„Manapouri“ – Marcel Schwobs Briefe von einer Reise nach Samoa am Beginn des 20. Jahrhunderts

In den Jahren 1901/1902 unternahm der französische Schriftsteller Marcel Schwob (1867–1905) auf den Spuren des von ihm verehrten Robert Louis Stevenson eine Reise in die Südsee. Die Briefe, die er von dieser Seereise an seine geliebte Frau, die erfolgreiche Schauspielerin Marguerite Moreno, schrieb, wurden nun erstmals in deutscher Übersetzung im Elfenbein Verlag veröffentlicht.

In den Pariser Schriftstellerzirkeln der 1890er-Jahre um Stéphane Mallarmé, André Gide, Paul Valéry, Alfred Jarry, Paul Claudel, Colette und Jules Renard galt Marcel Schwob wegen seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung, stilistischen Brillanz und enormen Belesenheit als eine große Hoffnung der französischen Literatur.

In der kurzen Zeit zwischen 1891 und 1896 veröffentlichte Schwob jährlich mindestens einen Band mit Erzählungen, die meisten im Verlag Mercure de France; er übersetzte Shakespeare, Defoe, De Quincey und auch die Erzählung „Will o‘ the Mill“ von Robert Louis Stevenson. Seine Entdeckerfreude erstreckte sich ebenso auf englischsprachige Literatur wie auf ältere französische Dichtung. Mit seinem Korrespondenzpartner Robert Louis Stevenson verband ihn unter anderem ein starkes biographisches Interesse an François Villon. Ab 1896 aber wurde Schwob zunehmend zum Opfer einer nicht eindeutig diagnostizierten Krankheit, die ihn in die Abhängigkeit von Morphium brachte. Viele, vor allem wissenschaftliche, Arbeiten blieben Fragmente.

Auf den Spuren von Robert Louis Stevenson

Einer seiner Ärzte riet ihm zu einer längeren Seereise. Wie Stevenson, der eingangs seines 1896 posthum veröffentlichten Werks In der Südsee große Erwartungen an das der Gesundheit zuträgliche Klima der pazifischen Inselwelt formulierte, setzte auch Schwob alle Hoffnung in die Heilkraft einer längeren Südseereise.

Im Oktober 1901 schiffte er sich in Marseille ein; die Reise führte über Port Said durch den Sueskanal nach Dschibuti und weiter über Ceylon, wo Schwob bei einem vierzehntägigen Aufenthalt Gelegenheit hatte, die von Henry Cave beschriebenen Ruinenstädte zu besichtigen, nach Australien. Sein chinesischer Begleiter Ting durfte den Kontinent erst nach Zahlung einer sehr hohen Kaution betreten, die Schwob nur mit Mühe auftreiben konnte, wodurch die Weiterreise hier bereits zu scheitern drohte. Die Begegnung mit dem eigenwilligen Kapitän Crawshaw ermöglicht schließlich, dass er mit dessen Schiff „Manapouri“ die Insel Upolu erreicht, den letzten Wohnsitz des bereits 1894 gestorbenen Robert Louis Stevenson in Samoa.

Mit Worten malen

Schwobs Briefe legen Zeugnis ab, welch einen elaborierten Stil er auch in der privaten Form pflegte. Sie waren nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, eventuell aber vom Autor als Vorarbeiten zu einem noch zu schreibenden Werk gedacht, das dann jedoch nicht mehr zustande kam.

Die sich bei einer langen Seefahrt wiederholenden Motive – Meer, Horizont, Wolken, gelegentlich die Silhouette eines entfernt gelegenen Landes oder einer Insel – beschreibt Schwob nuanciert und ohne sich zu wiederholen. Seine Sprachmalereien dürften auch beim Übersetzen ins Deutsche eine Herausforderung dargestellt, dem guten Ergebnis nach zu urteilen aber auch den besonderen Reiz einer solchen Aufgabe ausgemacht haben.

„Die fliegenden Fische um uns herum“

Ein Beispiel: „Das flüssige Himmelsufer aus düsterem Blau wird da und dort von Grisailleflächen unterbrochen, finsteren Dunstklippen, bei denen es sich um äquatorialen Regen handelt. Wo kein Wind weht, weint der Himmel lautlos auf die Erde. Die nördliche und die südliche Welt vermischen sich in der Trauer ihrer Sterne. Am Äquator ist das Meer auf ewig traurig und von Regen zerfurcht.“

Das Wenige, was abgesehen vom gesellschaftlichen Leben an Bord passiert, wird zum Ereignis: „Und dabei schwirren die fliegenden Fische um uns herum wie Schmetterlinge. Ein feuchter und silbriger Strich schnellt hoch, gleitet in einem langen Kuss knapp übers Wasser. Zehn, zwanzig, dreißig springen auf, stechen winzige Strudel ins glatte Meer. Arme kleine Fische mit so schweren Flügeln, die einem freudlosen Himmel entgegenstreben. Und der Regen prasselt; und das Meer erschauert von seinem unzählbaren Lachen hinter schweren Tränen.“

Verehrung und Krankheit

In Apia, der Hauptstadt Samoas, wird Schwob freundlich aufgenommen. Er beginnt, Samoanisch zu lernen, erhält eine Einladung des alten Königs Mataafa, der von Robert Louis Stevenson in Eine Fußnote zur Geschichte. Acht Jahre Unruhen aus Samoa (1892; deutsch: Achilla Presse, Hamburg, 2001) unter Samoas zerstrittenen Herrscherfamilien mit besonderer Sympathie bedacht worden war; eine Kava-Zeremonie wird ausführlich beschrieben.

Wie Stevenson erhielt auch Schwob von den Einheimischen den Namen Tusitala – der Geschichtenerzähler. Doch statt der erwarteten Genesung von seiner Krankheit verschlimmert sich sein Zustand. Eine Lungenentzündung überlebt er, in einer Hütte der hingebungsvollen Pflege durch einen jungen Einheimischen überlassen, nur knapp.

Sorgfältige Edition

Stevensons letztes Wohnhaus und sein Grab auf dem nahe der Hauptstadt Apia gelegenen Mont Veae konnte Marcel Schwob wohl nicht mehr besuchen. Erneut ist es Kapitän Crawshaw mit seiner „Manapouri“, der ihm weiterhilft und seine Rückreise ermöglicht. Im März 1902 erreicht Marcel Schwob Marseille, knapp drei Jahre später starb er im Alter von 37 Jahren.

Die eindrucksvolle Reisebeschreibung wird in der deutschen Ausgabe durch Schwobs 1894 erstmals erschienenen Essay zu Robert Louis Stevenson und durch vier Briefe Stevensons an Schwob aus den Jahren 1889–1894 bereichert. Der Übersetzer und profunde Schwob-Kenner Gernot Krämer, der zuvor im selben Verlag zwei andere Werke des Autors veröffentlicht hat (Das gespaltene Herz, 2005, und Der Kinderkreuzzug, 2012) steuerte wertvolle Anmerkungen und ein informatives Nachwort bei. Zahlreiche zeitgenössische Foto-Dokumente der beschriebenen Schauplätze illustrieren die Briefe anschaulich. Das sorgfältig gestaltete Buch ist ein wertvolles Dokument über die Brieffreundschaft und Geistesverwandtschaft zweier besonderer Schriftsteller und ein weiteres Zeugnis über die literarische Meisterschaft Marcel Schwobs.

Marcel Schwob: „Manapouri“. Reise nach Samoa 1901/1902. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gernot Krämer. Elfenbein Verlag, Berlin. Gebunden, 216 Seiten, 22 €.




Aufstand, Entschleunigung, Dunkelheit – „I am“ von Lemi Ponifasio bei der Ruhrtriennale

I-AM1.jpg

Szene aus „I am“ von Lemi Ponifasio Foto: Ruhrtriennale/Jörg Baumann

Dunkel ist es in der Jahrhunderthalle, aber nicht dunkel genug. Der Anfang verzögert sich um runde 20 Minuten, weil noch zu viel Licht durch die Scheiben hinter der Bühne dringt. Dabei ist der Beginn von Lemi Ponifasios Stück „I am“ eh schon auf 20:30 Uhr gelegt worden. Doch erst kurz vor neun geht’s los.

Wenn es losgeht, heißt das aber nicht, daß es auf der Bühne schlagartig heller würde. Die Personen agieren im letzten Schein des dahindämmernden Tages, wandeln auf dem First der schrägen Ebene, die den Bühnenhintergrund abgibt, quellen in großer Langsamkeit links und rechts davon auf die Bühne. Womit ein erstes, sehr zentrales Element dieses Abends genannt ist: Langsamkeit.

Das Programmheft spricht zwar sehr viel vornehmer von „Entschleunigung“, doch gemeint ist das gleiche. Abgesehen von einigen schnellen und aggressiven Kampfmotiven spielt sich das Bühnengeschehen in Langsamkeit ab, die nicht quälend zu nennen schwer fällt. Am ehesten ist sie noch zu Beginn zu ertragen, wo Bilder der Bühne sich mit der assoziativen Maschinerie im Kopf des Zuschauers und der Zuschauerin synchronisieren müssen. Das funktioniert auch recht gut; es ist nicht so, daß die Dinge gänzlich unverständlich blieben, wenngleich so etwas wie faktische Eindeutigkeit sich nicht ergibt und wohl auch nicht erwünscht ist.

Doch wenn das Geschehen seinen Lauf nimmt, wenn beispielsweise die endlos lange (und in unverständlicher Sprache vorgetragene) Rede eines männlichen Führers, in deren Verlauf dieser sich anscheinend vom redlichen politischen Ankläger zum gewalttätigen Demagogen wandelt, einige Zeit später mit einem weiblichen Pendant seine kaum weniger zeitraubende Entsprechung findet, dann dehnt sich das schon. Dann fängt man an, die Sitze unbequem zu finden, die Funktionsfähigkeit der Armbanduhr anzuzweifeln und sich nach dem künstlerischen Mehrwert des ganzen zu fragen.

I-AM2.jpg

Szene aus „I am“ von Lemi Ponifasio Foto: Ruhrtriennale/Jörg Baumann

Verstörenderweise beginnt der Abend mit der deutschen Nationalhymne, die etwas verzerrt und verknistert von einem Plattenspieler im Off kommt.  Aha, es geht um Migrantenschicksale im reichen Deutschland, denkt man. Doch man irrt, wie einem das Programmheft verrät. Dort steht sinngemäß, daß dieser Abend auch so etwas wie eine Gedenkfeier für die 20 Millionen Toten des Ersten Weltkrieges sei, daß dieser Krieg auch die Pazifikinseln nicht verschont habe, die seinerzeit zu einem kleinen Teil deutsches Kolonialgebiet waren und „Kaiser-Wilhelm-Land“ hießen.  Deshalb also ganz am Anfang „Deutschland über alles“, ein Intro mit Bitternote, denn es kündigt auch Aufstand und blutige Niederschlagung an.

Während der nämliche Redner an der Rampe seine unverständliche Rede hält, schieben hinter ihm gebeugte Schattengestalten vor dunklem Bühnenhintergrund lorengleiche schwarze Quader (Särge?) von rechts nach links. Bald wird sich das Volk nach seinen Kommandos auf dem Boden wälzen. Und er wird selbst dann noch schreien, wenn sich alle (nach links) von der Bühne fortgewälzt haben.

Im weiteren Verlauf ändert sich der Sprachduktus des Geschehens. Den brutalen Schreien des Redners folgen aus dem Off scheu vorgetragene Selbstbekundungen einer jüngeren Männerstimme in der Ich-Form und in englischer Sprache. Mit moderner Projektionstechnik werden sie zudem in einer Art Schreibschrift auf die Hallenwand hinter der Bühne projiziert. Doch bleiben sie trotz kombinierten Schrift- und Sprachvortrags überwiegend unverständlich. Und wiederum müssen wir annehmen, daß das gewollt ist, denn in „De Materie“, der Eröffnungsproduktion der Ruhrtriennale, hatte uns Intendant Heiner Goebbels vorgeführt, mit welch brillanter Projektionstechnik Textzeilen in das szenische Geschehen zu integrieren sind, wenn man es denn will. Hier will man nicht, auch wenn, wie wiederum dem Programmheft zu entnehmen ist, Texte von Heiner Müller und Antonin Artaud zum Vortrag gelangen. Bei aller Unverständlichkeit bleibt aber doch hängen, daß neben dem Schicksal der Völker auch so etwas wie die Entwicklung einer Persönlichkeit vorgeführt wird.

I-AM3.jpg

Szene aus „I am“ von Lemi Ponifasio Foto: Ruhrtriennale/Jörg Baumann

Zu den wenigen Requisiten der Produktion gehören Gummihandschuhe, weiße Nelken und ein Schießgewehr, und gegen Ende liegt einer der muskulösen, tattooverzierten Mimen in Jesuspose auf dem schrägen Bühnenhintergrund und kommt auch nicht mehr hoch und wird, wenn er schließlich nur noch still daliegt, von einem sehr gelenkigen Vierfüßler mit Eiern beworfen. Christentum? Folter? Urzustand?

Zugegeben, mit der Zeit fällt es immer schwerer, bei all den langsam sich auf- und abbauenden Bildern stets die Sinnfrage zu stellen. Es bricht das Gefühl sich Bahn, es hier mit Kryptifizierungen um ihrer selbst willen zu tun zu haben, mit dem Bestreben, Sachverhalte ohne Not zu verrätseln, einzig aus dem Drang, ein schwer begreifliches und deshalb hochwertig wirkendes Kunstprodukt zu erstellen. Daß der Autor dieser Performance Lemi Ponifasio („Konzept, Bühne, Choreographie, Regie“) aus Samoa stammt und von dort auch seine MAU-Company mitgebracht hat, macht diese Tendenz nicht eben erträglicher. Allerdings werden durch die Herkunft von Stück und Autor manche Elemente verständlicher: die Ausgebeuteten, der Diktator, die Ringkämpfer mit ihren nackten Oberkörpern, die „Volksmassen“ mit ihrer „asiatischen“ Gruppendisziplin.

Preisen kann man die Choreographie, die in großer formaler Strenge starke Bilder in schwarz-weiß-grauen Einfärbungen erschafft, die das Spiel des Auftauchens und Verschwindens in Dunkelheit souverän beherrscht, die (vor allem in den letzten Bildern) mit großformatigen Rückprojektionen und geneigten Projektionsflächen (welche die Darsteller vor diesen Flächen als Schattenrisse erscheinen lassen) zu operieren weiß.

Nicht preisen soll man das laute und sehr laute Gebrummel der Lautsprecher sowie die technischen Kreischgeräusche, die dem Publikum in Permanenz die Wichtigkeit des Geschehens um die Ohren hauen.  Und obwohl es sich natürlich verbietet, dem Künstler zu sagen, wie er seine Arbeit machen soll, hätte man sich ab und zu eine kleine inhaltliche oder formale Brechung sehr schön vorstellen können.

Das Triennale-Publikum schließlich zeigte sich höflich. Nur wenige Zuschauer verließen während des Spiels die Halle, allerdings setzte der Exodus nach den ersten Verbeugungen des Ensembles schlagartig und massenhaft ein. Bis auf die üblichen Jauchzer blieb der Beifall verhalten.

Jahrhunderthalle Bochum. Termine: 30., 31. August, 20:30 Uhr. Intro 19:45 Uhr. Karten zwischen 20 und 40 Euro. www.ruhrtriennale.de