Personenkult um einen deutschen Star: „I want absolute beauty“ wird durch Sandra Hüller zum Renner der Ruhrtriennale

Die Schauspielerin als Rockstar: Sandra Hüller in der Triennale-Produktion „I want absolute beauty“ in der Jahrhunderthalle Bochum (Foto: Jan Versweyveld)

Sandra Hüller. Muss hier wirklich noch mehr gesagt werden? Jawohl, unbedingt, sofern man nicht einfach sein Gehirn ausschalten und ein geliebtes Idol feiern möchte wie auf einem Rock-Konzert.

Nichts anderes ist die Triennale-Produktion „I want absolute beauty“ in der Jahrhunderthalle Bochum: eine lautstark wummernde, von Lichtgewittern durchzuckte Show um einen Star, ein auf Taschenformat eingedampfter Stadionkracher samt Videoleinwand und einem Tanzkollektiv, das schon an Madonnas „Celebration“-Tour mitgewirkt hat („La Horde“ aus Marseille).

Intendant Ivo van Hove und die britische Singer-Songwriterin PJ Harvey, die höchstpersönlich zur Premiere nach Bochum kam (Foto: Jan Versweyveld)

Aus seiner Liebe zur Musik von PJ Harvey und der Bekanntschaft mit der fabelhaften Schauspielerin, die nur knapp am Oscargewinn vorbei geschrammt ist, hat Regisseur Ivo van Hove ein Event geschmiedet, das starken Publikumszulauf nahezu garantiert – was ihm zum Einstand als neuer Intendant der Ruhrtriennale nicht ungelegen kommen dürfte. Er hat sich intensiv durch alle Alben der britischen Sängerin und Songwriterin gehört und versucht, ihre Songs in eine Reihenfolge zu bringen, die eine Geschichte erzählt.

Die „Hauptrolle“, die er schließlich Sandra Hüller gab, ist keine im herkömmlichen Sinne. „I want absolute beauty“ hat keinen Text und keine Handlung, sondern ist eine Abfolge von Songs, die van Hove in thematische Gruppen sortiert hat. Wer daraus Erkenntnis gewinnen möchte, muss in die Songtexte einsteigen, die bei der Ruhrtriennale als Übertitel eingeblendet werden, sowohl im englischen Original als auch in deutscher Übersetzung. PJ Harvey befasst sich darin, wie sollte es anders sein, mit allgemein menschlichen Themen: mit der Liebe und ihren Enttäuschungen, mit Einsamkeit und Rebellion und Prozessen der Selbstfindung, die ja keineswegs nur die Jugend betreffen.

Jede Menge Dynamik: Das Tanzkollektiv von „La Horde“ aus Marseille (Foto: Jan Versweyveld)

Das hat durchaus Gedankentiefe: Ivo van Hove hat recht, wenn er sagt, dass nicht nur die klassische Musik Sinn und Werte vermittelt. Ein Stück im Sinne einer stringenten Erzählung, einer geschlossenen dramaturgischen Form, wird daraus trotzdem nicht. Es bleibt bei einer guten Show mit Independent Punk-Rock, bei der man vor allem Sandra Hüller bewundert: wie wandlungsfähig sie ihre Stimme einsetzt, wie sie ihre blonde Löwenmähne wirft (es handelt sich dabei natürlich um eine Perücke), wie sie sich mit jedem Kostümwechsel zu einer anderen Figur häutet, wie frei und souverän sie sich mit den hoch professionellen Tänzern bewegt. Wenn sie zu Lichtexplosionen ins Mikrophon röhrt wie eine echte Rock-Lady, mutet es fast seltsam an, dass sie nicht für eine tobende Menschenmasse singt, sondern für ein andächtig stillsitzendes Festival-Publikum.

Wer Hunger nach Schönheit verspürt, wie ihn der Titel dieser Produktion formuliert, wird an der Ästhetik der Szene Nahrung finden. Das mit rötlicher Erde bedeckte Bühnengeviert, seitlich gerahmt von jungen Bäumen, wird durch die Spuren des Tanzes mehr und mehr schraffiert (Bühnenbild: Jan Versweyveld). Die Compagnie wirbelt – im Wortsinne – Staub auf, schlittert, rennt und rollt über diesen Boden, bis die durchtrainierten Körper regelrecht paniert sind. In stillen Momenten breitet sich eine Decke aus Bühnennebel darüber aus, in zauberhaft gemächlichem Fluss.

Gewohnt wandlungsfähig: Sandra Hüller macht sogar als Rockstar eine überzeugende Figur (Foto: Jan Versweyveld)

Videodesigner Christopher Ash hat sich erkennbar von den Plattencovern PJ Harveys inspirieren lassen. Seine Bilder entwickeln hypnotische Sogkraft, zeigen Stadt- und Naturimpressionen, aber auch Bilder einer Live-Kamera, mit der die Darsteller sich gegenseitig aufnehmen. Die Band, weit hinten auf der Bühne sitzend, gibt dem Abend unter der musikalischen Leitung von Liesa van der Aa einen Sound, der mächtig Stimmung schafft. Er mag anders klingt als der, den die Fans von PJ Harvey von ihren Alben kennen, funktioniert für die Show aber perfekt, zumal es Übergänge von einem Song zum nächsten braucht.

Es ist natürlich nicht verwerflich, wenn der Abend auf der Erfolgswelle mit surft, die Sandra Hüller derzeit weiter und weiter trägt. Eine kritische Frage sei gleichwohl erlaubt. Müssen wirklich Landesmittel in Formen der Unterhaltung fließen, die ohnehin schon jeden Winkel in nahezu jedem Lebensbereich durchdrungen haben? Deren Übermacht sich nichts und niemand mehr entgegenstellt, schon gar nicht quotenhypnotisierte Medien? Sollte nicht das gefördert werden, was es schwer hat? Es waren Produktionen wie „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann oder „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen, die auch Skeptikern verdeutlichten, dass die Ruhrtriennale leisten kann, wozu anderen Bühnen die Ressourcen fehlen. Und weshalb wir sie wirklich, wirklich brauchen.

(www.ruhrtriennale.de)




Start mit hoher Schlagzahl: Ivo van Hove verdichtet die Ruhrtriennale 2024 auf viereinhalb Wochen und drei Städte

Jüdische Prinzessin liebt römischen Kaiser: Isabelle Huppert spielt bei der Ruhrtriennale in der Deutschen Erstaufführung von Jean Racines Tragödie „Bérénice“ (Foto: Jean Michel Blasco)

Konzentration, Verdichtung, Schlagkraft: Unter diesen Vorzeichen legt die Ruhrtriennale 2024 am 16. August los. In seinem ersten Jahr als Intendant will der Belgier Ivo van Hove das Kunstereignis intensivieren, indem er es zeitlich und räumlich begrenzt.

Das Programmangebot ist gewohnt umfangreich, aber das Festival wird nur noch viereinhalb Wochen dauern. Von den Spielorten sind lediglich drei Städte geblieben: Bochum, Essen und Duisburg. Selbst beliebte Aufführungsorte wie die Zeche Zweckel in Gladbeck und die Zeche Zollern in Dortmund sind diesmal nicht dabei.

Ein Festival solle „wie ein Feuerwerk in Zeitlupe explodieren“, sagt der Intendant, der sich bei der Auftakt-Pressekonferenz noch ein wenig an einem Manuskript festhält, obwohl er exzellent deutsch spricht. Bereits am Eröffnungs-Wochenende bringt die Ruhrtriennale vier Premieren in Folge und will bis zum Abschluss am 15. September so kraftvoll durchziehen, dass die Besucher in einen Sog geraten, von einer Veranstaltung zur nächsten.

Sandra Hüller, Isabelle Huppert

Ivo van Hove wirkte bereits unter Gründungsintendant Gerard Mortier bei der Ruhrtriennale mit. Nun startet er in sein erstes Jahr als Festival-Intendant. (Foto: Thomas Berns/Ruhrtriennale)

Van Hoves Startposition sieht gut aus. Drei Viertel von insgesamt 41.000 Karten sind „bereits vergeben“, wie es offiziell heißt, in eleganter Umgehung des Worts „verkauft“. Etliche Produktionen sind ohne Zweifel stark gefragt, allen voran die Eröffnungspremiere mit der Beinahe-Oscarpreisträgerin Sandra Hüller, die in der zwischen Musiktheater und Ballett changierenden Produktion „I want absolute beauty“ in der Regie von Ivo van Hove Songs von PJ Harvey singt.

Ein weiterer weiblicher Gast-Star kommt aus Frankreich: Isabelle Huppert spielt in einer Deutschen Erstaufführung Romeo Castelluccis freie Adaption von Jean Racines „Bérénice“, der Tragödie um die jüdische Prinzessin, die sich in den römischen Kaiser Titus verliebt. Die Uraufführung des Tanzstücks „Y“ von Anne Teresa de Keersmaeker ist bereits an so vielen Tagen ausverkauft gemeldet, dass kaum noch ein Fuß dazwischen passen dürfte.

Wildes Leben in freier Kommune: Szenenfoto aus der Produktion „The Faggots and their friends between Revolutions“, basierend auf dem Kultroman aus den späten 1970er Jahren (Foto: Tristram Kenton)

Etwas skurril sind die Verrenkungen, die das Triennale-Team bei der Ankündigung der Produktion „The Faggots and their friends between Revolutions“ unternimmt. Es ist ein Musikspektakel, das Ted Huffman und Philip Venables nach einem Kultroman von Larry Mitchell geschaffen haben. Weil der Titel ein Schimpfwort für schwule Männer benutzt, veröffentlicht die Triennale vorauseilende Erklärungen und Entschuldigungen (faggot bedeutet so viel wie Schwuchtel, das englische Wort für das Musikinstrument Fagott lautet bassoon). So weit, so verständlich. Aber dass die Produktion als „entschlossenes Musiktheater“ beworben wird, als gäbe es auch ein unentschlossenes oder gar zweifelndes, wirkt, mit Verlaub, ziemlich durchgedreht.

Die neue Nachhaltigkeit

Szenenfoto aus dem Operetten-Slapstick-Musical „Pferd frisst Hut“ mit Musik von Herbert Grönemeyer. (Foto: Thomas Aurin)

Weil jeder selbst durch das Programm blättern oder scrollen kann, sei Weiteres hier nur stichpunktartig skizziert. Schräg und komisch verspricht das Slapstick-Operetten-Musical „Pferd frisst Hut“ von Herbert Grönemeyer in der Regie von Herbert Fritsch zu werden. Edvard Griegs einziger Liederzyklus „Haugtussa“ inspirierte die Regisseurin Eline Arbo zu einer szenischen Fassung. Kirill Serebrennikov setzt dem im Westen kaum bekannten Filmregisseur Sergey Paradjanov in „Legende“ ein Denkmal. Es handelt sich dabei um eine Koproduktion mit dem Thalia Theater und der Kirill & Friends Company. An diesem Beispiel lässt sich eine weitere Neuerung ablesen: Ivo van Hove legt Wert auf Nachhaltigkeit. Alle Produktionen, die bei der Triennale zur Premiere gelangen, werden danach in die Häuser von Kooperationspartnern im In- und Ausland wechseln.

Meldestellen und Vertrauenspersonen

Es könnte alles so schön sein, stünden da nicht die Vorwürfe einer intendantentypischen Willkür im Raum, zu denen van Hove bei der Pressekonferenz natürlich auch befragt wird. Beschuldigungen, es habe am Internationalen Theater Amsterdam unter seiner Leitung Einschüchterung, Machtmissbrauch und verbale Gewalt gegeben, wurden von einer Kommission untersucht, die Ende Juli ihre Ergebnisse veröffentlichte. Van Hove, der die Vorfälle bereits öffentlich bedauert hat und versicherte, an einer Aufklärung mitarbeiten zu wollen, antwortet diesmal beherrscht und knapp, beinahe ein wenig schmallippig. Bei der Ruhrtriennale seien bewährte Strukturen vorhanden, an denen er „nicht rütteln“ wolle, sagt er mit Blick auf Meldestellen und Vertrauenspersonen.

„Lasset die Spiele beginnen!“

„Longing for tomorrow“ ist das Motto der diesjährigen Festival-Ausgabe, womit die Sehnsucht nach einem neuen Morgen gemeint ist. Es soll daran erinnern, dass dem Menschen stets die Kraft zur Neuerfindung, zu Wandel und Verbesserung innewohnt. Mit Blick auf die Kunst gibt es in den kommenden Wochen genug zu entdecken: eine Literaturreihe mit dem Titel „Brave new voices“, außergewöhnliche Konzerte mit dem Chorwerk Ruhr, das zum Beispiel Musik von Björk und Bruckner kombiniert, sowie den Komponisten Julius Eastman, den die Triennale aus dem Schatten seiner berühmten Kollgen Philip Glass und Steve Reich holt. Dazu begehbare Installationen (teils kostenfrei) und Workshops, Vermittlungsangebote, einen Festivalcampus von zehn Hochschulen, Publikumsgespräche und mehr. Nach dem Erlöschen des olympischen Feuers in Paris kann es im Ruhrgebiet erneut heißen: Let the games begin!

www.ruhrtriennale.de




Er ist allein – Hamlets traurige Einsamkeit, von Johan Simons in Bochum so kühl wie tiefgründig inszeniert

Hamlet (Sandra Hüller) ganz allein in seiner Not. Foto: JU Bochum

„Er ist allein“! Das ist der Schlüsselsatz. Wie ein Mantra wird er durchs gesamte Drama getragen, ernst, fast maschinenhaft ausgesprochen.

Vor allem fehlt jegliches Pathos. Wie eben im ganzen Stück zwar der hehre Ton und der flapsige Ton, der schnoddrige Ton und der inbrünstige Ton sich ausbreiten, Schwulst oder Manierismus aber gänzlich ausbleiben. Kühl wirkt das bisweilen, klingt nach Verlorenheit und Einsamkeit. Ja, er ist allein, Shakespeares „Hamlet“ in Johan Simons’ Inszenierung am Bochumer Schauspielhaus.

Der Blick auf den rechteckigen, weiß getünchten Bühnenboden, darauf die Figuren sich oft in Grüppchen formieren, in einer Art minimalistischer Choreographie, zeugt ebenfalls von Kälte, Abstraktion, Reduktion. Zumal diese weit aufgerissene Bühne, von Johannes Schütz erdacht, nichts weiter birgt als einige Eisenkugelfelder im Hintergrund und eine Art Riesenmobile im Zentrum. Ein wuchtiges Gestänge hält vorn einen großen, weißen Ballon, hinten ein gewaltiges Bronzeblech. Sonst ist da nichts. Und wenn in diesem „Nichts“ die Beteiligten des Dramas zu Beginn nebeneinander Aufstellung nehmen, dann wirken sie allesamt wie Verlorene, Alleingelassene. Jeder mit seiner Tat, seinem Fühlen, seinem Gewissen.

Simons, der schon in seiner „Penthesilea“-Deutung auf äußerste Verknappung setzte – als Zweipersonendrama hinter einem blendend weißen Lichtstreifen –,  reduziert auch den „Hamlet“ auf eine wie unter dem Mikroskop zu beobachtende Folge von Personenkonstellationen. Oft unterstreicht Stille das zuvor Gesagte, illustrieren abgezirkelte Zeichen das Gesprochene. Dazu Mieko Suzukis wabernde, flirrende, rauschende elektronische Klänge, allemal unheimlich wirkend, aber auch fremd wie vom anderen Planeten. „Hamlet“ in Bochum – ein Drama unter Laborbedingungen.

Wundersame Zeichen: Ophelia (Gina Haller), Hamlets alter Ego im hellen Licht. Foto: JU Bochum

Den Schluss daraus zu ziehen, hier herrsche die gefühlsarme Askese, hier dominiere nahezu klinische Sterilität, käme jedoch einem verengten Blickwinkel gleich. Simons’ Inszenierung erwächst vielmehr aus dem Geist der Einsamkeit, des Zweifels. Nicht spektakuläre Action setzt das Publikum unter Spannung, sondern das Bemühen der Figuren, mittels Maskerade ihre Schwäche und Schuld zu kaschieren. Einzig Hamlet spricht die Wahrheit aus, die er in der Theater-auf-dem-Theater-Szene nachstellt: wie seinem Vater Gift ins Ohr geträufelt wurde, von dessen eigenem Bruder. In diesem „Spiel“ indes wird alle Distanz abgestreift, herrschen Raserei und Hysterie.

Sandra Hüller ist Hamlet. Sie gibt sich sanft, fast schüchtern, ist umflort von düsteren Gedanken, scheut andererseits nicht zurück vor messerscharfen Erkenntnissen, formuliert aus dem Geist der Logik. Nur dann schlägt ihre Stimme ins Monströse um, wenn der gemeuchelte Vater aus ihr, aus Hamlet spricht. Hüller spielt dezent, erlaubt sich kaum emotionale Entäußerung. Dieser Hamlet wägt ab, zögert, kalkuliert und berechnet, wann es Zeit ist, seinen Onkel, Claudius, den Vatermörder, zu töten. Stefan Hunstein verleiht diesem Emporkömmling wackelige Würde, will dem angeblich wunderlich gewordenen Hamlet helfen, wird dabei aber zum tragischen Herrscher, der die Jugend nicht versteht. Der die tiefe Trauer des Vaterlosen nicht sieht, dessen Alleinsein, und ihn deshalb zum Verrückten erklärt.

Hamlets Mutter Gertrud mag ähnlich denken, doch Mercy Dorcas Otieno glänzt mit standhaftem Selbstbewusstsein. Beider Begegnung ist von unwirklicher Art: pendelnd zwischen Hass, Sorge und wilder Kabbelei. So wird Hamlets erstes Opfer, aus einer Unachtsamkeit heraus, der königliche Berater Polonius. In Gestalt von Bernd Rademacher entpuppt er sich freilich als Intrigenschmied, der von oben herab und arrogant seine Weisheiten von sich gibt, wenn auch gern in freundlichsten Tonfall gehüllt. Derart aalglatt verbietet er kurzerhand seiner Tochter Ophelia den Umgang mit Hamlet.

Totengräbers Stunde im Reich der Abstraktion – Jing Xiang rollt metallene Kugeln, Symbole für längst verblichene Schädel. Foto: JU Bochum

Die sich freilich, verkörpert durch die so wunderbar verspielte wie ernste, mitunter etwas zu burschikose Gina Haller, zunächst wenig sagen lässt, an Hamlets Seite vielmehr wie dessen alter Ego auftritt. Es ist eine seltsame Liebe, die beide verbindet, die letzthin in Zweifel und Distanz, in Ophelias Wahn und Tod mündet. Wie am Ende ohnehin die Stunde der Totengräber kommt: der somnambulen Ann Göbel, die Hamlets Alleinsein als einzige erkennt sowie der draufgängerischen Jing Xiang. Der helle Bühnenboden wird zum Duellplatz von Hamlet und Ophelias rachegetriebenem Bruder Laertes (Dominik Dos-Reis), die sich wechselseitig mit vergiftetem Degen umbringen. Zugleich ist diese Stätte Gertruds und Claudius’ Grab.

Auch dieses letzte Bild ist trotz aller bedeutungsvollen Tragik von kühler Eleganz. Johan Simons’ Inszenierung zeigt ein Labor verlorener Seelen. Sein Verzicht auf Drastik ist zugleich ein Gewinn an Ausdruckstiefe und Größe.

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(„Hamlet“ wird in der Spielzeit 2019/20 wieder aufgenommen. Die nächsten Vorstellungen gibt es am 17., 20. und 24. Oktober. www.schauspielhausbochum.de)




Königin und König im Geschlechterkampf: Johan Simons reduziert Kleists „Penthesilea“ auf ein Zweipersonenstück

Penthesilea (Sandra Hüller), Achilles (Jens Harzer) (Foto: Schauspielhaus Bochum/Monika Rittershaus)

Am Anfang ist das Geräusch. Das könnte ein Zerreißen sein, ein Zerknüllen oder Zerfetzen, auf jeden Fall etwas Beunruhigendes. Man ahnt schon den Tabubruch. Dann erst werden die beiden Figuren im dunklen Hintergrund bemerkbar, die in ständiger Bewegung sind und sich nun langsam zum Bühnenraum vorarbeiten. Sie ist Penthesilea, er Achilles, und sie werden die einzigen Personen auf der Bühne bleiben, in Johan Simons’ Ausdeutung des Kleist-Stoffes im Bochumer Schauspielhaus.

Keine Rahmenhandlung

Mit einer „Rahmenhandlung“ hält sich die Inszenierung nicht lange auf. Weitere Amazonenfürstinnen, griechische Könige, die Oberpriesterin und die Statisten sind gestrichen. Äußere Umstände, die zur ersten und den weiteren, stets zutiefst aufgewühlten Begegnungen der beiden Protagonisten führten, spielen die gleichsam nebenbei mit. Im Zentrum steht der Geschlechterkampf, befeuert von rasender Liebe zwischen den Kriegsgegnern ebenso wie von unbändigem Vernichtungsdrang. Siegreicher Triumph und bedingungslose Hingabe wechseln sich bei beiden in rascher Folge ab, und gerne hätte man, wie bei vielen anderen Klassikern auch, den Beteiligten geraten, sich erst einmal abzuregen. Und später vielleicht eine Therapie zu suchen.

Penthesilea (Sandra Hüller), Achilles (Jens Harzer) (Foto: Schauspielhaus Bochum/Monika Rittershaus)

Die Amazonen

Bemerkenswert ist an diesem Penthesilea-Stoff, den Kleist sich wohl weitgehend ausgedacht hat, daß er eine relativ schlüssige Erklärung für das Mal um Mal die Extreme suchende Verhalten der Amazonenkönigin liefert. Der unerhörte, in sich aber auch schlüssige „alternative“ Lebensentwurf der Amazonen entstand demnach, als „rauhe Äthiopierstämme“ die Männer ihres Volkes ermordet hatten. Da beschlossen die Frauen, fürderhin allein zu bleiben und einen Frauenstaat zu bilden. Ab und zu erjagen sie sich seitdem ein paar Männer für die Fortpflanzung – und auf einem solchen Beutezug war Penthesilea mit den Ihren, als sie Achilles kennenlernte. Es kann kein Zufall sein, daß diese Bochumer Premiere auf den Tag fiel, an dem man 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland feierte.

Beeindruckende Darstellerin

Jens Harzer ist Achilles, Sandra Hüller gibt die Penthesilea, und auf sie fokussiert Johan Simons’ Inszenierung. Tatsächlich sah man lange keine Schauspielkünstlerin mehr, die ihre Rolle mit einer derartigen Intensität, Durchdringung und Körperlichkeit eher lebte als spielte wie Sandra Hüller. Kleine umgangssprachliche Brüche und Apercus in der Textfassung von Vasco Boenisch verstärken die Unmittelbarkeit des Spiels der beiden Akteure überdies.

Leider jedoch verlispelt Hüller manche komplizierte Satzkonstruktion in die Schwerverständlichkeit. Mit einer gewissen Wehmut fühlt man sich an die große Edith Clever erinnert, die vor über 30 Jahren in Hans Jürgen Syberbergs Penthesilea-Projekt die Kleistschen Zeilen mit äußerster artikulatorischer Präzision, bis an den Rand der Manieriertheit manchmal, sprach. Nun gut, das war ein anderes Theater und eine andere Zeit.

Alles schwarz

Die Bühne (Johannes Schütz) ist dunkel und leer, lediglich ein nerviger, grell blendender Lichtbalken ist am vorderen Bühnenrand in den Boden eingebaut. Er taucht die Akteure, wenn sie vorne spielen, in ein unwirkliches Rampenlicht, das dem Spiel viel Natürlichkeit nimmt. Sparsam auch bleibt die Garderobe (Kostüme: Nina von Mechow), beschränkt sich auf einige schwarze Kleidungsstücke, und statt der nackten Frau ist an diesem Abend mal ein nackter Mann zu sehen.

Zum Ende hin recht statisch

Bekanntlich gibt es kein Happy End bei Achilles und Penthesilea, über ihre Schatten können sie nicht springen. Verlangsamung und Statuarik dominieren somit die Schlußminuten der knapp zweistündigen Inszenierung, es ist ja auch ein Trauerspiel. Nach knapp zwei Stunden ist alles vorbei, und das Premierenpublikum zeigt sich erwartungsgemäß begeistert.




Deklamationen am Rande der Kohlenhalle – Johan Simons inszeniert in Marl „Die Fremden“

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Sandra Hüller (rechts), weitere Mitwirkende (Foto: JU/Ruhrtriennale)

In seinem Roman „Der Fremde“ läßt Albert Camus den Franzosen Meursault in Algerien einen einheimischen Mann ermorden, der namenlos bleibt. Für den Gang der Geschichte ist das sinnvoll, aber etwas kränkend für die arabische Seele war es offenbar auch. Vor wenigen Jahren – auf Deutsch erschien das Buch im Februar – hat der algerische Schriftsteller Kamel Daoud seine Version der Camus-Geschichte verfaßt: „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“.

Daoud erzählt den Plot aus der Perspektive der Familie des Opfers, das hier den Namen Moussa trägt. Sein Bruder, ein alter Mann mittlerweile, erinnert sich, und Camus’ Geschichte über einen vorgeblich zufälligen Mord wird zu einem Lehrstück über Kolonialismus, Rassismus, Identität, über Verhältnisse kurzum, deren logische Folge geradezu dieser Mord war. Nun gut.

Steiniger Untergrund

Jetzt hat sich Johan Simons, Ruhrtriennale-Intendant, des Buchs von Daoud bedient, um daraus eine Bühnenproduktion zu machen. Spielort von „Die Fremden“ (!) – Bühne kann man es nicht nennen – ist die Kohlenmischhalle der kürzlich stillgelegten Zeche Auguste Victoria in Marl, ein steiniger, staubiger Untergrund, auf dem zu agieren sicher keine Freude ist.

Das Orchester Asko/Schönberg hat auf dem Spielfeld seinen Platz bezogen und intoniert während der rund 100 Minuten Spielzeit Kompositionen von Mauricio Kagel, Claude Vivier und György Ligeti. Dominiert wird die Szene von einer riesigen Maschine auf Schienen, der Kohlenmischmaschine wohl, die sich irgendwann im Mittelteil sinnfällig in Bewegung setzt und langsam und lautlos nach hinten wegfährt.

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Im Hintergrund ist die Videoarbeit von Aernout Mik zu sehen (Foto: JU/Ruhrtriennale)

Bedeutungsschwer

Die Maschine ist aber auch das Originellste an dieser Inszenierung, deren Ende man nach einiger Zeit doch sehr herbeisehnt. Wie im letzten Jahr schon in Simons’ Einrichtung von „Accattone“ nach Pasolini – in einer großen Kohlenhalle in Gladbeck – besteht der gesprochene Text fast nur aus bedeutungsschweren Deklamationen, deren akustische Verständlichkeit zudem dadurch erschwert ist, daß die Mimen vorwiegend niederländische Muttersprachler zu sein scheinen. Mit dem Deutschen und seiner richtigen Betonung tun sie sich schwer. Gerade einmal Sandra Hüller, die jüngst im Film „Toni Erdmann“ neben Peter Simonischek brillierte und die man offenbar als Star eingekauft hat, gibt manchmal eine Ahnung von dem, was Schauspielkunst (auch hier) sein könnte.

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Szenenfoto (Foto: JU/Ruhrtriennale)

Flachbild

Mit dem Spielort, ein weiteres Ärgernis, weiß Simons wenig anzufangen, sieht man einmal von der erwähnten Kohlenmischmaschine ab. Der größte Teil des riesigen, tiefen Raums bleibt für die Inszenierung praktisch ungenutzt, alles spielt sich an einem Kopfende der Halle ab, vor dem die Zuschauerränge aufgebaut sind.

Hier offenbaren sich die Grenzen eines „freien“, improvisationsfreudigen Theaters nach Simons’ Art, das fast überall Spielräume zu schaffen weiß, sich mit vorgegebenen Räumen aber schwertut. Mit einer gewissen Wehmut denkt man da an bombastische Produktionen der Ära Heiner Goebbels, die lustvoll mit der Tiefe spielten, an ausschwenkende Lichtkräne über nächtlicher Jahrhunderthalle und an bedrohliche, in das Publikum hineinrollende Dampflokomotiven. Tempi passati.

Flüchtlingslager im Video

Natürlich wurde auch das Migrationsthema nicht ausgelassen. Eine Videoinstallation von Aernout Mik zeigt die Kohlenmischhalle als Flüchtlingslager, erschöpfte Menschen, Kinder, Verwaltungsbeamte, Polizisten. Natürlich gibt da Zusammenhänge; trotzdem wirkt das Video wie der etwas ungelenke Versuch, möglichst viel Aktualität in einen Stoff zu pressen, der auch aus sich heraus bestünde.

Erwähnt sei noch, daß auch der Bundespräsident im Publikum saß. Sein Auftritt mit Gefolge und ein bißchen Händeschütteln vollzog sich glücklicherweise in wenigen Minuten, und die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen blieben erträglich. Leider konnte man ihn nicht nach seiner Meinung fragen. Wie immer sie auch ausgefallen sein mag – gewiß hätte er sie in die richtigen Worte gekleidet.