallel mit dem Ruhrgebiet treten 2010 Pécs (Ungarn) und Istanbul (Türkei) an. Einzelheiten sind noch nicht ganz spruchreif, doch das Trio will konkrete Vorhaben miteinander umsetzen, Künstleraustausch und gemeinsame Tourismus-Werbung inbegriffen.

Wohin die Reise gehen soll, skizzierte der Kulturmanager Sir Bob Scott am Beispiel Liverpool. Ab 2008 solle die Welt anders über die Stadt mit dem bislang schäbigen Image denken. Musterbeispiel: Glasgow (1990), das sein Erscheinungsbild gleichsam runderneuert hat. Im Ruhrgebiet ist man für eine solche Erfolgsgeschichte besonders hellhörig.




„…dann wird 2010 ein strahlendes Jahr“ – Fritz Pleitgen über seine neue Kulturhauptstadt-Aufgabe

Von Bernd Berke

Dortmund. Der noch amtierende WDR-lntendant Fritz Pleitgen will als künftiger Kopf der Kulturhauptstadt Ruhrgebiet für ein nachhaltiges Ereignis sorgen, dessen Wirkung weit über das Jahr 2010 hinaus reicht. Das sagte er gestern der WR.

Er soll sein neues Amt als Vorsitzender Geschäftsführer der Ruhr 2010 GmbH am 1. April antreten. Bis dahin, so Pleitgen, warte noch viel Arbeit beim Sender: „Ich kann nach 44 Jahren beim WDR nicht einfach fluchtartig davonlaufen, sondern muss meine vielen Verpflichtungen ordentlich zu Ende bringen.“

Zwischenzeitlich werde er sich aber auch schon in Sachen Kulturhauptstadt auf dem Laufenden halten und einarbeiten – im engen Kontakt mit Oliver Scheytt, dem zweiten Geschäftsführer und Essener Kulturdezernenten. Scheytt habe sehr gute Vorarbeit geleistet.

Pleitgen verriet, er sei schon Mitte 2006 gebeten worden, den Posten bei der Kulturhauptstadt zu übernehmen. Damals habe er noch nein gesagt, weil er andere Lebensplane gehabt habe: „Ich wollte Bücher schreiben und Filme machen.“ Doch kurz vor Weihnachten hätten NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers und Werner Müller (Initiativkreis Ruhrgebiet) ihn nochmals „bearbeitet“. Pleitgen versichert: Jetzt wächst die Freude auf die neue Aufgabe von Tag zu Tag. Ich werde mit Entschlossenheit ans Werk gehen.“

Konkrete Pläne für die Kulturhauptstadt würden sich mit der Zeit ergeben: „Wollte ich jetzt schon mehr sagen, wäre das unseriös.“ Fest stehe, dass das Ruhrgebiet ein außergewöhnlich vielfältiges und starkes kulturelles Potenzial besitze. Pleitgen: „Mir gefällt der Gedanke, dass man sich an Paris und London messen will.“ Wesentlich sei, dass alle an einem Strang ziehen. „Dann wird 2010 ein strahlendes Jahr.“

Der gebürtige Duisburger fühlt sich dem Ruhrgebiet eng verbunden: „Ich stamme von hier. Deswegen sind mir die Belange des Reviers natürlich nicht gleichgültig.“ Als Intendant des WDR (Pleitgen: „Der Sender ist größter Kulturfaktor im Lande“) habe er die Kulturhauptstadt bereits nachdrücklich unterstützt.

Im übrigen, so Pleitgen, sei er schon zu seinen Zeiten als ARD-Korrespondent „nie nur ein politischer Journalist“ gewesen, sondern habe stets kulturelle Themen aufgegriffen. Er sei ein Liebhaber guter Literatur, lasse sich „gern von Musik gewinnen“ und gehe mit Freuden ins Theater. Für spezielle Fachfragen werde er im Kulturhauptstadt-Team viele Experten vorfinden.

Am 15. Januar (19 Uhr) hält Fritz Pleitgen im Dortmunder Konzerthaus einen Vortrag in der Reihe „Lektionen zur Musikvermittlung“.




Kulturhauptstadt: Keine Atempause – Rund 200 Projekte stehen schon auf den Listen, täglich kommen neue hinzu

Von Bernd Berke

Dortmund. Schon länger nichts mehr gehört zum Thema „Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010″. Seit dem europäischen Jury-Entscheid vom 11. April sind einige Wochen ins Land gegangen. Doch der Schein der Ruhe trügt: Die Organisatoren hatten kaum eine Atempause. Im Gegenteil.

Kulturhauptstadt-Moderator Oliver Scheytt gestern beim Pressetermin im Dortmunder Konzerthaus: „Dass es nach dem Jury-Votum mit der Arbeit erst richtig losgeht, habe ich ja geahnt. Aber so massiv hätte ich es nicht erwartet. Wir sind voll im Geschäft.“

Die Finanzierung „steht“ weitgehend, das Gesamtvolumen soll von 2007 bis 2010 rund 78 Mio. Euro betragen. Wenn der Europäische Rat im November das Jury-Votum bestätigt (womit fest zu rechnen ist), kann noch in diesem Jahr eine Kulturhauptstadt GmbH gegründet werden, für die man dann eine künstlerische Leitung sucht. Scheytt: „Das muss jemand sein, der auch schon mal Nein sagt und Projekte ablehnt.“

Ideen gibt es wohl genug, sie müssen gewichtet und sortiert werden. Rund 200 Projekte stehen bereits auf den Listen, täglich kommen rund fünf bis zehn Vorschläge hinzu. Sie stammen zu 84 Prozent aus der Region selbst. Doch auch ein ehemaliger Zahnarzt und Hobbysegler aus Husum offerierte seine Dienste. Auf dem Bootsweg vom hohen Norden nach Istanbul (gleichfalls Kulturhauptstadt 2010) wollte er kulturelle Botschaften aus dem Revier mit an den Bosporus nehmen.

Eine ganze Garde von Kulturdezernenten und Amtsleitern des Reviers war gestern dabei, als Scheytt den Stand der Dinge erläuterte. Es wurde deutlich, dass die Städte ihre vielfältigen Aktivitäten schon jetzt eng miteinander abstimmen. Da wächst wohl zusammen, was zusammen gehört.

Auch in den Randzonen des Reviers regt sich etwas

Es gibt übergreifende Schwerpunkte (z.B. Lichtkunst, Aktionen an Wasserwegen), doch jede Kommune betont auch eigene Stärken. Beispiel: Dortmunds Dezernent Jörg Stüdemann setzt vor allem auf „Musik als verändernde Kraft“. Die Projekte sollen sich ums Brückstraßen-Viertel mit Konzerthaus, Jazzclub domicil, Chorakademie und Orchesterzentrum ranken. Zudem dürfte bildende Kunst in den Vordergrund rücken, das Spektrum soll von digitalen Arbeiten (Medienkunst in der Phoenixhalle) bis zum großen Bilder-Auftritt (Wunschprojekt „Dortmunder U“) reichen.

Regt sich auch etwas in den Randzonen des Reviers? Offenkundig schon. Unnas Kulturamtsleiter Axel Sedlack (Schwerpunkte: Lichtkunst, Krimifestival „Mord am Hellweg“, das Schaffen von Komponistinnen) versicherte, in seiner Stadt diskutiere man bereits seit zwei Jahren das Thema Kulturhauptstadt, nun beteilige sich auch gesamte Kreis Unna verstärkt.

Mehrere Kulturdezernenten (vor allem aus kleineren Gemeinden) ließen durchblicken, dass sie sich von der Kulturhauptstadt keine grandiosen neuen „Leuchttürme“, sondern eher eine Stärkung und Festigung der vorhandenen Kultur erhoffen. Und ein dichteres Netzwerk mit den anderen Städten.

Wie sieht’s mit der vielfach befürchteten Dominanz von Essen aus? Oliver Scheytt, hauptamtlich Essens Kulturdezernent, beteuert: „Ich ärgere mich immer, wenn ich die Bezeichnung ,Kulturhauptstadt Essen‘ lese.Es geht ums ganze Ruhrgebiet.“ Auswärtige können diese Gegend allerdings oft kaum verorten. So wurde gestern der Mülheimer Komiker Helge Schneider zitiert. Wenn man ihn draußen fragt, wo das Ruhrgebiet liege, sage er nur noch: „Bei Frankfurt“.

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HINTERGRUND

Markenrechte gesichert

  • Die Organisatoren der Kulturhauptstadt haben sich die Markenrechte an ihrem Ruhrgebiets-Logo gesichert. Wer es verwendet, soll möglichst zahlen. Die FIFA hat’s bei der Fußball-WM im großen Stile vorgemacht.
  • Die bisher rund 200 Projektvorschläge stammen zu 35 Prozent von Kulturschaffenden.
  • Den Löwenanteil machen Vorschläge zur „Stadt der Künste“ aus, hier rangiert die Bildende Kunst (25 Prozent) ganz vorn. Abgeschlagen: Theater mit lediglich 3 Prozent.

 




„Dortmund ist kein Vorort von Essen“ – Gespräch mit Jörg Stüdemann / Nach der Wahl des Reviers zur Europäischen Kulturhauptstadt

Von Bernd Berke

Dortmund. Gestern war „Tag eins“ nach der Wahl Essens und des Ruhrgebiets zu Europas Kulturhauptstadt 2010. Anlass genug, um mit dem Dortmunder Kulturdezernenten Jörg Stüdemann über die Lage in der Region zu sprechen.

Woran denken Sie beim Stichwort „Hauptstadt des Ruhrgebiets“?

Jörg Stüdemann: (lacht) Na, an Dortmund natürlich. Aber mal im Ernst: Eigentlich denke ich da an gar keine bestimmte Stadt. Ich habe früher in Bochum und Essen gearbeitet und habe nie eine Hauptstadt erblickt. Im Grunde gibt es hier kein Zentrum, sondern eine gesunde Rivalität zwischen den Städten,

Besteht nicht die Gefahr, dass Essen jetzt Dortmund kulturell „abhängt“?

Stüdemann: Überhaupt nicht. Gut, einige Sponsoren werden sich nun stärker in Essen engagieren. Aber das ist auch schon so ziemlich alles. Der Etat für die Kulturhauptstadt ist doch relativ bescheiden, verglichen mit unserem städtischen Kulturhaushalt.

Wohlweislich später eingestiegen

Ist Dortmund ins Thema Kulturhauptstadt nicht zu spät eingestiegen?

Stüdemann: Solange die Kulturhauptstadt mit der Idee einer auf Essen zentrierten „Ruhrstadt“ verbunden war, konnte sie in Dortmund oder Duisburg nicht viel Sympathie erzeugen. Dortmunds Größe und Tradition sprechen dagegen, sich degradieren zu lassen. Wir sind kein Vorort von Essen. Damals haben wir gedacht: Wir werden uns wohlweislich erst einmal davon distanzieren. Inzwischen verhält sich die Sache anders. Es gibt einen weiteren Grund für den späteren Einstieg. Im Gegensatz zu Essen sind wir Fußball-WM-Stadt. Das bedeutet enorm viel Arbeit und finanziellen Einsatz. Daneben war ein stärkeres Engagement für die Kulturhauptstadt nicht zu leisten.

Was trägt Dortmund zur Kulturhauptstadt bei?

Stüdemann: Es wäre unredlich zu behaupten, Dortmund werde das Zentrum des Geschehens sein. Bochum und Duisburg übrigens auch nicht. Das ist nun mal Essen. Doch wir machen eine Menge. Wir haben das multikulturelle „Melez“-Festival in Bochum organisiert und die Dortmunder „Twins“-Konferenz mit den europäischen Partnerstädten ausgerichtet.

Und in Zukunft?

Stüdemann: Es gibt drei Schwerpunkte. Erstens die Medienkunst, unter anderem in der Phoenixhalle. Zweitens das Brückstraßen-Viertel als künftige „Musik-Meile“: Konzerthaus, Orchesterzentrum, Chorakademie, das „domicil“ für Jazz und Weltmusik. Spätestens 2010 soll es außerdem ein großes Musikfest in Dortmund geben, und wir planen ein Zentrum für Musikwirtschaft – mit Tonstudios, Agenturen und dergleichen. Drittens bringen wir das Projekt „Dortmunder U“ ein.

Dieser frühere Brauereiturm steht als künftiges Museum in den Bewerbungsunterlagen zur Kulturhauptstadt, als wäre alles schon fertig. Aber es hakt doch weiter bei denLandeszuschüssen, oder?

Stüdemann: Wir gehen immer noch davon aus, dass wir dort 2010 ein großes Museum haben werden. Die Idee ist einfach toll, viele hochkarätige Fachleute aus anderen Städten sind davon angetan. Was die Landeszuschüsse betrifft: In Essen steht mit der Zeche Zollverein ein unglaublich teures Projekt, da fragt offenbar niemand nach Bau- und Folgekosten. Der dortige Umbau, der 1986 eingeleitet wurde, sollte anfangs 30 Millionen Mark kosten, inzwischen liegt man bei etwa 190 Millionen, mit steigender Tendenz. Trotzdem hat das Land dort stetig mitgefördert. Beim „Dortmunder U“ aber wird penibel nachgerechnet. Auch in Dortmund selbst werden von manchen Leuten immer nur die Schwierigkeiten aufgespürt. Jeder Krümel wird da langwierig ausgewalzt.

Das hieße also: Dortmund ist noch nicht genügend begeistert, um auch das Land für die Idee zu gewinnen?

Stüdemann: So ist es. Leider. Dabei geht es beim „Dortmunder U“ um vergleichsweise geringe 17 Millionen Euro Landesförderung. Mal so gefragt: Muss sich wirklich alles im Rheinland abspielen? Fast 80 Prozent der Landesmittel für Museumsbau sind in den letzten Jahrzehnten dorthin geflossen.

Der Dortmunder Krimi-Verleger Rutger Booß (Grafit-Verlag, d. Red.) sagt: Spätestens Jetzt, im Rahmen der Kulturhauptstadt, braucht das Revier ein Literaturhaus. Eine Option für Dortmund?

Stüdemann: Von der Tradition her schon. Dortmund wäre dafür prädestiniert. Und die Region kann ein solches Haus bestens verkraften. Aber wir haben schon zahlreiche andere „Baustellen“…

Wie wird sich die Kulturhauptstadt im Umland auswirken? Haben auch die Sauerländer etwas davon?

Stüdemann: Unbedingt! Das ist doch klar. Bei einer so großen Kampagne für die Kultur will sich keine beteiligte Stadt blamieren. Das werden die Besucher aus dem Umland merken. Nicht nur kulturell, sondern auch baulich wird sich einiges verbessern. Davon haben alle etwas. Und Nachbarstädte wie Unna mit seinem wunderbaren Lichtkunstzentrum sind ohnehin fest eingebunden.

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ZUR PERSON

Mann mit „Szene“-Erfahrung

  • Jörg Stüdemann (Jahrgang 1956) ist Dortmunds städtischer Dezernent für die Bereiche Kultur, Sport und Freizeit. Sein Werdegang:
  • Von 1984 bis 1987 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum.
  • Von 1987 bist 1992 Mitarbeiter im soziokulturellen Zentrum „Zeche Carl e. V.“ in Essen. Diese Einrichtung der „Alternativ“-Szene genießt einen guten Ruf im gesamten Ruhrgebiet.
  • Ab 1992 Leiter des „Pentacon“ (Zentrum für Medienkultur) in Dresden.
  • Von 1994 bis 2000 Dezernent für Kultur, Jugend und Sport in Dresden. Aus der sächsischen Landeshauptstadt wechselte Jörg Stüdemann nach Dortmund.

 




Gemeinsam geht’s – Kommentar zur Kulturhauptstadt-Entscheidung für Revier

Von Bernd Berke

Da kann man sich sonst noch so kühl und skeptisch geben: Als Bewohner dieser Region darf man seit gestern wirklich ein wenig stolz sein. Das Ruhrgebiet“ ist Europas Kulturhauptstadt 2010. Wunderbar!

Wer hätte vor zehn Jahren so etwas zu denken gewagt? Höchstens einige phantasievolle Kulturschaffende. Die spüren Veränderungen oft lange vor den Politikern. Und sie haben auch den grundlegenden Wandel dieser Gegend früh bemerkt. Mehr noch: Die Kulturszene ist seit einiger Zeit eine große Triebkraft dieses Wandels.

Haben wir jetzt im Revier das Paradies, in dem das Geld für Kultur nur so strömen wird? Wohl kaum. Die hiesigen Städte ächzen vielfach unter Finanzlasten. Ohne Sponsoren sowie Zuwendungen von Bund und Land wird sich die Kulturhauptstadt nicht vollends entfalten können. Der frisch errungene Titel ist jedenfalls ein bärenstarkes Argument gegen mancherorts drohende Kürzungen im Kulturbereich.

Nicht wenige fürchten jetzt, dass Essen sich zur alleinigen Ruhrgebiets-Metropole aufschwingen könnte und sich die ganz großen Stücke vom leckeren Kuchen abschneidet. In dieser Hinsicht wird man, etwa in Dortmund, in Hagen und im Kreis Unna, tatsächlich wachsam sein müssen. Doch in Essen werden sie bestimmt klug sein und wissen, dass sie das anstehende Mammut-Programm gar nicht allein stemmen können. Nur gemeinsam geht’s.

Essens Kulturdezernent Oliver Scheytt dürfte denn auch nicht zu Alleingängen neigen. Er ist schon jetzt so etwas wie der „Mann des Jahres“ in der Region. Schier unermüdlich hat er die Bewerbung vorangetrieben. Er und sein kleines Team sind dabei bis an die Grenzen der menschlichen Belastbarkeit gegangen. Deshalb ist es gut, dass ihm bald eine künstlerische Leitung zur Seite stehen soll. Der Mann (oder die Frau) für diese immense Aufgabe wird noch gesucht. Eine wahrhaft spannende Personalie.

Vorgestern gab’s die bunten Werbeprospekte fürs Revier. Gestern haben wir gefeiert. Heute beginnt die wirkliche Arbeit.

 




Heute ist der Tag der Wahrheit – Essen oder Görlitz: Entscheidung über Kulturhauptstadt 2010 wird mittags in Brüssel verkündet

Von Bernd Berke

Dortmund. Heute gilt’s! Zur Mittagszeit werden wir wissen. ob Essen und das Ruhrgebiet oder das sächsische Görlitz Europas Kulturhauptstadt 2010 werden. Um 11.30 Uhr will die EU-Jury in Brüssel ihre Entscheidung verkünden. Spannender geht’s nimmer.

Jubel und Enttäuschung werden dann so dicht beieinander liegen wie sonst im Sport. Die fußballerische „T“-Frage (Torwart Lehmann statt Kahn als Nummer eins) ist unter großem Getöse geklärt worden. Jetzt steht also die K-Frage an – „K“ wie Kulturhauptstadt. Und man möchte lieber keine Wetten auf diesen Super-Dienstag abschließen, so offen scheint der Ausgang des Rennens zu sein.

Beide Städte bzw. Regionen haben jahrelang auf die heutige Entscheidung hingearbeitet. Immense Energien und Hoffnungen sind allseits eingeflossen. Beide Bewerbungs-Teams fühlen sich bestens gerüstet und glauben jeweils, die stärkeren Argumente auf ihrer Seite zu haben. Alles andere wäre ja auch erstaunlich.

Tritt mit Görlitz ein kleiner David gegen den Goliath Ruhrgebiet an? Sollte man in der siebenköpfigen Jury mehrheitlich so denken, wäre es vielleicht ein gefühlter Vorteil für die Sachsen, denn oft liegen die Sympathien in derlei Fällen beim „Kleineren“. Ängstliche Spekulationen…

Bei der Präsentation der Programme und Projekte am 15. März in Brüssel hat die Jury den Essenern eine Frage gestellt, die hellhörig macht. Sinngemäß: Wozu braucht ihr denn noch den Titel, ihr habt doch zwischen Dortmund und Duisburg schon so viele kulturelle Highlights? Ein verquerer Gedanke, bei dem man ins Grübeln gerät. Ebenso gut könnte man Görlitz vorhalten, dass es eine so schmucke Altstadt besitzt.

Eigentlich wäre in Sachen Kulturhauptstadt wohl „der Westen“ an der Reihe. Berlin und Weimar haben den Titel getragen. Käme nun Görlitz zum Zuge, so hätte die ganze Geschichte eine ziemlich deutliche Schlagseite. Görlitz de ist ja sogar die östlichste deutsche Stadt überhaupt.

Doch wir wollen hier nicht die fatale Ost-West-Konkurrenz aufbauschen, die längst auch auf finanzpolitischem Felde herrscht. Fest steht: Beide Bewerber könnten den Geld- und Image-Gewinn sehr gut gebrauchen, der mit der Kulturhauptstadt verbunden wäre. Wenn’s nur ums Gönnen ginge, müsste der Titel brüderlich geteilt werden. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Aus Sicht des Ruhrgebiets könnte einem etwas bang zumute werden, wenn man sich die Konzepte ansieht. Auf den ersten Blick scheint der deutsch-polnische Brückenschlag, den Görlitz mit der Partnergemeinde Zgorzelec plant, griffiger zu sein als das vielfältige Bestreben des Reviers, das als multikulturell geprägte „Industrieregion im Wandel“ eher eine gesamteuropäische Perspektive einnimmt. Jedoch: Kann denn Vielfalt Sünde sein?

Dass man in Essen heute – unabhängig vom Ausgang – auf jeden Fall groß feiert, hat sogar schon Gerüchten Raum gegeben: Wissen die Essener vielleicht doch schon etwas?Ist etwa ein mehr oder weniger vager Hinweis aus der Jury durchgesickert? Eigentlich kaum vorstellbar. Ganz klar: Auch eine etwaige „Niederlage“ muss zünftig begangen werden. Das (Kultur)-Leben geht jedenfalls weiter.

Gewiss steht die Entscheidung seit Tagen fest, sie wird just heute bekannt gegeben. Die Juroren scheinen ihrer Sache recht sicher zu sein. Sie haben auf Informations-Reisen in die Bewerberstädte verzichtet; ganz so, als hätte es da gar keinen Klärungsbedarf‘ mehr gegeben.

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HINTERGRUND

Gefeiert wird auf jeden Fall

  • Diese Delegation fährt heute früh um 7.30 Uhr in Richtung Brüssel:
  • Oliver Scheytt (Kulturdezernent von Essen und „Moderator“ der Kulturhauptstadt-Bewerbung), Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (NRW-Kulturstaatssekretär), Heinz- Dieter Klink (Direktor des Regionalverbands Ruhr – RVR), Hans-Georg Küppers (Kulturdezernent von Bochum) und Jürgen Fischer (Leiter des Bewerbungsbüros).
  • Die Entscheidung über die Kulturhauptstadt wird um 11.30 Uhr in Brüssel verkündet. Im Essener Rathaus-Foyer wird das Ereignis live auf Großleinwand übertragen.
  • Gegen 17 Uhr kehrt die Delegation nach Essen zurück. Dann soll es eine Feier auf dem Kardinal-Hengsbach-Platz geben.
  • Ab 19 Uhr steigt eine Party auf der Essener Zeche Zollverein (Halle 5) – je nach Stimmungstage bis tief in die Nacht.‘



Neuer Schub für die Revier-Bewerbung – Gespräch mit Oliver Scheytt über den Stand der Dinge in Sachen Kulturhauptstadt 2010

Von Bernd Berke

Essen. Wie steht’s mit den Aussichten des Ruhrgebiets in der Konkurrenz um die europäische Kulturhauptstadt fürs Jahr 2010? Die WR sprach mit Oliver Scheytt, der als so genannter „Moderator“ bei der Bewerbung federführend ist.

Frage: Es gibt Klagen, dass die Bürger noch nicht so recht begeistert seien von der Kulturhauptstadt-ldee.

Oliver Scheytt: Wir haben Leute befragt. Die meisten sagen bisher: Gut und schön, aber man weiß noch nicht viel darüber. Wir sind eben noch in der Bewerbungs-Phase. Wir können nicht dauernd Wind machen. Man kann nicht ständig über ein Programm reden, das erst 2010 stattfinden soll. In Kürze wird es aber einen neuen Schub geben: Es werden einige große Werbe-Kampagnen beginnen – auch mit viel Ruhrgebiets-Prominenz. Unser dreifaches Motto lautet: Wir wollen die Region mobilisieren, Meinungsführer überzeugen und Europa gewinnen.

Was ist in den letzten Wochen geschehen?

Scheytt: Wir haben uns darauf konzentriert, weiter Ideen und Geld zu sammeln. Es gab eine Sponsoren-Konferenz mit guten Resultaten. Jetzt kann wieder eine Mobilisierungs-Phase beginnen.

Was trägt die Region rund um Dortmund bei?

Scheytt: Im nächsten Jahr sind Regionalkonferenzen geplant, auch im östlichen Ruhrgebiet. Überhaupt ist Dortmund stets mit eingebunden – nicht nur durch den Kulturdezernenten Jörg Stüdemann. Der Kreis Unna bringt gute Kontakte in die Kulturhauptstadt des letzten Jahres mit, ins französische Lille. Wichtig auch das Zentrum für Lichtkunst in Unna. Lichtkunst ist ein zentraler Faktor der Bewerbung. Projekte wie das Hagener Schumacher-Museum, das „Dortmunder U“ (Museumspläne in einer Ex-Brauerei, d. Red.) oder der Umbau des Essener Folkwang-Museums sind ebenfalls starke Argumente. Wir wollen zeigen: Das Ruhrgebiet investiert in Kultur. Immerhin sind hier zwei neue Konzerthäuser in Dortmund und Essen entstanden.

Und wo bleibt die europäische Dimension?

Scheytt: Wir haben Vertreter aus den 196 europäischen Partnerstädten der 53 Kommunen und Kreise im Ruhrgebiet für Februar 2006 nach Dortmund eingeladen. Es liegen schon über 100 Zusagen vor. Ein solches Treffen hat es noch nie gegeben.

Werden dabei auch Themen wie die jüngsten Unruhen in Frankreich diskutiert?

Scheytt: Unbedingt! Schwerpunkte unserer Bewerbung sind ja Themen wie Migration, Strukturwandel und Stadtentwicklung. Hier kann das Ruhrgebiet wertvolle Erfahrungen einbringen.

Was sagen Sie zur Mahnung des NRW-Kulturstaatssekretärs Grosse-Brockhoff, dasRevier solle sich bloß noch nicht als Sieger über den Mitbewerber Görlitz wähnen?

Scheytt: Er hat völlig recht. Es gibt keinen Grund, überheblich zu sein. Unsere Bewerbung ist sehr viel komplexer als die von Görlitz. Daher ist sie vielleicht schwerer zu vermitteln. Andererseits ziehen wir unsere Kraft gerade aus der vielfältigen, dezentralen Struktur des Ruhrgebiets.

Wann könnte die Hauptstadt-Entscheidung fallen?

Scheytt: Wir rechnen mit dem Besuch einer siebenköpfigen EU-Jury im März 2006. Inzwischen stehen auch die Namen von vier Jury-Mitgliedern fest.

Werden Sie etwa versuchen, diese Damen und Herren zu beeinflussen?

Scheytt: Nein, nein! Aber wir informieren uns natürlich genau über ihre kulturellen Vorlieben.

Und was geschieht, wenn Görlitz gewinnen sollte?

Scheytt: Allein unsere Bewerbung ist bereits ein Erfolgsprojekt fürs ganze Ruhrgebiet, sie wirkt wie ein großer Durchlauferhitzer. Die Städte agieren schon jetzt immer mehr gemeinsam. Das wird bleiben und weiter wirken.

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Zur Person

Oliver Scheytt: Ein Mann mit vielen Ämtern

• Oliver Scheytt wurde 1958 in Köln geboren.

• Er hat Musik (Fach Klavier an der Essener Folkwang-Hochschule) sowie Jura studiert und ist promovierter Jurist. Seine Dissertation schrieb er über Musikschulrecht.

• Von 1986 bis 1993 war Scheytt in verschiedenen Funktionen für den Deutschen Städtetag tätig.

• Seit 1993 ist er Kulturdezernent der Stadt Essens und als solcher auch für Bildung zuständig.

• Seit 1997 ist er zudem Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft, seit 1998 sitzt er im Vorstand des Kulturforums der Sozialdemokratie.




Adolf Muschg: „Ich bin mit mir selbst nicht identisch“

Der Schweizer Adolf Muschg (71) zählt zu den führenden Köpfen der deutschsprachigen Literatur. Der Büchner-Preisträger ist auch kulturpolitisch einflussreich: Er war Mitglied der Jury, die das Ruhrgebiet bei der Vorauswahl zur Kulturhauptstadt 2010 bereist hat. Und er ist Präsident der hochkarätigen Berliner Akademie der Künste. Eine Gespräch mit Adolf Muschg im Dortmunder Harenberg City-Center – vor einer Lesung aus seinem bei Suhrkamp erschienenen neuen Roman „Eikan, du bist spät“.

Frage: In Ihrem Roman geht es um einen Cellisten, seine Lebens- und vor allem Frauen-Krise. Was hat Sie an dem Thema gereizt?

Adolf Muschg: Das Cello ist von allen Streichinstrumenten das mit dem größten Körper-Engagement. Musik als spirituelles Prinzip – und zugleich das Sinnlichste, was es gibt. Ein interessanter Widerspruch. Außerdem wollte ich mir ein Gebiet erobern, das mit eher fern liegt, ich habe nur als kleiner Junge ein wenig Klavier gespielt. Es läuft hinaus auf das Motiv der Wiederholung, was die Frauengeschichten angeht. Das Wiederholungsmotiv ist im Grunde ein uraltes in der Liebe, man denke nur an Tristan und Isolde. Unser Leben besteht aus Wiederholungen – und wir alle haben den Anspruch, einmalig zu sein.

Ihr Cellist Andreas Leuchter wird aus all seinen Frauen nicht klug…

Muschg (lacht): Das gehört zum Wenigen, was ihn mir sympathisch macht…

Kann ein Mann denn aus Frauen im Wortsinne klug werden?

Muschg: Nein. Aber man könnte im Umgang mit ihnen ein bisschen weiser werden. Doch auch das würde nichts helfen. Ich glaube: Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist nicht dazu geschaffen, „vernünftig“ zu sein – obwohl es ohne Vernunft auch wieder nicht auszuhalten ist. Schon die Erfindung der Zweigeschlechtlichkeit ist ja eine große Kühnheit der Natur, davor hat sie sich mit Kopien und Zellteilungen begnügt.

Leuchter versäumt seine große Liebe…

Muschg: Das ist ein Verdacht, der Männer häufig beschleicht: „Ich bin etwas schuldig geblieben.“ Man kann sich auf triviale Formeln einigen: Die Chemie hat nicht gestimmt. Aber in der Liebe steckt ganz wesentlich eine massive Überforderung der Beteiligten.

Sie kommen in Ihren Büchern immer wieder auf Japan als das ganz Andere, Fremde zurück, so auch diesmal. Die zweite Hälfte des Romans spielt dort.

Muschg: Der erste Impuls liegt ganz lange zurück. Meine Halbschwester, 30 Jahre älter als ich, war Hauslehrerin bei einer schweizerisch-japanischen Familie. Als sie zurückkam, hat sie ein Kinderbuch geschrieben – es war das allererste Buch, das ich in meinem Leben gelesen habe. In dem Buch kam mein eigenes Elternhaus vor, und eines in Kyoto. Japan steht für das Fremde, man hat es sozusagen auch in sich, denn Identität ist nichts Festes, ich bin mit mir selbst nicht identisch. Ich bin überhaupt allergisch gegen das Wort Identität, weil damit auch politisch so viel Schindluder getrieben werden kann. Was ist eine schweizerische, was eine deutsche Identität? Oder eine europäische Identität? Europa hat sich immer wieder verändern lassen: die Germanen durch das Christentum, das Christentum durch die Aufklärung. Europäisch ist die Fähigkeit, sich fremde Dinge produktiv anzuverwandeln.

Von Europa zum Ruhrgebiet. Welchen Eindruck haben Sie bei Ihrer Jury-Reise in Sachen „Kulturhauptstadt“ gewonnen?

Muschg: Ich hatte vorher keine Ahnung, dass das Ruhrgebiet mein Favorit werden würde. Hier erscheint Kultur als fundamentaler Sachverhalt. Dieses ganze Gebiet hat sich neu erfinden müssen. Es ist ein erstaunlich waches Stück Deutschland. Die Menschen waren hier unglaublich erfinderisch. Kultur bedeutet ja nicht nur Theater oder Oper, sondern was man aus sich selber macht! Was das Ruhrgebiet jetzt zu stemmen versucht, das muss auch in Nordfrankreich oder in englischen Industriestädten geschehen. Man wünscht dem Ruhrgebiet so sehr, dass es gelingt. Da ertappe ich mich fast bei einer Art Liebesverhältnis.

Würde sich für die Akademie der Künste bei einem Regierungswechsel etwas ändern? Bundeskanzler Schröder hat Sie ja neulich zur „Einmischung“ in die Politik aufgefordert.

Muschg: Ja, dazu werden wir oft aufgefordert – bis wir es dann tun! Grundsätzlich wird sich wohl nicht viel ändern. Wir müssen weiterhin deutlich machen, dass Kunst kein Luxus, sondern Lebensmittel ist. Was mich am meisten beunruhigt, ist der zunehmende Druck des Marktes auf die Kultur. Da geht es oft nur noch um Neuheiten, Saisonartikel, Events. Übrigens fährt man als Künstler unter der CDU nicht schlechter. SPD-Regierungen sind nicht unbedingt kulturfreundlich. Aber die jetzige Kulturstaatsministerin Christina Weiss, die ja parteilos ist, die würden wir schon sehr vermissen.

(Der Beitrag stand am 25. Juni 2005 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)




Kulturhauptstadt 2010: Essen tritt offiziell an – Ruhrgebiet soll jetzt an einem Strang ziehen

Von Bernd Berke

Essen/Bochum. Eigentlich ging es „nur“ darum, welche Stadt mit ihrem Briefkopf für die Revier-Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt 2010 einsteht. Dennoch lagen die Nerven der beiden Kulturdezernenten Oliver Scheytt (Essen) und Hans-Georg Küppers (Bochum) gestern ziemlich blank, als die KVR-Verbandsversammlung zur Abstimmung schritt.

Noch bevor das Resultat verkündet wurde, sah man dem Mienen- und Gebärdenspiel der „Kontrahenten“ an, wie die Sache ausgegangen war. Küppers blickte ein wenig betrübt drein und nahm tiefe Trost-Züge aus seiner Zigarette, Scheytt hingegen schwoll an vor Stolz. „Natürlich bin ich ein bisschen enttäuscht“, bekannte Küppers später: „Aber jetzt ziehen wir den Karren gemeinsam.“ Oh, friedliche Kultur! Wenn etwa Schalke die Dortmunder Borussen schlägt, gibt es danach weitaus weniger verbalen Schmusekurs.

Bochum unterlag nur knapp

Essen (z. B. mit Weltkulturerbe Zollverein, Aalto-Oper und Folkwang Museum) hat also Bochum (Schauspielhaus, Jahrhunderthalle usw.) in der Vollversammlung des Kommunalverbandes Ruhrgebiet (KVR) mit 23 zu 20 Stimmen bei einer Enthaltung knapp distanziert. Bei einem Patt wäre gelost worden.

Ganz gleich, wie das Ergebnis zustande gekommen ist (Gerüchte wollten sogar von telefonischer Einflussnahme im Vorfeld wissen): Nun möchten beide Städte, möglichst im Verbund mit dem gesamten Ruhrgebiet, an einem Strang ziehen. Zunächst gilt es, die weiteren NRW-Bewerber Köln, Münster sowie den Kreis Lippe (um Detmold) auf die Plätze zu verweisen.

Insgesamt noch 16 deutsche Kandidaten im Rennen

So geht’s jetzt weiter: Bis zum 30. Juni wird die NRW-Landesregierung, beraten von einem hochkarätigen Fachgremium, ihre Entscheidung über den Bewerber aus dem Lande fällen. Dann führt der Weg politisch weiter bergauf: Das Bundesaußenministerium ist am Zuge, es bereitet die Entscheidung des Bundesrates vor. Ist klar, welche Stadt (oder Region) deutschlandweit den Vorzug genießt, so wird der Europäische Rat der EU wohl Ende 2005 darüber befinden. Fest steht jedenfalls: 2010 ist Deutschland mit einer Kulturhauptstadt an der Reihe. Insgesamt sind derzeit noch 16 Kandidaten auf dem Parcours – von Bremen und Lübeck bis Augsburg und Potsdam. Harte Konkurrenz.

Kosten-Horizont von 48 Millionen Euro

Beim Kommunalverband Ruhrgebiet (ab 1. Oktober 2004: RVR = Regionalverband Ruhr) wertet man die gestrige Abstimmung als „historisch“. Verbandspräsident Gerd Willamowski versprach, im Erfolgsfalle werde nicht nur Essen profitieren: „Die gesamte Region wird Spielfeld der Kulturhauptstadt sein.“

Willamowski betonte, dass eine Ernennung zur Kulturhauptstadt „ein riesiges Stadtentwicklungsprojekt“ bedeute – fast so wie (dem Revier entgangene) Olympische Spiele. Essen müsste, wenn es die Palme fürs Revier erringt, für die Jahre 2007 bis 2010 eigens insgesamt 6 Millionen Büro bereitstellen. Dezernent Oliver Scheytt hält dies für machbar. Hinzu kämen rund 12 Mio. Euro vom Regionalverband, (vielleicht) ebenfalls 12 Mio. Euro vom Land, 8 Mio. Euro vom Bund und 1 Mio. Euro aus EU-Töpfen. Macht 39 Mio. Euro. Da das gesamte Projekt auf 48 Millionen taxiert wird, sollen Sponsoren etwa 9 Mio. Euro aufbringen.

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Kommentar

Ein neues Ziel

Eitel Zuversicht herrschte gestern in Essen, weil die Kommune als „Bannerträger“ (so die Sprachregelung) für die Revier-Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2010 gewählt wurde. Von den wahrlich zahlreichen und gewichtigen Kandidaten aus anderen Landstrichen war da nur noch am Rande die Rede. Das Revier, so schien es, fasst überaus selbstbewusst ein neues, ein europäisches Ziel ins Auge. Salopp gesagt: Olympia war vorgestern, jetzt lautet die Parole eben: „Kulturhauptstadt“! Man darf sich auf spannende Debatten und eine hoffentlich faire Konkurrenz freuen.

Indem die Versammlung des Kommunalverbands Rühr (KVR) die Wahlentscheidung traf, bekam das Geschehen tatsächlich einen überörtlichen, regionalen Anstrich. Doch wir wollen nicht gleich wieder von der ominösen „Ruhrstadt“ sprechen.

Heikle Frage der Finanzierung

Es ist noch nicht heraus, wie sehr sich die anderen Gemeinden des Ruhrgebiets für die Bewerbung ins Zeug legen werden. Mit immerhin 12 Millionen Euro will der Kommunalverband (und künftige Regionalverband Ruhr) die Stadt Essen unterstützen, sollte sie sich denn bundesweit durchsetzen. Heikel wird es, wenn’s um das bei den Kommunen so knapp vorhandene Geld geht. Per Verbands-Umlage müssten auch jene Mitglieds-Städte besagte Summe mitfinanzieren, die vielleicht gar nicht viel vom Ertrag spüren würden.

Gibt es etwa „Spielverderber“?

Wenn KVR-Verbandsdirektor Gerd Willamowski schon jetzt verspricht, das gesamte Revier werde „Spielfläche“ der Kulturhauptstadt sein, so richtet sich der darin verborgene Appell weniger an die kleineren Revierstädte, sondern vorwiegend an Dortmund und Duisburg, die sich von Essen (und Bochum) ein wenig an den Rand gedrängt fühlen könnten. Hier wie dort glaubt man beim KVR noch vornehme Zurückhaltung zu spüren, was die Bewerbung angeht. Sollte es sich da etwa um „Spielverderber“ handeln?

Wohl kaum. Doch man wird aus Dortmunder, Hagener oder Duisburger Sicht gewiss fragen und sorgsam prüfen dürfen, ob die Veranstaltung die in Aussicht gestellte regionale Breitenwirkung entfaltet. In diesem Sinne: Glückwünsche nach Essen, Daumendrücken fürs Revier. Fürs ganze Revier.

                                                                                                                       Bernd Berke

 

 




Staunenswerte Fülle – das Revier im Zeichen der Kultur

Von Bernd Berke

Der alte, eigentlich etwas abgegriffene Slogan „Ruhrgebiet – Kulturgebiet“ hat sich am Wochenende mit ungeahntem Leben erfüllt. Fast kann man schon von Angebots-Überfülle sprechen.

Die Ruhrtriennale hat begonnen, Zehntausende waren bei der „Nacht der Industriekultur“ im ganzen Revier unterwegs, die Essener Zeche Zollverein wurde offiziell zum Weltkulturerbe erklärt. Und „ganz nebenbei“ eröffnete in der Essener Villa Hügel die fulminante Schau mit Barock-Stillleben.

In wenigen Tagen wird zudem Dortmund kulturell im Blickpunkt der Republik stehen, wenn vom 13. bis 15. September das Konzerthaus feierlich eingeweiht wird.

Da verblassen sogar Berlin und München

Derlei weithin ausstrahlende Aktivitäten haben nun auch die überregionale Presse von dern Qualitäten der Regio zwischen Dortmund, Hagen und Duisburg überzeugt. In der „Süddeutschen Zeitung“ erschien ein umfänglicher Artikel, der die Triennale und das Konzerthaus mit höchsten (Vorschuss)-Lorbeeren bedachte. Eine solche Philharmonie wie Dortmund, so klagte das Blatt, habe München nicht zu bieten. Auch die Tatsache, dass bei den Berliner Philharmonikern Simon Rattle als neuer Chefdirigent anfängt, werde neben Dortmunds neuem Haus verblassen.

Wer wollte auch direkt nach diesem prallen Revierkultur-Wochenende ins Mäkeln verfallen? Freuen wir uns erst einmal über Vielfalt ,und Lebendigkeit dieser Tage.

Die täglichen „Mühen der Ebene“

Beizeiten allerdings, wenn der Kartenverkauf der Ruhrtriennale nicht noch Höhenflüge erleben sollte, wird auch über das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu reden sein. Schlimmstenfalls wird die NRW-Landesregierung eine gewisse Standfestigkeit brauchen, um weiterhin die hohen Festival-Zuschüsse zu rechtfertigen. Hoffen wir, dass die Triennale nur den richtigen Anschub braucht, dann zum „Selbstläufer“ wird – und die bestehenden Bühnen zu ehrgeizigen Taten beflügelt.

Bei allem Regionalstolz muss zudem an die täglichen „Mühen der Ebene“ erinnert werden: an die oft missliche Lage der städtischen Theater. In Wuppertal herrscht ein rigider Sparkurs, in Dortmund drohen eines Tages vielleicht ebenfalls herbe Einschnitte. Kultur ist eben eine Daueraufgabe, nicht nur der Glanz einiger Wochenenden.

 




Bewerbung als „Kulturhauptstadt Europas“: Ruhrgebiet hat steinigen Weg vor sich

Von Bernd Berke

Im Westen. Das Revier strotzt auch kulturell vor Selbstbewusstsein. Wenigstens gilt dies für seine Verbandsfunktionäre. Etwa für Dieter Nellen vom Kommunalverband Rühr (KVR). Er schwenkte gestern in Essen ein Bündel Papiere und rief aus: „Hier habe ich erdrückende Zahlen und Fakten für die Kölner!“ Wie bitte?

Nun, beredet und in einem Grundsatzpapier fixiert wurde die Bewerbung des Ruhrgebiets um den Titel „Kulturstadt Europas“ fürs Jahr 2010. Und da konkurriert man mit der Domstadt (die WR berichtete).

„Als Region sind wir unschlagbar“

Doch die Kölner, da war man sich gestern im vom KVR moderierten Kreis der Revier-Kulturdezernenten einig, können wenig gegen die geballte Kraft einer ganzen Gegend ausrichten. Reinhard Frind, Kulturbeigeorndeter der Stadt Oberhausen, befand gar: „Als Region sind wir unschlagbar.“ „Als Region sind wir unschlagbar.“

Doch bis zur Entscheidung wird noch manches Gremium tagen müssen. Zuerst soll die Bewerbung in KVR-Arbeitskreisen gebilligt werden, dann will man sich langsam auf NRW-Ebene vorarbeiten, sprich: Die Düsseldorfer Landesregierung möge eine Empfehlung fürs Ruhrgebiet aussprechen. Dies könnte etwa 2003 der Fall sein.

Mit diesem Bonus versehen, müsste die Bewerbung (Name einer Stadt erforderlich) an die Bundesregierung weitergereicht werden, die auch mehrere deutsche Kommunen nominieren darf (Frist: 31. Dezember 2005). Das letzte Wort hat hernach der Europäische Rat.

Dezernenten geben sich optimistisch

Ein recht steiniger Weg, denn Frankfurt, München und Stuttgart zeigen auch schon Interesse. Doch die Kulturdezernenten des Reviers sind optimistisch. Zwar waren die Herren aus Dortmund, Duisburg und Hagen nicht anwesend, es wurde aber versichert, sie seien „mit im Boot“. Dieter Nellen: „Hagen ist mit seinem künftigen Emil-Schumacher-Museum ein Pfund, mit dem man wuchern kann.“

Die kleineren Städte wittern ebenfalls Morgenluft. Michael Makiolla, Kreisdirektor in Unna: „Allein hätten wir nie und nimmer die Chance, Kulturstadt Europas zu werden. Im Verein mit der Region schon.“

Triennale als ein Kernpunkt

Und die Kosten? Man wird halt noch viel darüber reden müssen, doch Harald Reimer (KVR-Fachbereich Europa) rechnet vor: 2005 sei Irland an der Reihe, die Stadt Cork habe gute Chancen und wolle dann 12,5 Mio. Euro für Kulturstadt-Belange bereitstellen, weitere 6,5 Mio. Euro könnten von der irischen Regierung kommen.

Ob solche Zahlen fürs Revier Aussagekraft haben, weiß kein Mensch. Doch Reimer kalkuliert schon jene vielen Millionen mit ein, die fürs Triennale-Festival unter Gerard Mortiers Leitung fließen sollen. Die Triennale, das zeichnet sich ab, dürfte ein Kernpunkt der Bewerbungs-Strategie werden.

Essens Dezernent Oliver Scheytt glaubt, dass man keine größeren Mittel „woanders abschöpfen“ müsse. Die bloße Bewerbung werde Kräfte freisetzen. Auch Bochums Dezernent Hans-Georg Küppers glaubt: „Das wird ein Sprung nach vorn.“




Noch ein Hut im Ring – Revier will „Kulturstadt Europas“ werden

„Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“ Nach diesem forschen Motto scheint man derzeit im Ruhrgebiet zu handeln. Man bewirbt sich kollektiv um alles, was nicht niet- und nagelfest ist.

Für die Olympischen Spiele des Jahres 2012 wirft man den Hut in den Ring. Nun soll die Region mit möglichst vereinten Kräften auch noch den Titel „Kulturstadt Europas“ anno 2010 holen. Wir erinnern uns: Kürzlich stand man an Ruhr und Emscher schon bereit, die „Loveparade“ kurzerhand von Berlin zu übernehmen.

Stets geht es dabei um den ganz großen Wurf, um „internationale Strahlkraft“ (NRW-Kulturminister Vesper über das künftige „RuhrTriennale“-Festival) oder am besten gleich um „Weltklasse“. Der immer etwas monströs wirkende Gedanke einer von Duisburg bis Dortmund reichenden „Ruhrstadt“, die angeblich mit Mega-Metropolen wie Berlin und New York vergleichbar wäre, dürfte häufig dahinter stecken.

Genugtuung und Skepsis

Man ist hin- und hergerissen zwischen Genugtuung und Skepsis. Wenn etwa, wie jüngst geschehen, eine Münchner Zeitung sich über Dortmunds vermeintliche Tristesse lustig macht, so war’s ja schön, dem Spott etwas entgegenzusetzen.

Doch allmählich fürchtet man um die Konzentration der Kräfte. Ist es wirklich so geschickt, immer „Hier!“ zu rufen, wenn ein Großereignis zu vergeben ist? Einfache Lebensweisheit: Wer alles will, steht nachher oft mit gänzlich leeren Händen da.

Die leidige Kostenfrage

Außerdem sollte man die Konkurrenz um die „Kulturstadt“-Ehren keinesfalls unterschätzen. Der Name Köln (Cologne) hat international erheblich mehr Klang als der jeder Revier-Kommune. Den Dom zu Köln kennen sie in ganz Europa, den in Essen wohl nicht. Dafür gibt es am Rhein nicht so viele kulturtaugliche Industriebauten und keine Triennale. Es wird also doch spannend.

Spannend könnte auch die Kostenfrage sein. Falls das Revier den Titel erringt, müssten die einzelnen Städte – weit übers übliche Maß hinaus – erhebliche Anstrengungen unternehmen, um kulturelle Bestände und Infrastrukturen auszubauen. Ob dann immer noch alle an einem Strang ziehen? Und wenn „wir“ nun Olympia bekämen und obendrein Kulturstadt Europas würden? Gar nicht auszudenken!

                                                                                                                     Bernd Berke




Das Revier soll leuchten – Pläne der Kultur Ruhr GmbH für die nächsten Jahre

Von Bernd Berke

Dortmund. Sage niemand. daß man bei der Kultur Ruhr GmbH keine Visionen hat: „Weltmusik vor der Haustür“, „inszenierte Landmarken“, allerlei Gesamtkunstwerke und zahllose kulturelle „Vernetzungen“ – ja, das alles und mehr hatte die Gesellschaft mit beschränkter Haftung im Gepäck, als sie jetzt im Dortmunder Harenberg City-Center mitteilte, wohin – bis übers Jahr 2000 hinaus – in Sachen Revierkultur „die Reise geht“. Nach rund eineinhalb Jahren Vorarbeit hat sich ein Kern von 18 größeren Projekten herausgeschält. Doch längst nicht alle sind wirklich schon spruchreif.

Prof. Karl Ganser, Aufsichtsratsvorsitzender der Kultur Ruhr GmbH, legt Wert darauf, daß man keine teuren Stars ins Ruhrgebiet einfliege. Vielmehr sollen alle Vorhaben aus der kulturellen Substanz der Region selbst hervorgehen. Subventionierte Häuser und freie Szene arbeiteten dabei endlich einmal Hand in Hand. Kennzeichen etlicher Pläne: Die Industrielandschaft werde direkt ins künstlerische Geschehen mit einbezogen. Und „Vernetzung“ ist (wie so oft) das gängige Zauberwort.

Ein Star kommt doch: US-Künstler Richard Serra („Terminal“-Stahlplastik am Bochumer Hauptbahnhof) soll die Schurenbach-Halde zwischen Essen und Gelsenkirchen als riesige Landschafts-Skulptur gestalten. Die Halde wird nach seinen Vorgaben gepflügt und dann mit einer Walzstahlplastik gekrönt. „Erhabene Ruhe“ soll der Ort sodann vermitteln – Beispiel für „Landmarken“-Projekte.

Dortmunder „U“ – ein „Ort der Ungewißheit, des Stillstands“

Auch Dortmund bekommt etwas ab. Die hiesige „Landmarke“ ist das „Dortmunder U“, weithin sichtbarer Leucht-Buchstabe über dem früheren Gelände der Union-Brauerei. Noch weiß niemand, was mit diesem Innenstadt-Areal geschehen soll. An diesem „Ort der Ungewißheit, des Stillstands“ (Ganser) werden etwa 25 Künstler noch im Sommer 1998 womöglich zukunftsträchtige Zeichen setzen. Hintergedanke: Künftige Investoren sollen animiert werden, mit der bedeutsamen Stätte nicht nur kommerziell, sondern auch kreativ umzugehen. Ähnliche Impulse könnte der künstlerische Zugriff auf den Förderturm der ehemaligen Zeche Königsborn in Unna geben. Hier befindet man sich aber erst in der Ideenphase.

Jede Menge Festivals vor Industriekulissen

Ein weiteres Projekt trägt den neudeutschen Arbeitstitel „Connected Cities“ und soll die Revierstädte mit noch nicht näher bezeichneten Performance- und „Netzaktionen“ virtuell verknüpfen. Umfangreiche Ausstellungen im Essener Ruhrlandmuseum sowie in den Industriemuseen sind gleichfalls vorgesehen. Zur Jahrtausendwende soll hier „ein letzter Rückblick“ auf die unvergleichliche Gestalt dieser Industrieregion gerichtet werden.

Hochfliegende Pläne auch auf dem klingenden Sektor: Ein 1999/2000 anstehendes Festival „Musik-Theater Revier“ soll E-Musik und Industriekulisse auf unerhörte Weise verschmelzen: Wagner-Töne im Gasometer, Kompositionen von Edgar Varèse in einer Kokerei, geistliche Musik in alten Fabriken. Außerdem sollen Stücke für Maschinen geschrieben werden, z. B. eine Sinfonie für Sirenen…

Weitere Projekte der Kultur Ruhr GmbH (Tochter des Kommunalverbands Ruhrgebiet, des Vereins Pro Ruhrgebiet und der IBA Emscherpark) seien im Schnelldurchgang genannt: Festival mit „Weltmusik vor der Haustür“, möglichst bestritten von Revierbewohnern aus allen Ländern, „Jazz-Podium Ruhr“, „Internationales Chor-FestivaI“, „Fortissimo“ (gleichsam schwimmende Musik auf Schiffen, Rhein-Herne-Kanal), ein „Don Quichote“ als vielsprachige Euro-Theaterproduktion und „Ruhrwerk“, ein alle Künste vereinendes Bühnen-Projekt, frei nach einem Einfall von Bert Brecht.

NRW-Kulturministerin IIse Brusis war jedenfalls von der Ideenflut beeindruckt. Das alles werde dem Revier „neuen drive“ geben, befand sie.




Kindheit mit Lederhosen und flotten Seifenkisten

Von Bernd Berke

Ja, genau! So hat es ausgesehen, das Gesicht jener Jahre. So haben wir damals als Kinder dreingeschaut: reichlich brav, höchstens mal verhalten frech – und noch ganz bescheiden gekleidet. Kein Gedanke an Markenware. Die kurze robuste Lederhose war schon ein ziemlicher Luxus. Wie hat man sie später gehaßt. Und irgendwann denkt man dann doch mit einem Anflug von Rührung an solche Zeichen der Dürftigkeit.

Es war die Zeit, in der so viele Jungen noch Klaus, Peter oder Wolfgang hießen – und die Mädchen vorzugsweise Barbara, Petra, Gisela oder Monika. Die einen wurden noch zum Höflichkeits-„Diener“ angehalten, die anderen trugen Zöpfe oder Pferdeschwänze und machten artige Knickse. Wie lang ist das her, eine versunkene Lebenswelt. Es waren die 50er Jahre, deren biographische Verarbeitung in letzter Zeit eine ganze Bücherflut ausgelöst hat. Immer mehr Mosaiksteinchen werden zum Bild der Adenauer-Ära zusammengesetzt.

Auf schwer beschreibbare Weise hängt man ja, wenn man damals aufgewachsen ist, mit etlichen Herzfasern an all diesen Anblicken und Gestalten, eben am Repertoire jener Jahre. Mit Erich Borrmanns Bildband „Kindheit im Ruhrgebiet in den 50er Jahren“ rückt einem dieses ganze Inventar noch näher, weil einem eben auch noch die Gegend vertraut ist.

Keinerlei Zeitkritik, nur pure Nostalgie

Nun gut, nicht alle Bilder haben die gleiche Qualität, aber sie vermitteln durchweg Zeitgeist. Man hätte sich zudem etwas weniger altbackene Begleittexte gewünscht, sie entstammen wirklich noch dem muffigen Geist der Fünfziger. Keine Spur von gedanklicher Durchdringung oder gar von Zeitkritik, nur pure Nostalgie und Idyllik. Trotz allem: Man hätte das Buch gern mindestens doppelt so dick, denn es läßt sich nun mal darin schwelgen.

Als Kind (Jahrgang‘ 52) habe ich noch ein paar Zipfel jener Zeit erlebt. Und es kommt mir vor, als hätte ich all diese Gesichter und Momente in dem Buch schon mal gesehen – den kleinen Kohlenschaufler mit Vaters übergroßem Hut auf dem Kopf; die Schulklasse, die in braven Zweierreihen ins Gebäude trottet und sich dort hinter die schäbigen Bänke mit den Tintenfäßchen klemmt; die Turnstunde mit diesen latschigen Gummisohlen-Sportschuhen; die Abschiedsszenen mit Eltern bei der Kinderlandverschickung (ja, so hießen damals gewisse Ferienfahrten); die barfüßigen Mädchen beim Seilchenspringen, andere beim Tausch von glitzernden Kleebildchen; die kleinen Schumis von damals in ihren tollen Seifenkisten. Und und und.

Seltsame Vorstellung, daß alle diese Kinder heute zwischen 40 und 50 Jahre alt sind. Sieht man solche Bilder, so ahnt man vage, was Menschen dieser Generation unterschwellig miteinander verbindet. Eine aus gleichen Erfahrungen gewachsene Art von Verstehen, über etliche individuelle Unterschiede hinweg. Heute verläuft die ganze Sache wohl ungleich diffuser.

Abenteuer zwischen Ruinen – Übung fürs Konsumleben

Der Weltkrieg war noch nicht allzu lang vorbei. Auf den Straßen sah man noch so viele Verwundete und Versehrte, denen Arme oder Beine fehlten. Wir tobten derweil, bis in die frühen 60er Jahre hinein, auf Trümmer- und Ruinengrundstücken herum. Und die Baustellen des Wirtschaftswunders wurden gleich fröhlich mit in Beschlag genommen. Welch ein Abenteuer!

In diesem Buch begegnen sie einem wieder: Kinder, die in Schutt und Asche der Revierstädte von Unna bis Bottrop spielten – anfangs ganz ohne industriell gefertigte Hilfsmittel und daher notgedrungen einfallsreich. Schon der Tretroller war ja ein begehrtes Ding. Auch Fernsehen hatte kaum jemand, das kam erst ein Paar Jährchen später. Also ging’s nach der Schule zum Straßenfußball auf dem Kopfsteinpflaster. Heute bin ich Uwe Seeler – und ihr?

Das Ruhrgebiet, auch dies kann man den Fotos entnehmen, war damals einerseits noch viel ländlicher, andererseits deutlich von der Schwerindustrie geprägt. Eine ganz spezielle Mischung, wie es sie sonst nirgendwo gab.

Der Dortmunder Verkehrskindergarten, in dem Fahrräder und Tretautos streng regelgerecht herumkurvten, war hingegen schon ein Vorbote kommender Motorisierungs-Konjunktur. Es muß ungefähr die Zeit gewesen sein, als die Jungen das Autoquartett entdeckten. Exakt so hitzig vertieft wie diese drei, die auf Erich Borrmanns Foto die PS-Zahlen und Höchstgeschwindigkeiten gegeneinander ausspielen (kleine Übung fürs spätere Konsumentenleben), müssen wir wohl auch dagehockt haben. Da fühlt man sich fast, als wäre man im Bild drinnen – und kommt sich nach diesem Augenblick der imaginären Verjüngung ein kleines bißchen älter vor.

Erich Borrmann: „Kindheit im Ruhrgebiet in den 50er Jahren“. Wartberg Verlag, 34281 Gudenberg-Gleichen, 64 Seiten Großformat, Schwarzweiß-Fotos, 29,80 DM.

In gleicher Ausstattung im selben Verlag: Erich Borrmann „Dorfleben am Hellweg in den 50er Jahren“. 29,80 DM.

(Der Beitrag stand in der Wochenendbeilage der Westfälischen Rundschau)




Im Gasometer Oberhausen die Geschichte des Reviers erleben – Ausstellung „Feuer und Flamme“ mit rund 1000 Exponaten

Von Bernd Berke

Möchten Sie’s erleben, daß Ihnen einmal das halbe Ruhrgebiet zu Füßen liegt? Da gibt es mindestens zwei Möglichkeiten: Hinauf auf den Dortmunder Florianturm – oder mit dem gläsernen Fahrstuhl (nur für Schwindelfreie) zum zehnten Stock des Gasometers in Oberhausen.

Welch ein Fernblick bei klarem Wetter! Noch schöner: Im Bauch dieses stählernen Riesen gibt es – unter dem Titel „Feuer und Flamme“ – die große Ausstellung zur Geschichte der Region.

Die Schau „Feuer und Flamme“ war in fast identischer Zusammenstellung 1994 zu sehen und hat 200 000 Besuche? angelockt. Dann war aus konservatorischen Gründen Winterpause. Und nun ist alles, alles wieder da. Die Ausstellung ist mit rund 1000 Exponaten so umfassend und interessant, daß man sie ausgiebig besuchen sollte.

Beim längeren Aufenthalt empfiehlt es sich, den 117 Meter hohen Giganten mit passender Kleidung zu betreten: Ist es draußen eine Zeitlang kalt gewesen, friert man drinnen erst recht. Also: Jacke mitnehmen. Umgekehrt ist es bei einer Wärmeperiode. Dann heizt sich das Innere des Gasometers alsbald mächtig auf.

Und was gibt es zu sehen? Man kann beispielsweise einen Streifzug durch das Revier von vorgestern unternehmen, als es noch Wald- und Wiesenlandschaft war. Eine komplette Bahnfahrt von Dortmund bis Oberhausen per Videofilm ist ebenso möglich wie das Schwelgen in der Vereinshistorie von Schalke 04 und des gerade überschwenglich gefeierten neuen Deutschen Meisters Borussia Dortmund.

Im Mittelpunkt steht aber die schwerindustrielle Phase mit Kohle, Stahl und Eisenbahn. Hier überwältigt nicht nur die Einzelgröße mancher Ausstellungsstücke, sondern auch die Gruppierung: Da sieht man eben nicht nur einen Preßluft-Abbauhammer, sondern gleich ein ganzes „Rudel“. Selbst ein so banales Ding wie ein Ascheeimer wird zum ästhetischen Ereignis, wenn man 250 Exemplare so arrangiert findet wie hier.

Auch die „Klassenkämpfe“ (Titel einer Sektion) im Revier werden breit dargestellt – von den großen Bergarbeiterstreiks um Lohn und Brot bis zur Entschärfung der Lage durch Konsum für breitere Schichten.

Weitere Abteilungen zeigen Dokumente aus beiden Weltkriegen, zur NS-Zeit und zur Judenverfolgung im Ruhrgebiet. Besonders erschütternd ist es zu sehen, was in vertrauter Nähe geschehen ist. So zeigt ein heimlich aufgenommenes Foto jüdische Bürger, die auf dem Dortmunder Eintracht-Sportplatz zur Deportation zusammengetrieben wurden.

Rund um den Gasometer, nahe den Gestaden von Emscher und Rhein-Herne-Kanal, läßt sich der zuweilen brachial betriebenen „Umbau“ des Reviers idealtypisch besichtigen. Da gibt es einerseits weitläufige und schäbige Industriebrachen, andererseits wird hier mit erheblichem Aufwand die umstrittene „Neue Mitte Oberhausen“ aus dem Boden gestampft. Und im Schatten des Gasometers liegt die vorbildlich erhaltene Grafenbusch-Siedlung. Die Bewohner dieser Straßenzüge leiden allerdings unter dem Andrang der Ausstellungsbesucher. Daher sollte man auf jeden Fall die ausgeschilderten Parkplätze ansteuern und sich nicht noch näher mit dem Wagen an den Gasometer heranpirschen wollen.

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Tips und Informationen zum Gasometer

  • „Feuer und Flamme – 200 Jahre Ruhrgebiet“ im Gasometer Oberhausen (unübersehbar an der A 42. Abfahrten OB Osterfelder Straße oder OB-Zentrum). Kostenloser Parkplatz Am Kaisergarten, Essener Straße; weiterer Parkplatz am Gasometer kurz vor der Fertigstellung. Haltestelle Schloß Oberhausen).
  • Ausstellung bis 15. Oktober, täglich 10 bis 20 Uhr. Eintritt: Erwachsene 9 DM (ermäßigt 6 DM), Familien 15 DM. Katalog 29,80 DM – Infos über Telefon 0208 / 63 35 38 (Ausstellungsbüro am Gasometer).
  • Auch in der direkten Umgebung des Gasometers kann man etwas unternehmen: Im Kaisergarten (schräg gegenüber; rund um das sehenswerte Schloß Oberhausen, das regelmäßig Kunstschauen bietet) läßt es sich herrlich spazieren. Auf diesem Gelände befindet sich auch ein Tiergehege. Aber man muß nicht einmal die Straßenseite wechseln: Ein Biergarten am Gasometer lädt zum Verweilen ein, und ganz in der Nähe gibt es ein idyllisches Bootshaus, man gleichfalls Erfrischungen zu sich nehmen kann.



Kritiker-Clan ist sich einig: Manche Theater im Revier gibt’s gar nicht

„Ruhrgebiet – Randgebiet“. So könnte der Negativ-Slogan zur neuen Kritikerumfrage der Fachzeitschrift „Theater heute“ lauten. Denn bei der Frage nach den besten Leistungen der letzten Saison existiert das Revier praktisch nicht.

Nur Karsten Schiffers Bochumer Produktion „Brennende Finsternis“ wird im Jahresheft mehrfach lobend erwähnt – und das wohl auch nur, weil sie beim Berliner Theatertreffen zu begutachten war. Eine Produktion mit Schauspielschülern als einzige Zierde einer ganzen Region. Das ist eine schallende Ohrfeige für alle hiesigen Theatermacher.

Schlimmer noch: In einem Extra-Beitrag über die NRW-Theater werden Dortmund, Essen und das Westfälische Landestheater gleich völlig übergangen. Sind es Phantom-Bühnen? Da kann Roberto Ciulli (Mülheim) beinahe noch von Glück sagen, denn seine Arbeit wird immerhin als Ärgernis zur Kenntnis genommen. Und über Frank-Patrick Steckel (Bochum) wird wenigstens festgestellt, daß bei ihm die Luft ‚raus sei. Glückwunsch!

Die Umfrage-Tabellen weisen das Deutsche Schauspielhaus zu Hamburg als Spitzenreiter der theatralischen Bundesliga aus. Tusch für die Nordlichter! Doch schaut man sich die Listen genauer an, ahnt man Verabredungen. Der Kritiker-Clan ist sich weitgehend einig.

Die ehedem hochgejubelten Münchner Kammerspiele etwa hat man nahezu einmütig verbannt. Dafür wird eine Kinderei wie Karin Beiers Düsseldorfer „Romeo und Julia“-Inszenierung vielstimmig zum Welttheater erklärt. Und zwei Herrschaften zeigen sich eitel angetan von einer absoluten Rarität in Londoner „Theatre de Complicité“. Ach, würden sie sich doch einmal in wirklich exotische Weltwinkel trauen. Ins Ruhrgebiet zum Beispiel.




„Starkes Stück Mord“: Revier ist Krimiland – Autoren aus ganz Deutschland kommen zur „Criminale“

Von Bernd Berke

Im Westen. Früher war das Ruhrgebiet vor allem Schauplatz sozialkritischer Literatur, heute ist es Krimiland. Nur folgerichtig. daß sich rund 80 literarische Mord-Spezialisten aus ganz Deutschland diesmal im Revier treffen.

Erstmals hat die Autorenvereinigung „Das Syndikat“ nicht öde Büchereien als Tagungs- und Lesungsorte ausgesucht. Auf Einladung des Sponsors IBA (Internationale Bauausstellung Emscherpark) kommt man vom 25. bis 28. Mai zur „Criminale ’94“ in Zechen und Industriehallen zusammen.

Autor und Mitorganisator Walter Wehner: „Es herrscht dort eine Atmosphäre, bei der man literarisch kaum noch etwas bieten müßte. Dreht man nur das Licht aus, ist es schon wie im Krimi.“ Sein Kollege Reinhard Junge befindet gar, das Ruhrgebiet entfalte womöglich die größten kriminellen Aktivitäten in ganz Europa. Woran er wohl dabei denkt?

Natürlich soll in Bochum, Gelsenkirchen, Essen und Duisburg das Grusel-Ambiente den Autoren nicht die Worte rauben. Literarische Qualität darf’s schon zusätzlich sein. Der Abend „Ein starkes Stück Mord“ bleibt dem Revierkrimi vorbehalten. Diesen Begriff hören Regionalmatadoren wie Leo P. Ard oder Reinhard Junge übrigens nicht gern. Man spreche ja auch bei Edgar Wallace nicht von London-Krimis.

Lust auf literarische Verbrechen machen schon Veranstaltungstitel, etwa die femininen Meucheleien „Frauen morden einfach besser“, moderiert von der Dortmunderin Sabine Deitmer („Bye-bye, Bruno“) oder Euro-Varianten wie „Die Leiche am Deich“ (Niederlande) und „Gift im Baguette“ (Frankreich). Europa stirbt, es lebe Europa.

Den Schlußpunkt setzt am 28. Mai die Verleihung des mit 10.000 DM höchstdotierten deutschen Krimi-Preises. Der nach dem Schweizer Autor benannte „Glauser“ soll – wie üblich – in kleinen, nicht fortlaufend numerierten Scheinen ausgezahlt werden.

Programm-lnfos: 0234/772275 oder 0209/1703-0.

 




„Tegtmeier“ lebt nicht mehr – Ruhrgebiets-Komiker Jürgen von Manger mit 71 Jahren in Herne gestorben

Von Bernd Berke

Für alle Auswärtigen war er die idealtypische Verkörperung des Ruhrgebiets-Kumpels: Jürgen von Manger, der mit 71 Jahren in Herne gestorben ist, erfand 1962 seine Figur „Adolf Tegtmeier“ – und verschmolz nahezu mit dieser Rolle.

Landauf landab verbinden die Menschen das Revier mit seinen Auftritten und glauben zu wissen, wie die Leute hierzulande reden. Was „Tegtmeier“ von sich gab, war allerdings niemals echtes Revier-Deutsch, sondern ein Kunstdialekt.

Tegtmeier war jener „kleine Mann“ von der Straße, der sich freilich bildungsbeflissen gab, sich möglichst gepflegt ausdrücken wollte – und dabei immer wieder in arge Sprachnöte geriet. Komischer Kontrast: Gerade wenn ihm eigentlich die Worte fehlten, war dieser Tegtmeier höchst mitteilungsfreudig. Und er hätschelte seine gesammelten Vorurteile, als seien es Weltweisheiten.

Mit Schiller trieb er besonders viel Schabernack

Besonders am hohen und pathetischen Ton eines Friedrich Schiller konnte sich dieser Tegtmeier regelrecht aufreiben. Unvergessen sein Bericht von einer „WaIlenstein“-Aufführung („Dat is von dem, der auch Schillers Räuber geschrieben hat“). Ähnliche Wirkung erzielte er mit eigenwilligen Deutungen von „Maria Stuart“ und ..Wilhelm Teil“.

Tegtmeier hatte natürlich auch das Patentrezept gegen jeden Bildungsballast parat: „Bleibense Mensch'“ empfahl er stets. Mit anderen Worten: Nur nicht zu weit abheben, alles halb so hoch hängen. Und das war nun wiederum ganz nach Art des Menschenschlags im Ruhrgebiet.

Jürgen von Manger stammte jedoch gar nicht aus dem Revier, er wurde am 6. März 1923 in Koblenz geboren. Seine Schulzeit erlebte er dann allerdings bereits in Hagen, wo er das Humanistische Gymnasium besuchte und im Jahr 1941 Abitur machte. Der Sohn eines Staatsanwalts studierte von 1954 bis 1958 in Köln und Münster Rechtswissenschaften, hatte aber zuvor schon erste Bühnenerfahrungen gesammelt, zunächst als Statist.

Nach einer soliden Schauspiel- und Gesangsausbildung wirkte er an den Bühnen in Hagen (bis 1947), Bochum (1947 bis 1950) und Gelsenkirchen (1950 bis 1963). Dabei spielte er auch unter dem legendären Bochumer Theaterchef Saladin Schmitt.

Die Markenzeichen gepflegt

Jürgen von Manger bekam im Theater zwar mitunter einige ernste Rollen, war aber schon bald als Spezialist für das Fach „Charakter-Komik“ gefragt.

Wie jeder bekannte Komiker, so pflegte auch Jürgen von Manger seine Markenzeichen. Da waren Schnauzbart und Kappe (die er angeblich wegen seiner „Maläste mitte Ohren“ trug), der immer irgendwie schiefgestellte, die Buchstaben geradezu genüßlich-quälerisch mahlende Mund, der so recht ahnen und mitfühlen ließ, wie Tegtmeier nach Worten rang, wenn er uns Gott und die Welt nach seinem Strickmuster erklären wollte; da war das listige Blinzeln unter den buschigen Augenbrauen, und da waren schließlich die immer wiederkehrenden Formeln und Floskeln wie das berühmte „Also äährlich!“

Hinter der etwas biederen Maskierung entfalteten sich manchmal ganz schön makabre Gedanken, zum Beispiel, wenn Jürgen von Manger einen seiner bekanntesten Sketche zum besten gab: den vom „Schwiegermuttermörder“. Dieser Mörder („Da hab‘ ich se gesäächt“) war weder teuflisch noch reumütig, sondern schilderte ganz beiläufig die Einzelheiten seiner Tat, so als gehe es um das Selbstverständlichste von der Welt. Es war übrigens eines der allerersten „Stücksken“ von Manger, mit dem er eigentlich nur die Wirkung beim Publikum testen wollte. Sie war durchschlagend, und er kam von der Figur nicht mehr los.

Makabre und peinliche Situationen

Manger ließ Tegtmeier fortan in alle möglichen und unmöglichen peinlichen Situationen geraten – von der Fahrschulprüfung („Hier hat die Omma Vorfahrt“) bis ins Eheinstitut (wo er eine Dame „mit dicke Oberaahme“ suchte), von der Delinquentenzelle bis in den Lehrgang für Unteroffiziere: „Womit wäscht sich der Soldat? – Mit Seife, Herr Unteroffizier! – Nein, mit nacktem Oberkörper.“ Tegtmeier geriet jedenfalls immer vom Regen in die Traufe, stolperte von einer Kalamität in die nächste. Doch er wurstelte sich immer irgendwie durch.

Großen Anklang fanden nicht nur Mangers insgesamt zwölf Langspielplatten, sondem auch seine Fernsehreihen wie zum Beispiel „Tegtmeiers Reisen“ mit gelegentlich hintersinnigen Plaudereien an den Orten des Massentourismus, wo er auch schon mal einen besonders schönen Kartoffelsalat und Übernachtungen in Jugendherbergen empfahl.

Im August 1985 erlitt Jürgen von Manger einen schweren Schlaganfall und war seither halbseitig gelähmt. Auch das Sprachzentrum wurde in Mitleidenschaft gezogen. Tapfer kämpfte er gegen die Krankheit an und hatte sogar schon bald wieder Pläne für neue Auftritte. Doch er mußte die Pläne aufgeben. Er hat sich nie wieder ganz erholt. Zuletzt lebte der Opern- und Antiquitäten-Kenner sehr zurückgezogen mit seiner Frau Ruth in Herne.




In der Bundesliga des Theaters spielt das Ruhrgebiet nicht mit

Von Bernd Berke

Allherbstlich wird sie mit Spannung erwartet: die Jahresumfrage des Magazins „Theater heute“. Welche Sprechbühnen gehören in die „Bundesliga“, wer steigt ab, wer steigt auf? Geht es nach dem Urteil der befragten 40 Kritiker, so war es in der letzten Saison um die Theater des Ruhrgebiets so schlecht bestellt wie lange nicht mehr.

Zwar verteilt man bei „Theater heute“ noch keine symbolischen Masken wie Kochlöffel, doch man ist der Hitlisten-Manie immerhin so weit verfallen, daß man arglos „Die Sieger“ ausruft. Bester Schauspieler: Jürgen Holtz (keineswegs nur als „Motzki“); beste Schauspielerin: Kirsten Dene (an Peymanns Burgtheater); bester Regisseur: Luc Bondy. Frank Castorfs Berliner Volksbühne steht als „Theater des Jahres“ auf Platz eins. In dieser Rubrik (Gesamtleitung einer Bühne) mochte nur noch ein Unverdrossener überhaupt ein Revier-Theater nennen – ein einsames Stimmchen erhebt sich für Roberto Ciullis Mülheimer Theater an der Ruhr. Das war’s dann auch schon.

Ansonsten taucht die Region nur mit ganz wenigen Einzelleistungen auf. In der Sparte „Beste Inszenierungen“ wird, als revierweit einzige, immerhin viermal Jürgen Goschs Bochumer Handke-Einrichtung „Die Stunde da wir nichts voneinander wußten“ nominiert. Die Tat eines Gastregisseurs also, während man z.B. den Namen des Bochumer Noch-Schauspielchefs Frank-Patrick Steckel vergeblich sucht. In Sachen Bühnenbild/Kostüme werden immerhin Andrea Schmidt-Futterer, Dieter Hacker und Kazuko Watanabe für Bochumer Produktionen erwähnt.

Noch finsterer sieht es offenbar bei den Schauspielern aus. Nur ein Name aus dem gesamten Ruhrgebiet taucht überhaupt auf, und auch das nur einmal: Matthias Kniesbeck (als „Othello“ in Oberhausen).

Gnädigerweise hat man das Revier wenigstens in der Spalte „Beste/r Nachwuchskünstler/in“ nicht ganz vergessen. Und hier ist denn auch, neben der Bochumer Schauspielerin Judith Rosmair, endlich und erstmals Dortmund vertreten, freilich durch die Regisseurin Amelie Niermeyer (für ihre „Lysistrata“), die man leider längst nach München hat ziehen lassen.

Tja, warum ist Frau Niermeyer wohl an die Isar gegangen? Wohl auch, weil sie dort überregional eher wahrgenommen wird als in Dortmund. Denn die Nichtberücksichtigung im Jahrbuch von „Theater heute“ hat nicht immer mit Mangel an Qualität zu tun, sondern vielfach damit, daß die 40 Kunstrichter die Abstecher gescheut haben. Sprich: Was sie nicht kennen, können sie auch nicht nennen. Was bleibt? Immerhin zwei Zukunftshoffnungen: die kommende Ära Leander Haußmann in Bochum und Jürgen Bosse in Essen.




Nostalgie und brauner Zucker – Musical-Gastspiel in Recklinghausen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Der Broadway verläuft mitten durchs Ruhrgebiet: Zumindest am vergangenen Wochenende schien es so: „Cabaret“ in Dortmund, „Bubbling Brown Sugar“ in Recklinghausen – und in Bochum dampft unverdrossen der „Starlight Express“. Musicals allerorten in Ruhr Town.

Im Recklinghäuser Festspielhaus erlebte man zwar „nur“ das dreitägige Gastspiel im Zuge einer Europa-Tournee, dafür aber ein extrafeines. Der „Brodelnde braune Zucker“ ward in den Niederlanden angerührt und zur furiosen Mélange aufgekocht. Keine Original-Broadway-Produktion also, aber besetzt mit vielen Darstellern von der New Yorker Amüsiermeile.

„Bubbling Brown Sugar“ unternimmt eine Reise in die große Zeit des schwarzen Viertels Harlem. Die nur notdürftig mit Handlungsfädchen verknüpfte Nummernrevue führt vor allem durch die tosenden Nightclubs der 20er und 30er Jahre. Ausgiebig läßt sie Jazz- und Bluesklassiker aus dieser Ära wiederaufleben. Duke Ellington ist sozusagen der Schutzheilige.

Nostalgie ist natürlich mit im Spiel. Einige ältere Leute, die jene goldene Epoche noch miterlebt haben, sind die leicht wehmütig gestimmten Animateure auf der Fahrt ins schwarze Lebensgefühl, das sich hier zumal in unbändiger Freude an swingenden Rhythmen äußert. Derlei Freude steckt an, gerade weil sie sich ein wenig naiv gibt.

Regisseur und Choreograph Billy Wilson inszeniert ohne überflüssigen Aufwand. Eine einfache Showtreppe und geschickte Lichtführung reichen aus, um Sänger und Tänzer zur Geltung kommen zu lassen.

Die 17köpfige Company erweist sich als eine Art „Dream Team“ nach Art von US-Basketballern: Jedes Zuspiel kommt an und wird traumhaft sicher verwandelt. Und sei alles noch so hart erarbeitet, man läßt sich nichts anmerken. Keep Smiling: Strahlend lächeln sie noch bei der schwierigsten Ton- oder Schrittfolge. Auch musikalisch (Bandleader: Steve Galloway) erhebt sich die Darbietung über jeden Zweifel. So überzeugt man auch Musical-Muffel.

Als Top-Star des Abends war Kimberly Harris angekündigt. Tatsächlich machte sie ihre Sache als „Young Irene“ prachtvoll. Doch eine andere war eindeutig Liebling des Publikums: Capathia Jenkins als stattliche „Gospel Lady“. Ihr Können und ihr hinreißendes Temperament würde man liebend gern auch bei einem Soloabend bewundern.




Literaturhaus ist im Ruhrgebiet noch ein Luftschloß

Von Bernd Berke

Gladbeck/Unna. Berlin hat eins. Hamburg hat eins. Frankfurt hat eins. Und dann ist da noch jene Metropole namens Ruhrgebiet mit ihren rund fünf Millionen Einwohnern: Sie hat keins. Nämlich kein Literaturhaus als Zentrum für Autoren und Leser.

Das Thema, schon seit vielen Jahren hin und her gewälzt, gerät derzeit mal wieder verstärkt in die Diskussion. Bei der Jahresversammlung des in Gladbeck ansässigen „Literaturbüros Ruhrgebiet“ stand es jetzt ganz oben auf der Tagesordnung. Dort war man sich schnell einig: Das Revier braucht unbedingt ein Literaturhaus. Doch einstweilen, so hieß es, sei es noch ein „Luftschloß“.

Weit weniger zögerlich gab sich ein Mann, den man als Mutmacher nach Gladbeck gebeten hatte. Uwe Lucks, Geschäftsführer des als vorbildlich geltenden Hamburger Literaturhauses, servierte den Literaturförderern des Reviers eine ganze Reihe praktischer Tipps aus echt hanseatischem Kaufmannsgeist. In Hamburg, so Lucks, habe man das Literaturhaus bewußt kommerziell aufgezogen. Man erziele nennenswerte Einnahmen aus der Weitervermietung, sogar für Hochzeiten im stilvollen Rahmen der alten Villa. Gerade deshalb bleibe der Kernbereich, die Literatur, von Zwängen unberührt. Man könne sich also auch Minderheitenprogramme und Flops erlauben. Zu den rund 80 eigenen Veranstaltungen im Jahr zählen hochkarätige Lesungen, Vortragsreihen und Diskussionen. Außerdem versucht man, die Tradition von Literatencafés wiederzubeleben.

Ähnliches schwebt auch den Leuten im Revier vor. Doch im Gegensatz zu ihnen hat der Hamburger Lucks gut Lachen, denn auf dem Weg über eine Stiftung spendete der Hamburger Verleger Gerd Bucerius Millionenbeträge für das dortige Literaturhaus. Lucks‘ bündiger Rat: „Präsentieren Sie den Politikern ein Wunsch-Haus, präsentieren Sie ihnen Mäzene und ein vernünftiges Konzept.“ Mit reichlich „Vitamin B“ (sprich: Beziehungen) werde sich der Rest dann rascher finden.

Verstreute Autorenszene, keine großen Belletristik-Verlage

Leicht gesagt, schwer getan. So optimistisch sich das Hamburger Beispiel auch anhörte – im Vorstand des Gladbecker Literaturbüros wurden Bedenken laut. Im Revier sei die Autorenszene verstreut, es gebe hier keine großen Belletristik-Verlage, und die Kirchturmpolitik der hiesigen Städte stehe einer zentralen Einrichtung wie einem Literaturhaus entgegen. Schwerlich werde eine Stadt zahlen, wenn das Haus im Nachbarort stehe. Mit Wohlgefallen hörten die Gladbecker vom entschieden unternehmerischen Denken in Hamburg, denn ein Literaturhaus im Revier solle keine Kuschel-Herberge für frustrierte Autoren werden.

Unterdessen versucht man beim Westfälischen Literaturbüro in Unna, das Thema Literaturhaus auch im östlichen Revier „warmzuhalten“. Man hat der Regionalkonferenz (Dortmund, Hamm und Kreis Unna) ein Konzept vorgelegt, das im Herbst auf politischer Ebene behandelt werden soll. Auch ein passendes Gebäude (Fachwerkhaus in Unna) hat man bereits ausgesucht.

Monika Littau, Literaturberaterin im Büro Unna: „Eigentlich hat ja Dortmund hier die lebendigste Literatenszene.“ Doch Unna scheine sich mehr ins Zeug zu legen als der große Nachbar. Falls es denn wahr wird, will man auch hier (nach Hamburger Modell) Mieteinnahmen erzielen, eine Buchhandlung und einen örtlichen Verlag mit aufnehmen. Vielleicht, so Frau Littau, könne dann endlich die ständige Abwanderung von Revierautoren in verlagsreiche Großstädte gebremst werden.




Wie das Ruhrgebiet die Kriegsjahre erlebte – Ausstellung zu Alltags-Erfahrungen im Essener Ruhrlandmuseum

Von Bernd Berke

Essen. Man kann hier in einem typischen Wohnzimmer der 40er Jahre Platz nehmen. An der Wand prangt ein Propaganda-Teller aus Meißner Porzellan; die Inschrift feiert die „Winterschlacht 1941/42″. 8-mm-Stummfilme, die man „damals“ kaufen konnte, schnurren ab: gespenstische Zusammenschnitte aus den Wochenschauen, ohne das markige Wortgetöse. Ein paar Schritte weiter lessen sich per Volksempfänger „Feindsender“ empfangen. Für alle, die es nur hören wollten, berichtete die Londoner BBC bereits 1942 ausführlich über den Massenmord an Juden.

Mit seiner Ausstellung „Über-Leben im Krieg“ versucht das Essener Ruhrlandmuseum Kriegserfahrungen im Revier anschaulich zu machen. Es gibt da natürlich Themenbereiche, die sich jeder noch so überlegten musealen Darstellung entziehen. So mutet es verzweifelt hilflos an, die Deportationen anhand eines nagelneuen, aber auf „Reichsbahn“ getrimmten Güterwaggons zu verbildlichen, in dessen Innerem die Stimme von Ida Ehre Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ spricht.

Dennoch hat die Ausstellungsmacherin, Dr. Mathilde Jamin, mit ihrem Team generell einen richtigen Weg eingeschlagen. Ganz bewußt hat sie auf tausendfach abgenutzte Bilder und Dokumente sowie auf Embleme der Nazi-Diktatur verzichtet. Versatzstücke wie Fahnen und Hitlerbilder gibt es nicht. Auch Kriegswaffen werden nur als verrosteter Schrott gezeigt. Nicht Ereignis-Historie steht hier im Vordergrund, sondern Zeugnisse einer bis heute nur bruchstückhaft aufgearbeiteten Alltags-Geschichte des Krieges.

Hakenkreuz-Brettspiele und Wehrmachtskondome

Die Dokumente – vielfach von Privatleuten aus dem Revier zur Verfügung gestellt – reichen von Feldpostkarten über ein Regal voller quasi-touristischer Mitbringsel aus den ersten Kriegsjahren (Mode aus Paris usw.) bis hin zu Hakenkreuz-Brettspielen und trivialen Heftromanen, mit denen Soldaten ihre Freizeit verbrachten. Sogar eine Packung mit Wehrmachtskondomen liegt in einer Vitrine. Das mag sich verharmlosend anhören, ist es aber keineswegs. Immer wieder wird solchen Alltagsdingen die andere Seite des Krieges gegenübergestellt. Beide Wirklichkeiten zusammen ergeben erst den wahren Schrecken.

Nicht nur Zellentüren mit Inschriften der Zwangsarbeiter (von denen es allein in Essen 70000 gab) erinnern an Schicksale, die vielleicht noch furchtbarer waren als die Bombennächte für die deutsche Bevölkerung. Immer wieder wird diese Perspektive der Opfer aufgegriffen.

Die Frage, ob es im Revier ganz spezifische Kriegserfahrungen gegeben hat, können auch die Essener Museumsleute nur schwer beantworten. Im Grunde stehe das Revier hier exemplarisch für andere Großstädte und Industriezonen (was die Ubernahme durch andere Museen erleichtern könnte). Möglich, aber noch nicht vollends beweisbar sei, daß aus dem Ruhrgebiet weniger Männer an die Front kamen als aus anderen Regionen. Dafür mußten sie hier „Schlachten“ in der (Rüstungs)-Produktion schlagen.

„Über-Leben im Krieg“, Ruhrlandmuseum Essen, Goethestraße. Bis 4. März 1990 (di-so 10-18, do 10-21 Uhr). Begleitbuch im Rowohlt-Verlag 19,80 DM.




Verlockungen des Ruhrgebiets sind Thema in New York – Festival „Ruhr Works“ mit Kultur aller Sparten

Aus New York berichtet
Bernd Berke

New York. Die Kultur des Ruhrgebiets „hat in New York erste Anker werfen können“! Das befand NRW-Kultusminister Hans Schwier, der sich gegenwärtig in der Metropole am Hudson River über Erfolg und Fortgang des Projekts „Ruhr Works“ informiert. Diese Festivalreihe der Essener „Kulturstiftung Ruhr“ hat seit September einem gewissen Teil der kulturversessenen New Yorker Szene „Aspekte des Reviers“ nähergetragen.

Für den meisten Gesprächsstoff haben dabei die Tanztheater, Gastspiele von Susanne Linke (Essen) und Reinhild Hoffmann (Bochum), gesorgt. Die ehrwürdige „New York Times“ berichtete allein neunmal über einzelne Veranstaltungen der Reihe, die noch bis Januar 1990 mit Gastspielen aus den Bereichen Musik, Tanztheater, Literatur. Film und Kunst andauern wird. In dem New Yorker Weltblatt war sogar der schöne Reim von „Allure of the Ruhr“ die Rede (Verlockung der Ruhr/Reiz der Ruhr).

Die Kulturstiftung Ruhr will es, wie hier bekannt wurde, „nicht bei dem Ankerwurf“ an der US-Ostküste belassen, sondem zu weiteren Ufern aufbrechen. 1991 soll ein ähnliches Festival in Sao Paulo starten, 1993 ist Tokyo an der Reihe. Minister Schwier zur WR: „Es ist sinnvoll, gerade in solchen Wirtschaftsmetropolen unsere Kultur zu zeigen.“ So soll es denn in New York auch schon erste Anfragen nach Investititionsmöglichkeiten im Revier gegeben haben – wohl nicht veranlaßt, aber vielleicht beflügelt durch die kulturellen Gastspiele.

Andererseits darf man auch nicht in verfrühten Jubel verfallen. Ehrlich gesagt droht die New Yorker Revier-Reihe, die auch einige programmliche Schwachpunkte hat, doch etwas im Gewimmel dieser Riesenstadt „unterzugehen“. 35 000 gedruckte Programm-Magazine von Ruhr Works können die Millionenbevölkerung wohl kaum überschwemmen. Die Stadt bietet einfach enorm viel – von den Rolling Stones, die soeben hier aufgetreten sind, bis hin zu den laufenden Ausstellungen über Velazquez, Picasso und Braque. Günstige Fügung allerdings: die Frage einer „deutschen Wieder-Vereinigung“ wird auch in New York heftig diskutiert. Das schafft unverhofftes Interesse für solche Belange, indirekt also auch für deutsche Kultur.

Immerhin kamen jetzt zum Beispiel rund 500 Vernissage-Gäste zur Eröffnung einer von vier Revierfotografen bestückten Ausstellung im derzeit führenden Künstlerviertel SoHo, das bis vor einiger Zeit verfallen war und nun plötzlich die meisten, besten und teuersten Galerien der gesamten Stadt beherbergt. In seiner explosiv-kreativen Atmosphäre entfernt an Berlin-Kreuzberg erinnernd, ist dieses quirlige Stadtquartier Schauplatz eines unablässigen „Gallery Hopping“, eines Lieblingssports der hiesigen Kunstszene, der einfach darin besteht, von Galarie zu Galerie zu laufen und „in“ zu sein. Mit dem, was sich allein in diesem Bezirk an Galerien ballt, kann zum Beispiel ganz Köln nicht konkurrieren.

Seltsam übrigens, nach über 6000 Kilometern Flug, hier fotografische Ansichten des Ruhrgebiets wiederzufinden – von Dortmund, Essen oder Bottrop. Noch seltsamer und schwer in Worte zu fassen: diese Aufnahmen lassen eine gewisse unterschwellige „Verwandtschaft“ zwischen dem Revier und New York erahnen. Als Bochums Ex-Theaterchef Claus Peymann vor Jahren sagte, das Revier sei New York, wisse es aber nicht, hatte er wohl nicht ganz Unrecht. Bestärkt wird dieses Gefühl noch durch einen Besuch in der Clocktower-Gallery, die ebenfalls Revierfotos zeigt und außerdem mit einem fast konkurrenzlosen Dachterrassen-Rundblick auf Manhattans Skyline lockt.

Beim New Yorker Goethe-Institut, das Ruhrworks mitorganisiert, zeigt man sich übrigens mit dem bisherigen Verlauf der Revierreihe zufrieden. Es gebe, so Institutsleiter Jürgen Uwe Ohlau, in der Bunderepublik nur ganz wenige Regionen, deren kulturelle Substanz für solche Projekte ausreiche. Das Ruhrgebiet gehöre auf jeden Fall dazu.




„Genießen wie Gott im Pott“ – Heinrich Pachl alias „Ben Ruhr“ mischt das Revier auf

Von Bernd Berke

Der stinkende „Killerkanal“, Emscher genannt, soll endlich ein „Schmusebach“ werden; aus der A 430 (landläufig: B 1 ) machen wir flugs eine Straße in die güldene Zukunft des Reviers, also einen „Highway zum High Tech“. Und das soziale Netz wird just zum „Tramplin“ für den Sprung in das Jahr 2000. So schwadroniert Heinrich Staiger, der Imageberater fürs Ruhrgebjet. „Glückauf, der Staiger kommt!“, möchte man da aufstöhnen.

Mit Ideen sonder Zahl sucht Staiger alias „Ben Ruhr“ (West3,21.55 Uhr) die gebeutelte Region heim und steckt sämtliche realen Vorbilder in die Tasche. Wenn der Zukunfts-Berserker (mit knallrotem Nostalgie-Luxuscabrio) Kiez, Kioske und Kohlehalden ansteuert, um Revierbewohner für seine Visionen zu gewinnen, bleibt kein Stein auf dem anderen. Denn Heinrich Staiger – das ist der Kabarettist Heinrich Pachl, der schon mit seinem vielgelobten Film „Homo Blech“ die Abstrusitäten bundesdeutschen Städtebaus aufs Korn nahm.

Staiger will – nach allen Protesten gegen Werksschließungen – die „wahre Revolution im Revier“, indem er der Region ein neues flottes Design verpaßt (Devise: „Genießen wie Gott im Pott“). Die bizarrsten Einfälle kommen da gerade recht. Ob der ausgediente Hochofen das Gerüst für ein Schicki-Micki-Restaurant abgibt oder ob Schafe davor weiden sollen („Ruhrgebiet – Kurgebiet“) – Hauptsache, man kann es gut verkaufen.

Pachls mit nervöser Emphase (Kennedy-Anklang: „Ich bin ein Rheinhausener“) vorgetragene Revier-Gedanken, die sich zuweilen eng an Real-Vorkommnisse anlehnen und daher um so ätzender wirken (Autor: der Oberhausener Robert Bosshard), sind eine geistige Lockerungsübung bei einem Thema, das sonst nur bierernst diskutiert wird. „Ben Rhr“ läßt – und das darf Satire eben – kaum ein gutes Haar an der Zukunft: Alle Aktivitäten, mit denen das Revier sich am eigenen Schöpf aus dem Sumpf ziehen will, werden durch den Kakao gezogen. Technologiezentren, Spaßbäder, Sanierungen, Kulturrummel, Einkaufszentren und Erschließung neuer Industriegelande – nichts bleibt verschont.




Kultur soll Zentralpunkt städtischer Politik werden – Forderung der Dezernenten nach NRW-Projekt „Kultur 90″

Von Bernd Berke

Im Westen. Wenn 31 Städte drei Jahre lang den „kulturellen Ernstfall“ geprobt haben, ist allemal viel Text fällig: Das jetzt erschienene „Handbuch Kultur 90″, hervorgegangen aus der Praxis der Projektreihe „Kultur 90″, umfaßt 390 Seiten im Großformat. Am heutigen Samstag wird der voluminöse Band als Arbeitsgrundlage dienen, wenn die Kulturdezernenten der beteiligten NRW-Städte im mit 1200 Mensehen vollbesetzten Essener Aalto-Bau Bilanz ziehen. Prominentester Gast: NRW-Ministerpräsident Rau.

Jede Stadt hat bei „Kultur 90″ seit 1985 mit vielen Einzelveranstaltungen ihr Spezialgebiet „beackert“. So widmeten sich die Dortmunder dem „Spannungsfeld Kultur und Alltag“, Schwerte zog Linien zwischen „Kultur und Frieden“, Hagen zwischen „Kultur und Sport“, Siegen legte den Schwerpunkt auf „Kultur und freies Theater“, Bergkamen lotete Beziehungen zwischen „Kultur und Alter“ aus, Unna wählte das Thema „Kultur und Kleinstadt“.

Die Kulturdezernenten hoffen, daß ihr unter Anleitung des Wuppertaler Sekretariats für gemeinsame Kulturarbeit entstandenes Bilanzbuch eine Pflichtlektüre in den Rathäusein wird. Ihr Ziel: Kultur soll zur Leitschnur aller kommunalpolitischen Entscheidungen werden. Dr. Karl Richter vom Wuppertaler Sekretariat: „Zur Zeit stehen eindeutig wirtschaftliche Belange im Vordergrund“. Angesichts der – im Gefolge neuer Technologien – drohenden „Freizeit-Katastrophe“ (Wie kann wachsende Freizeit sinnvoll gefüllt werden?) dürfe dem Kommerz nicht das Feld überlassen werden. Ein um politisehe, ökologische und soziale Aspekte erweiterter, ganzheitlicher Kulturbegriff (Richter: „Kultur bedeutet: Wie wir leben!“) müsse daher ethisch-moralischer, aber auch finanzieller Fixpunkt kommunaler Politik werden.

Damit dieser Ruf nicht verhallt, haben die Kulturdezernenten – parallel zu ihrem Abschlußbericht – eine Resolution verfaßt, inklusive Präambel eine Art „Grundgesetz der Kulturarbeit“ in den Städten. Kernpunkte der zehn Forderungen: Kultur als Pflichtaufgabe der Gemeinden („Bürgerrecht Kultur“), Aufstockung der Kulturetats auf 10 Prozent der städtischen Haushalte (das liefe bei den meisten Kommunen etwa auf eine Verdoppelung hinaus; als leuchtendes Vorbild wurde Frankfurt genannt); höher honorierte, bessere und qualifiziertere Besetzung der Kulturausschüsse und Kulturverwaltungen.

Bei einem Treffen der Kulturdezementen gestern im Essener Rathaus, stellte Essens Oberbürgermeister Reuschenbach gleich klar, daß er diese Forderungen derzeit für „utopisch“ halte. Das wollten die Dezernenten, die sich „im Vorfeld der Möglichkeiten“ wähnen und jede Menge „Handlungsbedarf“ sehen, natürlich so nicht gelten lassen.

Essens Kulturdezernent Godde: Viele der Resolutions-Forderungen seien „Selbstverständlichkeiten“. Auch schwebe man nicht im luftleeren Raum, sondern beziehe sich auf die Praxis von „Kultur 90″. In der Projektphase, so räumten die Kulturdezernenten ein, seien neben Zukunfts-Perspektiven auch Defizite deutlich geworden: Mitunter blockierten starre Verwaltungsstrukturen die Kulturarheit, manche Einzelprojekte bei „Kultur 90″ seien daher auch so gut wie gescheitert.




Auf der Suche nach der verlorenen Kinozeit im Ruhrgebiet

Von Bernd Berke

Essen. Kinokultur im Revier – gibt’s die? Es hat sie jedenfalls gegeben, und eine „goldene Zeit“ dieses Gewerbes waren die 50er Jahre.

1952 beispielsweise gab es in einer Stadt wie Essen vierundsiebzig (!) Lichtspielhäuser, darunter das damals größte Kino Europas mit 1200 Plätzen und 40 Leuten Personal. Einen Filmfan wie den Fotografen Heiko Preller (27) befällt da leicht sa etwas wie Nostalgie. Seine Suche nach Überresten der verlorenen Kinozeit dokumentiert jetzt (bis 5. September) eine Foto-Ausstellung im Essener Ruhrland-Museum.

Prellers Farbbilder aus Essen und Dortmund („Camera“-Kino) sind in den letzten beiden Jahren entstanden. Auf eine vergleichende Konfrontation mit Fotos aus den 50er Jahren konnte er leicht verzichten, finden sich doch auch so noch einige Spuren der 50er Jahre in den heutigen Kinos. Man muß nur den Blick dafür haben; dann findet man in zahlreichen Abspielstätten des Reviers auch jetzt noch Ecken mit Tulpenlampen, nierenförmigen Theken, schneckenartigen Deckenleuchten und Clubsesseln jener Jahre. Solche Restbestände der Kinoblüte – heute zum Bedauern Prellers nur noch Durchgangsschleusen, aber keine Zutat zum Filmerlebnis – hielt der Design-Student ohne jedes Zusatzlicht fest, so daß sie nur in ihrem eigenen, fremdartigen Neonglanz erstrahlen. Kein Mensch ist da zu sehen, nur Architektur, Mobiliar, Accessoires – stumme Überbleibsel jener Jahre, als Fernsehen noch keine ernsthafte Konkurrenz furs Kino war.

Die Fotoserie zeigt auch, wie sich ganz allmählich die atmosphärischen Verluste einstellten. Vor allem Eis- und Cola-Firmen stellten die Häuser mit Plastikzeug voll. Immer häufiger kam es zu Stilbrüchen, immer öfter wurden etwa grauenhaft gefärbte Teppichböden unter die alten Möbel gelegt. Endpunkte des Verfalls: verrottende Bauten, Parzellierung in Kleinst-„Kinos“, Umbau ehemals stolzer Lichtspieltheater in rentablere Supermärkte oder gar in Tapetengeschäfte, in denen nur noch ein angestaubter Vorhang an die Vergangenheit erinnert.




Profifußball – schleichendes Gift / Michael Lentz‘ Fernsehfilm „Alles paletti“

Von Bernd Berke

Essen. Zunächst fällt auf, was „Alles paletti“ n i c h t ist: Der Film des Esseners Michael Lentz (geplanter Sendetermin: ZDF, 16. April, 19.30 Uhr) ist, obwohl im Ruhrgebiet gedreht, kein Revier-Film und er ist, obwohl Fußball die Handlung in Gang bringt, kein Fußballfilm.

Im Mittelpunkt steht vielmehr Kai Wodar (Levin Kress), genannt „Fips“, der vierzehnjährige Sohn des aus Jugoslawien stammenden Bundesligatrainers Milan Wodar (Branko Plesa). Dessen Verein „BlauWeiß“ (Vorbild Schalke?) ist abstiegsbedroht. Dies bekommt der Sohn an allen Ecken und Enden zu spüren. In der Schule vollziehen sogenannte Fans kurzerhand eine Sippenstrafe und demolieren Kais Fahrrad, der Vater wird im Abstiegsstrudel zunehmend auch als Erzieher hilflos. Für den Ernstfall hat er (zu Kais Entsetzen) bereits Kontakte nach Istanbul geknüpft – Jupp Derwall hat’s vorexerziert.

Der Einstieg in die Handlung erfolgt mit großer Geduld und Zähigkeit, wirkt unscheinbar, ja zunächst fast läppisch. Lentz nähert sich seinen Themen sehr vorsichtig von den Rändem her, tastet behutsam den Alltag ab. Und der ist nun einmal grau.

Das Innere des Stadions sieht man erst zum Schluß. Fußball ist denn auch eher das geheime Zentrum der Handlung, gleichsam ein zuerst kaum sichtbares Gift, das in den Alltag einsickert. Auch daß die Geschichte im Revier spielt, wird nie in den Vordergrund gestellt. Wohhuend: Das Ruhrgebiet ist hier eine weder gebeutelte noch glorifizierte Selbstverständlichkeit; selbstverständliche Heimat auch für Kai, der hier Freunde gefunden hat und nicht schon wieder entwurzelt werden will. Unter anderem deshalb fängt er auch allmorgendlich den Postboten ab und versteckt vor seinem Vater die schmutzigen Drohbriefe enttäuschter „Freunde“ des Vereins.

Kai ist 14. Also liegt es nahe, daß dies auch, eine Pubertätsgeschichte ist. Der erste Suff, die erste Liebe, ersterer komisch, letztere leidlich gefühlvoll ins Bild gesetzt. Den Weltschmerz allerdings hat Lentz durch die Figur „Rico“, den sterbenskranken Freund Kais, ein wenig zu dick aufgetragen. Mit makabren Sprüchen und einer gehörigen Portion Melancholie gibt Peter Lohmeyer dem „Rico“ zwar einen gewissen Aufmerksamkeitswert. Warum die Figur als solche aber notwendig ist, bleibt bis zum Schluß unerfindlich. Vielleicht ist es die Leidenschaft für alte Hollywood-Klassiker, die Lentz wohl mit „Rico“ teilt, die allerdings auch zuweilen mit ihm durchgeht. Da gibt es – verzichtbar – eine ganze Schwarz-Weiß-Sequenz mit den US-Stars von „damals“.

Der Schluß: Durch ein mit Ach und Krach erkämpftes Unentschieden seiner Mannschaft- gegen den Hamburger SV kann der Trainer seinen Kopf noch einmal knapp aus der sprichwörtlichen Schlinge ziehen. Keine Rettung, eher eine Verschnaufpause. „Alles paletti“? Bis auf Weiteres.




Verblüffende Rundblicke auf das Ruhrgebiet

Von Bernd Berke

Essen. Der normale Blickwinkel des Menschen umfaßt einen Kreisausschnitt von etwa 40 Grad. Um mehr zu sehen, muß man den Kopf bewegen. Wie es wäre, wenn man „augenblicklich“, also ohne Kopfdrehung, über eine vervierfachte Rundumsicht verfügen könnte, das lassen die im Essener Folkwang-Museum ausgestellten „Panoramafotos des Reviers“ ahnen (bis 22. April, Katalog 15 DM).

Der Duisburger Diether Münzberg (39) hat an besonders charakteristischen Flecken des Reviers seine Kamera auf eine drehbare Vorrichtung montiert, die 160 Grad abschwenkt, während der Farbfilm im Kameragehäuse transportiert wird. Der Breitwand-Effekt ist verblüffend. Selbst Gegenden, die man tausendmal gesehen zu haben glaubt, werden zu befremdend künstlichen (Stadt-)Landschaften, obgleich man doch jedes Detail der Realität wiederfindet.

Es enthüllt sich der wahre Kern eines Klischees: das geradezu atemberaubend dichte Beieinander der verschiedensten baulichen und industriellen Geschichts-„Ablagerungen“ im Revier. Rudimente von Landschaft, alte Zechenhäuser, gesichtslose Schnellstraßenschneisen und Supermärkte, die Trinkhalle um die Ecke, Industrie-Silhouetten – all diese strukturlose Vielfalt verdichtet sich zu einem verfremdeten Eindruck dieser Region, der jenseits aller Querelen um das Image des Ruhrgebiets liegt. Das Monströse und das Liebenswerte, das Gespenstische und das Anrührende liegen nämlich dicht, manchmal kaum trennbar beieinander.

Die Panoramabilder haben auch bei der Ruhrkohle AG Eindruck gemacht, die eine Motivauswahl in ihrem ]ahreskalender ’85 abdruckte.




Vom Trauma des Lebens in der Fremde – Helmut Ruges „Wer bezahlt die Zeche?“ uraufgeführt

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Waren im 19. Jahrhundert polnische Zuwanderer die „Türken des Reviers“? Um diese Frage kreist die neuen Szenencollage des Satirikers Helmut Ruge (Allerweltstitel: „Wer bezahlt die Zeehe?“), die am Samstag im Recklinghäuser „Depot“ als Produktion der Ruhrfestspiele uraufgeführt wurde.

Berge von Koffern sind die Hauptrequisiten, Zeichen für „Heimat“-Losigkeit – und das nicht nur im Hunsrück. Im kohlenschwarzen Bühnenboden klafft ein glühender Riß, als habe sich die Erde aufgetan. Ursache: „soziale Beben“.

Der Türke Erdal führt in fliegendem Rollenwechsel das epochenübergreifende Trauma des Lebens in der Fremde vor. Mal bleibt er der Erdal der „Wende“-Zeit in den 1980ern, mal wird er zum Polen Josef, der hundert Jahre zuvor ins Ruhrgebiet gekommen ist und bei den großen Bergarbeiterstreiks noch mehr Solidarität erfährt, als sie sich heute über Nationalitätsschranken hinwegzusetzen wagt. Zwei Zeitprofile werden ausschnittweise kontrastiert und treten wechselseitig deutlicher hervor: zuweilen verlaufen sie nahezu parallel: Was für den Sozialdemokraten von dazumal der kaiserliche Büttel, ist für den Türken heute der vom heimischen Militärregime beauftragte Spitzel.

Regisseur Bernd Köhler läßt die Szenen vielfach durch harte Ausblendung des Lichts abreißen. Die Einzelteile stehen für sich. Ständiger Neu-Ansatz also, denn Ruges Text zielt in gar viele Richtungen. Manchmal scheint es, als ginge es darob resignativ zu, wie bei einem aussichtslosen Kampf gegen Windmühlenflügel. Doch geht immer wieder gleichsam ein Ruck durch das Stück, und es folgen unvermittelt lustvolle Folklore-Einschübe oder (auch türkischsprachige) Bänkelgesänge. Fluchtreaktion oder Sinnenfreude, die sich nicht unterkriegen läßt?

Uneinheitlich wie der Aufbau ist auch der Inhalt: Es steht Vielsagendes neben vielfach Gesagtem. Daß die Szenenfolge nicht heillos in Resignation hie und Klamauk dort zerföllt. dafür sorgt Hauptdarsteller Erdal Merdan, der den Erdal bzw. Josef mit einer gehörigen und notwendigen Portion aggressiven Beharrungsvermögens spielt und so das Stück zusammenhält. Auch die weiteren Beteiligten aus dem Festspiel-Ensemble (u.a. Jürgen Mikol, Vesna Bujevic, Lydia Billiet) erhielten reichlichen Beifall.




Von Raubrittern und Kobolden im Revier – Kinder gruben uralte Sagen des Ruhrgebiets aus

Von Bernd Berke

Im Westen. Da behaupte noch einer, das Ruhrgebiet sei keine geschichtsträchtige Region! Bis zu 1000 Jahre haben Sagen und Märchen aus dem Umkreis des Reviers auf dem sprichwörtlichen Buckel, die im Rahmen eines Wettbewerbs von Kindern zwischen Duisburg und Dortmund ausgegraben worden sind.

8- bis 16jährige, vom Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR) zu dieser Suche aufgerufen, haben pfiffig und vielfach nach allen Regeln der Kunst recherchiert. um „Raubrittern und Ko(hle)bolden“ auf die sagenhafte Spur zu kommen. Für die über 100 Einsendungen (auch ganze Schulklassen machten mit) waren natürlich in erster Linie die Großmütter, aber auch Gemeindepfarrer und Archive wertvolle Quellen.

Manchmal war schon ein Straßenname in der Heimatgemeinde Anlaß genug, dem historischen Kern einer Sage nachzuspüren. Die 39 besten – und bislang unveröffentlichten – Geschichten liegen jetzt in Buchform vor (im Handel zum subventionierten) Preis von 9,80 DM. Titel: „Von Raubrittern und Kobolden“.

Den ersten Preis des Wettbewerbs trug die zehajährige Cornelia Möhrig aus Bochum davon. Sie stöberte eine Version der Geschichte von der „ersten Zeche“ auf und erzählte sie mit eigenen Worten neu. Inhalt: Der kleine Michael stürzt in ein Loch, muß drunten einer zahnlosen alten Frau dienen und bekommt zum Lohn einen „schmutzigen Stein“, von dem sich allerdings nachher herausstellt, daß er wohltätige Wärme bringen kann. Michael hat „die Kohle entdeckt“ und für sein Leben ausgesorgt.

Überhaupt ranken sich die meisten Revier-Sagen, wie kaum anders zu erwarten, um das „schwarze Gold“. Der dritte Preis zum Beispiel, vergeben an den 16jährigen Jonas Rusky aus Hattingen, honoriert eine „Geschichte von der Zeche Dahlbusch in Gelsenkirchen“. Die Fakten, die er noch ausschmückte, erfuhr der Junge von seiner Großmutter, die wiederum aus Erfahrungen des Urgroßvaters schöpfte, welcher an der Entwicklung der berühmten Dahlbuschbombe mitgewirkt hatte. Kern der über drei Generationen tradierten Sage: Landwirte im Revier durften eines Tages keine SEnsen mehr verwenden, denn man vermutete, daß sonst auch unter Tage der todbringende Sensenmann umgehe. Fortan sorgten Schafe für kürzere Halme.

Allein schon die Titel der weiteren Geschichten machen Lust auf Lektüre. Da geht es etwa um den „hartherzigen Bäcker von Dortmund“ (der die Arman darben ließ und zur Strafe zwischen seinen Geldsäcken verhungern mußte), um „Mirsa, das Grubenpferd“, um die Mär vom Bochumer „Räuberhauptmann Korte“ oder um das im Siegerland beheimatete „Heinzelmännchen auf der Grube Hoffnung“.




50 Künstler wollen Grenzen im Revier aufheben

Von Bernd Berke

Im Westen. Die Ruhr solle wohl nicht umgeleitet werden, aber sonst sei eigentlich „alles denkbar“. Thomas Rother, einer der Anreger des großangelegten Revier-Projekts „Grenzüberschreitung“, will den Spielraum der Phantasie nicht vorzeitig einengen und hofft auch auf Vorschläge aus der Bevölkerung.

So wurden denn beim gestrigen Künstlertreffen auf dem Gelände der stillgelegten Zeche Carl in Essen-Altenessen gerade die ersten Umrisse des Vorhabens deutlich. In den „Grauzonen des Reviers“, da wo eine Stadt in die andere übergeht, wollen ungefähr 50 Künstler aus dem ganzen Ruhrgebiet (u.a. aus Dortmund, Lünen, Selm und Bergkamen) „Grenzen überschreiten“ – Grenzen sowohl zwischen den Revierstädten als auch Grenzen in der Kunst.

Unterstützt werden sie vom Kommunalverand Ruhrgebiet und dem Verein pro Ruhrgebiet, der Spenden für die einzelnen Aktionen locker machen und bei rechtlichen Problemen helfen will. Vor allem Fragen baurechtlicher Art könnten sich stellen. Um nämlich die als künstlich empfundenen Revier-Grenzziehungen bewußt zu machen, will man sie eventuell sogar mit echten Brücken überwinden.

Eine der Zielsetzungen: Dem Revier, nachdem es die gemeinsame, identitätsstiftende Präsenz der Bergwerke verloren hat, ein neues, überörtliches Selbstbewußtsein zu verschaffen. Dabei soll, wie es hieß, die „Kaputtheit“ der Gegend, die ja auch ihre schönen Seiten habe, nicht unterschlagen werden.

„Spielerisch“ will man sich etwa auch mit unterirdischen Vernetzungen der Revierstädte (Bergwerksschächte, Kanalsystem) oder mit besonders sinnfälligen Grenzverläufen (z.B. trennende Jägerzäune zwischen Ortseingangsschildern) auseinandersetzen und damit „den Stadtplanern Anstöße geben“.




Forum für mutige Freizeit-Autoren – Literaturzeitschriften im Ruhrgebiet

Titelseite der WR-Wochenendbeilage vom 2. Oktober 1982 mit Fotos von Bodo Goeke.

Von Bernd Berke (Text) und Bodo Goeke (Fotos)

Sie heißen „Spinatwachtel“, „Gießkanne“, „Schmankerl“ und „Galgenvogel“, nennen sich „Perlen vor die Säue“ oder auch „Geil & Fröhlich“. Die exotisch, versponnen, witzig oder provozierend titulierten Literaturzeitschriften – links ein Blick in die Redaktion des Essener Blattes „Schreibheft“ – sind Ausdruck einer Entwicklung, die in den letzten Jahren immer deutlicher zutage trat: Die Zahl der „Freizeitdichter“ nimmt stetig zu.

Auf dem Hamburger „Literatrubel“ beschwerten sich unlängst schon einige Berufs-Autoren über die unliebsame Konkurrenz und mahnten, man solle wieder mehr auf Qualität – was immer das heißen mag – achten. Etwa 200 kleine und kleinste Literaturzeitschriften teilen sich den höchst unübersichtlichen Markt des deutschsprachigen Raums. Viele dieser Druckwerke decken heute im weitesten Sinne das „alternative“ Themenspektrum ab, und ein Großteil stellt sich in den nächsten Tagen auf der Frankfurter „Gegenbuchmesse“ vor.

Die meisten Hefte vegetieren bei Auflagen von einigen hundert Stück dahin und sind Zuschußunternehmen. Daß in den jeweiligen Vorworten über die Finanzmisere geklagt wird, gehört schon zum Standard. Pleiten und Neugründungen sind an der Tagesordnung. Die wenigsten dieser Zeitschriften existieren über die ersten paar Nummern hinaus.

Selbst Josef Wintjes vom Literarischen Informationszentrum in Bottrop, seit 13 Jahren gewissenhafter Sammler aller Informationen aus der Szene, hat den Überblick verloren: Dennoch ist sein Büro (4250 Bottrop, Böckenhoffstraße 7, Tel.: 02041/ 20568, Anruf erwünscht‘) noch immer die wichtigste Anlaufstelle für alle, die mit Literaturzeitschriften zu tun haben (wollen).

Wie sieht die Lage im Ruhrrevier aus? „Wer sich länger als zwei Jahre halten kann, ist schon fast „etabliert'“, sagt einer, der sich bestens auskennt. Ulrich Homann gibt seit März 1977 in Essen das „Schreibheft“ (Auflage: ca. 1500, hauptsächlich Abonnements) heraus, dessen neunzehnte Ausgabe vor zwei Monaten erschien. Gemeinsam mit Norbert Wehr und Ulrich Bienek wollte er eigentlich ein Forum für alle Bevölkerungskreise schaffen, fiir jene zahllosen Zeitgenossen, die ansonsten nur für die berühmte „Schublade“ schreiben. Es brach eine wahre Flut von Texten über die Essener herein: Für eine Ausgabe schickten Freizeitautoren sage und schreibe 1500 Texte an das Herausgeberteam. Theoretisch hätte man schon mit diesem Schub für einige Jahre ausgesorgt. Höchstens 40 Beiträge finden in einer Ausgabe Platz. Zähneknirschend zog man die Konsequenz, legte seither strenge Maßstäbe an und verfiel dabei ins andere Extrem. Die letzten „Schreibhefte“ lesen sich wie hochkarätige Veröffentlichungen eines Spitzenverlags. Fast nur noch bundesweit bekannte Autoren, die bereits publiziert haben, sind vertreten, darunter etwa Eckhard Henscheid, Christoph Derschau, Walter Höllerer, Hans Christoph Buch.

Aus Kostengründen bekommt kein „Schreibheft“-Autor Honorar, weswegen es schon einigen Ärger mit erbosten Zulieferern gab. Ulrich Homann, mittlerweile sogar hauptberuflich als Zeitschriftenmacher tätig: „Wir sind leider ziemlich elitär geworden. Ich finde das nicht gut. Zur Zeit diskutieren wir, ob wir uns nicht wieder dem breiteren Publikum öffnen und auch Nicht-Profis schreiben lassen sollten“. Für Unverdrossene: Manuskripte können an den Verlag Homann & Wehr, Oberdorfstraße 53/55, 4300 Essen l (ab Dezember 1982: Stockenberger Straße 13-15, 4300 Essen 1), geschickt werden. Allerdings sollte man vorsichtshalber Rückporto beilegen.

Sind die Träume der späten 60er und frühen 70er Jahre, Zeitschriften zu machen, die die „Schwellenangst“ vor der Literatur senken, ausgeträumt? InBochum wurde 1979 ein Versuch gestartet, der diese Befürchtung widerlegen sollte. Die Leute, die dort den „Angler“ gründeten, kamen rein zufällig in einer Kneipe aufs Thema Literatur. Einer verriert schamhaft: „Ich schreibe in meiner Freizeit Gedichte“ und staunte nicht schlecht, als er vernahm, daß an der Theke noch andere standen, die ebenso verborgene  Dichterexistenzen führten.

Der Entschluß, sich mit Lyrik, Kurzgeschichten und Graphik gemeinsam an die Öffentlichkeit zu wagen, war schnell gefaßt. Doris Nickel: „Wir haben uns ganz heftig angagiert, haben Lesungen veranstaltet, haben Flugblätter verteilt, auf denen stand: ,Leute, schreibt!'“ Verblüffendes Ergebnis dieser Anstrengungen: Es kamen kaum Texte zusammen. Man hatte Mühe, die ersten Nummern (jeweils etwa 40 Seiten, Auflagen zwischen 500 und 1200 Stück, die vor allem im Handverkauf abgesetzt wurden) zu füllen.

Kaum zu glauben, wenn man die Manuskriptstapel sieht, die bei den Essener „Schreibheften“ eingingen. Doris Nickel: „Besonders Frauen waren kaum vertreten. Wahrscheinlich schreiben viele Frauen private Tagebücher, die sie nicht für veröffentlichungsreif halten, während Männer ihre eher politischen Texte gedruckt sehen wollen.“ Besonders gefreut hat sich Doris Nickel deshalb über die Texte einer 82-jährigen Frau, die nach Teilnahme an einem VHS-Schreibkurs dem „Angler“ literarische Betrachtungen über Alterseinsamkeit schickte. Gerade diese Blätter waren allerdings Anlaß für Streit in der „Angler“-Gruppe. Hie Vertreter einer politischen Linie, da jene, die auch „private“ Texte zulassen wollten, die ja keinesfalls unpolitisch sein müssen. Der Streit flackerte im Lauf der Zeit immer wieder auf – mit gleichen Fronten. Einige sprangen schließlich ab.

Der „Angler“ wird heute von einer Gruppe gemacht, die sich an jedem zweiten Montag eines Monats um 20 Uhr im Bochumer „Rotthaus“ trifft. Mit der angestrebten Volksnähe war es nicht so einfach. Die Verfasser der „Angler“-Beiträge sind fast ausnahmslos Studenten, oft auch noch solche der Germanistik. Lotte Ebers, die in der neuen Gruppe mitwirkt: „Wir haben immer noch Probleme, an gute Texte und Graphiken heranzukommen. Übrigens ist uns der Kontakt zu den Autoren sehr wichtig.“ Doris Nickel von der ehemaligen „Angler“-Gruppe plant unterdessen die Gründung einer neuen Zeitschrift und sucht ebenfalls Leute, die mitmachen. Kontakadresse: 463 Bochum, Karl-Friedrich-Straße 91.

Jürgen Kramer, Gelsenkirchener Maler, ließ am Anfang (1978) „wahllos jeden erreichbaren Text drucken“, wollte dann aber keine Kompromisse mehr eingehen. Seine Zeitschritt „Die 80er Jahre“ wendet sich jetzt – in dieser Ausschließlichkeit ein Unikum im Ruhrgebiet – bewußt nur an eierlesenen Kreis von Avantgarde-Künstlern. Die Tendenz – weg vom größeren Leserkreis, hin zum hohen Qualitätsanspruch – ist noch drastischer als bei den erwähnten Blättern aus Essen und Bochum. Ein Teil der etwa 1000 Exemplare (Startauflage vor vier Jahren: 200 Stück) kursiert in Frankreich, England, Italien und den USA. Kramer verabscheut Wiederholungen: „Jedes Heft sieht völlig anders aus, nur der Titel bleibt.“ Wer Schreibproben schicken wolle, könne das tun (Jürgen Kramer, Postfach 1142, 465 Gelsenkirchen). Jedoch: „Die Abdruckchancen halten sich in Grenzen“. Auch Jürgen Kramer muß einen Teil der Druckkosten aus eigener Tasche finanzieren.

Wenig ermutigendes Fazit: Zumindest im Ruhrgebiet sind die Möglichkeiten dafür, daß Geschriebenes aus der Schublade an die Öffentlichkeit gelangt, zur Zeit noch dünn gesät.

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