„Deutschlands neue Slums“: TV-Reportage über das Elend in Dortmund und Bulgarien

„Deutschlands neue Slums“ hieß die gerade mal halbstündige Reportage im ARD-Programm. Da wird es ja wohl weitläufig von Ost nach West und von Nord nach Süd gegangen sein? Weit gefehlt! Das WDR-Team um „Monitor“-Redakteurin Isabel Schayani und Autor Esat Mogul machte einzig und allein in der Dortmunder Nordstadt Station, um zu zeigen, wie vor allem Bulgaren und Rumänen unter menschenunwürdigen Bedingungen hausen.

Mag sein, dass diese Betrachtungsweise etwas einseitig gewichtet war. Doch die Empörung in der verbliebenen Dortmunder Tageszeitung ist höchstens im Ansatz berechtigt. Das Image der Stadt und der Stadtverwaltung, die inzwischen immerhin gelegentlich an Brennpunkten eingreift, ist angesichts der unbestreitbar desolaten Gesamtlage nur zweitrangig. Wenn ab 1. Januar 2014 die komplette Freizügigkeit zwischen Deutschland, Bulgarien und Rumänien herrscht, werden sich solche Probleme wohl in einigen Großstädten enorm verschärfen.

Bulgaren in der Dortmunder Nordstadt - auf der Suche nach einem Quartier für die Nacht. (Bild: © WDR)

Bulgaren in der Dortmunder Nordstadt – auf der Suche nach einem Quartier für die Nacht. (Bild: © WDR)

Für exorbitante Beträge, die auf dem örtlichen „Arbeiterstrich“ erst einmal wieder hereingeholt sein wollen, werden in etlichen Dortmunder Nordstadt-Häusern bloße Matratzenlager, manchmal gar nur Pappunterlagen in maroden und völlig verdreckten Häusern als Schlafplätze an Armutsflüchtlinge vermietet. Derweil nehmen die offiziellen Notunterkünfte, so hat es den Anschein, auch bei bitterer Winterkälte keine Menschen aus Bulgarien oder Rumänien auf. Den Rest regelt der wildwüchsige, private Markt „ganz unten“. Für eine schlichte 50-Quadratmeter-Wohnung, hoffnungslos überbelegt mit 8 Menschen, lassen sich so monatlich 1600 (!) Euro Miete erzielen. Normal wären etwa 330 Euro.

Es drängt sich die Frage auf, wer an solchen Verhältnissen verdient. Diese Fährte wurde in der Reportage aufgenommen, die an manchen Stellen Empathie und Betroffenheit erkennen ließ. Die Fernsehleute stießen an allen Ecken und Enden immer wieder auf einen türkischen Mann mit Goldkettchen, der wie ein gewiefter „Pate“, Patriarch oder Schutzherr der Nordstadt erschien, aber natürlich jegliche ungute Absicht weit von sich wies. Fragt man ihn selbst, so hilft er, wo er nur kann…

Wie schlimm das Elend ist, das die Menschen trotz aller Widrigkeiten nach Deutschland und Dortmund treibt, erwies sich bei einer Fahrt nach Stolipinowo (Bulgarien). Rund 3000 Leute aus diesem Ort, so hieß es, lebten zumindest zeitweise in Dortmund. Wenn man da überhaupt von „Leben“ sprechen kann. Jedenfalls ist es kaum zu fassen, welche wahrhaftigen Slums in dem EU-Mitgliedsland Bulgarien wuchern. Vor allem Roma vegetieren dort unter Bedingungen, wie man sie nur in der „Dritten Welt“ vermutet hätte. Da erscheinen selbst die übelsten Häuser der Dortmunder Nordstadt als Linderung des Elends. Übrigens war jener besagte „Schutzherr“ auch in Stolipinowo anzutreffen – rein zufällig auf Besuch bei Freunden.

Die Suche nach womöglich mitverantwortlichen Nordstadt-Hausbesitzern führte auf verschlungenen Wegen zu dänischen Investoren, die ebenso wenig preisgeben wollten wie Schalke-Präsident Clemens Tönnies, in dessen gigantischer Fleischfabrik zu Rheda-Wiedenbrück zahlreiche Kolonnen aus Bulgarien und Rumänien auf der Basis von Werkverträgen schuften – allerdings keine Roma, die kommen nicht einmal an solche Jobs heran. Wohl kaum ein deutscher Arbeitnehmer würde mit den Schweinezerlegern tauschen wollen. Akkord-Arbeitszeiten zwischen 12 und 15 Stunden seien vielfach die Regel, hieß es in der TV-Reportage. Auch das wird natürlich offiziell bestritten. Tatsache ist, dass die deutsche Wirtschaft in Bulgarien und Rumänien von neuen Absatzmärkten profitiert und dort billige Arbeitskräfte rekrutieren kann.

Eine halbe Stunde war für das komplexe Geflecht bei weitem zu wenig, vieles konnte nur knapp angerissen werden. Insofern kann man nachvollziehen, dass nicht noch in weiteren deutschen Städten gedreht worden ist. Dennoch: Vielleicht hätte sich dann das Bild noch etwas differenziert und mehr Tiefenschärfe gewonnen. Das Thema muss jedenfalls gründlich weiter verfolgt werden.




Heute Außenseiter, morgen Hoffnungsträger: Tuomas Kyrös Roman „Bettler und Hase“

Wenn eine Geschichte von einem rumänischen Roma als Hauptfigur handelt, der sein Land verlässt, um in der Ferne sein Glück zu versuchen, dann scheint der Ablauf schon irgendwie programmiert zu sein. Der Emigrant wird sich schwer tun, womöglich scheitern und am Ende auf der Verliererstraße landen.

Doch Vatanescu ist da doch von ganz anderem Schlag, was natürlich daran liegt, dass sein Erschaffer, der finnische Autor Tuomas Kyrö, hintersinnig, ironisch und zugleich humorvoll zu erzählen weiß.

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Schon das Motiv, das den Roma bewegt, sich außer Landes zu begeben, scheint recht schräg zu sein, will er doch Geld verdienen, um seinem Sohn Stollenschuhe kaufen zu können. Ob es denn da wohl nichts Wichtigeres gibt, als ausgerechnet einen solchen Sportartikel, mag man sich als Leser fragen. Zumal der Preis, den Vatanescu schon zu Beginn des Abenteuers zu bezahlen hat, äußerst hoch ist, begibt er sich doch in die Fänge der russischen Mafia. Nur die verspricht ihm, in ein gelobtes Land des Westens zu gelangen.

Der Roma findet sich schließlich in der finnischen Hauptstadt Helsinki wieder und zwar in einer Behausung, die ihm ein Drogen- und Menschenhändler zuweist. Doch Vatanescu wäre nicht Vatanescu, wenn er sich mit seinem Schicksal einfach abfinden würde. Ihm gelingt es auszubüxen. Damit aber noch nicht genug: Jener Igor, der ihn in einem Wohnwagen eingepfercht hatte, soll seines Lebens nicht mehr froh werden, war doch die Flucht eines gewissen Roma aus Rumänien ein Fanal für viele andere, die unter Igors Knute standen, dem Beispiel zu folgen.

Für Vatanescu beginnt eine Zeit des Vagabundierens, in der er Finnland von ganz anderen Seiten kennenlernen soll. Er trifft auf vietnamesische Einwanderer, die ein Restaurant eröffnet haben, auf einen glücklosen Magier und auf einen echten Haudegen, der ihn zum Saunieren einlädt. Doch wie sich Vatanescu auch drehen und wenden mag, seine neue Heimat will ihm doch fremd bleiben – bis er irgendwann zu spüren meint, was den gemeinen Finnen wohl am ehesten antreibt, nämlich die eigene Schaffenskraft, die tägliche Arbeit.

Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf gewinnt er erst das Vertrauen eines Vertrauten des Ministerpräsidenten und schließlich das des Politikers selbst, der längst amtsmüde geworden ist. Und urplötzlich ist dem Einwanderer Vatanescu der Durchmarsch gelungen, gilt er doch fortan als „Thronfolger“ in einer politischen Gruppierung, die den schönen Namen trägt „Partei der gewöhnlichen Menschen“. Einen politischen Hoffnungsträger zeichnet vor allem aus, dass er neu ist und Schläue mit sich bringt, von Wissen oder Sachverstand spricht Autor Tuomas Kyrö eher nicht.

Das Buch lebt von kuriosen Szenen. Zu ihnen gehört der Moment, als der Rumäne seinen Begleiter findet. Er rettet einem Hasen, der von mehreren Jungen gejagt wird, das Leben, indem er ihn in seine Jacke springen lässt. Vatanescu weiß zu dem Zeitpunkt schon, was es heißt, auf der Flucht zu sein. Von brillanter Situationskomik geprägt ist die Passage, als er einem Arbeitsvermittler gegenübersitzt und plötzlich sein Hase, den er versteckt hält, loshoppeln will. Einem Büromenschen können da schon mal mehr als nur die Gesichtszüge entgleiten.

Gerade in der Debatte um Sinti und Roma kann das Buch von Tuomas Kyrö zu neuen Denkansätzen beitragen, werden doch Klischees und gesellschaftliche Normen amüsant und erfrischend hinterfragt.

Tuomas Kyrö: „Bettler und Hase“. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, 320 Seiten, 19,99 Euro.