Geheimnisse hinter der falschen Tür – „Intime Fremde“ von Patrice Leconte

Von Bernd Berke

Liebhaber französischen Filmschaffens wissen es: Meist handeln die Werke von den tausend Spielarten der Liebe. Leichtlebige Geschichten spielen zwischen Bistro und Bett, die ernsteren werden vorzugsweise mit melancholischer Piano- oder Cellomusik untermalt. Patrice Lecontes „Intime Fremde“ zählt zu dieser verhaltenen Sorte.

Kaum zu glauben: Anna hat sich offenbar in der Tür geirrt und taumelt ins falsche Büro. Statt einem Psychiater schüttet sie dessen Etagennachbarn, dem Steuerberater William, ihr wehes Herz aus. Dieser etwas hüftsteife Finanzfachmann ist von den Bekenntnissen, die ihm da zu Ohren kommen („Mein Mann .berührt mich seit sechs Monaten nicht mehr“), derart sprachlos fasziniert, dass er „vergisst“, die ernüchternde Wahrheit über seinen Beruf zu sagen.

Also verabreden sie weitere Termine, einmal pro Woche. Und so sehr finden sie beide ihr Behagen an der freimütigen Aussprache, dass sie die Verabredungen nach kurzer Verstimmung sogar fortsetzen, als sie seinen Job kennt. Man rätselt nun doch: Hat sie vielleicht gar nicht die Türen verwechselt, sondern das kleine Abenteuer willentlich eingefädelt?

Sexuelle Avancen ergeben sich nicht

Leconte („Der Mann der Friseuse“) treibt bis zum Schluss ein subtiles, rituelles Spiel mit solchen Ungewissheiten und Geheimnissen. Sein Psychothriller der veredelten Art hat Momente, die eines Hitchcock würdig wären. Eben weil sexuelle Avancen sich hier partout nicht ergeben wollen, doch stets in der Luft liegen, bleibt Spannung bestehen. Darin ist „Intime Fremde“ ein kraftvoller Gegenentwurf zu Patrice Chéreaus „Intimacy“, wo das Ritual gerade im wortlosen wöchentlichen Sex bestand.

Anna und William wetteifern darin, einander auszuspionieren und sich dabei selbst bedeckt zu halten. Dabei fallen mitunter Sätze wie jener schwermütige Seufzer des echten Psychiaters: „Wenn die Tür zum Mysterium Frau einmal geöffnet ist, lässt sie sich nicht wieder schließen . ..“ Da knarrt sie mal ein wenig, die symbolisehe Pforte ins Unbekannte.

Anna wird immer „südlicher“ und begehrenswerter

Die beiden Hauptdarsteller, in etlichen Filmen von Jacques Rivette bzw. Eric Rohmer erprobt, entfalten eine fein nuancierte Skala der Gefühle. Die wundervolle Sandrine Bonnaire als Anna blüht im Verlauf der „Sitzungen“ auf. Sie spricht (und raucht) immer verführerischer, kleidet sich leichter, wird begehrenswerter, sozusagen „südlicher“. In diese Himmelsrichtung zielen denn auch ihre diffusen, undurchsichtigen Sehnsüchte.

Bei William (Fabrice Luchini; auch er vieldeutig in all seiner Zurückhaltung) geht das alles etwas langsamer. Seit über 30 Jahren hockt er in der Kanzlei, die er einst von seinem Vater übernommen hat. Auf seiner Seele liegt gleichsam Aktenstaub. Doch dieser geschiedene, kinderlose Mann hat auch eine jungenhafte Seite, die er halb neckisch, halb schüchtern, im Sammeln von witzigem Spielzeug auslebt.

Nach und nach scheint William sich in Anna zu verlieben. Die behauptet, sie wolle sich keine Freiheiten nehmen, sondern sich ihrem Ehemann Marc wieder annähern. Der wiederum bleibt lange ein Phantom, taucht aber schließlich in leibhaftiger Düsternis auf. Es scheint so, als sei William wie eine Brücke, über die dann andere zueinander finden! Doch dabei muss es ja nicht bleiben…




Der Mensch ist dem Menschen ein Rätsel – Claude Chabrols Film „Die Farbe der Lüge“

Von Bernd Berke

Im Wald liegt die Leiche der zehnjährigen Eloise. Das Mädchen ist erwürgt worden. Kurz vor ihrem Tod hat sie einen Zeichenkursus besucht. Kein Wunder, dass die Kommissarin zuerst den Lehrer verdächtigt.

So geradlinig beginnt Claude Chabrols „Die Farbe der Lüge“, doch dabei bleibt es nicht. Der Altmeister aus Frankreich verstrickt seine Figuren (und die Zuschauer) in ein dichtes, bald kaum noch durchschaubares Gespinst der Verstellungen.

Lügen, so erfahren wir bei dieser faszinierend kühlen filmischen Feldforschung in der bretonischen Provinz, können Menschen auf verschiedenste Art; etwa, indem sie wortreich die Wahrheit umkurven, indem sie das Wesentliche verschweigen – oder durch bewusste Maskierung ihrer wirklichen Absichten. Ja, nicht einmal Offenheit hilft weiter: „Wenn man sagt, was man denkt, ist es auch nicht die Wahrheit. Das wäre zu einfach“, heißt es einmal.

Eine Kommissarin aus dem Nirgendwo

Die Lüge ist hier so allgemein wie ein unentrinnbares Element, das durch alle Beteiligten hindurchflutet. Besagter Zeichenlehrer René (Jacques Gamblin) lebt mit Viviane (unaufdringlich präsent wie stets: Sandrine Bonnaire) zusammen. Spürbar wird die Kraft, die die beiden gegen alle Widrigkeiten verbindet. Doch im Grunde sind sie füreinander ebenso undurchschaubar wie alle anderen Personen: Der Mensch ist dem Menschen ein Rätsel, und das Leben erweist sich als Abfolge bloßer Mutmaßungen – ganz wie die Ermittlungen zum Kriminalfall.

René, ohnehin in einer künstlerischen Schaffenskrise, knickt unter dem ungeheuren Mordverdacht seelisch ein. Die Eltern melden nach und nach ihre Kinder aus seinem Kursus ab. Man weiß ja nie…

Folgenlos rauschende Fernsehbilder, wabernder Nebel

Um sich nicht vollends in Renés Depression hineinziehen zu lassen, lenkt sich Viviane ein wenig, aber nicht sexuell mit Desmot (Antoine de Caunes) ab. Dieser bisweilen lachhaft eingebildete Schriftsteller, charmanter Schwadroneur mit häufigen TV-Auftritten und Frauengeschichten, will sich auch schon mal mit gefälschten Zitaten wichtig machen. Zudem ist er, wie sich später herausstellt, offenbar an einem Handel mit gestohlenen Kunstwerken beteiligt.

Optische Entsprechungen solcher Ungewißheit sind jene folgenlos vorbeirauschenden Fernsehbilder, vor denen die Figuren vielfach mit starrem Blick sitzen; und dieser Nebel, der in schwarzblauer Nacht durch die zerklüftete Küstenlandschaft wabert. Die Kommissarin (Valeria Bruni-Tedeschi) wirkt eigenschaftslos, als sei sie aus dem Nirgendwo hergekommen. Auch sie greift zur Lüge. Die Befragung eines Verdächtigen zeichnet sie mit dem Bandgerät auf, obwohl sie das Gegenteil versprochen hat.

Der Mädchenmord und ein weiterer werden schließlich zwar Tätern zugeordnet, doch nicht wirklich aufgeklärt. Und der Film nimmt mit einem unübersetzbaren Sprach-Anklang am Ende eine Wendung ins nahezu Surreale. René, nunmehr vollends verdüstert, sieht sich selbst schon an der Schwelle zum Totenreich. Viviane, die bis hierher treulich zu ihm hält, ruft mehrfach seinen Namen, und im Französischen hört es sich genau so an wie „renée“ (wiedergeboren). Ist es die Kraft der Liebe, die selbst die Lüge und den Tod überwinden kann?