Gruppendynamische Selbstbeschau – „Spiegelneuronen“ in Salzburg

Irritierende Spiegelungen des Publikums – Szene aus „Spiegelneuronen“ bei den Salzburger Festspielen. (Foto: SF / Bernd Uhlig)

Der Vorhang hebt sich, sofort geht ein Raunen durchs Publikum. Der Bühnenraum ist durch einen riesigen Spiegel verstellt, der jeden Zuschauer und jede seiner Bewegungen und Gefühlsausdrücke offenlegt. Wenn jemand seinem Ebenbild zuwinkt und dabei fröhlich grinst, machen bald auch (fast) alle anderen das nach. Wenn jemand mit den Armen rudert oder eine Wellenbewegung andeutet, wird schnell (fast) die ganze Menschenmenge zu einem sanft wogenden Einheitskörper.

Wenn jemand mit seinem Handy leuchtende Kreise formt, wird (fast) der ganze Saal zur sich selbst bespiegelnden Fangemeinde. Wenn jemand es nicht mehr auf den harten Holzstühlen aushält und zu den aus dem Off dröhnenden Rhythmen seinen Körper in Wallungen bringt, wird schlagartig (fast) das ganze Theater zum schweißtreibenden Dancefloor. Mitmachen ist das Motto des Moments. Empathie das oberste Gebot. Einfach mal das Gehirn ausschalten und sich den Synapsen der Abertausenden Nervenzellen überlassen, die uns zu Handlungen verführen, von denen unser Bewusstsein gar nichts weiß. Wer will, wo so viele Menschen sich ausgelassen selbst bespiegeln und zu einem ununterscheidbaren Menschenklumpen mutieren, noch abseits stehen und den Spielverderber geben?

„Dokumentarischer Tanzabend mit Publikum“

Die international gefeierte Tanz-Compagnie von Sasha Waltz und das für seine szenischen Interventionen bekannte Theater-Kollektiv Rimini Protokoll, das mit dokumentarischen Recherchen auch mehrfach in Mannheim und Heidelberg für Furore sorgte, hat sich für die Salzburger Festspiele ein ebenso faszinierendes wie befremdliches Kunst-Projekt ausgedacht: „Spiegelneuronen“ nennen sie ihren „Dokumentarischen Tanzabend mit Publikum“.

Getanzt im Sinne eines theatralisch-künstlerischen Körper-Ausdrucks wird allerdings nicht. Sasha Waltz und ihre Mitstreiter mischen sich lässig unters Publikum und animieren es zu gymnastischen Verrenkungen, kuriosen Blödeleien und absurden Imitationen. Der Mensch möchte gern ein unverwechselbares Individuum sein, ist aber doch ein Herdentier. Will geliebt sein und hat Angst, aus der Gemeinschaft  ausgestoßen zu werden. Das ist, sagt uns eine Stimme aus dem Off, genetisch bedingt: Wurde man von seinem Stamm aus der Höhle geworfen, kam das einem Todesurteil gleich.

Erklärstimmen aus Psychologie und Soziologie

Die erklärenden Stimmen von Neurologen, Psychologen und Soziologen begleiten die theatralische Versuchsanordnung, bei der das Publikum selbst zum Akteur und Gegenstand des Interesses wird. Mehr als ein paar Gemeinplätze kommen aber nicht zu Gehör. Dass der Mensch durch Nachahmung lernt und sich ständig in einem Konflikt zwischen Anpassung und Aufruhr befindet, dass unsere Gefühle oft verrückt spielen und unser Handeln nicht zu unserem Denken passt, wussten wir schon vorher. Auch dass wir gern Teil einer Gruppe sind, obwohl wir auf unsere Selbständigkeit pochen, war uns nicht unbekannt. Müssen wir, um daran erinnert zu werden und uns bei der Selbst-Bespiegelung auch ein wenig lächerlich zu machen, wirklich ins Theater gehen?

Für Rimini-Protokoll-Konzeptkünstler Stefan Kaegi, der diesmal für Regie und Konzept verantwortlich zeichnet, ist die Antwort klar. Für das Theater interessiert er sich sowie nicht: „Das eigentliche Schauspiel findet in der Diskussion danach als zentrales Element gemeinsamen Erlebens statt.“ Statt wie sonst in ihren Dokumentar-Recherchen Theater-Laien als „Experten aus der Wirklichkeit“ auf die Bühne zu bringen und alte und neue Texte aus der Sicht von „Alltags-Experten“ neu zu verhandeln, wird jetzt das Publikum selbst zum Zentrum der Aufführung.

Wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt

Selbst wenn man (wie der Verfasser dieser Zeilen), das ganze Treiben kopfschüttelnd beäugt und eher abgestoßen davon ist, wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt, entwickelt der Abend doch auch einen optischen und akustischen Reiz. Gelbe Luftballons schweben durch den Raum und befördern den kindlichen Spieltrieb. Grelle Scheinwerfer suchen sich einzelne Personen und beleuchten, wer sich wohl fühlt im Gruppengemenge oder am liebsten fliehen möchte. Gemeinsam mit den Armen wedeln und herumzuhopsen und sich dabei über sein Spiegelbild zu wundern, ist für die meisten in Ordnung. Dem Vorschlag aber, den fremden Sitznachbarn zu berühren und Körpergrenzen zu überschreiten, mag nicht jeder nachkommen.

Den unterhaltsamen und neckischen, aber auch ziemlich überflüssigen Abend beschließt der Radiohead-Song „Creep“: ein Widerling („creep“) ist in ein wunderschönes, unnahbares Mädchen verliebt. Der „Spinner“ („weirdo“) würde so gern auch einen perfekten Körper haben, fragt sich aber: „What the hell am I doing here?“ Ja, was mache und was will ich eigentlich hier in diesem Theater der Selbstbespiegelung?

„Spiegelneuronen“, Salzburger Festspiele (Deutschlandpremiere am 29. August im Radialsystem Berlin).

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Zur deutsch-schweizerischen Künstlergruppe Rimini Protokoll gehören Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel.

Rimini Protokoll entwickelt theatralische Interventionen und szenische Installationen, bei denen Laien auftreten, die keine Dramen-Texte spielen, sondern sich selbst als „Experten aus der Wirklichkeit“ und „Alltags-Spezialisten“ mit ihrer Biografie einbringen.

In der Kunsthalle Mannheim haben sie die Installation „Urban Nature“ (2022) gezeigt, im Heidelberger Kunstverein die Ausstellung „Drei Fliegen mit einer Klappe“ (2010).

Mit ihrer Version von „Wallenstein“ (2005) waren sie bei den Schillertagen in Mannheim, auch „Call Cutta in a Box“ (2008) haben sie als „Interkontinentales Telefonstück“ im Nationaltheater Mannheim inszeniert.

 

 




Nachlese zu den Salzburger Festspielen: Gefangen im Mechanismus der Macht – Aribert Reimanns Oper „Lear“

Auf dem Weg in den Wahnsinn: Gerald Finley als König Lear in Salzburg. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Auf dem Weg in den Wahnsinn: Gerald Finley als König Lear in Salzburg. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Ein sorgsam geschichteter Cluster aus Tönen wird zu einem unbestimmt lauernden Klang. Pianissimo hält ihn Dirigent Franz Welser-Möst in der Schwebe, während ein jovialer Politiker im Dinner-Jacket etwas verspätet hereinstrebt und in die Menge grüßt. Festlich gekleidete Menschen, vor der Bühne, rund um die Bühne. Der Mann im crèmefarbenen Dress bekundet, der Macht müde zu sein, das Reich teilen zu wollen.

Drei Töchter, zwei davon in Pastell-Rosa und Lindgrün wie eine Mischung aus Queen Elizabeth und Margaret Thatcher, stehen schon bereit auf der breit gezogenen, bunt und wild blühenden Wiese, die Simon Stone in der Felsenreitschule in Salzburg als Spielfläche frei gelassen hat. Wir sehen „Lear“, Aribert Reimanns 1978 in München uraufgeführtes Hauptwerk, inzwischen ein Klassiker des zeitgenössischen Musiktheaters.

Wäre die Besetzung nicht so riesig – selbst in Salzburg muss das vielfältig besetzte Schlagwerk auf den Balkon rechts vom Orchestergraben ausweichen –, hätte diese Shakespeare-Oper sicher schon mehr als die bisher weltweit rund 30 Neuinszenierungen erlebt, darunter auch am Aalto-Theater in Essen. Reimann musste erst 81 Jahre alt werden, bis sich die Salzburger Bühne für ihn öffnete – und das trotz großartiger Werke von „Melusine“ bis „Medea“.

Markus Hinterhäuser ist seit Herbst 2016 mit einem Fünf-Jahres-Vertrag Intendant der Salzburger Festspiele und hat eine erste erfolgreiche Saison hinter sich. Foto: Salzburger Festspiele/Julia Stix

Markus Hinterhäuser ist seit Herbst 2016 mit einem Fünf-Jahres-Vertrag Intendant der Salzburger Festspiele und hat eine erste erfolgreiche Saison hinter sich. Foto: Salzburger Festspiele/Julia Stix

Reimanns bis an die Schmerzgrenze expressive und exzessive Musik wird unter den Händen von Franz Welser-Möst und in der klanglichen Vollendung der Wiener Philharmoniker zum bestimmenden Ereignis dieser letzten Premiere der Salzburger Festspiele. Welser-Möst verlässt sich nicht auf die immer noch schockierende Härte und Brutalität der schlagzeuggepanzerten Akkordtürme und Tonschichtungen Reimanns, sondern zeigt, wieviel Resignation und wahnsinnsverwehter Zärtlichkeit in den Klängen steckt.

Er hütet sich, die präzise Kontrolle der Dynamik jemals aufzugeben und lässt so die Zuschnürung des dramatischen Knotens musikalisch erleben, bis er in der Heideszene des ersten Aktes reißt und das kontrolliert kontrapunktische Chaos entfesselt losbricht: Im Dröhnen der Perkussion und im Aufschreien des Orchesters entlädt sich der Sturm der Elemente, der zum inneren Wüten in der Seele Lears wird. „Haltlosigkeit, Ziellosigkeit“ schreibt Reimann selbst in seinen Notizen zum Kompositionsprozess. Und danach, in erschöpfter Ruhe, die enthobenen Girlanden der Melismen Edgars, des von seinem Vater Gloster verstoßenen Sohnes.

Der ausgewogene, abgerundete Klang der Wiener Streicher, die disziplinierten Bläser – auch wenn sie böse gellen und schrill kreischen –, die schmerzvoll-süßen Unisoni und das gedämpfte Brodeln der kunstvoll gebauten Flächen aus Viertel- bis Eineinvierteltönen nehmen der Musik nichts von ihrer Schärfe, schleifen ihre schmerzhaften Krallen nicht, verhindern aber, dass sie durch permanente Überreizung abstumpft. Die kluge Dramaturgie der Dynamik, verbunden mit einer fabelhaften Transparenz und einem wie selten sinnhaft-sinnlich durchgestalteten Klang, bestätigt eindrucksvoll die formalen wie expressiven Qualitäten von Reimanns Musik.

Reduziert auf elementare kreatürliche Bedürfnisse

Was geschieht mit einem Herrscher, der die Macht hinter sich lässt? Das Libretto von Claus H. Henneberg spitzt Shakespeares Drama unbarmherzig zu: Lear bleibt ein Gefangener der Macht, zuerst ihre Mechanismen wunderlich verkennend, dann an ihrer nackten Brutalität zerbrechend, reduziert auf die elementarsten kreatürlichen Bedürfnisse, die ihm nur noch der barmherzige Gloster gewährt.

Simon Stone, der von Preisen verwöhnte australische Regisseur, lenkt seine zweite Arbeit für das Musiktheater weg vom Erzählenden, hin zu bildmächtigem Darstellungs- und postdramatischem Episodentheater. Schon bei der Verteilung des Reiches stehen die Töchter Lears in einer Reihe in weitem Abstand. Auf sich selbst konzentriert schleudert Evelyn Herlitzius ihre stählernen Tonfolgen heraus, zeichnet Gun-Brit Barkmin – 2013 in Essen die Lady Macbeth Verdis – die hysterischen Intervallsprünge Regans nach.

Lear (Gerald Finley) teilt das Reich; Seine Tochter Cordelia (Anna Prohaska, im Vordergrund), die ihre Liebe nicht in Worten beschreiben kann und will, geht leer aus. Im Hintergrund Gun-Brit Barkmin als Regan. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Lear (Gerald Finley) teilt das Reich; Seine Tochter Cordelia (Anna Prohaska, im Vordergrund), die ihre Liebe nicht in Worten beschreiben kann und will, geht leer aus. Im Hintergrund Gun-Brit Barkmin als Regan. Foto: Salzburger Festspiele/Thomas Aurin

Das wüste Gelage von Lears Gefolge verwandelt die Blumenwiese in einen grünlichen Matsch, in dem sich später der nackte Lear im Regen und in der Qual seiner Ohnmacht wälzt. Auf der breit gezogenen Spielfläche von Bob Cousins legt Stone offenbar keinen Wert darauf, die Personen zueinander in Verhältnisse zu setzen, auch die Begegnungen Lears mit dem anrührend singenden Edgar Kai Wessels und dem von Anfang an kraftlos gezeichneten Gloster Lauri Vasars bleiben seltsam distanziert.

Für den hereinbrechenden Wahnsinn Lears scheint sich Stone auf das darstellerische Potenzial Gerald Finleys verlassen zu haben, der den erbarmungswürdig ohnmächtigen König in seiner Flucht in weltlosen Wahn grandios zeichnet, dessen Fallhöhe aber nicht deutlich wird – dazu ist der Herr im Sakko zu Beginn einfach zu durchschnittlich.

Aber der Abstand von psychologischem Realismus ist Absicht, auch wenn er den Figuren komplexe Facetten nimmt. Im zweiten Teil des Abends wird deutlicher, wohin Stone zielt, wenn Gloster zunächst hyperrealistisch in einem blutigen Schaustück seine Augen ausgedrückt werden, wenn das Blut aus der Kehle des gemeuchelten Cornwall (zupackend singend: Michael Colvin) stürzt, dann in einer riesigen Blutlache auf weißer, leerer Fläche ein Schlachten beginnt, das wie ein symbolhaftes Ritual wirkt: Security-Leute, von Mel Page in die blauen Uniformen einschlägiger Typen gesteckt, wie wir sie aus Nachrichtensendungen oder amerikanischen Filmen kennen, reißen willkürlich einzelne Menschen aus den Zuschauerreihen auf der Bühne heraus, stoßen sie in den roten Teich, wo sie mit Blut besudelt werden und ins Irgendwo seitlich der Bühne schreiten, als gehörten sie zu einer stummen Totenprozession.

Das mag ein eindrückliches Bild dafür sein, dass die inhärente Grausamkeit des Stücks eine beklemmende Gegenwarts-Dimension hat. Aber für diese Erkenntnis opfert Stone die viel grundsätzlichere Einsicht in das verhängnisvolle Gefüge der Macht, dem alle scheinbar Mächtigen zum Opfer fallen. Stone verweigert den letzten Szenen die theatrale Konkretion, lässt an der Rampe singen: Edgars Zweikampf gegen den mit souveränem Kern die Töne bildenden Charles Workman als Edmund, Regans trotz Gun-Brit Barkmins leicht gastritischen Zuckungen beiläufiger Gifttod, Gonerils vermeintlicher Triumph und Selbstmord.

Eine Wolke entzieht sie unseren Blicken

Anna Prohaska (Cordelia) und Gerald Finley (Lear) beim Schlussapplaus. Foto: Salzburger Festspiele/Franz Neumayr

Anna Prohaska (Cordelia) und Gerald Finley (Lear) beim Schlussapplaus. Foto: Salzburger Festspiele/Franz Neumayr

Das Bild dahinter allerdings prägt sich ein: Lear und Cordelia – Anna Prohaskas lyrischer Sopran unterscheidet sich im Timbre zu wenig von ihren bösen Schwestern – sind in einem Gazeschleier gefangen. Ganz in Weiß erstarrt hat die tote Cordelia nur mehr behauptete Präsenz, Lear erhebt sich aus dem Krankenhausbett, streift mit seinen Händen den bleichen Staub von ihren Haaren ab und färbt sich selbst todessehnsüchtig damit ein. Eine Vision, von einer weißen Wolke langsam den Blicken von Edgar und Albany (der ebenfalls vorzüglich singende Derek Welton) entzogen. Dunst für die sinnlose, vergebliche Existenz, in die wir Menschen geworfen sind? Oder verbergende Hülle einer Hoffnung, die ahnungsvoll Lears und Cordelias geschundene Menschlichkeit birgt? Im blitzartigen Dunkel des Endes bleibt jeder Zuschauer mit dieser Frage sich selbst überlassen.




Festspiel-Passagen XI: Mozart und Strauss – Neuinszenierungen in Salzburg

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger "Don Giovanni". Foto: Michael Poehn

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger „Don Giovanni“. Foto: Michael Poehn

Wenn sich nach sexueller Bedrängnis und ohnmächtiger Eifersucht Zerlina und Masetto in einem Moment der Ruhe wiederfinden, wenn sie sich in Duettino und Arie der Zerlina („Vedrai carino“) nach allen emotionalen Stürmen wiederfinden, entkleiden sich Valentina Nafornita und Alessio Arduini, schlüpfen in Unterwäsche in eines der Zimmer des düsteren Hotels, entziehen sich dem Zugriff des allgegenwärtig scheinenden Don Giovanni. Und dem sehnsuchtsvoll dem Paar nachblickenden Don Ottavio zeigen sie, was die Sinnspitze sexuellen Begehrens sein sollte: die liebende Begegnung, auf die er – mit Donna Anna – vergeblich hofft.

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Das war einer der flüchtigen Momente im Salzburger „Don Giovanni“ Sven-Eric Bechtolfs, der gezeigt hat, wohin diese Inszenierung hätte führen können. Es gab noch andere solche Augenblicke verdichteter Deutungs-Energie in der Arbeit des Salzburger Schauspielchefs: Etwa, wenn Donna Anna ein Messer in der Hand hält und Don Giovanni ihren Arm zum Todesstoß gegen den Komtur führt.

In solchen Momenten gewinnen Personen eine Dimension, die über das konkrete Spiel hinausgeht – sie werden zu Symbolgestalten des psychischen Dramas: Donna Anna befreit ihre Persönlichkeit, vom triebhaften Impuls Giovannis geleitet, aus patriarchalischen Fesseln. Dass sich dann ihre Schuldgefühle in Rachegelüsten manifestieren, für die sie Don Ottavio benutzt, bleibt in der Inszenierung unausgeleuchtet – so wie manche Ecken in der ragenden Halle eines Dreißiger-Jahre-Hotels, die Rolf Glittenberg als Einheits-Schauplatz auf die breite Bühne des „Hauses für Mozart“ gebaut hat.

Kraftlose Bühne für einen überflüssigen „Don Giovanni“

Es mag an dem unverbindlich kraftlosen Schauplatz liegen, dass Bechtolfs Inszenierung die konsequente Verortung auf der Meta-Ebene des existenziellen Dramas verfehlt hat und letztlich doch bei der Komödie um einen Testosteronbolzen hängengeblieben ist, dem der Teufel den Cocktail für die „Champagnerarie“ mixt. Es mag auch am plakativen Don Giovanni von Ildebrando d’Arcangelo liegen, der die Zwischentöne der Figur weder szenisch noch stimmlich präsent zu setzen verstand: Wenn auch von der Anlage der Rolle her Eleganz oder Subtilität nicht gefragt waren, sind doch massive Attacke im „Ständchen“ und uniformierter, klobiger Ton selbst in Rezitativen nicht angemessen.

Salzburg: Ildebrando D'Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Salzburg: Ildebrando D’Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Wie überhaupt die Salzburger Sängerbesetzung enttäuschte. Selbst Luca Pisaronis stimmschönem Leporello gelang es nicht, sich zu flexibler Leichtigkeit zu befreien. Die Donna Anna der Lenneke Ruiten schlug sich mit dünn-gefährdetem Timbre und verquälten Spitzentönen durch ihre Partie.

Anett Fritsch dagegen überzeugte als Donna Elvira mit substanzreichem Klang und ausgeglichenen Koloraturen. Andrew Staples gab Don Ottavio in der Tradition englischer Kathedraltenöre mit dünn-blassem Klang und substanzlos verengter Höhe; Tomasz Konieczny bewegte sich als Komtur am anderen Ende der Tonskala mit unfreiem Bass. Nur das Paar Zerlina – Masetto (Valentina Nafornita und Alessio Arduini) ließ den Reiz entspannten Singens und drucklos gebildeter Phrasen erleben.

Auch das Dirigat von Christoph Eschenbach rettete die Aufführung nicht: zu spannungslos schon das Adagio der Ouvertüre, die Tempi ohne vibrierende Brillanz, die Artikulation ohne Prägnanz. Den Wiener Philharmonikern gelangen Momente faszinierender Piano-Kultur.

Doch Festspiel-Faszination blieb aus – dafür stellt sich die Frage ein, wozu man in Salzburg nach nur drei Jahren überhaupt eine „Don Giovanni“-Neuinszenierung, einen „Da Ponte-Zyklus“ braucht. Einen echten Zyklus mit den vorzüglichen Libretti des Dichters hat es noch nie gegeben – da müssten sich Theater oder Festspiele einmal verständigen, auch diejenigen zur Diskussion zu stellen, die Antonio Salieri, Vicente Martín y Soler, Stephen Storace oder auch Francesco Bianchi vertont haben. Und Mozart – Da Ponte – Zyklen sind, mit Verlaub, überflüssig, da die drei Opern sowieso überall und ständig im Repertoire zu finden sind.

Atmosphäre des Epochenabschieds in Kupfers „Rosenkavalier“

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger "Rosenkavalier" Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger „Rosenkavalier“ Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Die zweite Neuinszenierung dieser Festspiele gilt einem ihrer Mitbegründer: Richard Strauss. Zum 150. Geburtstag dieses so bedeutenden wie schillernden Komponisten des 20. Jahrhunderts hatte Noch-Festspielchef Alexander Pereira ausgerechnet das gängigste Werk gewählt: „Der Rosenkavalier“ ist als Epochen-Abschiedswerk mit Blick auf den Ersten Weltkrieg keine originelle, aber eine sinnvolle Wahl – und Altmeister Harry Kupfer vergegenwärtigte dieses unbestimmte Gefühl des Abschieds – für das die Fürstin Maria Theresia von Werdenberg steht – mit einer sich jeder plumpen Aktualisierung enthaltenden Regie.

Entscheidende Anteil an der atmosphärischen Dichte des Abends haben die Bühnenbilder von Hans Schavernoch: Raumfüllende Projektionen illustrieren beziehungsreich Schauplätze und geistige Haltungen: vergehende Barock-Herrlichkeit, aber auch zeitgeistiger Klimt-Jugendstil für die Marschallin; gusseiserne Dachkonstruktionen für den aufsteigenden Faninal, der sich freilich zu gerne im Glanz herrschaftlichen Barocks spiegeln würde. Und die Riesenrad-Gestänge des Praters drohen hinter einem Beisl, das als Illusionsarchitektur unter doppeltem Aspekt aufzufassen ist: In seinem imitierten Realismus steht es für die Kulisse des Schmierentheaters, das ebenso für den Lerchenauischen Gefoppten gespielt wird wie es der Ochs selbst als tragikomischer Wiener Vorstadt – Don Juan aufführt.

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Dass sich Harry Kupfer keiner Regie-Outrierung bedienen muss, um seine Figuren in Ruhe und Tiefe zu entwickeln, wird auch sichtbar. Intensive, beziehungsvolle Momente – wie die vor dem Bild herbstlich kahler Praterbäume im Nebel in Gedanken versunkene Marschallin – entstehen nicht im unermüdlichen Drang von Regisseuren, deutungswütig auch noch die marginalste Szene mit Bewegung füllen zu müssen.

Für dieses Konzept war Krassimira Stoyanova die passende Besetzung: eine Marschallin, die in einem Moment jugendlich spontan, im anderen abgeklärt, ja melancholisch wirkt. Auch die feinen Mezzo-Lasuren ihrer positionssicheren Stimme, der ruhevolle Atem der Legati, die ausgeglichenen Register, die lyrische Innigkeit leuchten den Charakter einer Frau aus, die nicht nur die eigene Jugend im Wissen um die Zeit schwinden sieht.

Kupfer deutet den Epochenabschied fein aus, wenn er es am Ende offen lässt, ob nicht der dunkelhäutige Chauffeur ihres Luxuswagens an die Stelle des Grafen Rofrano treten wird. Kupfer gibt der Marschallin so einen Zug ins Ambivalente, der sie ihrem Vetter Ochs annähert und ihre philosophische und moralische Unfehlbarkeit mildert.

Den "Walfisch" gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger "Rosenkavalier"-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Den „Walfisch“ gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger „Rosenkavalier“-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Mit Günther Groissböck rührt Kupfer auch an der überkommenen Konzeption des Barons Ochs auf Lerchenau: Nicht der gemütliche rotwangige Tölpel, sondern ein schneidiger, gewandter Typ, skrupellos, hochmotiviert, wenn es darum geht, die Frauenzimmer auf die vielerlei Arten, wie sie es (angeblich) wollen, zu nehmen.

Die aufgemachten Striche in diesem ungekürzten „Rosenkavalier“ verdeutlichen die aggressive Sexualität dieses Vertreters der Moderne, der Moral auf Konvention eindampft, die nur zu beachten ist, wenn sie nützlich ist oder dem adligen Blute dient.

Kupfer braucht keine Braunhemden oder Hakenkreuze, um zu zeigen, wohin der Weg dieser Moderne führt. Ochs ist einer ihrer Protagonisten, und Kupfer zeigt nach dem so wundervoll konzentriert wie virtuos inszenierten dritten Aufzug, dass der Rückzug seiner Truppe – auch die keine lerchenauischen Tölpel, sondern bedrohliche Schläger – keine Niederlage sein muss.

Melancholie des Abschieds - und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des "Rosenkavalier". Foto: Monika Rittershaus

Melancholie des Abschieds – und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des „Rosenkavalier“. Foto: Monika Rittershaus

Groissböck ist Niederösterreicher und beherrscht das Idiom perfekt, um dem Charakter seiner Figur Ausdruck zu geben; für den Sänger gibt es noch Entwicklungspotenzial, nicht nur in der Tiefe, auch in der Freiheit der Tonbildung.

Die Liste der luxuriösen Besetzung setzt sich fort mit Sophie Koch, wohl derzeit die prominenteste Darstellerin des Octavian, und Mojca Erdmann als selbstbewusst zu ihrem „Ich“ vordringender Sophie, deren kleiner Soubrettenstimme freilich blühender Glanz und eine tadellose Höhe fehlt. Adrian Eröd bestätigt als Faninal seinen Rang, für den er als Bayreuther Beckmesser die Messlatte hoch gelegt hatte.

Andere blieben hinter ihren Möglichkeiten zurück, so Silvana Dussmann als zu spitzstimmige Marianne Leitmetzerin, Rudolf Schasching als Valzacchi und Stefan Pop als italienischer Sänger mit flackerndem Legato und dünn gefüllter Höhe.

Die Wiener Philharmoniker durften im wie zu Karajans Zeiten hochgefahrenen Graben demonstrieren, wie vertraut sie mit dem Strauss’schen Idiom umgehen. Franz Welser-Möst bemüht sich, leider oft vergeblich, die Lautstärke zu zügeln, die Sänger nicht zu verdecken. Er legt offen, etwa im Vorspiel, dass die „Rosenkavalier“-Musik bei aller silbrigen Geschmeidigkeit und süßen lyrischen Verführung auch mit „Salome“ verwandt ist. Doch den schimmernden Glanz der Übergabe der „Silbernen Rose“ lässt er nicht geheimnisvoll-innig, das weltentrückte Terzett am Ende nicht ätherisch enthoben aus dem Orchester fließen. Ein handfester, kein subtiler „Rosenkavalier“: Welser-Möst hat noch einen Weg vor sich, bis er die Deutungs-Raffinesse seiner Vorgänger erreicht hat.




Festspiel-Passagen IX: „Jedermann“ als bilderreiches Mysterienspiel in Salzburg

"Jedermann" in Salzburg 2014: Cornelius Obonya ist die Titelfigur, Brigitte Hobmeier die Buhlschaft. Foto: Monika Forster

„Jedermann“ in Salzburg 2014: Cornelius Obonya ist die Titelfigur, Brigitte Hobmeier die Buhlschaft. Foto: Monika Forster

„Veronica Ferres war besser“, sagt der Mann auf der Holzbank nebenan. Soeben war mit kitschiger Engelsmusik das Sterben des reichen Mannes zu Ende gegangen; die bunte Truppe von Schauspielern hatte ihm mit Händen voll Erde die letzte Ehre erwiesen.

Bedeutend aber scheint nicht die Moral von der Geschicht‘, sondern die Darstellerin der Buhlschaft: Die Vierzig-Sätze-Partie ist Vorzeigerolle gerade populärer Schauspielerinnen, seit 1920 der Berliner Star Johanna Terwin in Max Reinhardts Regie die Rolle auf dem Salzburger Domvorplatz kreiert hat.

Dabei wäre es dem Stück angemessener, auf andere Rollen zu achten. Auf den Tod etwa, den unheimlichen Boten des Endgültigen. Den spielt anno 2014, erhaben und mit lapidarem Grandeur, der dürre, hochgewachsene Peter Lohmeyer mit kantigem Nosferatu-Schädel und nahezu knochenlos: Sein Gewand weht um die Gestalt wie Nebelschleier, und wenn er dem Jedermann sagt, was Sach‘ ist, zieht er mit dem riesigen gebeinfarbenen Tafeltuch samt der metallisch klappernden Trinkgefäße davon, während sich die Gesellschaft furchtsam hinter den Tischen verschanzt. Kennen ihn manche noch aus seiner Anfänger-Zeit am Bochumer Schauspielhaus ab 1984? Als Serebrjakow in Tschechows „Onkel Wanja“ kehrt der gebürtige Westfale am 20. September dorthin zurück.

Peter Lohmeyer, im Herbst am Schauspielhaus Bochum in "Onkel Wanja" zu erleben, spielt in Salzburg den Tod. Foto: Monika Forster

Peter Lohmeyer, im Herbst am Schauspielhaus Bochum in „Onkel Wanja“ zu erleben, spielt in Salzburg den Tod. Foto: Monika Forster

Der Tod und der Glaube – „das ist das Stück“, sagt das Regieteam im Programmheft: Brian Mertes und Julian Crouch haben Hoffmannsthal aus der Zeit gefallene Moritat im vergangenen Jahr neu erarbeitet und Christian Stückls erfolgreiche Version abgelöst. Ein Amerikaner und ein Engländer – die Globalisierung ist im Kerngebiet deutscher Sprechlandschaften angekommen.

Der Tod und der Glaube: Das sind ursprüngliche Wahrheiten, die sie weder einer distanzierenden Überformung noch einer kritischen Relativierung aussetzen wollten. Die sie aber auch nicht im Sinne eines alten Illusions- oder Allegorie-Theaters ausinszenieren, als gäbe es zwischen Hoffmannsthals artifiziellem Mittelalter und heutiger Nachaufklärung keinen kritischen Graben. Und als würde heute jeder fraglos akzeptieren, was der Dichter an christlicher Botschaft in das Stück integriert hat.

Pandämonium des Figurentheaters: Julian Crouchs riesige Puppenköpfe, hier porträtieren sie Max Reinhardt und Hugo von Hoffmannsthal. Foto: Monika Forster

Pandämonium des Figurentheaters: Julian Crouchs riesige Puppenköpfe, hier porträtieren sie Max Reinhardt und Hugo von Hoffmannsthal. Foto: Monika Forster

Doch ohne die nach Moritatenart verknappte Botschaft bliebe eben doch nur ein „aufgeblasenes Spektakel“, ein „deutungs- und ironiefreies Brimborium“, wie Rezensenten im letzten Jahr gallig vermerkten. Mertes und Crouch lassen sich auf die künstliche Zeitreise Hoffmannsthals ein. Sie führen ein farbenfrohes Spektakel vor, machen aber in jedem Moment bewusst, dass sich eine „Aufführung“ ereignet. Sie lassen Olivera Gajic die überbordende Kostüm-Fantasie ausleben, bremsen sie aber wieder ein, wenn Jedermann im Smokinghemd über die Bretter fegt und der „Glaube“ im schlichten dunklen Anzug mit einer zugbrückenähnlichen Maschinerie erhöht wird.

Die Ausrufer mit ihren Cuts und einige Musiker erinnern an Varietés oder Hotelkapellen aus den Zwanzigern. Auch die Miniaturhäuser der Bühne, die an das Mittelalter animierter Märchenfilme denken lassen, distanzieren sich in ihrem Zitat-Charakter von Illusion und Illustration.

Die Fantasie von Julian Crouch prägt die drastische, im Volks- und Straßentheater verortete Symbolik: Eine überlebensgroße Skelettpuppe führt die Prozession der einziehenden Darsteller an. Riesige Köpfe als Schreckgestalten aus Hanswurstiaden, der Mammon als gewaltiger goldener Kopf mit formatfüllendem Maul: Crouchs Puppen zitieren lustvoll das Pandämonium des Figurentheaters. Am Ende zieht die ganze bunte Truppe mitten hinein in die Zuschauer, die Tribüne hinauf.

Der Teufel (Simon Schwarz) und der Glaube (Hans-Peter Hallwachs). Foto: Monika Forster

Der Teufel (Simon Schwarz) und der Glaube (Hans-Peter Hallwachs). Foto: Monika Forster

Der Tod und der Glaube: Cornelius Obonya ist kein fettgefressener Lebenswollüstling. Er zitiert die Regeln des Geldverkehrs so überzeugend als Glaubenssätze, dass sie auch dem armen Nachbar (mit wenig Profil: Johannes Silberschneider) und dem aufbegehrenden Schuldknecht (stark und energisch: Fritz Egger) einsichtig sein müssten.

Jedermann hat ein Einsehen mit der Not dieser Menschen – aber zweifelt keinen Moment daran, dass ihre individuelle Schwachheit, nicht das erbarmungslose System der Zinswirtschaft für ihr Scheitern ursächlich ist. Das Geld wird’s schon richten: Diesen tiefen Glauben bekennt Jedermann sogar noch, als Jürgen Tarrach als großartiger, geldscheißender Zirkusdirektor aus dem Riesenmaul des Goldkopfs steigt und ihm klar macht: Der Reichtum mag zwar zur Verfügung stehen, der eigentliche Herrscher aber ist er, der Mammon. Die Szene, sinnlich-sinnbildhaftes Puppentheater und große Deklamationskunst verbindend, ist ein Höhepunkt dieses Salzburger „Jedermann“.

Zwischen Tanz und Tod brüllt, prahlt und flegelt Obonya, lacht und heult, fleht und greint. Er ist kein so charismatischer Sprachkünstler wie sein Großvater Attila Hörbiger, kein dominierender Darsteller wie die Großen der siebziger und achtziger Jahre, Curd Jürgens, Maximilian Schell oder Klaus Maria Brandauer. Er passt in seiner pragmatischen Alltäglichkeit ins 21. Jahrhundert. Doch er ist ein Jedermann, dem schon vor den Rufen des Todes irgendwie klar wird, dass der überquellenden Orgie des Daseins eine Dimension der Existenz abgeht, die ihm „unwohl“ werden lässt, weil er sie nicht erfassen kann.

Der Tod bestätigt – so gesehen –, was Jedermann bereits unbewusst in sich trägt: Das Wissen um das Wesentliche der Existenz, das der „Glaube“ dann mit einer präzisen Theologie von Buße, Barmherzigkeit und Erlösung umreißt. Hans-Peter Hallwachs, ein Patriarch des Sprechtheaters, kündet sie völlig locker und unaufgeregt von oben, überschüttet den Jedermann dann mit Wasser, das sich unschwer als das Taufwasser der Wiedergeburt deuten lässt.

Brigitte Hobmeier als "Buhlschaft". Foto: Monika Forster

Brigitte Hobmeier als „Buhlschaft“. Foto: Monika Forster

Ach ja, und die Buhlschaft? Brigitte Hobmeier, bis 1999 Studentin der Essener Folkwang Hochschule, erlöst sie aus der Knechtschaft des Vollweibs, brüstet sich nicht mit den Primärreizen des Sexuellen. Sie radelt in den zwischen tiefrot und grellorange changierenden Teufelsfarben (Simon Schwarz, der chancenlose Teufel, trägt sie später auch) fröhlich um ihren Jedermann herum – und man glaubt ihr, dass sie sich mit ihm auf mehr als auf eine lüsterne Beziehung einlassen könnte. Der Tod fegt sie ins Blumenbeet. Jedermann ist allein, im Moment der Entscheidung.




Festspiel-Passagen VIII: Die Phrasen des Bösen – „Die letzten Tage der Menschheit“ in Salzburg

Dörte Lyssewksi in Karl Kraus' "Die letzten Tage der Menschheit" in Salzburg. Foto: Georg Soulek

Dörte Lyssewksi in Karl Kraus‘ „Die letzten Tage der Menschheit“ in Salzburg. Foto: Georg Soulek

Servus, Erster Weltkrieg. Bist‘ auch angekommen in der Jetztzeit des Theaters. Zeigst dein Fratzerl von den Brettern herunter. Und wir sitzen im blassen Glanz des k.u.k. Neubarock im Salzburger Landestheater, ein Festspielpublikum, das dich, du Krieg, erlebt wie damals die feinen Herrschaften auf der Wiener Ringstrass’n.

Nicht in Dreck und Blut, zerfetzten Leibern und wahnsinnig gewordenen Augen. Sondern im prickelnden Schauder der Bilder des Grauens, der Feuilletons von Schlacht und Tod. In Schicksalen, zurechtgemacht für das Format der Nachrichten, hingeschnitten auf die Reportage-Schnipsel raschbildriger Magazine, passend für’s Twitter-Format.

Vor 100 Jahren gab’s das auch. Nicht Facebook-Einträge und bunt sprühende Raketeneinschlagsvideos. Die medialen Mittel waren anders, aber nicht weniger verschleiernd. Nur gibt’s heute keinen Sprach-Wüterich wie Karl Kraus, der ingrimmig und inbrünstig die verlogene Wahrheit des „Unmittelbaren“ aufkratzt. Der aus all den mephistophelischen Phrasen montiert, was Sprache als Wahrheit entlarven kann. Der die tarnvernetzten Sprachregelungen zerfetzt und darunter die nackte, schmutzige Lüge hervorzerrt. Das mag auch der Zeit geschuldet sein: Sprache hat gegen die wahnwitzige Macht der Bilder keine Chance mehr.

Georg Schmiedleitner, den Regisseur der „Letzten Tage der Menschheit“ bei den Salzburger Festspielen, interessiert das Mediale. Und die Funktion der Sprache. Schmiedleitner hat eine schier unlösbare Aufgabe übernommen, als er kurzfristig für den geschassten Burgtheaterchef Matthias Hartmann eingesprungen ist. Kraus‘ monströses Drama, das gar kein Bühnenstück sein will, sperrt sich gegen die „Inszenierung“.

Schon der Autor sträubte sich, erteilte so gewieften Theatermännern wie Max Reinhardt eine Absage. Einem „Marstheater“ habe er es zugedacht, schreibt Kraus im Vorwort; Theatergänger dieser Welt vermöchten ihm nicht standzuhalten. Dass er später selbst eine Bühnenfassung erstellt hat, steht auf einem anderen Blatt.

Szene aus "Die letzten Tage der Menschheit" in der Regie von Georg Schmiedleitner. Im Vordergrund der großartige Darsteller Christoph Krutzler. Foto: Georg Soulek

Szene aus „Die letzten Tage der Menschheit“ in der Regie von Georg Schmiedleitner. Im Vordergrund der großartige Darsteller Christoph Krutzler. Foto: Georg Soulek

Schmiedleitner wählt gut 50 der 220 Szenen aus, die jede für sich stehen, und versucht sie mit den Auftritten des „Nörglers“ – einer Figur, die Karl Kraus selbst spiegelt – und des „Optimisten“ zu gliedern: Ritornell und Variation. Struktur gewinnt der über vierstündige Abend damit nicht, weil ihm dazu innere Dynamik fehlt.

Im zweiten Teil steigert sich zwar der Einsatz der Technik auf der kahlen Bühne Volker Hintermeiers (bis 2005 am Bochumer Schauspielhaus), aber Gegenlicht-Scheinwerfer, Stahlgerüste, Nebelmaschine und Showtreppe intensivieren das, was sich ereignet, nicht. Das ist Peter Eschberg 1995 in Frankfurt besser gelungen, der die Offizierstreffen an der Sirk-Ecke (zu Beginn der Akte) als „Ankerpunkte“ der Handlung und als Wegmarken in den Abgrund nutzte.

So bleiben vor allem die Szenen in Erinnerung, in denen die dreizehn Schauspieler ihr Können zeigen: Elisabeth Orth etwa, die als vertrockneter Lehrkörper, mit dem Rohrstock die „Disziplin“ einfuchtelnd, vor der nicht mehr vorhandenen Klasse einen grotesken Dialog über Gerüchte und Fremdenverkehr zum halbirren Monolog deformiert. Oder Stefanie Dvorak, die als Oberstleutnant Demmer von Drahtverhau das schrille Gekreisch früherer Szenen hinter sich lässt und in einem Lazarett voll Sterbender die „Direktive, Ehrenbezeigungen betreffend“ verliest wie eine Kabarettnummer. Oder Peter Matić, der als Kaiser Franz Joseph noch als Untoter in einem Couplet mit dünner Greisenstimme sein Geschick beklagt wie das gespenstische Zerrbild einer Nestroy-Figur. Oder auch der junge Laurence Rupp, der zwar, wie heute üblich, nachlässig artikuliert, aber wenigstens entspannt sprechen kann.

Dazwischen: Vier Stunden erhellendes Phrasendreschen. Montage von Sätzen, die so abgründig banal sind, dass man sie für schlechte Erfindung halten könnte, hätte nicht Kraus eine furchtbar reale Sprache montiert: „Die unwahrscheinlichsten Taten, die hier gemeldet werden, sind wirklich geschehen. … Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate. Sätze, deren Wahnwitz unverlierbar dem Ohr eingeschrieben ist, wachsen zur Lebensmusik“, schreibt er im Vorwort.

Missratene Karikaturen, der Wirklichkeit abgelauscht

Typen treten uns entgegen, die man für missratene Karikaturen halten könnte, wären sie nicht so zwingend der Wirklichkeit abgelauscht: Der zynisch-kriecherische Hofrat Nepalleck, der die telefonischen Bücklinge en gros abliefert; der Dichter Ludwig Ganghofer, der Kaiser Wilhelm mit seinem Feuilleton umschleimt. Vor allem der Viktualienhändler Vinzenz Chramosta, der als dämonischer Wiener Prolet zu geifernder Monstrosität anschwillt: der großartige Darsteller Christoph Krutzler erinnert mit diesen Gestalten an die Darsteller-Legenden des abgründigen Volkstheaters. Oder das Trio der Journalisten, die sich aus dem Wortmaterial der Schauspielerin Elfriede Ritter (in dieser Szene überzeugend, in anderen zu überdreht: Alexandra Henkel) ihre Wahrheit basteln: Thomas Reisinger und Laurence Rupp sind zusammen mit Krutzler ein infernalisches Trio, zuständig für die Vivisektion der Sprache. Bestürzender könnte man auch heute einen Journalismus, der Lesernähe behauptend das filtert, was „die Leut‘“ lesen wollen, nicht beschreiben.

Nahe am Leser: Kriegsberichterstatteri Alice Schalek (Dörte Lyssewski) verwandelt die Traumata der Front (Soldat: Sven Dolinski) in Infotainment für Wiener Ringstraßen-Großbürger. Foto: Georg Soulek

Nahe am Leser: Kriegsberichterstatteri Alice Schalek (Dörte Lyssewski) verwandelt die Traumata der Front (Soldat: Sven Dolinski) in Infotainment für Wiener Ringstraßen-Großbürger. Foto: Georg Soulek

Krieg als mediales Ereignis, Berichterstattung als personality show, Reportage als performance und urban journalism. Alles schon mal dagewesen: Schmiedleitner rückt nicht umsonst die Figur der Kriegsberichterstatterin Alice Schalek in den Vordergrund. Für Karl Kraus war die „Kriegsverherrlichung“ dieser einzigen Frau im k.u.k. Kriegspressequartier im Ersten Weltkrieg ein rotes Tuch; für Schmiedleitner ist sie eine Studie über die ungeheuerliche Funktion der Sprache im Vernebelungsprozess von Wirklichkeit.

Dörte Lyssewski windet sich in die Szene wie ein Model auf dem Laufsteg: eine Schlange in feldgrauem Rock. Sie konkurriert mit riesigem, haarigen Kopfbesatz mit den Rosshaarpracht des kaiserlich-wilhelminischen Helms (die Kostümbildnerin Tina Kloempken aus Mülheim kennen viele noch von ihren Bochumer Arbeiten). Lyssewksi setzt die Sprache mal bajonettspitz, mal sammetweich an. Sie schwärmt vom „Stahlbad“ und sät mit der floskelhaften Frage der stets quietschvergnügten Interview-Blondinen aus dem Privatfernsehen den Verdacht aus, der Journalismus habe in hundert Jahren nichts gelernt: „Wie fühlen sie sich?“ Und wenn der idealisierte „gemeine Mann“ nicht die passende Antwort gibt, schreitet die Schalek weiter die Isonzo-Front ab, bis „in der Stellung“ eine Flasche Extra-Champagner und Speisen in „dampfenden Schüsseln“ auf Damast serviert werden.

Optimist und Nörgler: Georg Bloéb (links) und Dietmar König. Foto: Georg Soulek

Optimist und Nörgler: Georg Bloéb (links) und Dietmar König. Foto: Georg Soulek

Vom schaurigschönen Bericht von den Helden an der Front für den Wiener Salon zu den schönschaurigen Sensationsbildern des Infotainments ist der Schritt nicht groß. Die zwerchfellkitzelnden Donnerschläge, die Schmiedleitner in die Szenen einschlagen lässt, sind akustische Deutesignale ganz in diesem Sinne: Keinen unangebrachten theatralischen Realismus hat er da im Sinn. Das Dröhnen kommt eher aus „Star Wars“ oder aus den Ego-Shooter-Derivat-Filmen Hollywoods. Krieg als großes Kino. Die krachend aufmarschierende Postmusik Salzburg unter Franz Milacher stellt als Kontrast die Brücke dar zum verlogenen Operetten-„Zauber der Montur“ der guten alten Zeit.

Diese Zuspitzung des Kraus’schen Universaldramas bezahlt Schmiedleitner mit nicht unerheblichem Tribut: Eine Reihe von Szenen driften ab in die Sphäre kabaretthafter Eindeutigkeit, andere – wie die Familie Wahnschaffe – büßen in schriller Übertreibung ihre bösartige Selbstverständlichkeit ein. Der dürre, kahlköpfige Nörgler Dietmar König spuckt dem jovialen Optimisten Gregor Bloéb seine galligen Einwände in so viel Bedeutung eingepresst entgegen, dass gerade diese Dreh- und Angelpunkte der Dramaturgie ihr Gewicht verlieren.

In einer Welt, in der Jesus Christus auf Feldpredigerfomat verkleinert ist und das Universum vielleicht noch als Wirtschaftsraum durchgeht, gehört das letzte Wort nicht Gott. Der Optimist nimmt es sich, und es geht noch einmal unter die Haut: Er schlüpft in die Uniform des Hauptmanns Prasch, vielleicht die verstörendste der entmenschlichten Figuren des Dramas. Mit dem lakonischen Grinsen von jemandem, den das alles nichts angeht, lässt er Mord, Marter und Vergewaltigung Revue passieren: „Man darf den Mut nicht sinken lassen. Kopf hoch!“

Wiederaufnahme am Wiener Burgtheater am 5. September. Eine weitere Inszenierung der „letzten Tage in Menschheit“ kündigt das Pfalztheater in Kaiserslautern an (Premiere 31.01.2015).




Der kleine kluge Mann – Erinnerung an Gerard Mortier

Wir beklagen den Tod von Gerard Mortier. In den meisten Nachrufen wird davon gesprochen, dass er die Oper zu neuem Erwachen geführt habe,  die Salzburger Festspiele nachhaltig geprägt habe. Alles richtig. Nur – sein Wirken als erster Intendant der RuhrTriennale hat zumindest hier eine viel umfassendere Bedeutung. Leider sind und waren die Entscheidungsträger für das Festival nicht auf seiner Erkenntnisstufe. Sie hatten nicht mit seiner Widerspenstigkeit gerechnet und waren am Ende froh, dass er weg war. Welch ein grandioser Fehler!

Als ich ihn 2001 in einem Szenecafé im Dortmunder Norden kennenlernte, traf ich auf einen offenen, charmanten und witzigen Mann, mit dem ich über die Eigenart der Belgier diskutiert habe, über das Publikum im Ruhrgebiet und die Unterschätzung desselben.  Später – bei einem Besuch in Salzburg – sprachen wir über die Dekadenz des dortigen Publikums und die Sehnsucht nach dem Einfachen im scheinbar Komplizierten. Die zahlreichen Gespräche mit ihm – vor allem während seiner Zeit im Ruhrgebiet – gehören zu den prägendsten meines Lebens.

Der Jurist Dr. Mortier, dessen Namen manche flämisch, andere französisch aussprachen, war allzeit auskunftsbereit, sprach und warb für die erste RuhrTriennale an jedem nur denkbaren Ort. Seine Gespräche mit Politikern oder Vertretern der Wirtschaft kosteten ihn Nerven. Er sei „oft von Dummheit“ umgeben gewesen,  sagte er. Nach einer Anlaufzeit mochten ihn die Menschen hier, so wie er die Ruhrgebietler ins Herz schloss. Er machte aus dem Stand das Festival zu einem Highlight, indem er Kreationen entwerfen ließ, die unvergesslich sind, allen voran vielleicht das Werk „Sentimenti“, dass damals vom zukünftigen Triennale-Intendanten Johan Simons in Sezen gesetzt wurde.

Damals in Salzburg engagierte er Markus Hinterhäuser und Thomas Zierhofer, um für kleines Geld ein erstes „Festival im Festival“ zu etablieren, genannt „Zeitfluss“, für ein junges, neues Publikum. So förderte er das Festival „Off limits“, dessen Leiter ich habe sein dürfen, als Off-Triennale, eine bis dato einmalige Kooperation. Wiederstände gab es auch damals, aber  er setzte es durch.

Er sah sich nie als Künstler, sondern als Ermöglicher und Vermittler. Er überredete u.a. Alain Platel, für die RuhrTriennale ein Werk zu Mozart zu inszenieren, das danach weltweit Erfolge feierte: „Wolf, oder wie Mozart auf den Hund kam“.  Er verstand es, Menschen zu überzeugen, Publikum wie Künstler.

Als der agile Intendant ging, folgte der joviale Jürgen Flimm und die RuhrTriennale setzte umgehend Staub an, der sich erst wieder mit Heiner Goebbels zart auflöste. Als Mortier sich später anbot, noch einmal eine Intendanz zu übernehmen, winkte man ab. Der kleine Mann ging den Politikern offenbar auf die Nerven.

Überall, wo er war, hat er Eindruck und Nachhaltigkeit hinterlassen. Viele seiner Weggefährten folgten seinen Ideen und sind erfolgreiche Intendanten oder Vermittler. Leider hat das Wirken hier im Revier nur wenig hinterlassen – außer Erinnerung. Man müsste ihm ein Denkmal schaffen.  Ich werde ihn trauernd weiter schätzen.




Festspiel-Passagen III: Salzburg – Jeanne d’Arc oder der Sieg im Scheitern

Alexander Pereira - noch Intendant der Salzburger Festspiele. Foto: Luigi Caputo

Alexander Pereira – noch Intendant der Salzburger Festspiele. Foto: Luigi Caputo

Wäre das in diesem Jahr überpräsente Verdi-Wagner-Thema die einzige inhaltliche Leitlinie der Salzburger Festspiele 2013, man könnte gelangweilt zur Tagesordnung übergehen.

Aber Alexander Pereira hat die sommerlichen Festtage wieder einmal mit einem fein gesponnenen Netz von Beziehungslinien überzogen: Die beiden zum Heiteren neigenden Meisterwerke der Jubilare – „Falstaff“ und „Die Meistersinger von Nürnberg“ sind freilich programmatisch eher unspektakulär, auch wenn Pereira mit Stefan Herheim einen der profiliertesten Opernregisseure der Gegenwart für Wagner gewonnen hat.

Spannender ist da schon die Konzentration auf verschiedene Aspekte der Geschichte der Jeanne d’Arc, einer Heiligen, die wie selten zwischen großer Politik und scheinbar naiver Frömmigkeit, pragmatischem Realismus und kühner Vision steht. Ein Fanal für unerschütterlichen Glauben an Gott, an das Wunder in der Geschichte und an die eigene Berufung; ein Beispiel, wie eine einfach Frau des späten Mittelalters gegen ihre Umwelt ihre Persönlichkeit behauptet.

Jeanne d’Arc bietet Stoff für viele Interpretationen. Pereira hat drei ausgewählt: Den Anfang machten Walter Braunfels‘ „Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna“ und Friedrich Schillers „Jungfrau von Orleans“. Folgen wird noch Giuseppe Verdis selten gespielte „Giovanna d’Arco“, eines der geschmähten Werke der „Galeerenjahre“ des Komponisten, das heute wieder stärker in den Fokus rückt.

Wagners Schatten wird überwunden

Walter Braunfels, 1882 im Jahr der Uraufführung des „Parsifal“ geboren, gehört zu einer Generation, die darum ringen musste, aus Wagners übermächtigem Schatten herauszutreten. In seiner Musik blitzen die Spuren seines Lehrers Ludwig Thuille auf – etwa in den farbigen Bläsersoli und der subtilen Orchesterbehandlung. Aber sie trägt auch Züge des von ihm verehrten Hans Pfitzner, so in der rezitativischen Prosa des ersten Teils. Die Rückgriffe auf Musik der Renaissance, die archaisch anmutenden Anklänge an Gregorianik und italienische Monodie entsprechen teils dem Zeitgeist – man mag an Igor Strawinsky oder Ottorino Respighi erinnert sein –, sind aber eigenständig entwickelt und wollen das Werk atmosphärisch verorten.

Die Felsenreitschule, Aufführungsort von Braunfels' "Jeanne d'Arc". Foto: Silvia Lelli

Die Felsenreitschule, Aufführungsort von Braunfels‘ „Jeanne d’Arc“. Foto: Silvia Lelli

Mit der Salzburger Aufführung – leider nur konzertant – wird Walter Braunfels auch an diesem Ort die gerechte Beachtung gezollt, die er längst verdient hat. Denn der von den Nationalsozialisten zum Schweigen gebrachte Komponist gehörte zu den erfolgreichsten Protagonisten des musikalischen Lebens in den zwanziger Jahren.

Mit seiner Oper „Die Vögel“ hatte er 1920 den Grundstein seiner Popularität gelegt, war als Gründungsrektor der Kölner Musikhochschule auch in der Ausbildung junger Leute eine maßgebliche Größe. Die Nazis enthoben den „Halbjuden“ 1933 seiner Ämter, belegten ihn mit Berufsverbot. Konrad Adenauer setzte den Verfemten schon im Oktober 1945 wieder auf der früheren Kölner Stelle ein, holte ihn vom Bodensee zurück, wo er im inneren Exil Werke für die Schublade schuf – unter anderem seine „Jeanne d’Arc“.

Bis zu seinem Tod 1954 schrieb Braunfels unermüdlich weiter, zuletzt ein „Spiel von der Auferstehung des Herrn“. Danach hat sich dichtes Vergessen zwischen ihn und das Jetzt gesenkt, das erst seit etwa fünfzehn Jahren aufreißt. Braunfels’ Weg war in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte fatal folgerichtig: Wie anderen Nazi-Opfern ist es ihm nicht gelungen, an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen. Das Musikleben bestimmten Leute wie Carl Orff oder Werner Egk, die nach den alten Machthabern nun die junge Demokratie bedienten.

Nach 1950 – die braune Vergangenheit war mittlerweile auch für den öffentlichen Dienst kein Hindernis mehr – hatten Musiker wie Braunfels in den sich dogmatisch verhärtenden Richtungen der zeitgenössischen Musik ihren Ruf als gestrig und überholt weg. Und man vermied es allzu gerne, sich den Aufbruch ins Neue durch die Erinnerung an Geschehenes vermiesen zu lassen. Zudem dürften Braunfels‘ Konservatismus und seine Ablehnung der musikalischen Avantgarde seine Isolation noch verstärkt haben. Auch sein künstlerisches Ethos – er wollte die „christliche Oper“ vollenden – war wohl nicht geeignet, ihm das Interesse der Nachwelt zu erhalten. Das ändert sich nun, und es ist zu wünschen, dass der erneuerte Blick auf Menschen wie Walter Braunfels nachhaltig bliebe.

Manfred Honeck als kundiger Sachwalter von Braunfels‘ Musik

„Jeanne d’Arc“ war schon als „Wiederentdeckung des Jahres 2008“ bei ihrer szenischen Uraufführung an der Deutschen Oper ein grandioser künstlerischer Erfolg, nicht zuletzt, weil Christoph Schlingensief ein Mysterienspiel in wuchernden Bildern entwickelte. In Salzburg dirigierte Manfred Honeck – wie bei der auf CD dokumentierten konzertanten Uraufführung 2001.

Manfred Honeck (Musikalische Leitung), Johan Reuter (Gilles de Rais). Foto: Silvia Lelli

Manfred Honeck (Musikalische Leitung), Johan Reuter (Gilles de Rais). Foto: Silvia Lelli

Nicht immer gelang es, dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien die Impulse für einen konturenreichen Klang zu vermitteln: Im ersten Teil standen die Klangkomplexe wie Blöcke da; auch die von einem ariosen Rezitativstil á la Pfitzner geprägten Szenen waren atmosphärisch eher beiläufig gestützt. Das änderte sich immer, wenn die vorzüglich einstudierten Chöre (Bachchor Salzburg, Chor und Kinderchor der Festspiele und des Theaters) zum Einsatz kamen. Alois Glassner und Wolfgang Götz haben, was Chorklang und Prägnanz der Artikulation betrifft, ganze Arbeit geleistet!

Mit der gesteigerten hymnischen Emphase des Finales des ersten Teils war das Orchester dann bei Braunfels angekommen: Die Musik zwischen vergeistigtem Oratorium und farbenfroher Oper fordert illustrative Details, theatralische Kommentierungsfreude, den Ton des Erhabenen wie des Burlesken – so etwa im „Zwischenspiel“, einer Solo-Szene des Herzogs von La Trémouille, in der Ruben Drole eine komödiantische Charakterisierungskunst zeigen konnte, wie wir sie etwa in Liedern von Hugo Wolf oder Ludwig Thuille wiederfinden.

An Juliane Banse, Protagonistin der Aufnahme von 2009, einem Mitschnitt der Uraufführung 2001, sind die Jahre nicht spurlos vorübergegangen: Das als engelsgleich gerühmte Timbre klingt vor allem in der Höhe hohl, die Stütze bemüht. Aber Banse wirft dafür ihre Erfahrung in die Waagschale: So gelingen ihr die Szenen im Gefängnis, ihr selbstbewusster Auftritt vor dem Gericht, ihre gereifte Ergebung in den Willen Gottes eindrücklicher als der Aufbruch des optimistischen jungen Mädchens.

Fedora Wesseler bezeichnet im Programmheft den „Schrei nach Gewissheit“ als ein zentrales Thema der Oper, das sich in der Figur des Gilles de Rais manifestiert. Johan Reuter bringt für diese zweifelnde, zuletzt resignierende Figur eine markante Stimme mit: Der Münchner Wotan – 2014 wieder zu erleben – trägt reflektierende Momente („Heißt das, dass Nacht nun sein soll…“) durch ein erlesenes Mezzoforte, gestaltet die Entwicklung zum auf ein Wunder hoffenden Pessimisten, der im Scheiterhaufen Johannas den Sieg Satans sieht.

Das diabolische Element des rechtsbeugenden Richters führt Michael Laurenz als Cauchon mit einem glänzend fokussierten Charaktertenor ein: Gellend preist er sein „System“, mit dem er die Seelen in die Richtung hetzt, die er für sein Urteil braucht. Vor dem Hintergrund der Entstehungszeit der Oper mag es nicht abwegig sein, an die giftigen Tiraden eines Roland Freisler zu denken.

Eine großartige Szene hat auch Pavol Breslik als von Selbstzweifeln geschüttelter Karl von Valois. Doch der gefeierte Tenor vergibt die Chance, über strahlende Töne und glanzvollen „Squillo“ hinaus subtilere Nuancen der Charakterisierung zu zeigen. „Ein neuer Morgen, und immer noch die gleiche Nacht“ wirkt wie ein Vortrag aus den Noten, nicht wie die tief empfundene seelische Verunsicherung eines Königs, die mit der großen Szene des Philipp in Verdis „Don Carlo“ konkurrieren könnte.

Licht und Schatten gibt es in der Besetzung der kürzeren Partien: Norbert Ernst gibt Colin, dem Jugendgefährten Jeannes, rhetorischen Pfiff, Tobias Kehrer kleidet die mahnenden und die trauernden väterlichen Worte des Jacobus von Arc in einen schlanken, substanzvollen Bass. Martin Gantner erweist sich als Ritter Baudricourt wieder einmal als zuverlässiger, stets sinnig gestaltender Sänger; an seiner Seite Wiebke Lehmkuhl mit feinem Ton als Lison.

Mit Siobhan Stagg und Sofiya Almazova gaben zwei Damen aus dem „Young Singers Projekt“ eine sympathische Kostprobe schöner Stimme; für Johannes Dunz (Herzog von Alençon) heißt es noch, an der Stütze zu arbeiten. Auch Thomas E. Bauer kann sich als Erzbischof von Reims nicht freisingen. Und Brian Hymel stellt mit ziemlich festgefahrenem Tenor und unfrei-knödeligem Timbre die Frage des Heiligen Michael: „Wer ist wie Gott?“ – eine Frage, die 1943, als Braunfels seine Oper vollendete, auf unheimliche Weise aktuell gewesen ist. Dass sie heute, unter ganz anderen Vorzeichen, nichts an Brisanz verloren hat, wird der Beobachter der Zeitläufte unschwer bestätigen können.

Informationen zu den Salzburger Festspielen: http://www.salzburgerfestspiele.at




Festspiel-Passagen VIII: Zwischen Carmen-Leid und Händel-Leidenschaft

Die Zeit der sommerlichen Festivals ist vorüber, der Alltag erwartet uns wieder. Vorbei die letzte Vorstellung des früher ungeliebten, jetzt mit Wehmutstränen verabschiedeten Bayreuther „Tristan“ Christoph Marthalers; vorbei die Dernière des begeistert gefeierten Herheim-„Parsifal“, dessen Absetzung immer noch unverständlich ist, denn so wird das Wagner-Jahr 2013 am Hügel ohne das Stück gefeiert, das Wagner für das Festspielhaus geschrieben hat. Das Bayreuther Festspielorchester nebst Chor und Solisten war gefeierter Gast in Barcelona, um dem krisengeschüttelten Spanien mit erlösungsschwangeren Wagner-Klängen die Wunden zu salben.

Stefan Herheims "Parsifal"-Inszenierung lief heuer zum letzten Mal. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Stefan Herheims "Parsifal"-Inszenierung lief heuer zum letzten Mal. Foto: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Salzburg hat den ersten Pereira-Hype hinter sich; die Bilanz des neuen, aus Zürich gekommenen Chefs ist durchwachsen. Auf der einen Seite stehen Überflutung mit Luxus von Domingo bis Netrebko und überflüssige Zelebration massentauglicher Werke wie die mit Magdalena Kozená fragwürdig besetzten „Carmen“. Auf der anderen Seite ein Aufbruch wie die Konzertreihe „Ouverture spirituelle“ oder die ehrgeizig geglückte Inszenierung der „Soldaten“, Bernd Alois Zimmermanns Ikone des modernen Musiktheaters.

Gerühmt: Salzburgs Inszenierung von Zimmermanns "Soldaten". Foto: Ruth Walz

Gerühmt: Salzburgs Inszenierung von Zimmermanns "Soldaten". Foto: Ruth Walz

Und es gab in Salzburg auch weniger beachtete „Events“, die dem Festival jenseits des Opern-Spielplans (2013 wird er leider arg populistisch ausfallen) Profil geben könnten. Die vierzehn „Salzburg contemporary“-Konzerte sind ein Beispiel: Der musikalische Kosmos Heinz Holligers war zu erschließen; der Komponist war auch als Dirigent und Oboist zu erleben. Oder das Konzept des neuen Chefs der Schauspielsparte, Sven-Eric Bechtolf, der sich auf Werk und Text statt auf Material und Dekonstruktion besinnen will.

Er hat auch eine Nürnberger Puppenspieler-Truppe nach Salzburg eingeladen, die sich „Thalias Kompagnons“ nennt. Joachim Torbahn und Tristan Vogt heißen die kreativen Köpfe des Teams, das in Ferdinand Raimunds „Der Bauer als Millionär“ Naivität in Tiefsinn verwandelt, das Moralische wie das Parodistische in der Distanz der Puppenwelt von Banalität und Schwere befreit: weise Einfalt!

Dem Blick über die sommerliche Kultur-Landschaft bieten sich traditionsreiche Fixpunkte wie die Händel-Festspiele in Göttingen und Halle. Die Universitätsstadt an der Leine hat mit Laurence Cummings einen neuen künstlerischen Leiter gewonnen, der den zwölf musikalischen Tagen rund um Händel sein Siegel erst noch aufprägen muss. Die Oper dieses Jahres, Händels „Amadigi di Gaula“, konnte nicht restlos überzeugen: Das Konzept der Regisseurin Sigrid T’Hooft, die strengen Bewegungsregeln des barocken Theaters ins Heute zu übertragen, geht ästhetisch auf, gibt dem Zauber- und Ritterstück aber keinen dramatischen Zug.

Konflikte und Leidenschaften bleiben „historisch“. In der musikalischen Umsetzung gelingt Andrew Parrott die Vergegenwärtigung schlüssiger: Das Festspielorchester spielt kompakt und kantig, schroffer als unter dem bisherigen künstlerischen Leiter Nicolas McGegan, manchmal aber auch weniger subtil. Die Sänger lassen technisch zu viel zu wünschen übrig, um Ausdruck und Schönheit des Singens miteinander zu verbinden.

In Halle lag im 80. Jahr der Festspiele der Schwerpunkt auf einem Blick auf Händels Verhältnis zur Religion und auf die Erinnerung an Händels Lehrer Friedrich Wilhelm Zachow, der vor 300 Jahren, am 7. August 1712, gestorben ist. Ein abwechslungsreiches Programm bot oratorische Spezialitäten wie das Auferstehungsspiel „La Resurrezione“, das allegorische Oratorium „L’Allegro, il Pensieroso ed il Moderato“ und die selten zu hörende „Brockes Passion“. Dazu kam „Il Martirio di Santa Teodosia“ von Alessandro Scarlatti, einem der italienischen Anreger Händels, aufgeführt von dem renommierten spanischen Ensemble „Al Ayre Espanol“ unter dem so charismatischen wie tiefgründigen Eduardo López Banzo.

Aber auch die Akademie für Alte Musik Berlin und der Rias Kammerchor sorgten unter Hans-Christoph Rademann mit Händels „Josuah“ für einen Höhepunkt der Festspiele an der Saale. Dem Thema „Händel und die Konfessionen“ widmete sich eine inhaltsreiche wissenschaftliche Konferenz, von der viele Anregungen zum Weiterdenken ausgingen.

Mit der Tanzpantomime „La Terpsichore“ kam im historischen Goethe-Theater in Bad Lauchstädt eine Kunstgattung zu Ehren, die noch zu entdecken ist. Die Musik zu Ehren der griechischen Muse der Tanzkunst lieferten Georg Friedrich Händel und sein französischer Zeitgenosse Jean-Féry Rebel. Die Musiker von Les Talens Lyriques entfachten ein regelrechtes Tanzfeuer unter der Leitung von Christophe Rousset: jeder Ton passte akkurat. Ideal wirkt der markant-schroffe Schönklang mit tief empfundenen lyrischen Momenten und einer unermüdlichen Lust an barocker Klangpracht.

Choreographin Béatrice Massins Hauptinteresse gilt dem barocken Bühnentanz, sie nutzt ebenso einige freie Darstellungsformen um die Ausdruckspalette der Tänzer von Les Fêtes galantes anzureichern. In dem rund 80-minütigen Werk wirkte das freilich auf Dauer etwas ermüdend, da die Schrittfolgen und Positionen sich häufig wiederholen. Das Programm 2013 der Festspiele in Halle verspricht mit den Opern „Almira“ und „Alessandro“ und dem Oratorium „Judas Maccabäus“ wieder anregende Begegnungen mit Händel.

(Mitarbeit: Tony Kliche, Halle/Saale)




Festspiel-Passagen VII: Salzburg – Mit der Zauberflöte ins Labyrinth

Mandy Fredrich (Königin der Nacht) und Julia Kleiter (Pamina) in der Salzburger "Zauberflöte". Foto: Monika Rittershaus

Mandy Fredrich (Königin der Nacht) und Julia Kleiter (Pamina) in der Salzburger "Zauberflöte". Foto: Monika Rittershaus

Der siebenfache Sonnenkreis ist eine Mischung aus Baustellenlampe und Hirnschrittmacher, mit einem Schlauch offenbar direkt mit Sarastros Hirn verbunden. Der Weisheitstempel besteht aus lauter Türen, mit kryptischen Buchstaben bezeichnet. Sarastro und die Königin der Nacht balgen sich am Ende um das technische Gerät, während die jungen Leute den Kinderwagen Papagenos und Papagenas hinterherlaufen. Familienidylle statt Weisheitslehre?

Jens-Daniel Herzog, der Dortmunder Operndirektor, hat sich mit der „Zauberflöte“ bei den Salzburger Festspielen vorgestellt – wie so viele andere ein Import aus des neuen Intendanten Alexander Pereiras Zürcher Zeit. Und seine Botschaft scheint zu sein: Leute, nehmt den ganzen Zauber nicht so wichtig. Das ist ein dürftiges Ergebnis.

Sicher lassen sich bei der „Zauberflöte“ die Tiefenschichten in Emanuel Schikaneders einzigartigem Libretto ausblenden, lässt sich das unterhaltsame Abenteuerstück aus der Wiener Vorstadt hervorkehren. Aber Herzog stellt sich – so jedenfalls in einem Interview im Programmbuch – auf die Seite Susan Sontags und ihre Ablehnung, in einem Kunstwerk einen „Subtext“ zu ergründen. Sontag propagiert die postmoderne Beschränkung auf die pure Sinnlichkeit und den Primat der individuellen Erfahrung, die sie in einer Interpretation eingeschränkt sieht.

Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Bei einem so komplexen Kunstwerk wie der Oper ist der Verzicht auf eine schlüssig ausgearbeitete, pointierte Deutung gleichzusetzen mit dem Verharren an der Oberfläche. Das mag durchaus sinnenfroh und unterhaltsam sein, ermöglicht aber keine ästhetische Erfahrung, sondern verhindert sie. Der Verzicht auf einen Standort – den der Regisseur einnehmen muss – lässt den Zuschauer irgendwohin treiben statt ihn herauszufordern, die eigene Position zu suchen und einzunehmen.

Herzog ist natürlich viel zu klug, um die postmoderne Falle zuschnappen zu lassen, aber er konnte sich ihren Fangzähnen doch nicht ganz entwinden. Die Zauberflöte, die in seiner Inszenierung den Prinzen Tamino vor den wölfischen Ungeheuern rettet, war bei ihm zumindest verstimmt. Hätte er sich konsequenter auf die Gegensätze des Stücks eingelassen, hätte er die naive, aber zutiefst menschliche Welt des Papageno über das putzige Dreirad-Lieferwägelchen und die Vogelfedern hinaus geführt, wäre auch das Potenzial von Bühnenbildner Mathis Neidhardts Felsenreitschul-Imitation zu erschließen gewesen. Denn das Versteckspiel mit verschiebbaren Kästen nach Art eines Türen-Klapp-Boulevardkrimis brachte nicht viel.

Markus Werba (Papageno) schiebt sein Vogel-Mobil weg. Foto: Monika Rittershaus

Markus Werba (Papageno) schiebt sein Vogel-Mobil weg. Foto: Monika Rittershaus

Die Salzburger „Zauberflöte“ war nicht wegen Herzogs Inszenierung mit Spannung erwartet worden, sondern vor allem, weil sie Nikolaus Harnoncourt zum ersten Mal in Salzburg – in Zürich war er schon vor fünf Jahren – und zum ersten Mal mit seinem Orchester, dem „Concentus Musicus“ aufführte. Und weil er aus lebenslanger, vielleicht ein wenig altersmilder Erfahrung eine Gegenposition zu all den verhetzten „Original“-Zauberflöten formuliert. Wir hören den schlanken, dunkel grundierten Streicherklang nicht im mechanischen Tempo, sondern in einer fast schon manieristisch am Text-Metrum ausgerichteten Varianz. Wir hören seidige Bläser, die nicht mehr jäh, sondern fast schüchtern akzentuieren. Wir erleben, wie Harnoncourt zwar beweglich-flüssige Grundtempi anschlägt, dann aber verzögernd der Emotion Raum gibt, wie in „Schnelle Füße…“ oder in Paminas Arie „Ach ich fühl’s…“. Und wir erfahren, dass Sarastros Arien, längst keine wuchtig-pathetischen Bekenntnisse aus der Patriarchenwelt mehr, durchaus mit gemäßigter Würde vorzutragen sind. Irritierend ist, dass Harnoncourt kaum Wert auf den musikalischen Bogen legt. Er fordert nicht nur konsequentes Anti-Legato, sondern nimmt „Löcher“ in Kauf, deren Sinn sich nicht erschließt.

Wer von der Krise des Wagner-Gesangs redet, muss den Mozart-Gesang mit einschließen. Seit den traurigen Eindrücken aus dem Salzburger Mozart-Marathon 2006 hat sich da nicht viel geändert. Sicher, Georg Zeppenfeld als undramatisch-beherrschter Sarastro und die unangestrengt auf dem Atem singende Pamina Julia Kleiters wissen, wie es geht. Mandy Fredrich hat auch am Essener Aalto-Theater die „Königin der Nacht“ gesungen: Sie beherrscht die technischen Finessen der Partie, hat ein gut ausgebildetes Fundament für den Klang auch in der Höhe, aber keine charismatische Brillanz. Markus Werba, ein gewinnender Darsteller, darf sich als Papageno ruhig an seiner künftigen Frau, der bezaubernden Elisabeth Schwarz, ein Beispiel nehmen und die Stimme aus der Kehle nach vorne bewegen. Bernard Richter singt den Tamino hölzern und kann die Töne nicht binden. Die drei Damen bilden alles andere als ein Ensemble, speziell Sandra Trattnigg zernichtet als Erste Dame mit Trompetentönen den Gleichklang. Und gibt es in Salzburg für den Mohren – der hier nach neuester Quellenkritik „Manostatos“ heißt – keinen Buffo-Tenor mehr, der nicht nur haltlosen Sprechgesang bietet wie Rudolf Schasching?

Thomas Tatzl, der Papageno in Peter von Winters "Labyrinth". Foto: Hans Jörg Michel.

Thomas Tatzl, der Papageno in Peter von Winters "Labyrinth". Foto: Hans Jörg Michel.

Noch viel misslicher sind die sängerischen Eindrücke in der einzigen Oper, die bei den Salzburger Festspielen aus dem Repertoire herausfällt: Peter von Winters „Das Labyrinth“, nur sieben Jahre nach Mozarts Tod von Emanuel Schikaneder als „Der Zauberflöte zweyter Theil“ konzipiert. Wir finden das bekannte Personal aus Mozarts Oper wieder. Die Königin der Nacht hat sich mit König Tipheus und dessen Freund Sithos zwei Heerführer an ihre Seite geholt, die den Kampf mit dem spürbar militarisierten Sarastro endgültig entscheiden sollen. Papageno findet seine Eltern und mit ihnen jede Menge Geschwister, und Monostatos ist am lunaren Hof trefflich etabliert. Tamino und Pamina müssen neue Prüfungen ablegen: Nach Feuer und Wasser ist nun die Erde dran: ein unterirdisches Labyrinth gilt es zu durchschreiten. Nicht Hollywood, sondern Wien hat die Fortsetzung als Erfolgsprinzip entdeckt.

Ein angemessener Blick auf das Stück muss sich zuerst davon verabschieden, Konzeption und Musik der „Zauberflöte“ auf diese Fortsetzung zu übertragen. In den sieben Jahren seit ihrer Uraufführung haben sich Perspektiven und Interessen verschoben, gerade im rasch auf Zeitströmungen reagierenden populären Unterhaltungstheater. Im „Labyrinth“ tritt die Ideenwelt zurück, vielleicht, weil Mozarts Einfluss fehlt. Dafür triumphiert das Wunderbare, Effektvolle, Kolportagehafte.

In Salzburg bleibt dieser „zweyte Theil“, wie so manches Film-Sequel, glanzlos hinter dem Original zurück: Im Residenzhof singt die – früher mal in Dortmund und Bonn, jetzt an der Komischen Oper Berlin engagierte – Julia Novikova eine koloraturüberforderte, harttönig-dünne Königin, die viel gelobte Malin Hartelius eine Pamina ohne Höhe und Charme. Clemens Unterreiner und Philippe Sly bleiben als neu eingeführte Krieger Tipheus und Sithos zuverlässig blass.

Mandy Fredrich als Königin der Nacht und Klaus Kuttler als Monostatos. Foto: Hans Jörg Michel

Julia Novikova als Königin der Nacht und Klaus Kuttler als Monostatos. Foto: Hans Jörg Michel

Das mag auch der inspirationslosen Regie der in Dortmund geborenen und bis 2003 am Schauspielhaus Bochum inszenierenden Alexandra Liedtke geschuldet sein. Warum Salzburg für ein solches Werk keinen Platz für einen erfahrenen Opernregisseur hat, ließe sich wahrscheinlich nur durch einen Blick hinter unzugängliche Kulissen ergründen. Raimund Orfeo Voigts Bühne verwendet technisch aufwändige, verschiebbare Licht-Lamellen, erinnert in Reminiszenzen wie der Hanswurst-Bühne an die Tradition des Volkstheaters, mit dem Zitat von Schinkels Berliner Zauberflöten-Himmelsgewölbe an die Spuren des erhabenen Aufklärungstheaters. Doch Liedtke fällt nichts ein als schrecklich vorhersehbare Auftritte; vom Zauber- und Maschinentheater ebenso wenig eine Spur wie von einem Versuch, zu verstehen, wie Schikaneder den Stoff an den Geist einer neuen Epoche angepasst und was diese Wandlung für Zuschauer von heute bedeuten könnte.

Im lustlos knappen Beifall zeigt sich der Ärger über festspielunwürdige Besetzungen, über das beflissene, aber uninspirierte Spiel des Mozarteum-Orchesters unter Ivor Bolton und über eine konzeptlose, den Abend unerträglich dehnende Inszenierung. Wären da nicht einige wenige Sänger gewesen, auf deren Auftritt man sich gefreut hat wie Christof Fischesser als Sarastro oder Thomas Tatzl und Regula Mühlemann als Papageno und Papagena, wären da nicht die heiteren, die „ausschweifende Pracht“ der Uraufführung persiflierenden Kostüme von Susanne Bisovsky und Elisabeth Binder-Neururer gewesen, der gut dreistündige Abend wäre in Langweile versauert.

An Peter von Winter lag es nicht, wie manche Rezensenten vorschnell behaupteten, die immer noch glauben, was nicht im internationalen Repertoire steht, tauge nichts. Winters Bezeichnung „große heroisch-komische Oper“ deutet eine Entwicklung an: Die Musik gibt sich „romantischer“, weniger verspielt, aber auch weniger durchgearbeitet als Mozarts Vorbild. Wir schreiten voran in Richtung Cherubini, Spontini und Beethoven.

Peter von Winter auf einem zeitgenössischen Stich.

Peter von Winter auf einem zeitgenössischen Stich.

Winter liefert kein Plagiat oder eine Imitation. Zwar tauchen in der Ouvertüre die feierlichen Dreiklänge auf. Die Königin der Nacht noch effektvoller Koloraturen perlen lassen, Sarastro gefällt sich wieder in salbungsvollem Arioso. Die tragenden Zauber-Requisiten Glockenspiel und Flöte treffen wir erneut. Offenbar besonders beliebte Szenen werden wieder aufgenommen, wie die Tänzchen der vom Glöckchenklang verzückten Bösewichter. Doch es kündigen sich auch andere, pathetischere Töne an. Der Chor – der von Alois Glassner einstudierte Salzburger Bachchor – hat eine gewichtige Rolle. Der Krieg Sarastros mit König Tipheus und der nun eindeutig böse und rachsüchtig gezeichneten lunaren Herrscherin entspricht der politischen Lage – ein Jahr vorher stand Napoleon vor Wien – und wohl auch dem Hang der Zeit nach mehr „Action“ und weniger Weisheitslehren.

Und wenn ein Schleier auf dem Weg durchs Labyrinth die „Tugend“ der Pamina schützen muss, haben sich die Gewichte verschoben von Philosophie und Weltweisheit zur einer am Sexuellen orientierten Moral der neuen bürgerlichen Schichten, auf deren dunkler Seite die Versuchung für Papageno lauert: Für exotischen Sex, sprich, die Nacht mit einer schwarzen Frau, ist er bereit, seinen Aufruf zum Mord an Monostatos noch einmal zu überdenken. Zu wünsche wäre, dass die Salzburger Wiederentdeckung von Winters „Zauberflöte“ nicht – wie die letzte Aufführung 2002 in Chemnitz – einfach verpufft. Dem Aufführungsrekord der Mozart’schen Erstversion schadet es nicht, wird hin und wieder an einem Opernhaus die Fortsetzung gespielt.

Infos zum Salzburger Spielplan: http://www.salzburgerfestspiele.at




Festspiel-Passagen VI: Maßlose Leidenschaft – Händels „Tamerlano“

„Tamerlano“ gehört nicht zu den erfolgreichsten Opern Georg Friedrich Händels. Für die Eröffnung der Saison am King’s Theatre im Oktober 1724 mutete er dem Londoner Publikum ein ungewöhnlich düsteres Werk zu.

Schon die Tuttischläge zu Beginn der Ouvertüre melden von hoher Tragik. „Schwarze“ Tonarten, dunkle Farben in den Streichern: Musikalisch kündigt sich eine Geschichte an, die den Intrigenstadl der zeitgenössischen italienischen Oper durch ihre Radikalität übertrifft. Tamerlano ist ein Herrscher, den keine Moral zu zügeln vermag; sein Gegenspieler Bajazet so stolz, dass er jedem Kompromiss den Tod vorzieht. Und der Irrtum, der Asteria an der Liebe von Andronico zweifeln lässt, ist auf eine fast schon absurde Weise schwach begründet.

Für Händel sind solche extremen Bühnenfiguren eine Herausforderung, die er musikalisch glänzend pariert. „Tamerlano“ beinhaltet eine Reihe ausdrucksstarker Arien; die Selbsttötung Bajazets inspirierte ihn zu einer Szene, die musikalisch einzigartig ist und heute noch unter die Haut geht. Vor allem dann, wenn ein so erfahrener Gestalter wie Placido Domingo sich dieses mehrschichtigen Charakters annimmt. Domingo war wohl der „Star“, der das Publikum in die beiden konzertanten Aufführungen von „Tamerlano“ bei den Salzburger Festspielen locken sollte. Denn fast vier Stunden Opernmusik ohne Szenerie sind selbst für beharrliche Hörer eine Zumutung, der sich ein Händel-Zeitgenosse vor 300 Jahren sicher nicht unterworfen hätte.

Zum Glück halten sich weder Domingo noch die anderen Sänger an historisch informiertes Zirpen, sondern bieten saftig durchblutete Opernmusik. Im Falle Domingos bedeutet das einen immer noch kernig glänzenden Klang, einen meisterlich gestützten Ton, beherrschte Farben und – vor allem in der bewegenden Todesszene – beispielhaftes Abschattieren und suggestive Rhetorik. Das Vibrato ist – wie sollte es auch anders sein – nicht mehr so kontrolliert und spannkräftig wie früher. Durch die Koloraturen mogelt sich Domingo mit erfahrungsgesättigtem Geschick, solidarisch getragen von Marc Minkowski am Pult seines Orchesters „Les Musiciens du Louvre“. Wie Domingo aber einen Charakter musikalisch erfasst und durchdringt, hat ein nach wie vor selten erreichtes Format.

In Bejun Mehta hat er einen würdigen Gegenspieler: Als Tamerlano zieht der amerikanische Counter alle Register, um die Leidenschaften dieses Herrschers einzufangen, der in Liebe wie Hass kein Maß akzeptiert: Hohn, Erniedrigung, Sklaverei und sexuelle Gewalt hat er für die bereit, die seinen egomanischen Leidenschaften nicht folgen wollen. Mehta muss Affekte wie Überschwang, Stolz, Wut, Kränkung ausdrücken: seine gut gebildete Stimme bringt dafür Brillanz, Schlagkraft und Agilität mit. Zwar muss Mehta in der Höhe manche Töne „antippen“ und nicht jede Messa di Voce gelingt abgerundet; dennoch gehört er derzeit zu den führenden Vertretern des Fachs und kann diese Position mühelos verteidigen.

Franco Fagioli zieht als Andronico leider nicht gleich: Die Partie, für den legendären Kastraten Senesino geschrieben, will nicht durch prunkvolle Virtuosität brillieren. Sie lässt dem Sänger eher die Chance, die Schönheit und Ebenmäßigkeit des Tons in allen Lagen, aber auch die Beherrschung des „passaggio“ und die Fülle des tiefen Registers zu demonstrieren. Fagiolis Mezzo kann vor allem in der Tonbildung nicht mehr überzeugen: Das Vibrato ist zu dominierend, der Ton wirkt hohl und schwammig, die Artikulation leidet. Seine an Grimassen grenzende Mimik ist wohl kaum gewollt; sie zeigt, wie der Sänger um die Position seiner Stimme ringt. Der kleinen Rolle des Leone gibt Michael Volle ein präsentes, technisch abgesichertes Profil.

Ausgezeichnete besetzen konnte Salzburg die Frauenpartien: In der Partie der Asteria, geschrieben für die legendäre Primadonna Francesca Cuzzoni, ließ die erst 22jährige Julia Lezhneva kaum einen Wunsch offen. Ob funkelnde Brillanz oder wehmutsvolle Innerlichkeit, ob Bangigkeit oder Beklemmung: Lezhneva findet stets die richtige Farbe, die passende Phrasierung. Ihre beiden Arien im ersten Akt mit ihren uneindeutigen Affekten, ihren zwischen Leid, Liebe, Hass und Verachtung schwankenden Gefühlen, stellt sie musikalisch differenzierend dar. Dazu dienen ihr eine kostbar timbrierte Mittellage, sanft gedrosselte Mezzavoce, tadellose Piani.

Lezhneva hat ein entspanntes Legato, kann aber auch impulsiv akzentuieren. Nur die Höhe wirkt technisch fragwürdig: zu oft bildet sie die Töne am flachen Gaumen, statt ihnen Stütze und Rundung zu geben. Dennoch: Lezhneva, vom Magazin „Opernwelt“ zur Nachwuchssängerin des Jahres 2011 gekürt, ist mit Recht eine der großen Hoffnungen im belcantistisch geprägten Sopranfach. Die Französin Marianne Crebassa bietet ein ebenso überzeugendes Rollenporträt der Irene: Die fremde Prinzessin ist Tamerlano als Braut versprochen, doch der Tatar setzt sie lediglich als Manövriermasse der Liebe ein, um Andronico für sein Wohlverhalten zu belohnen. Händel macht die Figur spannend, weil er Irene nicht als passives Opfer zeigt, sondern als selbstbewusste Frau, die nicht geneigt ist, die Spiele der mächtigen Männer über sich ergehen zu lassen. Ihr Mezzosopran ist kraftvoll, geschmeidig, expressiv und nur hin und wieder von zu üppigem Vibrato überlagert.

Les Musiciens du Louvre aus Grenoble, das vor 30 Jahren von Marc Minkowski gegründete Orchester, hatte wesentlich Anteil daran, den langen Abend nicht zu lange erscheinen zu lassen. Minkowski bot einen dunkel getönten Händel-Klang, der sich signifikant von der basislosen Brillanz manch englischer oder deutscher „Originalklang“-Ensembles abhebt. Bei aller Präzision und Transparenz verleugnet er nicht, dass Händel, wenn ihm die Möglichkeiten geboten waren, üppige Besetzungen für substanzreichen, festlichen Klang bevorzugte. Manchmal litten die Bläser; selbst die Trompete von Hara Fruzsi musste sich bemühen, mehr als eine Orchesterfarbe abzugeben. Minkowski reagierte jedoch stets umsichtig; dämpfte zum Beispiel die Streicher reaktionsschnell in der aparten, von zwei Flöten begleiteten Arie der Irene. Die abwechslungsreiche Klanggebung und Phrasierung des Ensembles, das über Jahre hin gewachsene Einverständnis mit dem Dirigenten, die Balance innerhalb des Ensembles und die flexiblen Tempi trugen dazu bei, Händels Musik auch über lange Zeit hin spannend zu halten.




Festspiel-Passagen II: Geistlicher Auftakt in Salzburg

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Der Salzburger Dom: Prachtvolle Kulisse für den "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen. Foto: Werner Häußner

Heute ungewöhnlich, wie klar sich Alexander Pereira bekennt: Er glaubt an Gott. „Ich bin ein alter Jesuitenschüler“, sagt er in einem Interview, in dem er seine Entscheidung begründet, den Salzburger Festspielen künftig eine „Ouverture spirituelle“ voranzustellen. Der neue Intendant möchte die geistliche Musik ins Blickfeld rücken. Christlich geprägte Werke sollen künftig auf solche aus anderen Weltreligionen treffen, jedes Jahr eine andere: 2013 ist der Buddhismus dran, 2014 der Islam.

Zum Auftakt seiner ersten Salzburger Festspielzeit setzte Pereira einen jüdischen Schwerpunkt, mit Musik, die nicht jeden Tag zu hören ist: Das Israel Philharmonic Orchestra spielte unter Zubin Mehta Ernest Blochs „Avodath Hakodesh“ (Gottesdienst). Mit Noam Sheriffs „Mechaye Hametim“ (Auferweckung der Toten), einer 1985 entstandenen großen Symphonie mit Chor, Orchester und Solisten, kam ein zeitgenössischer israelischer Komponist zum Zuge. Und von einem Klassiker der Moderne, Arnold Schönberg, stammt „Kol Nidre“, für das er melodische Elemente aus Musik zum jüdischen Jom Kippur verarbeitet hat.

In diese Reihe darf man Igor Strawinskys „Psalmensymphonie“ getrost einordnen. Bilden doch drei alttestamentliche Psalmtexte die Grundlage, die zum jüdischen wie zum christlichen Gebets- und Traditionsschatz gehören. Als Person schlägt Strawinsky eine Brücke zur orthodoxen Christenheit, als Musiker verleugnet er die Spuren russischer Kirchenmusik auch in diesem Werk nicht. Um das Jahr 1930, in dem die Symphonie entstanden ist, praktizierte er seinen Glauben explizit und setzte sich mit religiösen Fragen auseinander. Mit den Wiener Philharmonikern und der vorzüglichen Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor verständigte sich Valery Gergiev auf einen ruhigen, unspektakulären Zugang mit breit gefächerten dynamischen Nuancen zwischen Pianissimo und Mezzoforte.

Strawinsky hat sich bei der Musik zu Psalm 38, 39 und 150 von religiöser Emphase fern gehalten. Er schreibt Musik wie eine mittelalterliche Miniatur: farbenprächtig, aber objektivierend. Und Gergiev folgt dieser „darstellenden“ Linie. Die Flexibilität des Chores, die ruhig-schwingenden Tempi des Dirigenten, die strukturerhellende Transparenz des Orchesters passen bestens. Wenn in „Alleluja. Laudate Dominum“ das „in sanctis Eius“ verhalten-scheu erklingt, ist man an die große östliche Tradition der Heiligenverehrung erinnert. Kein Triumph, keine Verherrlichung, sondern ein ehrfürchtiges Sich Nähern mag diese musikalische Wiedergabe widerspiegeln.

Die Eröffnungskonzerte der „Ouverture spirituelle“ zeigen eine dramaturgisch bewusste Konzeption: Am Beginn stand – wie künftig in jedem Jahr geplant – Joseph Haydns „Schöpfung“, eine hochgelobte Aufführung unter John Eliot Gardiner; im nächsten Jahr soll sie Nikolaus Harnoncourt dirigieren. Es folgte der „Messias“ unter Daniel Harding, ein Schlüsselwerk in der Geschichte des Oratoriums. Mit der c-Moll-Messe KV 427, die Mozart selbst bei seinem letzten Salzburg-Besuch 1783 dirigierte, wurde dem musikalischen Genius loci gehuldigt.

Im Laufe der Saison, die bis 2. September ausgedehnt wurde, folgen mit der „Messe solennelle“ von Hector Berlioz am 15. August und der „Messa da Reqiuem“ Giuseppe Verdis als Abschlusskonzert am 1. September weitere bedeutende Schöpfungen aus der geistlichen Sphäre. Während die Festspiele auf diese Weise eher eine Reihe der beliebtesten „Highlights“ präsentieren – was sich künftig der Profilierung halber nicht fortsetzen sollte –, brachte etwa die Salzburger Dommusik im Sonntagshochamt eine der zwanzig Messen von Luigi Gatti, dem Hofkapellmeister Fürsterzbischof Colloredos und damit Vorgesetzten von Leopold Mozart.

Der Anfang mit der „Schöpfung“ lässt sich durchaus programmatisch für die philosophische Ausrichtung der „Ouverture sprituelle“ verstehen. Haydn schrieb kein Oratorium für die Kirche, sondern für eine gebildete Gesellschaft, für die freilich christlicher Glaube und die Ausrichtung an christlichen Prinzipien Teil ihres geistigen Lebens war. Der Schöpfungslaube, den Gottfried van Swietens Libretto voraussetzt, verbindet nicht nur Juden, Christen und Muslime. Dass am Beginn allen Existierenden eine wie auch immer geartete göttliche Setzung steht, ist Gemeingut aller Religionen. So spiegelt die „Schöpfung“ Rückbezug auf Gott, Freude an der Natur, aufklärerisches Denken, aber eben auch ein Bewusstsein für das – wenn auch sehr allgemein zu verstehende – Gemeinsame aller Religionen, formuliert auf der Basis eines christlich-jüdischen Schöpfungsbegriffs.

Ein Projekt wie die „Ouverture spirituelle“ ist in Gefahr, zu einem Wohlfühlprogramm mit beliebten Werken und beliebigen Inhalten zu degenerieren. Um ein postmodernes kulturelles Konsumprogramm mit spiritueller Prägung zu vermeiden, bieten die Festspiele gemeinsam mit den Herbert-Batliner-Europainistitut ein Begleitprogramm an. Wie beim „Jedermann“ mit seinem aus dem geistlichen Spiel stammenden Parabel-Charakter bleibt es dem Zuschauer überlassen, ob er sich innerlich berühren lässt, ein Häppchen moralische Genugtuung aufnimmt oder sich Hoffmannsthals Appell lediglich als beeindruckendes Produkt einer Kulturepoche zu Gemüte führt. Wer die aus Antike, Christentum und Aufklärung ererbte Idee, Bildung könne den Menschen zum vollkommeneren Menschsein führen, nicht ganz aufgeben will, wird den spirituellen Schwerpunkt zu Beginn der Festspiele – der dessen ureigensten Intentionen entspricht – nur begrüßen können.

Nicht nur christlich, sondern ausgeprägt katholisch war das Programm eines Konzerts, mit dem Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus Musicus im Salzburger Dom zu Gast waren. Die „Missa Longa“ (KV 262) und die Litanei zum Allerheiligsten Altarsakrament (KV 243) sind beide in Salzburg uraufgeführt worden: die „Litaniae de venerabili altaris sacramento“ zum Palmsonntag 1776, die Messe – durch das Schreibpapier des Autographs auf 1775 zu datieren – vermutlich im gleichen Jahr im Dom oder in Sankt Peter. Beide geben ein glanzvolles Zeugnis für das Können des 19jährigen Konzertmeisters im Dienste Colloredos. Mit der Messe scheint Mozart alle kontrapunktischen Künste zum Lob Gottes – auch zum Ohrenschmeichel seines Dienstherrn und der Selbstbestätigung seiner Kunst – eingesetzt zu haben. Und die „Litaniae“ geben Zeugnis vom Einfallsreichtum des Komponisten, der jeder Wiederholung des „miserere nobis“ eine eigene Farbe, einen spezifischen Ausdruckswert geben konnte.

Harnoncourt dirigierte beide Salzburger Höhepunkte der Kirchenmusik – in Wien hatte Mozart ja leider keine Gelegenheit mehr, auf diesem Feld zu brillieren – mit ausgefeilter Sorgfalt im Detail. Die Reaktionsschnelligkeit seines Orchesters, der vokale Expressionswille des Arnold-Schönberg-Chores, verhallten leider in der unergründlichen Akustik des Domes. Ein Grund ist wohl: Musiziert wurde im Altarraum, nicht auf der Empore, wie es für eine Kirche eigentlich vorgesehen ist.

Auf Wunsch Harnoncourts wurden extra die Tapisserien aus dem Dommuseum aufgehängt, um die akustischen Verhältnisse der Mozartzeit anzunähern. Leider umsonst: Der Nachhall überflutete die sorgsam ausmodellierten dynamischen Kontraste; jedes Forte verurteilte ein nachfolgendes Piano zum Tod durch Ertrinken. Zudem neigt Harnoncourt in der Messe zu raschen, energischen Tempi und kleinteiliger Artikulation.

Auch die Solisten Sylvia Schwarz, Elisabeth von Magnus, Jeremy Ovenden und Florian Boesch versuchten meist vergeblich, ihre Stimmen zu profilieren. In den „Litaniae“ hatten die Musiker dank des langsameren Tempos und des musikalischen Pathos mehr Chancen auf fassbar gestalteten Klang. Harnoncourt beleuchtete theologische Schlüsselworte wie „supersubstantialis“ oder das – von Mozart in eine exotisch-dunkle Klangfarbe gekleidete – „Viaticum“, die Wegzehrung derer, die im Sterben zu Gott streben. Ansonsten musste man in Kauf nehmen, was als Gleichnis für unsere Zeit stehen könnte: Das Wort verhallte unverstanden.




Geschichten vom Herrn Kaum (2)

UNMERKLICHE BEGEBENHEIT

Kaum zu glauben – und seine Frau, Pauline Kaum-Wenig, die mit dabei war, hat’s ja auch nicht gesehen, es, wie sie nachher ihm gegenüber bekannte, überhaupt nicht bemerkt – , aber er, Johannes Kaum, Zwillingsbruder von Hieronymus Kaum, könnte unverzüglich und jederzeit beschwören, dass es genau so war.
Sieht man denn immer nur, fast immer nur, was man selber für möglich hält? –

Am 13. August, am 50. Jahrestag des Ulbrichtschen Mauerbaus, gab es im Großen Festspielhaus in Salzburg die Generalprobe der Wiener Philharmoniker zur für den folgenden Tag vorgesehenen Aufführung von Guiseppe Verdis „Requiem“. Mit dem 2. Satz, dem „Dies Irae“-Satz, stellte sich bei Herrn Kaum für einige Takte das ein, was sich bei ihm bei wirklich großer Musik – zwar leider zunehmend seltener, beglückenderweise gelegentlich jedoch noch immer – einstellt, ein seinen Rücken urplötzlich überlaufender Gänsehautschauer.

Am Ende des auch in der Generalprobe, nicht nur in Anbetracht des zahlreichen Publikums, vollständig aufgeführten Verdischen Kolossalwerkes bedankte sich der Stardirigent Riccardo Muti bei den Solisten, auch bei einigen Orchestermusikern mit Handschlag: Zuerst bei der Sopranistin, dann bei der Altistin. Auch der Tenor stand schon bereit, trat einen kleinen Schritt vor. Aber der Maestro überging ihn, würdigte ihn keines Blickes, ging ostentativ weiter zum 4. Sänger, dem Bariton, und dankte auch ihm äußerst freundlich und wiederum mit Handschlag.




Nur noch Zerstreuung und Betäubung – Frank Castorf inszeniert in Salzburg Tennessee Williams‘ „Endstation Sehnsucht“

Aus Salzburg berichtet Bernd Berke

„Big Brother“ hat nun auch Tennessee Williams eingeholt, die allgegenwärtigen Kameras sind bis zur „Endstation Sehnsucht“ vorgedrungen. Lust auf heftige Eheprobleme? Eine Sekunde, wir schalten um von der Küche ins Badezimmer, sehen Sie selbst!

Regisseur Frank Castorf hat Williams‘ Nachkriegs-Klassiker von 1947 (George Orwells Roman „1984″ mit dem „Big Brother“-Motiv erschien übrigens 1948) für die Salzburger Festspiele in unsere Zeit gezerrt; in eine Zeit, die keine privaten Dinge mehr zulässt, in der jedes ordinäre Gezeter sogleich für schrille Talkshows zugespitzt wird. Und so übermittelt denn auch ein TV-Bildschirm in dieser Inszenierung mancherlei Szenen zwischen Dusche und Toilette. Anders als im Originaltext, quetschen sich die Beteiligten auch schon mal zu dritt oder sechst auf der Bettstatt und vollführen groteske sexuelle Turnübungen.

Willkürliche Einschübe und jede Menge Zeitgeist

Die Geschichte vom geradezu tierhaft virilen „Proll“ Stanley Kowalski, der die ungleich zarteren Seelen seiner Frau Stella und ihrer Schwester Blanche sozusagen mit bloßen Fäusten zermalmt, wird von Castorf mit willkürlichen Einschüben versehen. Kowalski, der ja nun einmal aus Polen in die USA eingewandert ist, bekommt eine fetzenhafte Solidarnosc-Biographie verpasst, er soll einst an der Seite (und im Schatten) Lech Walesas für die Freiheit gekämpft haben. Doch von seinen früheren Utopien ist nichts geblieben als eine ziellos rasende Energie am Rande der Kriminalität. So ähnlich ergeht’s hier allen: Das früher Erträumte zeigt nur noch seine albtraumhaften Fratzen.

Trostlos wirkt die unbehauste Szenerie. Gegen Ende wird diese auf grelle Art dürftige Kleinwohnung der Kowalskis (Bühne: Bert Neumann) so weit nach hinten gekippt, dass alles Mobiliar verrutscht und die Darsteller sich nicht mehr auf den Beinen halten können. Die Welt ist also mal wieder ein unrettbar sinkendes Schiff. Doch dieser im Theater ach so gängige Befund wird nicht so sehr erkundet, sondern schlichtweg vorausgesetzt.

Alles ist mies, aber wir spielen’s munter ‚runter

Mögliches Motto: Alles ist mies, aber wir spielen’s munter ‚runter. Als sei’s eine Bochumer Regietat nach Art von Jürgen Kruse, wird unablässig Popmusik ins triste Geschehen eingeschleust – von Lou Reed („Perfect Day“) bis „Oasis“. Überhaupt wird das menschliche Elend allzeit mit Singsang verkleistert, den Rest erledigt „Doktor Alkohol“. Ruhe und Besinnung sind nicht mehr vorgesehen, nur Zerstreuung und Betäubung. Noch so ein Befund, der etwas für sich hat; wie denn Castorf überhaupt etlichen grauslichen Zeitgeist auf die Bühne schaufelt. Und zwischendurch lässt er sogar einige kostbare Momente stehen, in denen das wahre Leiden an Sehnsucht und Begierde hindurch schimmert.

Auf die Nerven geht aber diese Manier: Stets werden Sätze wiederholt und auf die schrille, zumeist hysterische Spitze getrieben. Das schmälert die durchaus achtbaren schauspielerischen Leistungen. Der Text geht vielfach im Gebrüll oder Gewinsel unter. Alle Haltungen sind nur noch Pose und Zitat, eine Lebensgeschichte geschweige denn eine umrissene Identität scheint keine dieser Figuren zu haben. Sie alle existieren nur noch als zumeist infantile Improvisationen ihrer selbst.

Henry Hübchen als Stanley Kowalski flattert zwischen haltloser Wut, fast schon rührend lachhafter Kraftmeierei und bloßer Leichtfertigkeit. Kathrin Angerer als Stella oszilliert als piepsiger Marilyn-Monroe-Verschnitt zwischen Vorstadtschlampe und Sensibelchen, und auch Silvia Rieger als Blanche, ehemals wohl attraktiv, ertrinkt in Augenblickslaunen.

Unter vier Schlagworte fasst das mit superklugen Essays gesättigte Programmheft die Zeitdiagnose: Danach herrschen in diesen unseren Tagen: Verwahrlosung, Lebensgier, Paranoia und Depression. All dies prägte die Inszenierung, die ein Gewoge aus Bravo- und Buh-Rufen hervorrief. Wie sagte doch die Frau vom Frittenstand am Theater, die tags zuvor die Generalprobe gesehen hatte: „Es ist halt a Problemstück“. Ei, freilich.




Im Dschungelkampf der Liebe – Leander Haußmann inszeniert Shakespeares „Sommernachtstraum“ in Salzburg

Aus Salzburg berichtet Bernd Be r k e

Lysander liebt Hermia und schenkt ihr ein Paar Schuhe, womöglich aus dem Schlußverkauf. Hernach, wenn der Puck im Walde Lysanders Blick mit einem Kräutlein behext hat, glaubt dieser plötzlich Helena zu lieben. Da entreißt er Hermia die Schuhe und überreicht sie der neuen Angebeteten.

Die freilich ist ein rubenshaftes Mädchen und hat viel zu große Füße. Sieht trotzdem so aus, als äußere sich Zuneigung zumal in materieller Transaktion, als sei sie ein heilloses Geschäft.

Bochums Intendant Leander Haußmann hat Shakespeares unverwüstliche Liebesverwirrung „Ein Sommernachtstraum“ für die Salzburger Festspiele in Szene gesetzt. Und er hat doch hoffentlich mehr im Sinn als vorschnelle Denunzierung geschlechtlicher Umgangsformen? Mal sehen.

Ein roter Vorhang wogt und wallt über die ganze imposante Bühnenbreite der Felsenreitschule. Schon bevor das Tuch vom Sturme beiseite geblasen wird, erscheint dahinter in leuchtenden Reklame-Lettern der Schriftzug „The Wood“. Der Zauberwald lockt mit den Mitteln einer Imbißkette.

Im Hintergrund rauscht die Toilette

Wenn die wechselhaft Liebenden einander hier in Lust und Streit begegnen, verfallen sie rasch in Sprech-Übertreibungen wie aus dem ComicHeft. Poesie wird dann hechelnde und geifernde Gier im Nu, es quieken und knarren die Stimmchen. Und im Hintergrund rauscht gelegentlich eine Toilettenspülung. Geht denn alles den Bach hinunter?

Hermia (Steffi Kühnert), Helena (Sabine Orleans), Lysander (Oliver Stokowski) und Demetrius (Jan Gregor Kremp) entstammen der achtlosen Konsumwelt und somit einer Pop-Fraktion: „Hello, I love you, won’t you tell me your name?“ schmachten die Männer mit einer „Doors“-Titelzeile.

Sowieso geht’s bei Haußmann wieder mal enorm sangesfroh zu; auch Trompete, Mundharmonika und Laute kommen zum Einsatz. Manch ist’s stimmige Klangmalerei, manchmal nur Trallala. Wie denn überhaupt die ganze Inszenierung einige allerliebste Einfälle mobilisiert und zuweilen wundersam kindlich geraten ist, aber dann wieder nur töricht-kindisch vor sich hin kräht. Auch das hält dieses unvergleichliche Stück aus.

Nur Rest-Grün mit Single-Bäumchen

„Natürlich“ besteht der Forst hier lediglich aus Restgrün mit einem Single-Bäumchen. Ansonsten ähnelt die Szenerie einem schwierigen Parcours: Ringsum lauter Gestellen als Stolperfallen, in der Mitte ein vielseitig verwendbarer Holzkasten-Aufbau mit Drehscheibe. Wär’s Plastik, käm’s wohl aus Legoland.

Gottlob beschränkt man das Spiel vor allem auf dieses Zentrum, denn das ungeheure Breitwandformat der gesamten Bühne hat schon so manches Unterfangen in die lautstarke Deklamation gedrängt und damit ästhetisch erstickt.

Im Waldbezirk, den nachts der zauberische Oberon (Christian Grashof) und Titania (Almut Zilcher) mit ihren Elfen regieren, treffen die Menschen-Paare in olivgrüner Tarnkleidung aufeinander. Fertig machen zum Dschungelkampf der Liebe! Doch keine Angst! Es blitzt zwar Gewaltsamkeit auf, doch eher nach Art von slapstickhaften Videospielen, Game-Boys oder eben Comics. Ein Getümmel der ungereiften Liebesdinge. Von tieferem Weh weiß man in diesem Waldstück wenig.

Muss man bestimmte Darsteller besonders hervorheben? O ja! Zum einen André Eisermann als „Puck“, der mit irrwitzigem Gesten-Vokabular kobolzt und alles auf Trab bringt. Tatsächlich ein Wesen aus einer anderen Welt.

Sechs grandiose Darsteller treten zum „Klamauk“ an

Vor allem aber mutet es wie eine der großartigsten „Verschwendungen“ der jüngeren Theatergeschichte an, die Handwerkertruppe um Zettel und Squenz mit diesen sechs Größen zu besetzen: Michael Maertens, Peter Fitz, Otto Sander, Ignaz Kirchner, Hans-Michael Rehberg und Ulrich Wildgruber. Diese grandiosen Darsteller müssen also ausgerechnet jene grottenschlechten Hobby-Schauspieler mimen, die Shakespeare zum Klamauk antreten läßt. Doch wieviel mehr als bloßer Unsinn steckt darin, man sieht es nun. So herrlich sinnzerstäubend agiert das Sextett, daß in beinahe Beckett’scher Manier die Anfangs- und Endgründe des Theaters aufwirbeln.

Am Schluß packt Hermia ihren Koffer und emigriert aus der allseitig hergestellten Zufriedenheit mit dem öden Mittelmaß der Beziehungen. Aufbruch ins Land der wahren Empfindung. Just in diesem Moment sehen wir ein weißes Einhorn vorüberschreiten, Aha! Es gibt sie also, die unfaßlichen Dinge. Hätte uns Leander Haußmann nur noch mehr davon gezeigt und sich nicht so sehr im Heutigen verloren.




Triumph für die Muse des Theaters – „Das Gleichgewicht“ von Botho Strauß in Salzburg uraufgeführt

Von Bernd Berke

Salzburg. Selten dürfte ein neuerer Theatertext so sehr aufs Wort belauert worden sein. Botho Strauß, immer schon zuständig für die „neueste Stimmung im Westen“, hatte vor einigen Monaten im „Spiegel“ seinen „anschwellenden Bocksgesang“ angestimmt und dabei mit brandgefährlichen Begriffen zwischen Blut, Boden und Kampfesehre gespielt. Desto mißtrauischer lauschte man jetzt bei den Salzburger Festspielen der Uraufführung seines Stückes „Das Gleichgewicht“.

Strauß ist hier ganz auf seiner eigenen Höhe. Zwischen allerlei Phantom-Liebe und versickernden menschlichen Beziehungen entfaltet er ein weites Panorama der Verluste. Verschleiert und verspiegelt: der zauberische Bühnenraum von Karl-Ernst Herrmann. Ähnlich ätherisch wie das Doppel-Leben jener Lilly Groth (Jutta Lampe). Nach einem Jahr der Trennung auf Probe von ihrem Mann, der in Australien Ökonomie lehrte, hat sie sich offenbar in eine eingebildete Zweit-Beziehung zu dem Rockmusiker Jacques le Coeur hineingesteigert. Ein zweites Leben neben dem ersten – nur so findet sie Halt und inneres Gleichgewicht.

Diese empfindliche, jederzeit bedrohte Ökonomie des Glücks spiegelt Strauß nun auf den verschiedensten Ebenen der Gesellschaft. Das Spektrum reicht vom verwahrlosten Milieu einer S-Bahn-Unterwelt (mit Rolltreppen abwärts) über eine von Spekulanten zum Abriß freigegebene Berliner Ladenzeile bis in die Vorräume der Macht. Auch sprachlich wird das Höchste mit dem Niedersten kunstvoll verwoben und verworren. Von Slapstick und Kabarett bis zum goetheschen Tonfall reicht das Spektrum, vielfältig wie das unübersichtliche Leben selbst. Ein ungeheuer reiches Stück, Strauß‘ größte Tat seit „Groß und Klein“.

Wir werden es gewiß noch in vielen anderen Inszenierungen erleben, doch schwerlich in einer besseren als jener von Luc Bondy. Ganz gleich, ob der Text in seltenen Sekunden zu raunen, zu dröhnen oder sich allzu weit zu erheben droht  – die Regie hat ihn vor jedem Abgleiten bewahrt. Auch das ein wunderbares Gleichgewicht. Und überhaupt klingt Strauß ja im Drama, im abwägenden, gegeneinander austarierten Dialog, allemal humaner als im hochfahrenden Monolog seiner Essays.

„Der Aufstand der Reinheit“

Hier, im Theater, verzeiht man auch eine Vision wie die von der „Säuberung durch Engelsstimmen“ und vom „Aufstand der Reinheit“, der alle Drogensüchtigen aus unseren Städten vertreiben müsse. Denn solche Sätze sind eingebettet ins Geflecht von Gegenstimmen.

Und welch ein Ensemble kann Bondy aufbieten, wahrhaft festspielwürdig! Jutta Lampe als „Lilly“ in all ihrer zarten Durchsichtigkeit, Brüchigkeit, Bedrängnis – und doch stark wie eine Heldin. Der majestätisch beruhigte Christoph (Martin Benrath), ihr Ehemann mit seiner Gleichgewichts-Philosophie des buddhistisch inspirierten Bogenschießens, des rechten Moments losgelöster Anspannung von Pfeil und Sehne. Sodann die phantastische Kirsten Dene (oh, alte Bochumer Peymann-Zeit!) und Martin Schwab als benachbarte Lädcheninhaber mit ihrer seit 15 Jahren unentschiedenen Buffo-Liebe. Selbst Nebenrollen sind mit Spielmagiern wie Fritz Lichtenhahn und Hans-Peter Hallwachs besetzt.

Man möchte schwelgen. Und es befällt einen der innige Wunsch, das Theater möge aus solcher Höhe nie mehr in den faden Alltag zurückfallen. Dann hätte sich alle Diskussion um seine Bedeutung erledigt. Die Muse Thalia würde triumphieren.

Brausenden, rauschenden Beifall gab es nach annähernd vier Stunden. Im Publikum saßen, neben zahlreicher Kultur-Prominenz, auch Leute wie der Chef der Deutschen Bundesbahn. Vielleicht ist auch er, für seinen Job, auf der Suche nach dem „Gleichgewicht“…