„Menschen, Makel und Abgründe“: Dortmunds neue „Stadtbeschreiberin“ Anna Herzig

Wahl-Salzburgerin, jetzt für einige Monate in Dortmund wohnhaft: die Schriftstellerin Anna Herzig. (Foto: Roland Gorecki/Dortmund Agentur)

Dortmunds neue „Stadtbeschreiberin“ Anna Herzig hat schon Ende April ihre Wohnung im Kreuzviertel bezogen, doch hat man noch gar nicht viel von ihrem hiesigen Wirken gehört. Jetzt aber, da die Pandemie nach und nach zu schwinden scheint, soll sich das spürbar ändern.

Die sonst in Salzburg lebende Stipendiatin steckt offenbar voller Pläne und Energien. Es gibt kaum ein Gebiet des Schreibens, auf dem sie sich nicht erproben möchte. An Romanen und einem Kino-Drehbuch arbeitet sie ebenso wie an dramaturgischen Exerzitien fürs Theater. Auch Bühnenstücke dürften nicht lange auf sich warten lassen.

In Österreich, so verriet Anna Herzig heute, habe sie oftmals zu kämpfen gehabt. Immerhin hat sie auch dort schon Stipendien erhalten (Land Salzburg, Villach). Ganz anders jedoch in Deutschland. Gleich mehrfach betont sie, wie sie hier überall mit offenen Armen und offenen Sinnes empfangen worden sei, ob nun in Leipzig, Dresden, Frankfurt oder eben Dortmund. Hier wird sie u. a. Veranstaltungen für die örtliche Volkshochschule, das Literaturhaus und das Kulturbüro bestreiten und sich darüber hinaus mit der regionalen Literaturszene vernetzen. Gespräche mit Menschen und Beobachtungen außerhalb des Kulturbetriebs gehören selbstverständlich dazu.

Sichtbar auf der literarischen Landkarte

Es war eine nachhaltig wirksame Entscheidung der Stadt Dortmund, das Amt der Stadtbeschreiberin (Stadtbeschreiber nicht ausgeschlossen) auszuloben. Die westfälische Reviermetropole nimmt jetzt wieder einen besser sichtbaren Platz auf der literarischen Landkarte ein. Begonnen hatte die Autor(inn)en-Residenz im Vorjahr mit der prominenten Judith Kuckart, die vor allem einem Kiez in Dortmund-Hörde, dem Schauplatz einiger ihrer Kindheits-Sommerferien, ästhetischen Mehrwert abgewonnen und überhaupt beste Eindrücke hinterlassen hat.

Demgegenüber ist Anna Herzig hierzulande bislang weniger bekannt. Falls das denn ein Maßstab sein sollte: Es ermangelt immer noch eines eigenen Wikipedia-Eintrags für die Autorin. Doch was soll’s? Schon als Kind hat sie Geschichten ausgesponnen, im Alter von 14 ernsthaft zu schreiben begonnen, mit 17 Jahren dann ihr erstes Buch veröffentlicht und seither ordentlich „nachgelegt“. Etliche Kurzgeschichten sowie zwei Romane („Sommernachtsreigen“, 2018 / „Herr Rudi“, 2020) sind bereits erschienen, zwei weitere sind in Arbeit. „Herr Rudi“ soll in absehbarer Zeit ins Kino kommen, Anna Herzig arbeitet an einer Drehbuchfassung.

„…zum Teil bösartiger Stil“

Geboren wurde die heute 33-jährige Anna Herzig als Tochter einer Kanadierin und eines Ägypters in Wien. Kein Wunder also, dass Fragen der Herkunft und Identität in ihren Texten eine besondere Rolle spielen. Ansonsten, so heißt es in einem städtischen Pressetext etwas kryptisch, interessiere sie sich speziell für „Menschen, Makel und Abgründe“. Das klingt schon mal nicht nach glatter Eingängigkeit. Laut Jury-Begründung überzeuge vielmehr ihr „hintergründig-skurriler, zum Teil bösartiger Stil, der die Tiefen menschlicher Beziehungen ausleuchtet“. Bei ihrer heutigen Vorstellung wirkte sie so gar nicht „bösartig“, aber Leben und Schreiben sind ja eh nicht bruchlos eins.

Man erhofft sich von Anna Herzig „einen originellen, unverstellten Blick auf die Topografie des Ruhrgebiets“, wie die Jury weiter verlauten ließ. Die Autorin selbst freut sich über die Dauer des Stipendiums (Ende April bis Ende Oktober), die es erlaube, „mich ganz auf die Stadt einzulassen, in Ruhe zu beobachten und mich auf die Kunst zu konzentrieren.“ Nach den vergangenen schwierigen Monaten sei sie froh, „dass ich mit den Menschen nun auch wieder ins Gespräch kommen kann“.

Schon jetzt ein „Fan“ dieser Stadt

Fürs Ruhrgebiet und hier speziell für Dortmund scheint Frau Herzig ein Faible entwickelt zu haben, vielleicht liegt’s just auch am deutlichen Kontrast zu Wien und Salzburg. Durch YouTube-Videos habe sie Dortmund, das sie zuvor nicht gekannt hat, als erstaunlich grüne Stadt wahrgenommen. Inzwischen sei sie geradezu ein Dortmund-„Fan“. Apropos: Die sonst handelsübliche Frage nach dem BVB wurde bei Anna Herzigs heutiger Pressevorstellung wohlweislich nicht gestellt. Es müssen ja auch Rätsel und Geheimnisse bleiben.

Wie auch immer: Jedenfalls will Anna Herzig in Dortmund an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der zu wesentlichen Teilen im Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt. Das mag sich noch halbwegs gemächlich anhören, doch die Handlung spielt vor dem Hintergrund einer dystopischen (also unwirtlichen) Welt, in der die Männer den Krieg gegen die Frauen verloren haben. Im Mittelpunkt: drei Herrschaften, die damit erst einmal fertigwerden müssen. Ob sie wenigstens bei der besagten Auktion Glück haben? Und was es da wohl zu ersteigern gibt?

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Veranstaltungen mit Anna Herzig:

Virtuelle Matinee mit der Stadtbeschreiberin: „Meet & Greet“, moderiert vom Salzburger Comedian Sebastian Hochwallner. Link zur Teilnahme: https://bit.ly/3vsWCRa

Achtung! Die ursprünglich für den 20. Juni (11 Uhr) geplante Matinee muss aus Krankheitsgründen verschoben werden. Der neue Termin steht noch nicht fest.

VHS-Online-Kursus „Creative Writing“ mit Anna Herzig: nächster Termin am Dienstag, 15. Juni, 17.45 Uhr. Anmeldung online unter vhs.dortmund.de (Veranstaltungs-Nummer 211-62319W).

Drei Lesungen im Literaturhaus am Neuen Graben – mit weiblichen Gästen, die Anne Herzig selbst auswählen durfte und deren Auftritte sie moderieren wird: Irene Diwiak und ihr Roman „Malvita“ (24. Juli, 19.30 Uhr), Olivia Kuderewski  und ihr Roman „Lux“ (20. August, 19.30 Uhr) und schließlich Nora-Eugenie Gomringer mit Lyrik (2. Oktober, 19.30 Uhr).

 




Nachlese zu den Salzburger Festspielen: Gefangen im Mechanismus der Macht – Aribert Reimanns Oper „Lear“

Auf dem Weg in den Wahnsinn: Gerald Finley als König Lear in Salzburg. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Auf dem Weg in den Wahnsinn: Gerald Finley als König Lear in Salzburg. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Ein sorgsam geschichteter Cluster aus Tönen wird zu einem unbestimmt lauernden Klang. Pianissimo hält ihn Dirigent Franz Welser-Möst in der Schwebe, während ein jovialer Politiker im Dinner-Jacket etwas verspätet hereinstrebt und in die Menge grüßt. Festlich gekleidete Menschen, vor der Bühne, rund um die Bühne. Der Mann im crèmefarbenen Dress bekundet, der Macht müde zu sein, das Reich teilen zu wollen.

Drei Töchter, zwei davon in Pastell-Rosa und Lindgrün wie eine Mischung aus Queen Elizabeth und Margaret Thatcher, stehen schon bereit auf der breit gezogenen, bunt und wild blühenden Wiese, die Simon Stone in der Felsenreitschule in Salzburg als Spielfläche frei gelassen hat. Wir sehen „Lear“, Aribert Reimanns 1978 in München uraufgeführtes Hauptwerk, inzwischen ein Klassiker des zeitgenössischen Musiktheaters.

Wäre die Besetzung nicht so riesig – selbst in Salzburg muss das vielfältig besetzte Schlagwerk auf den Balkon rechts vom Orchestergraben ausweichen –, hätte diese Shakespeare-Oper sicher schon mehr als die bisher weltweit rund 30 Neuinszenierungen erlebt, darunter auch am Aalto-Theater in Essen. Reimann musste erst 81 Jahre alt werden, bis sich die Salzburger Bühne für ihn öffnete – und das trotz großartiger Werke von „Melusine“ bis „Medea“.

Markus Hinterhäuser ist seit Herbst 2016 mit einem Fünf-Jahres-Vertrag Intendant der Salzburger Festspiele und hat eine erste erfolgreiche Saison hinter sich. Foto: Salzburger Festspiele/Julia Stix

Markus Hinterhäuser ist seit Herbst 2016 mit einem Fünf-Jahres-Vertrag Intendant der Salzburger Festspiele und hat eine erste erfolgreiche Saison hinter sich. Foto: Salzburger Festspiele/Julia Stix

Reimanns bis an die Schmerzgrenze expressive und exzessive Musik wird unter den Händen von Franz Welser-Möst und in der klanglichen Vollendung der Wiener Philharmoniker zum bestimmenden Ereignis dieser letzten Premiere der Salzburger Festspiele. Welser-Möst verlässt sich nicht auf die immer noch schockierende Härte und Brutalität der schlagzeuggepanzerten Akkordtürme und Tonschichtungen Reimanns, sondern zeigt, wieviel Resignation und wahnsinnsverwehter Zärtlichkeit in den Klängen steckt.

Er hütet sich, die präzise Kontrolle der Dynamik jemals aufzugeben und lässt so die Zuschnürung des dramatischen Knotens musikalisch erleben, bis er in der Heideszene des ersten Aktes reißt und das kontrolliert kontrapunktische Chaos entfesselt losbricht: Im Dröhnen der Perkussion und im Aufschreien des Orchesters entlädt sich der Sturm der Elemente, der zum inneren Wüten in der Seele Lears wird. „Haltlosigkeit, Ziellosigkeit“ schreibt Reimann selbst in seinen Notizen zum Kompositionsprozess. Und danach, in erschöpfter Ruhe, die enthobenen Girlanden der Melismen Edgars, des von seinem Vater Gloster verstoßenen Sohnes.

Der ausgewogene, abgerundete Klang der Wiener Streicher, die disziplinierten Bläser – auch wenn sie böse gellen und schrill kreischen –, die schmerzvoll-süßen Unisoni und das gedämpfte Brodeln der kunstvoll gebauten Flächen aus Viertel- bis Eineinvierteltönen nehmen der Musik nichts von ihrer Schärfe, schleifen ihre schmerzhaften Krallen nicht, verhindern aber, dass sie durch permanente Überreizung abstumpft. Die kluge Dramaturgie der Dynamik, verbunden mit einer fabelhaften Transparenz und einem wie selten sinnhaft-sinnlich durchgestalteten Klang, bestätigt eindrucksvoll die formalen wie expressiven Qualitäten von Reimanns Musik.

Reduziert auf elementare kreatürliche Bedürfnisse

Was geschieht mit einem Herrscher, der die Macht hinter sich lässt? Das Libretto von Claus H. Henneberg spitzt Shakespeares Drama unbarmherzig zu: Lear bleibt ein Gefangener der Macht, zuerst ihre Mechanismen wunderlich verkennend, dann an ihrer nackten Brutalität zerbrechend, reduziert auf die elementarsten kreatürlichen Bedürfnisse, die ihm nur noch der barmherzige Gloster gewährt.

Simon Stone, der von Preisen verwöhnte australische Regisseur, lenkt seine zweite Arbeit für das Musiktheater weg vom Erzählenden, hin zu bildmächtigem Darstellungs- und postdramatischem Episodentheater. Schon bei der Verteilung des Reiches stehen die Töchter Lears in einer Reihe in weitem Abstand. Auf sich selbst konzentriert schleudert Evelyn Herlitzius ihre stählernen Tonfolgen heraus, zeichnet Gun-Brit Barkmin – 2013 in Essen die Lady Macbeth Verdis – die hysterischen Intervallsprünge Regans nach.

Lear (Gerald Finley) teilt das Reich; Seine Tochter Cordelia (Anna Prohaska, im Vordergrund), die ihre Liebe nicht in Worten beschreiben kann und will, geht leer aus. Im Hintergrund Gun-Brit Barkmin als Regan. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Lear (Gerald Finley) teilt das Reich; Seine Tochter Cordelia (Anna Prohaska, im Vordergrund), die ihre Liebe nicht in Worten beschreiben kann und will, geht leer aus. Im Hintergrund Gun-Brit Barkmin als Regan. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Das wüste Gelage von Lears Gefolge verwandelt die Blumenwiese in einen grünlichen Matsch, in dem sich später der nackte Lear im Regen und in der Qual seiner Ohnmacht wälzt. Auf der breit gezogenen Spielfläche von Bob Cousins legt Stone offenbar keinen Wert darauf, die Personen zueinander in Verhältnisse zu setzen, auch die Begegnungen Lears mit dem anrührend singenden Edgar Kai Wessels und dem von Anfang an kraftlos gezeichneten Gloster Lauri Vasars bleiben seltsam distanziert.

Für den hereinbrechenden Wahnsinn Lears scheint sich Stone auf das darstellerische Potenzial Gerald Finleys verlassen zu haben, der den erbarmungswürdig ohnmächtigen König in seiner Flucht in weltlosen Wahn grandios zeichnet, dessen Fallhöhe aber nicht deutlich wird – dazu ist der Herr im Sakko zu Beginn einfach zu durchschnittlich.

Aber der Abstand von psychologischem Realismus ist Absicht, auch wenn er den Figuren komplexe Facetten nimmt. Im zweiten Teil des Abends wird deutlicher, wohin Stone zielt, wenn Gloster zunächst hyperrealistisch in einem blutigen Schaustück seine Augen ausgedrückt werden, wenn das Blut aus der Kehle des gemeuchelten Cornwall (zupackend singend: Michael Colvin) stürzt, dann in einer riesigen Blutlache auf weißer, leerer Fläche ein Schlachten beginnt, das wie ein symbolhaftes Ritual wirkt: Security-Leute, von Mel Page in die blauen Uniformen einschlägiger Typen gesteckt, wie wir sie aus Nachrichtensendungen oder amerikanischen Filmen kennen, reißen willkürlich einzelne Menschen aus den Zuschauerreihen auf der Bühne heraus, stoßen sie in den roten Teich, wo sie mit Blut besudelt werden und ins Irgendwo seitlich der Bühne schreiten, als gehörten sie zu einer stummen Totenprozession.

Das mag ein eindrückliches Bild dafür sein, dass die inhärente Grausamkeit des Stücks eine beklemmende Gegenwarts-Dimension hat. Aber für diese Erkenntnis opfert Stone die viel grundsätzlichere Einsicht in das verhängnisvolle Gefüge der Macht, dem alle scheinbar Mächtigen zum Opfer fallen. Stone verweigert den letzten Szenen die theatrale Konkretion, lässt an der Rampe singen: Edgars Zweikampf gegen den mit souveränem Kern die Töne bildenden Charles Workman als Edmund, Regans trotz Gun-Brit Barkmins leicht gastritischen Zuckungen beiläufiger Gifttod, Gonerils vermeintlicher Triumph und Selbstmord.

Eine Wolke entzieht sie unseren Blicken

Anna Prohaska (Cordelia) und Gerald Finley (Lear) beim Schlussapplaus. Foto: Salzburger Festspiele/Franz Neumayr

Anna Prohaska (Cordelia) und Gerald Finley (Lear) beim Schlussapplaus. Foto: Salzburger Festspiele/Franz Neumayr

Das Bild dahinter allerdings prägt sich ein: Lear und Cordelia – Anna Prohaskas lyrischer Sopran unterscheidet sich im Timbre zu wenig von ihren bösen Schwestern – sind in einem Gazeschleier gefangen. Ganz in Weiß erstarrt hat die tote Cordelia nur mehr behauptete Präsenz, Lear erhebt sich aus dem Krankenhausbett, streift mit seinen Händen den bleichen Staub von ihren Haaren ab und färbt sich selbst todessehnsüchtig damit ein. Eine Vision, von einer weißen Wolke langsam den Blicken von Edgar und Albany (der ebenfalls vorzüglich singende Derek Welton) entzogen. Dunst für die sinnlose, vergebliche Existenz, in die wir Menschen geworfen sind? Oder verbergende Hülle einer Hoffnung, die ahnungsvoll Lears und Cordelias geschundene Menschlichkeit birgt? Im blitzartigen Dunkel des Endes bleibt jeder Zuschauer mit dieser Frage sich selbst überlassen.




Festspiel-Passagen XI: Mozart und Strauss – Neuinszenierungen in Salzburg

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger "Don Giovanni". Foto: Michael Poehn

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger „Don Giovanni“. Foto: Michael Poehn

Wenn sich nach sexueller Bedrängnis und ohnmächtiger Eifersucht Zerlina und Masetto in einem Moment der Ruhe wiederfinden, wenn sie sich in Duettino und Arie der Zerlina („Vedrai carino“) nach allen emotionalen Stürmen wiederfinden, entkleiden sich Valentina Nafornita und Alessio Arduini, schlüpfen in Unterwäsche in eines der Zimmer des düsteren Hotels, entziehen sich dem Zugriff des allgegenwärtig scheinenden Don Giovanni. Und dem sehnsuchtsvoll dem Paar nachblickenden Don Ottavio zeigen sie, was die Sinnspitze sexuellen Begehrens sein sollte: die liebende Begegnung, auf die er – mit Donna Anna – vergeblich hofft.

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Das war einer der flüchtigen Momente im Salzburger „Don Giovanni“ Sven-Eric Bechtolfs, der gezeigt hat, wohin diese Inszenierung hätte führen können. Es gab noch andere solche Augenblicke verdichteter Deutungs-Energie in der Arbeit des Salzburger Schauspielchefs: Etwa, wenn Donna Anna ein Messer in der Hand hält und Don Giovanni ihren Arm zum Todesstoß gegen den Komtur führt.

In solchen Momenten gewinnen Personen eine Dimension, die über das konkrete Spiel hinausgeht – sie werden zu Symbolgestalten des psychischen Dramas: Donna Anna befreit ihre Persönlichkeit, vom triebhaften Impuls Giovannis geleitet, aus patriarchalischen Fesseln. Dass sich dann ihre Schuldgefühle in Rachegelüsten manifestieren, für die sie Don Ottavio benutzt, bleibt in der Inszenierung unausgeleuchtet – so wie manche Ecken in der ragenden Halle eines Dreißiger-Jahre-Hotels, die Rolf Glittenberg als Einheits-Schauplatz auf die breite Bühne des „Hauses für Mozart“ gebaut hat.

Kraftlose Bühne für einen überflüssigen „Don Giovanni“

Es mag an dem unverbindlich kraftlosen Schauplatz liegen, dass Bechtolfs Inszenierung die konsequente Verortung auf der Meta-Ebene des existenziellen Dramas verfehlt hat und letztlich doch bei der Komödie um einen Testosteronbolzen hängengeblieben ist, dem der Teufel den Cocktail für die „Champagnerarie“ mixt. Es mag auch am plakativen Don Giovanni von Ildebrando d’Arcangelo liegen, der die Zwischentöne der Figur weder szenisch noch stimmlich präsent zu setzen verstand: Wenn auch von der Anlage der Rolle her Eleganz oder Subtilität nicht gefragt waren, sind doch massive Attacke im „Ständchen“ und uniformierter, klobiger Ton selbst in Rezitativen nicht angemessen.

Salzburg: Ildebrando D'Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Salzburg: Ildebrando D’Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Wie überhaupt die Salzburger Sängerbesetzung enttäuschte. Selbst Luca Pisaronis stimmschönem Leporello gelang es nicht, sich zu flexibler Leichtigkeit zu befreien. Die Donna Anna der Lenneke Ruiten schlug sich mit dünn-gefährdetem Timbre und verquälten Spitzentönen durch ihre Partie.

Anett Fritsch dagegen überzeugte als Donna Elvira mit substanzreichem Klang und ausgeglichenen Koloraturen. Andrew Staples gab Don Ottavio in der Tradition englischer Kathedraltenöre mit dünn-blassem Klang und substanzlos verengter Höhe; Tomasz Konieczny bewegte sich als Komtur am anderen Ende der Tonskala mit unfreiem Bass. Nur das Paar Zerlina – Masetto (Valentina Nafornita und Alessio Arduini) ließ den Reiz entspannten Singens und drucklos gebildeter Phrasen erleben.

Auch das Dirigat von Christoph Eschenbach rettete die Aufführung nicht: zu spannungslos schon das Adagio der Ouvertüre, die Tempi ohne vibrierende Brillanz, die Artikulation ohne Prägnanz. Den Wiener Philharmonikern gelangen Momente faszinierender Piano-Kultur.

Doch Festspiel-Faszination blieb aus – dafür stellt sich die Frage ein, wozu man in Salzburg nach nur drei Jahren überhaupt eine „Don Giovanni“-Neuinszenierung, einen „Da Ponte-Zyklus“ braucht. Einen echten Zyklus mit den vorzüglichen Libretti des Dichters hat es noch nie gegeben – da müssten sich Theater oder Festspiele einmal verständigen, auch diejenigen zur Diskussion zu stellen, die Antonio Salieri, Vicente Martín y Soler, Stephen Storace oder auch Francesco Bianchi vertont haben. Und Mozart – Da Ponte – Zyklen sind, mit Verlaub, überflüssig, da die drei Opern sowieso überall und ständig im Repertoire zu finden sind.

Atmosphäre des Epochenabschieds in Kupfers „Rosenkavalier“

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger "Rosenkavalier" Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger „Rosenkavalier“ Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Die zweite Neuinszenierung dieser Festspiele gilt einem ihrer Mitbegründer: Richard Strauss. Zum 150. Geburtstag dieses so bedeutenden wie schillernden Komponisten des 20. Jahrhunderts hatte Noch-Festspielchef Alexander Pereira ausgerechnet das gängigste Werk gewählt: „Der Rosenkavalier“ ist als Epochen-Abschiedswerk mit Blick auf den Ersten Weltkrieg keine originelle, aber eine sinnvolle Wahl – und Altmeister Harry Kupfer vergegenwärtigte dieses unbestimmte Gefühl des Abschieds – für das die Fürstin Maria Theresia von Werdenberg steht – mit einer sich jeder plumpen Aktualisierung enthaltenden Regie.

Entscheidende Anteil an der atmosphärischen Dichte des Abends haben die Bühnenbilder von Hans Schavernoch: Raumfüllende Projektionen illustrieren beziehungsreich Schauplätze und geistige Haltungen: vergehende Barock-Herrlichkeit, aber auch zeitgeistiger Klimt-Jugendstil für die Marschallin; gusseiserne Dachkonstruktionen für den aufsteigenden Faninal, der sich freilich zu gerne im Glanz herrschaftlichen Barocks spiegeln würde. Und die Riesenrad-Gestänge des Praters drohen hinter einem Beisl, das als Illusionsarchitektur unter doppeltem Aspekt aufzufassen ist: In seinem imitierten Realismus steht es für die Kulisse des Schmierentheaters, das ebenso für den Lerchenauischen Gefoppten gespielt wird wie es der Ochs selbst als tragikomischer Wiener Vorstadt – Don Juan aufführt.

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Dass sich Harry Kupfer keiner Regie-Outrierung bedienen muss, um seine Figuren in Ruhe und Tiefe zu entwickeln, wird auch sichtbar. Intensive, beziehungsvolle Momente – wie die vor dem Bild herbstlich kahler Praterbäume im Nebel in Gedanken versunkene Marschallin – entstehen nicht im unermüdlichen Drang von Regisseuren, deutungswütig auch noch die marginalste Szene mit Bewegung füllen zu müssen.

Für dieses Konzept war Krassimira Stoyanova die passende Besetzung: eine Marschallin, die in einem Moment jugendlich spontan, im anderen abgeklärt, ja melancholisch wirkt. Auch die feinen Mezzo-Lasuren ihrer positionssicheren Stimme, der ruhevolle Atem der Legati, die ausgeglichenen Register, die lyrische Innigkeit leuchten den Charakter einer Frau aus, die nicht nur die eigene Jugend im Wissen um die Zeit schwinden sieht.

Kupfer deutet den Epochenabschied fein aus, wenn er es am Ende offen lässt, ob nicht der dunkelhäutige Chauffeur ihres Luxuswagens an die Stelle des Grafen Rofrano treten wird. Kupfer gibt der Marschallin so einen Zug ins Ambivalente, der sie ihrem Vetter Ochs annähert und ihre philosophische und moralische Unfehlbarkeit mildert.

Den "Walfisch" gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger "Rosenkavalier"-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Den „Walfisch“ gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger „Rosenkavalier“-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Mit Günther Groissböck rührt Kupfer auch an der überkommenen Konzeption des Barons Ochs auf Lerchenau: Nicht der gemütliche rotwangige Tölpel, sondern ein schneidiger, gewandter Typ, skrupellos, hochmotiviert, wenn es darum geht, die Frauenzimmer auf die vielerlei Arten, wie sie es (angeblich) wollen, zu nehmen.

Die aufgemachten Striche in diesem ungekürzten „Rosenkavalier“ verdeutlichen die aggressive Sexualität dieses Vertreters der Moderne, der Moral auf Konvention eindampft, die nur zu beachten ist, wenn sie nützlich ist oder dem adligen Blute dient.

Kupfer braucht keine Braunhemden oder Hakenkreuze, um zu zeigen, wohin der Weg dieser Moderne führt. Ochs ist einer ihrer Protagonisten, und Kupfer zeigt nach dem so wundervoll konzentriert wie virtuos inszenierten dritten Aufzug, dass der Rückzug seiner Truppe – auch die keine lerchenauischen Tölpel, sondern bedrohliche Schläger – keine Niederlage sein muss.

Melancholie des Abschieds - und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des "Rosenkavalier". Foto: Monika Rittershaus

Melancholie des Abschieds – und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des „Rosenkavalier“. Foto: Monika Rittershaus

Groissböck ist Niederösterreicher und beherrscht das Idiom perfekt, um dem Charakter seiner Figur Ausdruck zu geben; für den Sänger gibt es noch Entwicklungspotenzial, nicht nur in der Tiefe, auch in der Freiheit der Tonbildung.

Die Liste der luxuriösen Besetzung setzt sich fort mit Sophie Koch, wohl derzeit die prominenteste Darstellerin des Octavian, und Mojca Erdmann als selbstbewusst zu ihrem „Ich“ vordringender Sophie, deren kleiner Soubrettenstimme freilich blühender Glanz und eine tadellose Höhe fehlt. Adrian Eröd bestätigt als Faninal seinen Rang, für den er als Bayreuther Beckmesser die Messlatte hoch gelegt hatte.

Andere blieben hinter ihren Möglichkeiten zurück, so Silvana Dussmann als zu spitzstimmige Marianne Leitmetzerin, Rudolf Schasching als Valzacchi und Stefan Pop als italienischer Sänger mit flackerndem Legato und dünn gefüllter Höhe.

Die Wiener Philharmoniker durften im wie zu Karajans Zeiten hochgefahrenen Graben demonstrieren, wie vertraut sie mit dem Strauss’schen Idiom umgehen. Franz Welser-Möst bemüht sich, leider oft vergeblich, die Lautstärke zu zügeln, die Sänger nicht zu verdecken. Er legt offen, etwa im Vorspiel, dass die „Rosenkavalier“-Musik bei aller silbrigen Geschmeidigkeit und süßen lyrischen Verführung auch mit „Salome“ verwandt ist. Doch den schimmernden Glanz der Übergabe der „Silbernen Rose“ lässt er nicht geheimnisvoll-innig, das weltentrückte Terzett am Ende nicht ätherisch enthoben aus dem Orchester fließen. Ein handfester, kein subtiler „Rosenkavalier“: Welser-Möst hat noch einen Weg vor sich, bis er die Deutungs-Raffinesse seiner Vorgänger erreicht hat.




Festspiel-Passagen IX: „Jedermann“ als bilderreiches Mysterienspiel in Salzburg

"Jedermann" in Salzburg 2014: Cornelius Obonya ist die Titelfigur, Brigitte Hobmeier die Buhlschaft. Foto: Monika Forster

„Jedermann“ in Salzburg 2014: Cornelius Obonya ist die Titelfigur, Brigitte Hobmeier die Buhlschaft. Foto: Monika Forster

„Veronica Ferres war besser“, sagt der Mann auf der Holzbank nebenan. Soeben war mit kitschiger Engelsmusik das Sterben des reichen Mannes zu Ende gegangen; die bunte Truppe von Schauspielern hatte ihm mit Händen voll Erde die letzte Ehre erwiesen.

Bedeutend aber scheint nicht die Moral von der Geschicht‘, sondern die Darstellerin der Buhlschaft: Die Vierzig-Sätze-Partie ist Vorzeigerolle gerade populärer Schauspielerinnen, seit 1920 der Berliner Star Johanna Terwin in Max Reinhardts Regie die Rolle auf dem Salzburger Domvorplatz kreiert hat.

Dabei wäre es dem Stück angemessener, auf andere Rollen zu achten. Auf den Tod etwa, den unheimlichen Boten des Endgültigen. Den spielt anno 2014, erhaben und mit lapidarem Grandeur, der dürre, hochgewachsene Peter Lohmeyer mit kantigem Nosferatu-Schädel und nahezu knochenlos: Sein Gewand weht um die Gestalt wie Nebelschleier, und wenn er dem Jedermann sagt, was Sach‘ ist, zieht er mit dem riesigen gebeinfarbenen Tafeltuch samt der metallisch klappernden Trinkgefäße davon, während sich die Gesellschaft furchtsam hinter den Tischen verschanzt. Kennen ihn manche noch aus seiner Anfänger-Zeit am Bochumer Schauspielhaus ab 1984? Als Serebrjakow in Tschechows „Onkel Wanja“ kehrt der gebürtige Westfale am 20. September dorthin zurück.

Peter Lohmeyer, im Herbst am Schauspielhaus Bochum in "Onkel Wanja" zu erleben, spielt in Salzburg den Tod. Foto: Monika Forster

Peter Lohmeyer, im Herbst am Schauspielhaus Bochum in „Onkel Wanja“ zu erleben, spielt in Salzburg den Tod. Foto: Monika Forster

Der Tod und der Glaube – „das ist das Stück“, sagt das Regieteam im Programmheft: Brian Mertes und Julian Crouch haben Hoffmannsthal aus der Zeit gefallene Moritat im vergangenen Jahr neu erarbeitet und Christian Stückls erfolgreiche Version abgelöst. Ein Amerikaner und ein Engländer – die Globalisierung ist im Kerngebiet deutscher Sprechlandschaften angekommen.

Der Tod und der Glaube: Das sind ursprüngliche Wahrheiten, die sie weder einer distanzierenden Überformung noch einer kritischen Relativierung aussetzen wollten. Die sie aber auch nicht im Sinne eines alten Illusions- oder Allegorie-Theaters ausinszenieren, als gäbe es zwischen Hoffmannsthals artifiziellem Mittelalter und heutiger Nachaufklärung keinen kritischen Graben. Und als würde heute jeder fraglos akzeptieren, was der Dichter an christlicher Botschaft in das Stück integriert hat.

Pandämonium des Figurentheaters: Julian Crouchs riesige Puppenköpfe, hier porträtieren sie Max Reinhardt und Hugo von Hoffmannsthal. Foto: Monika Forster

Pandämonium des Figurentheaters: Julian Crouchs riesige Puppenköpfe, hier porträtieren sie Max Reinhardt und Hugo von Hoffmannsthal. Foto: Monika Forster

Doch ohne die nach Moritatenart verknappte Botschaft bliebe eben doch nur ein „aufgeblasenes Spektakel“, ein „deutungs- und ironiefreies Brimborium“, wie Rezensenten im letzten Jahr gallig vermerkten. Mertes und Crouch lassen sich auf die künstliche Zeitreise Hoffmannsthals ein. Sie führen ein farbenfrohes Spektakel vor, machen aber in jedem Moment bewusst, dass sich eine „Aufführung“ ereignet. Sie lassen Olivera Gajic die überbordende Kostüm-Fantasie ausleben, bremsen sie aber wieder ein, wenn Jedermann im Smokinghemd über die Bretter fegt und der „Glaube“ im schlichten dunklen Anzug mit einer zugbrückenähnlichen Maschinerie erhöht wird.

Die Ausrufer mit ihren Cuts und einige Musiker erinnern an Varietés oder Hotelkapellen aus den Zwanzigern. Auch die Miniaturhäuser der Bühne, die an das Mittelalter animierter Märchenfilme denken lassen, distanzieren sich in ihrem Zitat-Charakter von Illusion und Illustration.

Die Fantasie von Julian Crouch prägt die drastische, im Volks- und Straßentheater verortete Symbolik: Eine überlebensgroße Skelettpuppe führt die Prozession der einziehenden Darsteller an. Riesige Köpfe als Schreckgestalten aus Hanswurstiaden, der Mammon als gewaltiger goldener Kopf mit formatfüllendem Maul: Crouchs Puppen zitieren lustvoll das Pandämonium des Figurentheaters. Am Ende zieht die ganze bunte Truppe mitten hinein in die Zuschauer, die Tribüne hinauf.

Der Teufel (Simon Schwarz) und der Glaube (Hans-Peter Hallwachs). Foto: Monika Forster

Der Teufel (Simon Schwarz) und der Glaube (Hans-Peter Hallwachs). Foto: Monika Forster

Der Tod und der Glaube: Cornelius Obonya ist kein fettgefressener Lebenswollüstling. Er zitiert die Regeln des Geldverkehrs so überzeugend als Glaubenssätze, dass sie auch dem armen Nachbar (mit wenig Profil: Johannes Silberschneider) und dem aufbegehrenden Schuldknecht (stark und energisch: Fritz Egger) einsichtig sein müssten.

Jedermann hat ein Einsehen mit der Not dieser Menschen – aber zweifelt keinen Moment daran, dass ihre individuelle Schwachheit, nicht das erbarmungslose System der Zinswirtschaft für ihr Scheitern ursächlich ist. Das Geld wird’s schon richten: Diesen tiefen Glauben bekennt Jedermann sogar noch, als Jürgen Tarrach als großartiger, geldscheißender Zirkusdirektor aus dem Riesenmaul des Goldkopfs steigt und ihm klar macht: Der Reichtum mag zwar zur Verfügung stehen, der eigentliche Herrscher aber ist er, der Mammon. Die Szene, sinnlich-sinnbildhaftes Puppentheater und große Deklamationskunst verbindend, ist ein Höhepunkt dieses Salzburger „Jedermann“.

Zwischen Tanz und Tod brüllt, prahlt und flegelt Obonya, lacht und heult, fleht und greint. Er ist kein so charismatischer Sprachkünstler wie sein Großvater Attila Hörbiger, kein dominierender Darsteller wie die Großen der siebziger und achtziger Jahre, Curd Jürgens, Maximilian Schell oder Klaus Maria Brandauer. Er passt in seiner pragmatischen Alltäglichkeit ins 21. Jahrhundert. Doch er ist ein Jedermann, dem schon vor den Rufen des Todes irgendwie klar wird, dass der überquellenden Orgie des Daseins eine Dimension der Existenz abgeht, die ihm „unwohl“ werden lässt, weil er sie nicht erfassen kann.

Der Tod bestätigt – so gesehen –, was Jedermann bereits unbewusst in sich trägt: Das Wissen um das Wesentliche der Existenz, das der „Glaube“ dann mit einer präzisen Theologie von Buße, Barmherzigkeit und Erlösung umreißt. Hans-Peter Hallwachs, ein Patriarch des Sprechtheaters, kündet sie völlig locker und unaufgeregt von oben, überschüttet den Jedermann dann mit Wasser, das sich unschwer als das Taufwasser der Wiedergeburt deuten lässt.

Brigitte Hobmeier als "Buhlschaft". Foto: Monika Forster

Brigitte Hobmeier als „Buhlschaft“. Foto: Monika Forster

Ach ja, und die Buhlschaft? Brigitte Hobmeier, bis 1999 Studentin der Essener Folkwang Hochschule, erlöst sie aus der Knechtschaft des Vollweibs, brüstet sich nicht mit den Primärreizen des Sexuellen. Sie radelt in den zwischen tiefrot und grellorange changierenden Teufelsfarben (Simon Schwarz, der chancenlose Teufel, trägt sie später auch) fröhlich um ihren Jedermann herum – und man glaubt ihr, dass sie sich mit ihm auf mehr als auf eine lüsterne Beziehung einlassen könnte. Der Tod fegt sie ins Blumenbeet. Jedermann ist allein, im Moment der Entscheidung.




Festspiel-Passagen VIII: Die Phrasen des Bösen – „Die letzten Tage der Menschheit“ in Salzburg

Dörte Lyssewksi in Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit" in Salzburg. Foto: Georg Soulek

Dörte Lyssewksi in Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ in Salzburg. Foto: Georg Soulek

Servus, Erster Weltkrieg. Bist‘ auch angekommen in der Jetztzeit des Theaters. Zeigst dein Fratzerl von den Brettern herunter. Und wir sitzen im blassen Glanz des k.u.k. Neubarock im Salzburger Landestheater, ein Festspielpublikum, das dich, du Krieg, erlebt wie damals die feinen Herrschaften auf der Wiener Ringstrass’n.

Nicht in Dreck und Blut, zerfetzten Leibern und wahnsinnig gewordenen Augen. Sondern im prickelnden Schauder der Bilder des Grauens, der Feuilletons von Schlacht und Tod. In Schicksalen, zurechtgemacht für das Format der Nachrichten, hingeschnitten auf die Reportage-Schnipsel raschbildriger Magazine, passend für’s Twitter-Format.

Vor 100 Jahren gab’s das auch. Nicht Facebook-Einträge und bunt sprühende Raketeneinschlagsvideos. Die medialen Mittel waren anders, aber nicht weniger verschleiernd. Nur gibt’s heute keinen Sprach-Wüterich wie Karl Kraus, der ingrimmig und inbrünstig die verlogene Wahrheit des „Unmittelbaren“ aufkratzt. Der aus all den mephistophelischen Phrasen montiert, was Sprache als Wahrheit entlarven kann. Der die tarnvernetzten Sprachregelungen zerfetzt und darunter die nackte, schmutzige Lüge hervorzerrt. Das mag auch der Zeit geschuldet sein: Sprache hat gegen die wahnwitzige Macht der Bilder keine Chance mehr.

Georg Schmiedleitner, den Regisseur der „Letzten Tage der Menschheit“ bei den Salzburger Festspielen, interessiert das Mediale. Und die Funktion der Sprache. Schmiedleitner hat eine schier unlösbare Aufgabe übernommen, als er kurzfristig für den geschassten Burgtheaterchef Matthias Hartmann eingesprungen ist. Kraus‘ monströses Drama, das gar kein Bühnenstück sein will, sperrt sich gegen die „Inszenierung“.

Schon der Autor sträubte sich, erteilte so gewieften Theatermännern wie Max Reinhardt eine Absage. Einem „Marstheater“ habe er es zugedacht, schreibt Kraus im Vorwort; Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten. Dass er später selbst eine Bühnenfassung erstellt hat, steht auf einem anderen Blatt.

Szene aus "Die letzten Tage der Menschheit" in der Regie von Georg Schmiedleitner. Im Vordergrund der großartige Darsteller Christoph Krutzler. Foto: Georg Soulek

Szene aus „Die letzten Tage der Menschheit“ in der Regie von Georg Schmiedleitner. Im Vordergrund der großartige Darsteller Christoph Krutzler. Foto: Georg Soulek

Schmiedleitner wählt gut 50 der 220 Szenen aus, die jede für sich stehen, und versucht sie mit den Auftritten des „Nörglers“ – einer Figur, die Karl Kraus selbst spiegelt – und des „Optimisten“ zu gliedern: Ritornell und Variation. Struktur gewinnt der über vierstündige Abend damit nicht, weil ihm dazu innere Dynamik fehlt.

Im zweiten Teil steigert sich zwar der Einsatz der Technik auf der kahlen Bühne Volker Hintermeiers (bis 2005 am Bochumer Schauspielhaus), aber Gegenlicht-Scheinwerfer, Stahlgerüste, Nebelmaschine und Showtreppe intensivieren das, was sich ereignet, nicht. Das ist Peter Eschberg 1995 in Frankfurt besser gelungen, der die Offizierstreffen an der Sirk-Ecke (zu Beginn der Akte) als „Ankerpunkte“ der Handlung und als Wegmarken in den Abgrund nutzte.

So bleiben vor allem die Szenen in Erinnerung, in denen die dreizehn Schauspieler ihr Können zeigen: Elisabeth Orth etwa, die als vertrockneter Lehrkörper, mit dem Rohrstock die „Disziplin“ einfuchtelnd, vor der nicht mehr vorhandenen Klasse einen grotesken Dialog über Gerüchte und Fremdenverkehr zum halbirren Monolog deformiert. Oder Stefanie Dvorak, die als Oberstleutnant Demmer von Drahtverhau das schrille Gekreisch früherer Szenen hinter sich lässt und in einem Lazarett voll Sterbender die „Direktive, Ehrenbezeigungen betreffend“ verliest wie eine Kabarettnummer. Oder Peter Matić, der als Kaiser Franz Joseph noch als Untoter in einem Couplet mit dünner Greisenstimme sein Geschick beklagt wie das gespenstische Zerrbild einer Nestroy-Figur. Oder auch der junge Laurence Rupp, der zwar, wie heute üblich, nachlässig artikuliert, aber wenigstens entspannt sprechen kann.

Dazwischen: Vier Stunden erhellendes Phrasendreschen. Montage von Sätzen, die so abgründig banal sind, dass man sie für schlechte Erfindung halten könnte, hätte nicht Kraus eine furchtbar reale Sprache montiert: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen. … Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik“, schreibt er im Vorwort.

Missratene Karikaturen, der Wirklichkeit abgelauscht

Typen treten uns entgegen, die man für missratene Karikaturen halten könnte, wären sie nicht so zwingend der Wirklichkeit abgelauscht: Der zynisch-kriecherische Hofrat Nepalleck, der die telefonischen Bücklinge en gros abliefert; der Dichter Ludwig Ganghofer, der Kaiser Wilhelm mit seinem Feuilleton umschleimt. Vor allem der Viktualienhändler Vinzenz Chramosta, der als dämonischer Wiener Prolet zu geifernder Monstrosität anschwillt: der großartige Darsteller Christoph Krutzler erinnert mit diesen Gestalten an die Darsteller-Legenden des abgründigen Volkstheaters. Oder das Trio der Journalisten, die sich aus dem Wortmaterial der Schauspielerin Elfriede Ritter (in dieser Szene überzeugend, in anderen zu überdreht: Alexandra Henkel) ihre Wahrheit basteln: Thomas Reisinger und Laurence Rupp sind zusammen mit Krutzler ein infernalisches Trio, zuständig für die Vivisektion der Sprache. Bestürzender könnte man auch heute einen Journalismus, der Lesernähe behauptend das filtert, was „die Leut‘“ lesen wollen, nicht beschreiben.

Nahe am Leser: Kriegsberichterstatteri Alice Schalek (Dörte Lyssewski) verwandelt die Traumata der Front (Soldat: Sven Dolinski) in Infotainment für Wiener Ringstraßen-Großbürger. Foto: Georg Soulek

Nahe am Leser: Kriegsberichterstatteri Alice Schalek (Dörte Lyssewski) verwandelt die Traumata der Front (Soldat: Sven Dolinski) in Infotainment für Wiener Ringstraßen-Großbürger. Foto: Georg Soulek

Krieg als mediales Ereignis, Berichterstattung als personality show, Reportage als performance und urban journalism. Alles schon mal dagewesen: Schmiedleitner rückt nicht umsonst die Figur der Kriegsberichterstatterin Alice Schalek in den Vordergrund. Für Karl Kraus war die „Kriegsverherrlichung“ dieser einzigen Frau im k.u.k. Kriegspressequartier im Ersten Weltkrieg ein rotes Tuch; für Schmiedleitner ist sie eine Studie über die ungeheuerliche Funktion der Sprache im Vernebelungsprozess von Wirklichkeit.

Dörte Lyssewski windet sich in die Szene wie ein Model auf dem Laufsteg: eine Schlange in feldgrauem Rock. Sie konkurriert mit riesigem, haarigen Kopfbesatz mit den Rosshaarpracht des kaiserlich-wilhelminischen Helms (die Kostümbildnerin Tina Kloempken aus Mülheim kennen viele noch von ihren Bochumer Arbeiten). Lyssewksi setzt die Sprache mal bajonettspitz, mal sammetweich an. Sie schwärmt vom „Stahlbad“ und sät mit der floskelhaften Frage der stets quietschvergnügten Interview-Blondinen aus dem Privatfernsehen den Verdacht aus, der Journalismus habe in hundert Jahren nichts gelernt: „Wie fühlen sie sich?“ Und wenn der idealisierte „gemeine Mann“ nicht die passende Antwort gibt, schreitet die Schalek weiter die Isonzo-Front ab, bis „in der Stellung“ eine Flasche Extra-Champagner und Speisen in „dampfenden Schüsseln“ auf Damast serviert werden.

Optimist und Nörgler: Georg Bloéb (links) und Dietmar König. Foto: Georg Soulek

Optimist und Nörgler: Georg Bloéb (links) und Dietmar König. Foto: Georg Soulek

Vom schaurigschönen Bericht von den Helden an der Front für den Wiener Salon zu den schönschaurigen Sensationsbildern des Infotainments ist der Schritt nicht groß. Die zwerchfellkitzelnden Donnerschläge, die Schmiedleitner in die Szenen einschlagen lässt, sind akustische Deutesignale ganz in diesem Sinne: Keinen unangebrachten theatralischen Realismus hat er da im Sinn. Das Dröhnen kommt eher aus „Star Wars“ oder aus den Ego-Shooter-Derivat-Filmen Hollywoods. Krieg als großes Kino. Die krachend aufmarschierende Postmusik Salzburg unter Franz Milacher stellt als Kontrast die Brücke dar zum verlogenen Operetten-„Zauber der Montur“ der guten alten Zeit.

Diese Zuspitzung des Kraus’schen Universaldramas bezahlt Schmiedleitner mit nicht unerheblichem Tribut: Eine Reihe von Szenen driften ab in die Sphäre kabaretthafter Eindeutigkeit, andere – wie die Familie Wahnschaffe – büßen in schriller Übertreibung ihre bösartige Selbstverständlichkeit ein. Der dürre, kahlköpfige Nörgler Dietmar König spuckt dem jovialen Optimisten Gregor Bloéb seine galligen Einwände in so viel Bedeutung eingepresst entgegen, dass gerade diese Dreh- und Angelpunkte der Dramaturgie ihr Gewicht verlieren.

In einer Welt, in der Jesus Christus auf Feldpredigerfomat verkleinert ist und das Universum vielleicht noch als Wirtschaftsraum durchgeht, gehört das letzte Wort nicht Gott. Der Optimist nimmt es sich, und es geht noch einmal unter die Haut: Er schlüpft in die Uniform des Hauptmanns Prasch, vielleicht die verstörendste der entmenschlichten Figuren des Dramas. Mit dem lakonischen Grinsen von jemandem, den das alles nichts angeht, lässt er Mord, Marter und Vergewaltigung Revue passieren: „Man darf den Mut nicht sinken lassen. Kopf hoch!“

Wiederaufnahme am Wiener Burgtheater am 5. September. Eine weitere Inszenierung der „letzten Tage in Menschheit“ kündigt das Pfalztheater in Kaiserslautern an (Premiere 31.01.2015).




Festspiel-Passagen VI: Maßlose Leidenschaft – Händels „Tamerlano“

„Tamerlano“ gehört nicht zu den erfolgreichsten Opern Georg Friedrich Händels. Für die Eröffnung der Saison am King’s Theatre im Oktober 1724 mutete er dem Londoner Publikum ein ungewöhnlich düsteres Werk zu.

Schon die Tuttischläge zu Beginn der Ouvertüre melden von hoher Tragik. „Schwarze“ Tonarten, dunkle Farben in den Streichern: Musikalisch kündigt sich eine Geschichte an, die den Intrigenstadl der zeitgenössischen italienischen Oper durch ihre Radikalität übertrifft. Tamerlano ist ein Herrscher, den keine Moral zu zügeln vermag; sein Gegenspieler Bajazet so stolz, dass er jedem Kompromiss den Tod vorzieht. Und der Irrtum, der Asteria an der Liebe von Andronico zweifeln lässt, ist auf eine fast schon absurde Weise schwach begründet.

Für Händel sind solche extremen Bühnenfiguren eine Herausforderung, die er musikalisch glänzend pariert. „Tamerlano“ beinhaltet eine Reihe ausdrucksstarker Arien; die Selbsttötung Bajazets inspirierte ihn zu einer Szene, die musikalisch einzigartig ist und heute noch unter die Haut geht. Vor allem dann, wenn ein so erfahrener Gestalter wie Placido Domingo sich dieses mehrschichtigen Charakters annimmt. Domingo war wohl der „Star“, der das Publikum in die beiden konzertanten Aufführungen von „Tamerlano“ bei den Salzburger Festspielen locken sollte. Denn fast vier Stunden Opernmusik ohne Szenerie sind selbst für beharrliche Hörer eine Zumutung, der sich ein Händel-Zeitgenosse vor 300 Jahren sicher nicht unterworfen hätte.

Zum Glück halten sich weder Domingo noch die anderen Sänger an historisch informiertes Zirpen, sondern bieten saftig durchblutete Opernmusik. Im Falle Domingos bedeutet das einen immer noch kernig glänzenden Klang, einen meisterlich gestützten Ton, beherrschte Farben und – vor allem in der bewegenden Todesszene – beispielhaftes Abschattieren und suggestive Rhetorik. Das Vibrato ist – wie sollte es auch anders sein – nicht mehr so kontrolliert und spannkräftig wie früher. Durch die Koloraturen mogelt sich Domingo mit erfahrungsgesättigtem Geschick, solidarisch getragen von Marc Minkowski am Pult seines Orchesters „Les Musiciens du Louvre“. Wie Domingo aber einen Charakter musikalisch erfasst und durchdringt, hat ein nach wie vor selten erreichtes Format.

In Bejun Mehta hat er einen würdigen Gegenspieler: Als Tamerlano zieht der amerikanische Counter alle Register, um die Leidenschaften dieses Herrschers einzufangen, der in Liebe wie Hass kein Maß akzeptiert: Hohn, Erniedrigung, Sklaverei und sexuelle Gewalt hat er für die bereit, die seinen egomanischen Leidenschaften nicht folgen wollen. Mehta muss Affekte wie Überschwang, Stolz, Wut, Kränkung ausdrücken: seine gut gebildete Stimme bringt dafür Brillanz, Schlagkraft und Agilität mit. Zwar muss Mehta in der Höhe manche Töne „antippen“ und nicht jede Messa di Voce gelingt abgerundet; dennoch gehört er derzeit zu den führenden Vertretern des Fachs und kann diese Position mühelos verteidigen.

Franco Fagioli zieht als Andronico leider nicht gleich: Die Partie, für den legendären Kastraten Senesino geschrieben, will nicht durch prunkvolle Virtuosität brillieren. Sie lässt dem Sänger eher die Chance, die Schönheit und Ebenmäßigkeit des Tons in allen Lagen, aber auch die Beherrschung des „passaggio“ und die Fülle des tiefen Registers zu demonstrieren. Fagiolis Mezzo kann vor allem in der Tonbildung nicht mehr überzeugen: Das Vibrato ist zu dominierend, der Ton wirkt hohl und schwammig, die Artikulation leidet. Seine an Grimassen grenzende Mimik ist wohl kaum gewollt; sie zeigt, wie der Sänger um die Position seiner Stimme ringt. Der kleinen Rolle des Leone gibt Michael Volle ein präsentes, technisch abgesichertes Profil.

Ausgezeichnete besetzen konnte Salzburg die Frauenpartien: In der Partie der Asteria, geschrieben für die legendäre Primadonna Francesca Cuzzoni, ließ die erst 22jährige Julia Lezhneva kaum einen Wunsch offen. Ob funkelnde Brillanz oder wehmutsvolle Innerlichkeit, ob Bangigkeit oder Beklemmung: Lezhneva findet stets die richtige Farbe, die passende Phrasierung. Ihre beiden Arien im ersten Akt mit ihren uneindeutigen Affekten, ihren zwischen Leid, Liebe, Hass und Verachtung schwankenden Gefühlen, stellt sie musikalisch differenzierend dar. Dazu dienen ihr eine kostbar timbrierte Mittellage, sanft gedrosselte Mezzavoce, tadellose Piani.

Lezhneva hat ein entspanntes Legato, kann aber auch impulsiv akzentuieren. Nur die Höhe wirkt technisch fragwürdig: zu oft bildet sie die Töne am flachen Gaumen, statt ihnen Stütze und Rundung zu geben. Dennoch: Lezhneva, vom Magazin „Opernwelt“ zur Nachwuchssängerin des Jahres 2011 gekürt, ist mit Recht eine der großen Hoffnungen im belcantistisch geprägten Sopranfach. Die Französin Marianne Crebassa bietet ein ebenso überzeugendes Rollenporträt der Irene: Die fremde Prinzessin ist Tamerlano als Braut versprochen, doch der Tatar setzt sie lediglich als Manövriermasse der Liebe ein, um Andronico für sein Wohlverhalten zu belohnen. Händel macht die Figur spannend, weil er Irene nicht als passives Opfer zeigt, sondern als selbstbewusste Frau, die nicht geneigt ist, die Spiele der mächtigen Männer über sich ergehen zu lassen. Ihr Mezzosopran ist kraftvoll, geschmeidig, expressiv und nur hin und wieder von zu üppigem Vibrato überlagert.

Les Musiciens du Louvre aus Grenoble, das vor 30 Jahren von Marc Minkowski gegründete Orchester, hatte wesentlich Anteil daran, den langen Abend nicht zu lange erscheinen zu lassen. Minkowski bot einen dunkel getönten Händel-Klang, der sich signifikant von der basislosen Brillanz manch englischer oder deutscher „Originalklang“-Ensembles abhebt. Bei aller Präzision und Transparenz verleugnet er nicht, dass Händel, wenn ihm die Möglichkeiten geboten waren, üppige Besetzungen für substanzreichen, festlichen Klang bevorzugte. Manchmal litten die Bläser; selbst die Trompete von Hara Fruzsi musste sich bemühen, mehr als eine Orchesterfarbe abzugeben. Minkowski reagierte jedoch stets umsichtig; dämpfte zum Beispiel die Streicher reaktionsschnell in der aparten, von zwei Flöten begleiteten Arie der Irene. Die abwechslungsreiche Klanggebung und Phrasierung des Ensembles, das über Jahre hin gewachsene Einverständnis mit dem Dirigenten, die Balance innerhalb des Ensembles und die flexiblen Tempi trugen dazu bei, Händels Musik auch über lange Zeit hin spannend zu halten.




Festspiel-Passagen II: Geistlicher Auftakt in Salzburg

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Heute ungewöhnlich, wie klar sich Alexander Pereira bekennt: Er glaubt an Gott. „Ich bin ein alter Jesuitenschüler“, sagt er in einem Interview, in dem er seine Entscheidung begründet, den Salzburger Festspielen künftig eine „Ouverture spirituelle“ voranzustellen. Der neue Intendant möchte die geistliche Musik ins Blickfeld rücken. Christlich geprägte Werke sollen künftig auf solche aus anderen Weltreligionen treffen, jedes Jahr eine andere: 2013 ist der Buddhismus dran, 2014 der Islam.

Zum Auftakt seiner ersten Salzburger Festspielzeit setzte Pereira einen jüdischen Schwerpunkt, mit Musik, die nicht jeden Tag zu hören ist: Das Israel Philharmonic Orchestra spielte unter Zubin Mehta Ernest Blochs „Avodath Hakodesh“ (Gottesdienst). Mit Noam Sheriffs „Mechaye Hametim“ (Auferweckung der Toten), einer 1985 entstandenen großen Symphonie mit Chor, Orchester und Solisten, kam ein zeitgenössischer israelischer Komponist zum Zuge. Und von einem Klassiker der Moderne, Arnold Schönberg, stammt „Kol Nidre“, für das er melodische Elemente aus Musik zum jüdischen Jom Kippur verarbeitet hat.

In diese Reihe darf man Igor Strawinskys „Psalmensymphonie“ getrost einordnen. Bilden doch drei alttestamentliche Psalmtexte die Grundlage, die zum jüdischen wie zum christlichen Gebets- und Traditionsschatz gehören. Als Person schlägt Strawinsky eine Brücke zur orthodoxen Christenheit, als Musiker verleugnet er die Spuren russischer Kirchenmusik auch in diesem Werk nicht. Um das Jahr 1930, in dem die Symphonie entstanden ist, praktizierte er seinen Glauben explizit und setzte sich mit religiösen Fragen auseinander. Mit den Wiener Philharmonikern und der vorzüglichen Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor verständigte sich Valery Gergiev auf einen ruhigen, unspektakulären Zugang mit breit gefächerten dynamischen Nuancen zwischen Pianissimo und Mezzoforte.

Strawinsky hat sich bei der Musik zu Psalm 38, 39 und 150 von religiöser Emphase fern gehalten. Er schreibt Musik wie eine mittelalterliche Miniatur: farbenprächtig, aber objektivierend. Und Gergiev folgt dieser „darstellenden“ Linie. Die Flexibilität des Chores, die ruhig-schwingenden Tempi des Dirigenten, die strukturerhellende Transparenz des Orchesters passen bestens. Wenn in „Alleluja. Laudate Dominum“ das „in sanctis Eius“ verhalten-scheu erklingt, ist man an die große östliche Tradition der Heiligenverehrung erinnert. Kein Triumph, keine Verherrlichung, sondern ein ehrfürchtiges Sich Nähern mag diese musikalische Wiedergabe widerspiegeln.

Die Eröffnungskonzerte der „Ouverture spirituelle“ zeigen eine dramaturgisch bewusste Konzeption: Am Beginn stand – wie künftig in jedem Jahr geplant – Joseph Haydns „Schöpfung“, eine hochgelobte Aufführung unter John Eliot Gardiner; im nächsten Jahr soll sie Nikolaus Harnoncourt dirigieren. Es folgte der „Messias“ unter Daniel Harding, ein Schlüsselwerk in der Geschichte des Oratoriums. Mit der c-Moll-Messe KV 427, die Mozart selbst bei seinem letzten Salzburg-Besuch 1783 dirigierte, wurde dem musikalischen Genius loci gehuldigt.

Im Laufe der Saison, die bis 2. September ausgedehnt wurde, folgen mit der „Messe solennelle“ von Hector Berlioz am 15. August und der „Messa da Reqiuem“ Giuseppe Verdis als Abschlusskonzert am 1. September weitere bedeutende Schöpfungen aus der geistlichen Sphäre. Während die Festspiele auf diese Weise eher eine Reihe der beliebtesten „Highlights“ präsentieren – was sich künftig der Profilierung halber nicht fortsetzen sollte –, brachte etwa die Salzburger Dommusik im Sonntagshochamt eine der zwanzig Messen von Luigi Gatti, dem Hofkapellmeister Fürsterzbischof Colloredos und damit Vorgesetzten von Leopold Mozart.

Der Anfang mit der „Schöpfung“ lässt sich durchaus programmatisch für die philosophische Ausrichtung der „Ouverture sprituelle“ verstehen. Haydn schrieb kein Oratorium für die Kirche, sondern für eine gebildete Gesellschaft, für die freilich christlicher Glaube und die Ausrichtung an christlichen Prinzipien Teil ihres geistigen Lebens war. Der Schöpfungslaube, den Gottfried van Swietens Libretto voraussetzt, verbindet nicht nur Juden, Christen und Muslime. Dass am Beginn allen Existierenden eine wie auch immer geartete göttliche Setzung steht, ist Gemeingut aller Religionen. So spiegelt die „Schöpfung“ Rückbezug auf Gott, Freude an der Natur, aufklärerisches Denken, aber eben auch ein Bewusstsein für das – wenn auch sehr allgemein zu verstehende – Gemeinsame aller Religionen, formuliert auf der Basis eines christlich-jüdischen Schöpfungsbegriffs.

Ein Projekt wie die „Ouverture spirituelle“ ist in Gefahr, zu einem Wohlfühlprogramm mit beliebten Werken und beliebigen Inhalten zu degenerieren. Um ein postmodernes kulturelles Konsumprogramm mit spiritueller Prägung zu vermeiden, bieten die Festspiele gemeinsam mit den Herbert-Batliner-Europainistitut ein Begleitprogramm an. Wie beim „Jedermann“ mit seinem aus dem geistlichen Spiel stammenden Parabel-Charakter bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob er sich innerlich berühren lässt, ein Häppchen moralische Genugtuung aufnimmt oder sich Hoffmannsthals Appell lediglich als beeindruckendes Produkt einer Kulturepoche zu Gemüte führt. Wer die aus Antike, Christentum und Aufklärung ererbte Idee, Bildung könne den Menschen zum vollkommeneren Menschsein führen, nicht ganz aufgeben will, wird den spirituellen Schwerpunkt zu Beginn der Festspiele – der dessen ureigensten Intentionen entspricht – nur begrüßen können.

Nicht nur christlich, sondern ausgeprägt katholisch war das Programm eines Konzerts, mit dem Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus Musicus im Salzburger Dom zu Gast waren. Die „Missa Longa“ (KV 262) und die Litanei zum Allerheiligsten Altarsakrament (KV 243) sind beide in Salzburg uraufgeführt worden: die „Litaniae de venerabili altaris sacramento“ zum Palmsonntag 1776, die Messe – durch das Schreibpapier des Autographs auf 1775 zu datieren – vermutlich im gleichen Jahr im Dom oder in Sankt Peter. Beide geben ein glanzvolles Zeugnis für das Können des 19jährigen Konzertmeisters im Dienste Colloredos. Mit der Messe scheint Mozart alle kontrapunktischen Künste zum Lob Gottes – auch zum Ohrenschmeichel seines Dienstherrn und der Selbstbestätigung seiner Kunst – eingesetzt zu haben. Und die „Litaniae“ geben Zeugnis vom Einfallsreichtum des Komponisten, der jeder Wiederholung des „miserere nobis“ eine eigene Farbe, einen spezifischen Ausdruckswert geben konnte.

Harnoncourt dirigierte beide Salzburger Höhepunkte der Kirchenmusik – in Wien hatte Mozart ja leider keine Gelegenheit mehr, auf diesem Feld zu brillieren – mit ausgefeilter Sorgfalt im Detail. Die Reaktionsschnelligkeit seines Orchesters, der vokale Expressionswille des Arnold-Schönberg-Chores, verhallten leider in der unergründlichen Akustik des Domes. Ein Grund ist wohl: Musiziert wurde im Altarraum, nicht auf der Empore, wie es für eine Kirche eigentlich vorgesehen ist.

Auf Wunsch Harnoncourts wurden extra die Tapisserien aus dem Dommuseum aufgehängt, um die akustischen Verhältnisse der Mozartzeit anzunähern. Leider umsonst: Der Nachhall überflutete die sorgsam ausmodellierten dynamischen Kontraste; jedes Forte verurteilte ein nachfolgendes Piano zum Tod durch Ertrinken. Zudem neigt Harnoncourt in der Messe zu raschen, energischen Tempi und kleinteiliger Artikulation.

Auch die Solisten Sylvia Schwarz, Elisabeth von Magnus, Jeremy Ovenden und Florian Boesch versuchten meist vergeblich, ihre Stimmen zu profilieren. In den „Litaniae“ hatten die Musiker dank des langsameren Tempos und des musikalischen Pathos mehr Chancen auf fassbar gestalteten Klang. Harnoncourt beleuchtete theologische Schlüsselworte wie „supersubstantialis“ oder das – von Mozart in eine exotisch-dunkle Klangfarbe gekleidete – „Viaticum“, die Wegzehrung derer, die im Sterben zu Gott streben. Ansonsten musste man in Kauf nehmen, was als Gleichnis für unsere Zeit stehen könnte: Das Wort verhallte unverstanden.




Monegassische Hochzeiten

Briefmarken, Fußball und Skat als Einbürgerungshilfen eines Ösi im Revier

Den Übergang vom Ösi zum Wösi (damals hieß das noch nicht so) schaffte ich mit 10 bei den etwa Gleichaltrigen durch das Fußballspielen, das ich im Essener Norden auf der Bleiche hinter unserem Kruppschen Wohnblock spielerisch lernte – und auf den abgeteilten Wiesen hinter den Häusern gegenüber, sowie auf unserer kaum befahrenen Sackgasse zwischen diesen Häusern, der Heegstraße nämlich, die heute zu einem großen Teil der in den 70er Jahren neuen Straßenführung von Essen nach Bottrop zum Opfer gefallen ist, und mit ihr die Häuser natürlich auch. Wenn wir heute mit dem Auto von Bottrop nach Essen fahren, fahren wir gleichsam durch unser Schlafzimmer. Virtuell natürlich. Aber wer weiß noch davon?

Skatspielen war auch wichtig. Das lernte ich ebenfalls mit 10 und durfte sehr bald (welch hohe, welch wirkliche Auszeichnung!) mit den alten Kruppianern und staublungigen Bergleuten, Rentnern und Frührentnern also, nach Herzenslust mitspielen. Und zwar immer bei uns, in der von meinem Opa, dem aus Ostpreußen stammenden und ebenfalls und maßgeblich Skat mitspielenden ehemaligen Walzwerker, gezimmerten Laube, die vordem ein Hühnerstall war. Da ging’s hoch her! Und auch meine Einbürgerung bei den Erwachsenen war hierdurch gelungen.

Als Konstante hatte ich meine Briefmarkensammelleidenschaft aus Salzburg mitgebracht. Damals sammelten noch viele Kinder und Jugendliche und Erwachsene Briefmarken. Und so gab es auch hier Anknüpfungspunkte und Übergangshilfen. Naheliegenderweise sammelte ich schwerpunktmäßig österreichische und deutsche Marken; lernte dadurch viel Geschichte, Erdkunde und vieles andere Wissenswerte kennen; sammelte aber auch Motivmarken aus dem Bereich vor allem der Tier- und Pflanzenwelt und des Sportes; nachdem ich zuvor eine ganze Zeit lang alle Briefmarken, die mir irgendwie in die Finger gekommen waren, also gestempelte und ungestempelte, geschnittene und gezackte, dreieckige und viereckige, aus welchem Land und aus welcher Zeit auch immer, in meine Sammlung einbezogen hatte.

Als ich vor einigen Tagen nun aus den Fernsehnachrichten, da bildbegleitet, wie nebenbei erfuhr, dass bei der aktuellen Fürstenhochzeit in Monaco ein Block Briefmarken mit dem neuvermählten Paar herausgegeben würde, fühlte ich mich sofort an meine einstige Sammelleidenschaft erinnert. Ich holte seit langem mal wieder meine alten Briefmarkenalben heraus und stieß gezielt auf meine monegassischen Marken der 50er-Jahre. Die drei Marken mit der Einzelansicht des Fürsten Rainier III fielen mir gleich ins Auge, auch die monegassischen Marken zu den Olympischen Spielen von Helsinki 1952 usf., vor allem aber, die fünf Briefmarken, die ich eigentlich gesucht hatte: die Marken mit dem damals Schlagzeilen beherrschenden Hochzeitspaar vom 19. April 1956. Dennoch war und bleibt das Jahr 1956 in meinem Gedächtnis vor allem das Jahr des am Radio von mir bewusst mitbekommenen Ungarnaufstandes und der fast gleichzeitigen Suezkrise, von der ich nur ein wenig zeitversetzt – in wieder aufgeweckter Erinnerung daran – ägyptische Briefmarken mein eigen nennen durfte.




Zwischen Mozart und Moderne

Mojca Erdmann ist eine Sopranistin der besonderen Art. Wer im Bundeswettbewerb Gesang einen Preis für die Interpretation zeitgenössischer Musik gewinnt, wer in Salzburg mit Mozarts „Zaide“ debütiert (2006) und drei Jahre später in Schwetzingen die Uraufführung von Wolfgang Rihms „Proserpina“ stemmt, verfügt über ein ungewöhnlich kontrastreiches Repertoire. Nicht viele Stimmen halten diesem stilistischen Spagat zwischen Klassik und Moderne stand.

Zwischen Mozart und Rihm hat sie u.a. Strauss, Mahler und Puccini gesungen. Wir hörten sie als Suor Genovieffa, die Vertraute der Suor Angelica in Puccinis gleichnamiger Verismo-Oper. Mit leichter, dennoch ausdrucksstarker Stimme formte sie einen sanft heiteren Charakter. Und in Mahlers 4. Sinfonie, in deren letztem Satz Erdmann von den himmlischen Freuden ganz irden erzählte, ließ sie es geschickt offen, ob des Komponisten Erlösungsmusik nicht doch Zeichen von Resignation in sich birgt.

Nun aber hat Erdmann ihre erste CD vorgelegt und sich dabei vor allem auf Mozart-Arien kapriziert. Daneben erklingt die Musik einiger Klassik-Kleinmeister, denen sich die Sopranistin ebenso ambitioniert widmet. Ja, sie versenkt sich in ihre Rollen, klagt inbrünstig, zürnt herausfordernd, spöttelt sanft. Das also fällt zuerst auf: ihre Identifikationskraft, ihr Sinn für dynamische und gestalterische Nuancen.

Dabei ist die Stimme nur bedingt schön, weil nicht stets balsamisch gülden strömend, in blitzblanker Höhe jubilierend oder in der Mezzolage satt grundiert. Doch hier geht es nicht um zur Schau gestellte Perfektion, auch nicht um jungmädchenhafte Reinheit, sondern ums Modellieren unverwechselbarer Charaktere.

Der vor Zorn bebenden Zaide also möchten wir nicht im Dunklen begegnen. Der zutiefst einsamen Pamina wiederum (aus Mozarts Zauberflöte) gilt unser ganzes Mitleid. Oder Zerlinas milde Versöhnungsgeste gegenüber ihrem Liebsten Masetto (Don Giovanni) – schlicht und erhaben.

Mojca Erdmanns Stimme ist nicht von strahlendem, sondern metallenem Glanz, das mag der Hinwendung zum modernen Repertoire geschuldet sein. Sie ist bisweilen herb und ungenau fokussiert. Doch immer siegt ihre suggestive Kraft. Bestens unterstützt vom Ensemble „La Cetra“ unter Andrea Marcon, das in historisch informierter Aufführungspraxis pointiert musiziert – mit teils geschärften Akzenten, manchmal harsch, dann wieder in samtenem Wohllaut spielend.

 

Die CD wurde von der Deutschen Grammophon veröffentlicht.

 

(Der Text erschien in kürzerer Form in der WAZ).




Nur noch Zerstreuung und Betäubung – Frank Castorf inszeniert in Salzburg Tennessee Williams‘ „Endstation Sehnsucht“

Aus Salzburg berichtet Bernd Berke

„Big Brother“ hat nun auch Tennessee Williams eingeholt, die allgegenwärtigen Kameras sind bis zur „Endstation Sehnsucht“ vorgedrungen. Lust auf heftige Eheprobleme? Eine Sekunde, wir schalten um von der Küche ins Badezimmer, sehen Sie selbst!

Regisseur Frank Castorf hat Williams‘ Nachkriegs-Klassiker von 1947 (George Orwells Roman „1984″ mit dem „Big Brother“-Motiv erschien übrigens 1948) für die Salzburger Festspiele in unsere Zeit gezerrt; in eine Zeit, die keine privaten Dinge mehr zulässt, in der jedes ordinäre Gezeter sogleich für schrille Talkshows zugespitzt wird. Und so übermittelt denn auch ein TV-Bildschirm in dieser Inszenierung mancherlei Szenen zwischen Dusche und Toilette. Anders als im Originaltext, quetschen sich die Beteiligten auch schon mal zu dritt oder sechst auf der Bettstatt und vollführen groteske sexuelle Turnübungen.

Willkürliche Einschübe und jede Menge Zeitgeist

Die Geschichte vom geradezu tierhaft virilen „Proll“ Stanley Kowalski, der die ungleich zarteren Seelen seiner Frau Stella und ihrer Schwester Blanche sozusagen mit bloßen Fäusten zermalmt, wird von Castorf mit willkürlichen Einschüben versehen. Kowalski, der ja nun einmal aus Polen in die USA eingewandert ist, bekommt eine fetzenhafte Solidarnosc-Biographie verpasst, er soll einst an der Seite (und im Schatten) Lech Walesas für die Freiheit gekämpft haben. Doch von seinen früheren Utopien ist nichts geblieben als eine ziellos rasende Energie am Rande der Kriminalität. So ähnlich ergeht’s hier allen: Das früher Erträumte zeigt nur noch seine albtraumhaften Fratzen.

Trostlos wirkt die unbehauste Szenerie. Gegen Ende wird diese auf grelle Art dürftige Kleinwohnung der Kowalskis (Bühne: Bert Neumann) so weit nach hinten gekippt, dass alles Mobiliar verrutscht und die Darsteller sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Die Welt ist also mal wieder ein unrettbar sinkendes Schiff. Doch dieser im Theater ach so gängige Befund wird nicht so sehr erkundet, sondern schlichtweg vorausgesetzt.

Alles ist mies, aber wir spielen’s munter ‚runter

Mögliches Motto: Alles ist mies, aber wir spielen’s munter ‚runter. Als sei’s eine Bochumer Regietat nach Art von Jürgen Kruse, wird unablässig Popmusik ins triste Geschehen eingeschleust – von Lou Reed („Perfect Day“) bis „Oasis“. Überhaupt wird das menschliche Elend allzeit mit Singsang verkleistert, den Rest erledigt „Doktor Alkohol“. Ruhe und Besinnung sind nicht mehr vorgesehen, nur Zerstreuung und Betäubung. Noch so ein Befund, der etwas für sich hat; wie denn Castorf überhaupt etlichen grauslichen Zeitgeist auf die Bühne schaufelt. Und zwischendurch lässt er sogar einige kostbare Momente stehen, in denen das wahre Leiden an Sehnsucht und Begierde hindurch schimmert.

Auf die Nerven geht aber diese Manier: Stets werden Sätze wiederholt und auf die schrille, zumeist hysterische Spitze getrieben. Das schmälert die durchaus achtbaren schauspielerischen Leistungen. Der Text geht vielfach im Gebrüll oder Gewinsel unter. Alle Haltungen sind nur noch Pose und Zitat, eine Lebensgeschichte geschweige denn eine umrissene Identität scheint keine dieser Figuren zu haben. Sie alle existieren nur noch als zumeist infantile Improvisationen ihrer selbst.

Henry Hübchen als Stanley Kowalski flattert zwischen haltloser Wut, fast schon rührend lachhafter Kraftmeierei und bloßer Leichtfertigkeit. Kathrin Angerer als Stella oszilliert als piepsiger Marilyn-Monroe-Verschnitt zwischen Vorstadtschlampe und Sensibelchen, und auch Silvia Rieger als Blanche, ehemals wohl attraktiv, ertrinkt in Augenblickslaunen.

Unter vier Schlagworte fasst das mit superklugen Essays gesättigte Programmheft die Zeitdiagnose: Danach herrschen in diesen unseren Tagen: Verwahrlosung, Lebensgier, Paranoia und Depression. All dies prägte die Inszenierung, die ein Gewoge aus Bravo- und Buh-Rufen hervorrief. Wie sagte doch die Frau vom Frittenstand am Theater, die tags zuvor die Generalprobe gesehen hatte: „Es ist halt a Problemstück“. Ei, freilich.




In Salzburg sieht die Erde wie eine Mozartkugel aus

Salzburg. Man muß diese Szenen gesehen haben, sonst glaubt man es kaum: Wenn im rundum beflaggten Salzburger Festspielhaus die Premierentermine anstehen, ist auf der gegenüberliegenden Straßenseite beinahe mehr los als im Foyer. Hunderte von Schaulustigen versammeln sich, um einen Blick auf Eleganz und Prominenz zu erhaschen. Dutzendfach surren die Videokameras. Etwas Abglanz für daheim hätt‘ man schon gern.

Mit der Ära von Gérard Mortier als Festspielintendant und von Peter Stein als Schauspielchef weht – gar manchen Traditionalisten zum Verdmß – ein etwas freierer Wind als zu Karajans Zeiten selig. In einer Programmzeitung wird gar die althergebrachte Kleiderordnung gelockert. Auch im Dirndl oder Trachtenjanker dürfe man erscheinen – und überhaupt: Zweckmäßig solle es sein, nicht unbedingt wie aus dem Ei gepellt. Das geht denn aber doch a bisserl zu weit. Kleider machen schließlich Leute, und die kommen denn eben doch in edlerem Tuch und mit Fliege oder Kulturstrick um den Hals. Die feinen Damen lassen derweil wie eh und je gnädigst die Klunker klimpern.

Mit glorioser Repräsentation hat Peter Stein nicht viel Sinn. Beim kleinen Umtrunk für geladene Gäste in der Pause von Shakespeares „Coriolan“ bekennt er ganz offen, wie ungern er solche Vorzeige-Termine habe. Seine Begrüßung dauert denn auch nur ein Minütchen – und schon dürfen sich versammelte Wichtigkeiten ans Sektbüffet begeben. Im Vorraum sieht man kurz darauf einen Mann mit schlohweißem Haar. Ist das nicht …? Ja, er ist es: Bundespräsident Richard von Weizsäcker, im gepflegten Gespräch mit Peter Stein. Die kulturelle Sommertour hat das Staatsoberhaupt auf dem Weg über Bayreuth hierher geführt.

Durch die kleinen Salzburger Altstadtgäßchen ergießt sich der festspiel-übliche Touristenstrom aus aller Welt. Man redet in vielen Zungen, und man redet viel über Theater. Wo sonst nimmt man Kultur so wichtig?

Doch die Kultur treibt auch seltsame Blüten. Im Mozart-Geburtshaus wollen sie für den Gang durch ein paar Zimmerchen umgerechnet 8,10 DM pro Nase einstreichen. Anschließend soll man, bittschön, das Faksimile eines Mozart-Briefs oder einer Partitur erwerben. Und überall gibt es massenhaft Mozartkugeln. Von hier aus gesehen, kehrt sich geradezu die Ordnung des Planeten um: Die Erde muß wohl eine große Mozartkugel sein.

                                                                                                                            Bernd Berke




Theater wie in Fels gehauen – Shakespeares „Coriolan“ bei den Salzburger Festspielen

Von Bernd Berke

Salzburg. Die Felsenreitschule ist der Tod jeder Differenzierung oder Innigkeit. Dieser Spielort taugt für gravitätisches Breitwandtheater. Hier kann man gleichsam Stücke in den Fels hauen, aber niemals ziselieren. Ein passender Platz also für Haupt- und Staatsaktionen wie in Shakespeares Römer-Drama „Coriolan“? Salzburg machte die Probe aufs Exempel.

„Coriolan“, so will man fast meinen, ist eigentlich gar kein „richtiger“ Shakespeare, kein umfassendes Welt-, sondern staubtrockenes Machttheater. Der Griff ins Archiv beweist es: ein durchaus ungern gespieltes Stuck. Zuletzt wagte sich vor drei Jahren Christof Nel in Basel daran, die Machtspielchen als bloßen Treppenwitz darstellend. Keine Chance gegen Hamlet, Lear & Company.

Man möchte allen und niemandem glauben: dem Volkshasser Coriolan, denn die Masse, der er vorsteht, scheint wirklich breit und dumm, beliebig lenkbares Stimmvieh. Dann aber auch dem Volke, denn dieser Coriolan ist in seinem durch militärische Erfolge gespeisten Selbstbewußtsein gar zu dreist. An wen soll man sich da halten, wem seine Zuschauerseele schenken? Das Stück markiert freilich einen historisch interessanten Moment staatlicher Rechtfertigungskrise: Wer Konsul werden will, muß das Volk um Zustimmung bitten. Doch Coriolan verhöhnt die Massen nur.

Deklamation und großspurige Gestik

Regisseurin Deborah Warner kommt aus der britischen Shakespeare-Tradition – und damit wird es vollends fatal. Übermächtig das Erbe, gegen das sie sich kaum Frechheiten erlauben darf. Also ist Deklamation gefragt, große, ja großspurige Gestik, die der Aufführungsort sowieso verlangt. Und so gerät man stracks ins klassizistisch volltönende Staatstheater der 50er Jahre. Dabei wirken die Figuren in ihren antiken Gewändern doch so zeitlos gemeißelt.

Ein Theaterwunder, nicht genug zu bestaunen, wenn in solchen Zusammenhängen doch intensive Szenen gelingen. Besonders Bruno Ganz (Coriolan) und Hans Michael Rehberg als sein Vertrauter Menenius stehen dafür ein. Doch insgesamt schleppt sich die Handlung in endloser Rede und Widerrede dahin.

Bataillone von Statisten

Ganze Bataillone von lärmenden Statisten werden für die kriegerischen Szenen zwischen Römern und Volskern aufgeboten. Wenn sie auf die in drei Ebenen postierten rostigen Stahlplatten einschlagen, gemahnt dies freilich eher an Knastrevolte denn an Völkerschlacht.

Grandios immerhin die Sprechkultur auf der kaum sprachfreundlichen Riesenbühne. Eine große alte Tragödin wie Maria Wimmer (Coriolans Mutter Volumnia) ist hier ganz in ihrem Element, und auch Bruno Ganz glänzt in dieser Hinsicht.

Schmerzlich aber vermißt man auf Dauer eine zeitgemäße Aneignung des Stoffes. Mag ja sein, daß wir am Ende aller Ideologien angelangt sind. Aber deswegen schon beinahe meinungsloses Theater, ein bloßes Auf- und Abtreten teilweise großartiger Darsteller?

Kompromißlos ist Coriolan, jedem Taktieren abhold. Ein an sich sympathischer Zug. Doch er entlädt sich in grinsender Kriegswut und blindem Volkshaß. Und das Volk brüllt beisnnungslos seinen Tod herbei: „So soll es sein“, skandiert die Menge. Im selben Rhythmus, wie sie seinerzeit riefen: „Wir sind das Volk!“ So unterschiedslos verführbar zu Krieg, Frieden und Verfolgung wären wir also? Dann gehörte ja die Demokratie samt Tribunen zum Plunder der Weltgeschichte. Eine höchst bittere Erkenntnis, wenn es denn eine wäre.




Triumph für die Muse des Theaters – „Das Gleichgewicht“ von Botho Strauß in Salzburg uraufgeführt

Von Bernd Berke

Salzburg. Selten dürfte ein neuerer Theatertext so sehr aufs Wort belauert worden sein. Botho Strauß, immer schon zuständig für die „neueste Stimmung im Westen“, hatte vor einigen Monaten im „Spiegel“ seinen „anschwellenden Bocksgesang“ angestimmt und dabei mit brandgefährlichen Begriffen zwischen Blut, Boden und Kampfesehre gespielt. Desto mißtrauischer lauschte man jetzt bei den Salzburger Festspielen der Uraufführung seines Stückes „Das Gleichgewicht“.

Strauß ist hier ganz auf seiner eigenen Höhe. Zwischen allerlei Phantom-Liebe und versickernden menschlichen Beziehungen entfaltet er ein weites Panorama der Verluste. Verschleiert und verspiegelt: der zauberische Bühnenraum von Karl-Ernst Herrmann. Ähnlich ätherisch wie das Doppel-Leben jener Lilly Groth (Jutta Lampe). Nach einem Jahr der Trennung auf Probe von ihrem Mann, der in Australien Ökonomie lehrte, hat sie sich offenbar in eine eingebildete Zweit-Beziehung zu dem Rockmusiker Jacques le Coeur hineingesteigert. Ein zweites Leben neben dem ersten – nur so findet sie Halt und inneres Gleichgewicht.

Diese empfindliche, jederzeit bedrohte Ökonomie des Glücks spiegelt Strauß nun auf den verschiedensten Ebenen der Gesellschaft. Das Spektrum reicht vom verwahrlosten Milieu einer S-Bahn-Unterwelt (mit Rolltreppen abwärts) über eine von Spekulanten zum Abriß freigegebene Berliner Ladenzeile bis in die Vorräume der Macht. Auch sprachlich wird das Höchste mit dem Niedersten kunstvoll verwoben und verworren. Von Slapstick und Kabarett bis zum goetheschen Tonfall reicht das Spektrum, vielfältig wie das unübersichtliche Leben selbst. Ein ungeheuer reiches Stück, Strauß‘ größte Tat seit „Groß und Klein“.

Wir werden es gewiß noch in vielen anderen Inszenierungen erleben, doch schwerlich in einer besseren als jener von Luc Bondy. Ganz gleich, ob der Text in seltenen Sekunden zu raunen, zu dröhnen oder sich allzu weit zu erheben droht  – die Regie hat ihn vor jedem Abgleiten bewahrt. Auch das ein wunderbares Gleichgewicht. Und überhaupt klingt Strauß ja im Drama, im abwägenden, gegeneinander austarierten Dialog, allemal humaner als im hochfahrenden Monolog seiner Essays.

„Der Aufstand der Reinheit“

Hier, im Theater, verzeiht man auch eine Vision wie die von der „Säuberung durch Engelsstimmen“ und vom „Aufstand der Reinheit“, der alle Drogensüchtigen aus unseren Städten vertreiben müsse. Denn solche Sätze sind eingebettet ins Geflecht von Gegenstimmen.

Und welch ein Ensemble kann Bondy aufbieten, wahrhaft festspielwürdig! Jutta Lampe als „Lilly“ in all ihrer zarten Durchsichtigkeit, Brüchigkeit, Bedrängnis – und doch stark wie eine Heldin. Der majestätisch beruhigte Christoph (Martin Benrath), ihr Ehemann mit seiner Gleichgewichts-Philosophie des buddhistisch inspirierten Bogenschießens, des rechten Moments losgelöster Anspannung von Pfeil und Sehne. Sodann die phantastische Kirsten Dene (oh, alte Bochumer Peymann-Zeit!) und Martin Schwab als benachbarte Lädcheninhaber mit ihrer seit 15 Jahren unentschiedenen Buffo-Liebe. Selbst Nebenrollen sind mit Spielmagiern wie Fritz Lichtenhahn und Hans-Peter Hallwachs besetzt.

Man möchte schwelgen. Und es befällt einen der innige Wunsch, das Theater möge aus solcher Höhe nie mehr in den faden Alltag zurückfallen. Dann hätte sich alle Diskussion um seine Bedeutung erledigt. Die Muse Thalia würde triumphieren.

Brausenden, rauschenden Beifall gab es nach annähernd vier Stunden. Im Publikum saßen, neben zahlreicher Kultur-Prominenz, auch Leute wie der Chef der Deutschen Bundesbahn. Vielleicht ist auch er, für seinen Job, auf der Suche nach dem „Gleichgewicht“…