Vorbildhafte Entdeckerfreude: Drei Einakter von Ernst Krenek an der Oper Frankfurt

Der Diktator (Davide Damiani) vor der stummen Prozession der Opfer des von ihm entfesselten Krieges. Foto: Barbara Aumüller

Der Diktator (Davide Damiani) vor der stummen Prozession der Opfer des von ihm entfesselten Krieges. (Foto: Barbara Aumüller)

Drei kurze Opern, die zunächst einmal nichts miteinander zu tun haben, zusammengespannt zu einem Abend: Ernst Krenek schrieb unmittelbar nach seinem Welterfolg „Jonny spielt auf“ ein Triptychon und gab es nach Wiesbaden zur Uraufführung (1928). Die Gegenwart ist solchen Experimenten nicht geneigt; Kurzopern sind unbeliebt und außer Puccinis „Il Trittico“ und ein paar Ausnahmen wie Mascagnis „Cavalleria rusticana“ oder Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ hat sich kaum eine im Repertoire gehalten. Auch Kreneks drei Einakter werden kaum einmal einzeln, aber noch seltener als Einheit aufgeführt. Frankfurt hat es nun gewagt und den Abend sogar ins Große Haus gelegt.

Dabei bietet Ernst Krenek zwischen Symbolismus und Satire genug Stoff für Reflexion. David Hermanns Regie nutzt das Potenzial, ohne es lehrhaft zu überzeichnen oder szenisch allzu eindeutig auszuführen. Den „Diktator“, auch im letzten Jahr beim Kurt Weill Fest in Dessau zu sehen, nennt Krenek eine „tragische Oper“ – eine Tragik allerdings, die sich erst auf den zweiten Blick erschließt und weniger mit der Frau zwischen zwei Männern als mit politischer Psychologie zu tun hat. Eine Frau, deren Mann in einer Schlacht durch Giftgas erblindet ist, beschließt, den Diktator als den Urheber des Kriegs zu töten. Sie erliegt aber dem Charisma des mächtigen Mannes und wird von der Kugel getroffen, die seine Geliebte aus Eifersucht auf ihn feuert.

Wie kommen Menschen dazu, Machthaber zu verehren?

Was im Libretto Kreneks psychologisch ziemlich schwach motiviert erscheint, kann als Parabel gelesen werden, erdacht von einem politisch wachen Kopf, der sich fragt, wie Menschen dazu kommen, Machthaber zu verehren und sich für sie zu opfern, die eigentlich Ursache ihres Leidens am Leben sind. Auch dabei spielt „Unwahrscheinliches“ eine Rolle, Rätsel, die sich nicht ohne weiteres erklären lassen.

Szene aus "Das geheime Königreich" von Ernst Krenek an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Szene aus „Das geheime Königreich“ von Ernst Krenek an der Oper Frankfurt. (Foto: Barbara Aumüller)

Die Psyche des Menschen als unergründliches Terrain also. Das sehen wir in „Das geheime Königreich“ wieder, das in seiner Märchendiktion das Thema der Macht ins Romantische erweitert – und damit ein typisch deutsches Phänomen thematisiert, eine politisch mittelbar brisante Innerlichkeit und Weltflucht. „Die Schönheit des ewigen Lebens“ werde sein Königreich sein, sagt der an sich selbst zweifelnde Herrscher, und entdeckt „das Wesentliche“ im Auge eines Tieres. Ein Narr, der an Shakespeare erinnert, ein gebrochener, ratloser König, eine machtgierige Königin, ein entflammter Rebell und singende Revolutionäre: das ist das Personal in diesem erotisch durchwebten Kampf um die Krone.

Zwischen Max Schmeling und Sigmund Freud

"Schwergewicht oder Die Ehre der Nation": Simon Bailey als Boxer Adam Ochsenschwanz. Foto: Barbara Aumüller

„Schwergewicht oder Die Ehre der Nation“: Simon Bailey als Boxer Adam Ochsenschwanz. (Foto: Barbara Aumüller)

Das dritte Stück, eine heitere Burleske, steht nicht wie ursprünglich konzipiert, am Ende, sondern in der Mitte des Abends: „Schwergewicht oder Die Ehre der Nation“ greift satirisch Zeitströmungen auf wie die Vergötterung des Sports oder den Glauben an die Psychoanalyse. Zwischen Max Schmeling und Sigmund Freud lässt Krenek den einfach strukturierten Kraftprotz auf eine hochverstiegene Medizinstudentin („Mein Unterbewusstsein ist zu stark“) treffen, die sich willig als Punching-Puppe niederschlagen lässt – um dem gesellschaftlichen Skandal zu entgehen oder einen sexuell antörnenden Masochismus zu genießen? Schon die Namen „Adam Ochsenschwanz“ und „Anna Maria Himmelhuber“ verraten genug.

Jo Schramm hat für David Herrmann eine flexibel veränderbare Bühne gebaut, deren klarer, steriler Raum für den „Diktator“ dem Willen der Regie entgegenkommt, Realismus zu brechen und ins Parabelhafte mit absurden Zügen zu driften. Der blinde Mann ist nur einer unter vielen, die im ergrauten Hintergrund steif vorbeidefilieren – eine beklemmende Prozession, die den Diktator stumm anklagt. Wenn Maria, die Frau des Versehrten, drei Mal auf den Machthaber schießt, zeigt sich rotes Blut auf weißer Weste, aber er fällt nicht. Er reißt sich die Hemdbrust vom Leib: Der Diktator ist eine Figur, die nicht durch Schüsse umzubringen ist, ein immer wiederkehrendes Phänomen der Geschichte.

Wundervolles Bild für ein inneres Reich

Für das „Schwergewicht“ öffnet sich der Raum zu einem sinistren Varieté irgendwo zwischen „Cabaret“ und Hermann Hesses „Steppenwolf“. Die Kostüme Katharina Taschs werden grell und bunt. Die Welt, der die „Ehre der Nation“ zugesprochen wird, ist kreischend kitschig. Ein phantastischer Bild-Einfall kennzeichnet „Das geheime Königreich“: In einem immateriell wirkenden, spiegelnden Hintergrund verfließen die Formen, lösen sich die individuellen Gestalten auf, verschwimmt die Eindeutigkeit der Welt in einem Ozean aus Licht (Olaf Winter) und weich changierende Farben. Ein wundervolles Bild für das uneindeutige, sich jeder Definition entziehende „innere Reich“, in das sich der König zurückzieht.

Ernst Krenek im Jahr 1927 - damals schon ein gemachter Mann. Foto: Kurt Weill FestErnst Krenek im Jahr 1927 - damals schon ein gemachter Mann. Foto: Kurt Weill Fest

Ernst Krenek im Jahr 1927 – damals schon ein gemachter Mann. (Foto: Kurt Weill Fest)

Kreneks Musik wurde oft vorgeworfen, eklektisch zu sein, keinen eigenen Stil, zu wenig persönliche Farbe zu entwickeln. Genau das ist ihre Stärke und ihre Modernität: Krenek ahmt im „Diktator“ ungeniert die Melodiebögen Puccinis nach, greift vorbehaltlos auf die Diktion des Verismo zurück, aber schafft alles andere als eine bloße Stilkopie, sondern eher ein raffiniertes Amalgam aus Vorbildern in kalkulierter, individueller Prägung. „Schwergewicht oder Die Ehre der Nation“ dreht und swingt sich durch die reizenden Plattitüden der Tänze der Zwanziger, ob Pasodoble oder Tango, entzückt mit federleichter Instrumentierung und leiser Ironie.

Form und Rausch, Sinnlichkeit und Technik

„Das geheime Königreich“, die komplexeste der Partituren, geht harmonisch in die Tiefe, schreitet die Tonalität weit aus, verbindet Strauss und Schreker, Zemlinsky und Wagner zu einem Neuen, in dem sich Form und Rausch, Sinnlichkeit und Technik nicht ausschließen. Lothar Zagrosek setzt mit dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester den Zauber der Musik in Klang: die verführerisch sinnlichen Qualitäten, die in sich hineinlächelnden Stil- und Motivzitate, den spritzigen Rhythmus und die polyphonen Verästelungen. Krenek erweist sich wiederum als einer, der im vielstimmigen Konzert der unglaublich vielfältigen Zwanziger Jahre eine gewichtige Stimme beizutragen hat.

Wie stets, überzeugt das Frankfurter Sänger-Ensemble. Man mag mit dem einen oder anderen Detail nicht glücklich sein – Sara Jakubiak singt die schwellenden Bögen am Anfang nicht frei, Juanita Lascarro bleibt als Frau des Diktators eine Dulderin mit gedeckelt-mattem Ton –, aber die glänzend aufeinander eingestellten Darsteller lassen die drei Stücke musikalisch aus einem Guss erscheinen: Davide Damiani als Diktator und König der Mann der Macht, Barbara Zechmeister als quicke Evelyne, die Frau des Boxers, Simon Bailey als angemessen grobschlächtiger Athlet, Ambur Braid als koloratursprühend überdrehte Königin und Sebastian Geyer als weiser Narr. Dazu kommen Ludwig Mittelhammer, der in seinem kurzen Auftritt als Professor Himmelhuber eine angenehm gefärbte, frei geführte Stimme zeigt, und Nina Tarandek als seine psychoanalytisch vorgebildete Tochter.

Eine vorbildhafte Spielplan-Politik führt zu einer Entdeckung, für die sich der Weg nach Frankfurt gelohnt hat. Leider war das Triptychon nur kurz im Programm – auf eine Wiederaufnahme ist zu hoffen.

Am Mittwoch, 21. Juni, 20 Uhr befasst sich unter dem Titel „Happy New Ears“ ein Werkstatt-Konzert im Opernhaus Frankfurt mit dem Ensemble Modern mit dem Komponisten Ernst Krenek.

www.oper-frankfurt.de




Elementare Eifersucht: Giuseppe Verdis „Stiffelio“ an der Oper Frankfurt

Kein Raum für Intimität: die gläserne Kirche in Johannes Schütz' Bühnenbild für den Frankfurter "Stiffelio". Foto: Monika Rittershaus

Kein Raum für Intimität: die gläserne Kirche in Johannes Schütz‘ Bühnenbild für den Frankfurter „Stiffelio“. Foto: Monika Rittershaus

Dieser Kirchenbau ist gläsern. Alles ist sichtbar. Es gibt keinen Raum für das Intime zwischen den Menschen. Eine Frau steht abseits. Ihr hüftlanges Haar ist ein Signal: Es verrät sexuelle Attraktivität – ein Fetisch für Männer. Und es zeichnet sie als Sünderin. Denn in der christlichen Gemeinde, zu der Lina gehört, ist die Ehe heilig. Und ihr sexuelles Vergehen ein unaussprechliches Verbrechen.

In seiner Frankfurter Inszenierung von Giuseppe Verdis immer noch selten gespieltem Meisterwerk „Stiffelio“ hat der australische Regisseur Benedict Andrews das von Bühnenbildner Johannes Schütz geschaffene Symbol sinnstiftend eingesetzt. Zunächst ein bescheidenes, kreuzförmiges Kirchlein ohne Turm, wie es in vielen angelsächsischen Ländern auf dem Land anzutreffen ist, rückt es im ersten Gebet Linas als schwarzer, bedrohlicher Schattenbau in den Hintergrund, hebt sich im zweiten Akt zu einem wuchtig aufragenden Kreuz, gerät aus dem Lot, als sich der Konflikt um den Ehebruch Linas zuspitzt und strahlt am Ende, brüchig erleuchtet, über der Szene, in der Stiffelio, ihr Ehemann und gleichzeitig Pastor der protestantischen Gemeinde, ein Bibelwort aus dem Johannes-Evangelium in die Tat umsetzt: Wie Jesus der Ehebrecherin, so verzeiht Stiffelio seiner Gattin.

Andrews hat sich in Deutschland unter anderem mit Regiearbeiten an der Berliner Schaubühne, mit einer preisgekrönten Inszenierung von Botho Strauß` „Groß und klein“ – sie wurde auch bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen gezeigt – und mit Sergej Prokofjews mystischer Oper „Der feurige Engel“ an der Komischen Oper Berlin empfohlen. Bernd Loebe hat ihn, stets auf der Suche nach interessanten neuen Namen, an die Frankfurter Oper geholt.

Seine Handschrift ist nicht plakativ, bedient sich keiner privatistischen Chiffren. Andrews setzt darauf, das Beziehungsgeflecht zwischen den Menschen spürbar zu machen, kann auf der Bühne schmerzhafte Spannung erzeugen. In dem Moment, in dem die scheinbar geordnete Welt der kleinen Gemeinschaft auseinanderbricht, beginnt die Drehbühne zu rotieren: Die Figuren verlieren den Boden unter den Füßen, sind gezwungen, sich zu orientieren, können sich nicht mehr in einem stabilen Koordinatensystem halten. Die Bewegung mag nervig sein – konsequent ist sie.

Dominanz und Bedrohung: das Kreuz ist ein ambivalentes Symbol in der Inszenierung von Giuseppe Verdis "Stiffelio". Foto: Monika Rittershaus

Dominanz und Bedrohung: das Kreuz ist ein ambivalentes Symbol in der Inszenierung von Giuseppe Verdis „Stiffelio“. Foto: Monika Rittershaus

Wie gezielt Andrews szenische Zeichen einsetzt, zeigt ein anderes Detail: Stiffelio, von einer Dienstreise zurückgekehrt, predigt seiner Gemeinde über die Schlechtigkeit der Welt. Er steht dabei innerhalb des Kirchleins an einem Fenster, durch das er die Zuschauer adressiert. Es ist der Blick von innen nach außen – aus der geschlossenen, moralisch eindeutig georteten Gemeinde, hinaus auf die Außenwelt. Aber die Predigt wird so auch als „Fensterrede“ qualifiziert: Als Stiffelio entdeckt, dass seine Frau keinen Ehering mehr trägt, gerät er außer sich. Verdi greift musikalisch zu entfesselter Dramatik, die den 37 Jahre später uraufgeführten „Otello“ ahnen lässt.

Stiffelios Eifersucht bricht im zweiten Akt noch elementarer aus: Er vergisst sogar den „heiligen Ort“, den er vorher eingeklagt hat, und schwört dem Sexpartner Linas furchtbare Rache mit der Waffe in der Hand. Verdi zeigt sich in dieser Szene auf dem Höhepunkt seiner musikalischen Charakterisierungskunst. Das „Miserere“ aus dem Hintergrund ist wie eine innere Stimme, die Stiffelio erinnert, dass Jesus selbst am Kreuz noch dem Verbrecher vergeben hat. Auch für das damals unerhörte Ende – ein Gottesdienst auf offener Szene mit langem Orgelsolo – findet Verdi eine lapidare, aber durch ihre schroffe Kürze so anrührende wie dramaturgisch packende Sprache.

So man in einer Oper davon sprechen kann, ist Verdis Theologie in „Stiffelio“ beachtlich. Gemeinsam mit seinem Librettisten Francesco Maria Piave charakterisiert er in gewohnter, skizzenhaft anmutender Kürze die ambivalente Atmosphäre solcher verschworener religiöser Gemeinschaften, geprägt von einem hohen Ideal, von Eifer und Entschiedenheit; auf der anderen Seite aber auch bedroht von Rigorismus, Sozialkontrolle und moralischer Überstrenge. Dafür stehen bei Verdi der alte Geistliche Jorg, ein unermüdlicher Mahner an die religiösen Pflichten, und Linas Vater Stankar. Der Offizier versucht mit allen Mitteln, den Ehebruch seiner Tochter zu kaschieren, um die Familienehre zu retten und die Stabilität der Gemeinde zu sichern. Dafür schreckt er auch vor einem Mord nicht zurück, den er schließlich an Linas Verführer Raffaele vollzieht. Der wiederum ist einer der schwachen Verdi’schen Liebhaber, eine Person ohne Profil.

In „Stiffelio“ erkennen wir Themen wieder, die Verdi ein Leben lang beschäftigt haben. Die verblendeten Väter – Stankars Duett mit Lina erinnert an Vater Germont in „La Traviata“ – und die rigorosen Systeme, gestützt von Geistlichen, denen jeder Anflug von Barmherzigkeit fremd ist, wie dem Inquisitor in „Don Carlo“. Es mag auch sein, dass die Ehebruch-Thematik des „Stiffelio“ Verdi besonders berührt hat: Er lebte zu der Zeit mit seiner späteren Frau Giuseppina Strepponi zusammen, ohne verheiratet zu sein, und hat die moralische Missbilligung in seiner Heimat schmerzlich erfahren.

Das Kreuz leuchtet im Finale. Vergebung eröffnet eine Perspektive. Foto: Monika Rittershaus

Das Kreuz leuchtet im Finale. Vergebung eröffnet eine Perspektive. Foto: Monika Rittershaus

Auch die Gemeinde in Andrews‘ Frankfurter Regiearbeit findet die verzeihende Reaktion Stiffelios nicht gut: Die Damen in ihren bunt gemusterten, züchtig übers Knie reichenden Kleidern, die Männer in ihren korrekten Hemden, Krawatten und Blousons – Victoria Behr hat sich von Fotos einer mennonitischen Gemeinde in Südamerika anregen lassen – nehmen ihre Stühle und gehen. Aber der Raum ist geöffnet, die Frau, der Prediger, das Evangelienbuch stehen im Licht des Kreuzes. Andrews legt nahe: Eine Perspektive hat sich eröffnet.

Die musikalischen Perspektiven, die Verdi mit der 1850 in Triest schon dank der Zensur verstümmelt uraufgeführten Oper eröffnete, können erst gewürdigt werden, seit 1968 Abschriften des verloren geglaubten Werks im Konservatorium von Neapel entdeckt wurden. In Köln gab es 1972 einen ersten Versuch in Deutschland, sich dem „Stiffelio“ zu nähern. Erst seit 1993 eine kritische Edition auf der Basis der in Verdis Villa S. Agata aufbewahrten Teile des Autographs erschien, waren gültige Aufführungen möglich. Doch trotz seiner unverkennbaren Qualitäten blieb „Stiffelio“ eine Rarität. Man arbeitet sich lieber zum hundertsten Mal am unmittelbar danach entstandenen „Rigoletto“ ab. Erst in jüngster Zeit rückt das Werk dank der Inszenierungen in Wien, Mannheim, Krefeld und jetzt Frankfurt stärker in den Blick der deutschen Opernlandschaft.

Sorgfältig ausdifferenzierte Vielfalt in der Musik

Für die Musik zeichnet in Frankfurt Jérémie Rhorer verantwortlich, ein seit einigen Jahren vor allem mit Mozart-Opern erfolgreicher Dirigent, der nun mit „Stiffelio“ seinen ersten Verdi dirigiert. Man spürt seine Herkunft aus der historisch informierten Praxis – Mark Minkowski etwa ist einer seiner Mentoren – in der sorgfältig ausdifferenzierten Vielfalt, mit der er Dynamik und Akzentuierung lebendig macht. Phrasen einfach so durchziehen – das gibt es bei Rhorer genau so wenig wie den bedenkenlosen Lärm, den man etwa vor kurzem in einer „Stiffelio“-Neuinszenierung am venezianischen Teatro La Fenice von dem jungen Italiener Daniele Rustioni zu hören bekam.

Aber Rhorers Zugang hat auch seine Tücken, etwa wenn er das eingängige dritte Thema der Ouvertüre zu eilig nimmt und das Tempo steif formt. So wird Verdi zur geschmähten „Leierkasten“-Musik. Und ein Crescendo ist bei ihm eben etwas Anderes als bei Rossini mit seinem lustvollen mechanistischen Spiel. Auch die Ensembles dirigiert Rhorer bisweilen zu quadratisch, ohne mit den Sängern zu atmen. Niemand hat – auch in der „alten“ Musik – ein Verbot flexibler Phrasierung aufgestellt, wie sie für Verdis expressive Melodik essentiell ist.

Sara Jakubiak als Lina (links) und Russell Thomas als Stiffelio. Foto: Monika Rittershaus

Sara Jakubiak als Lina (links) und Russell Thomas als Stiffelio. Foto: Monika Rittershaus

Auch bei den Sängern bleibt die Frage nach stilistisch adäquatem Verdi-Gesang ein bisweilen schmerzliches Thema. Russell Thomas, der laut Libretto „ahasverianische“ Pastor Stiffelio, hat die stimmliche Statur eines Otello, projiziert strahlende Tenorattacken in den Raum, überzeugt durch eine unverspannte, glänzend fundierte Tongebung. Zumindest, solange es dramatisch bleibt. Die leisen Töne, die „erstickte“ Stimme, die halblaute Farbe des Entsetzens, der Verzweiflung oder der Drohung sind dagegen technisch zweifelhaft mit einer Art Falsett dünn und hauchig gebildet.

Sara Jakubiak kann für die Lina einen großen, zur Passion und zu seelenvollem Lyrismus fähigen Sopran einsetzen, aber ihr Ton spricht nicht leicht genug an, um die Kantilene der Sehnsucht, die herbe Süße der Trauer, das verlöschende Licht gebrochener Lebenskraft in der Lasur eines souveränen Verdi-Soprans schimmern zu lassen. Dario Solari präsentiert als Stankar, was man sich gemeinhin unter italienischem Gesang vorstellt: einen großen, lauten, rauen Bariton.

Alfred Reiter gibt dem Jorg einen öligen, in den Ensembles reibungsvollen Bass. Vincent Wolfsteiner, als Raffaele der Auslöser aller Konflikte, hatte einen schlechten Abend – von seiner bisherigen Wirkungsstätte Nürnberg hat man von dem Tenor weit bessere Eindrücke mitgenommen. Der Chor Tilman Michaels zeigt sich präsent und bewegungsfreudig; das Frankfurter Orchester beherrscht Verdis Leichtigkeit ebenso wie das zupackende Fortissimo, ohne in Lärm zu verfallen oder die Sonorität des Tons zu dünn und luftig zu fassen.

Für die Rezeptionsgeschichte dieser Oper ist Frankfurt – nach Helen Malkowskys überzeugender Inszenierung in Krefeld/Mönchengladbach zum Verdi-Jahr 2013 – ein Meilenstein und hoffentlich ein Impuls.

Aufführungen in Frankfurt: 25., 28. Februar; 3., 5. und 12. März. Info: www.oper-frankfurt.de




Holocaust als Opernstoff: Bochums Intendant Anselm Weber inszeniert „Die Passagierin“ in Frankfurt

Ein Totenschiff: Katja Haß hat für Mieczysław Weinbergs Oper "Die Passagierin" in Frankfurt ein großartig metaphorisches Bühnenbild geschaffen. Foto: Barbara Aumüller

Ein Totenschiff: Katja Haß hat für Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ in Frankfurt ein großartig metaphorisches Bühnenbild geschaffen. Foto: Barbara Aumüller

Zeit, sich zu erinnern, ist immer. Aber manchmal verdichtet sich Erinnerung, behauptet sich im Präsens und drängt sich in den gleichgültigen Lauf des Alltags. Momentan liegt es nahe, Vergangenes in die Gegenwart zu holen, auf dass es nicht vergessen werde: Vor 100 Jahren tobte der Erste Weltkrieg, vor 70 Jahren rissen die letzten Zuckungen des Nazi-Systems noch einmal Zehntausende in einen sinnlosen Tod. Aber vor 70 Jahren gab es auch Aufatmen: Die Alliierten erreichten die Tore der Vernichtungslager, gaben denen die Freiheit, die der Tötungsmaschinerie noch nicht zum Opfer gefallen waren.

Wie sich erinnern? Darüber gibt es zu Recht gesellschaftliche Debatten. Die Zeitzeugen sterben aus; das unmittelbar Erlebte ist auf geschichtliche Vermittlung angewiesen. Wie diese missbraucht wird, ist in diesen Tagen zu erleben, wenn die neue Banalität marschiert, den Bombenterror der letzten Kriegswochen gegen die deutschen Städte verzweckt, um ihre fragwürdigen Botschaften zu transportieren.

Erinnern ist auch eine Frage des kulturellen Gedächtnisses. Die deutsche Theaterlandschaft nimmt daran teil. Aber: Wie erinnert man sich auf der Bühne an den industriellen Vernichtungskrieg? An Schützengräben und Feuerstürme? Wie an die unvorstellbaren Gräuel der Lager? Wie an Gaskammern, Todeswände, Stehbunker und Verbrennungsöfen? Lange schien es undenkbar, das Furchtbare künstlerisch vermittelt auf einer Bühne zu thematisieren.

Adornos Diktum von 1949, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch, wirkte praktisch wie ein Darstellungsverbot. Erst in den achtziger Jahren begannen vorsichtige Versuche, dem unsagbaren Leid den Ausdruck nicht mehr zu verweigern: Götz Friedrichs erschütternde Inszenierung von Leos Janaceks „Aus einem Totenhaus“ in Berlin war ein solches Beispiel. Peter Ruzickas „Celan“ thematisierte 1998 im reflexiven Rückbezug das Grauen des Holocausts in einem sperrig-komplexen Musiktheater. Aber von einer ausdrücklichen Thematisierung wie in Joshua Sobols Schauspiel „Ghetto“ von 1984 war die Opernbühne noch weit entfernt.

Erst Stefan Heuckes „Das Frauenorchester von Auschwitz“ – uraufgeführt 2006 am Theater Krefeld/Mönchengladbach – machte das Leben im KZ zum Gegenstand einer Oper. Im selben Jahr erklang in einer konzertanten Aufführung in Moskau zum ersten Mal eine Oper, von der die musikalische Welt bis dahin keinerlei Kenntnis hatte: „Pasażerka“ („Die Passagierin“) des 1919 in Polen geborenen jüdischen Komponisten Mieczysław Weinberg. Der Komponist, enger Vertrauter von Dmitri Schostakowitsch, hat sein Werk selbst nie gehört: Er verstarb 1996. Die szenische Uraufführung der „Passagierin“ fand erst 2010 in Bregenz statt und war ein Ereignis mit weltweiter Ausstrahlung.

Perfide Gewalt: Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak als Marta. Foto: Barbara Aumüller

Perfide Gewalt: Tanja Ariane Baumgartner als Lisa und Sara Jakubiak als Marta. Foto: Barbara Aumüller

Nach einer Novelle von Zofia Posmysz, die selbst das KZ überlebt hatte, schildert Weinberg eine Begegnung: Auf einem Schiff meint die frühere KZ-Aufseherin Lisa in einer Mitreisenden eine Lagerinsassin, Marta, erkannt zu haben. Sie versucht, die Identität der Passagierin zu erkunden. Gegenwart und Erinnerung verschränken sich, bis sich – ausgerechnet durch Musik – die Gewissheit verdichtet: Die Passagierin lässt die Bordkapelle den Lieblingswalzer des einstigen Lagerkommandanten spielen.

Schostakowitsch bezeichnete Weinbergs Oper als „Hymne an den Menschen, an ihre Solidarität, die dem fürchterlichen Übel des Faschismus die Stirn geboten hat“. So sieht sie auch Regisseur Anselm Weber in der Frankfurter Neuinszenierung – rechtzeitig zum 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz. Die Bestialität des Lagerlebens, die nackte, menschenverachtende Brutalität lässt der Intendant des Bochumer Schauspiels nicht zu: Gewalt auf der Bühne droht immer ins Malerische abzugleiten.

In sorgfältigen Menschenstudien thematisiert Weber, wie die Gefangenen mit dem Horror leben: gebrochen bis zum Verlust des Gedächtnisses, getröstet von Gebet und winzigen Inseln gelebter Menschlichkeit, entschlossen bis zur Hingabe des eigenen Lebens, um sich und sein Gewissen nicht brechen zu lassen.

Katja Haß, die Bühnenbildnerin, hat für die Gleichzeitigkeit von Schiff und Lager, für das Verschmelzen von Realität und Erinnerung eine überzeugende Bühnenlösung gefunden. Vor einer riesigen Schiffswand sehen wir auf einer Gangway Walter, einen deutschen Diplomaten, der auf dem Höhepunkt seiner Karriere 1960 nach Brasilien reist. Seine junge Frau Lisa im modischen Petticoat, die blonden Haare in Wellen gelegt: Man ahnt das „arische“ Weib von damals. Marta, die „Passagierin“: eine schlanke, elegante Frau in Schwarz. Sie zündet den Impuls des Erinnerns – da öffnen sich die Türen und aus dem Dunkel schälen sich drei Menschen in gestreifter Häftlingskleidung.

Anna-Lisa Franz, die ehemalige SS-Aufseherin, beharrt auf dem Recht auf Vergessen – aber es ist selbst für sie eine Illusion. Die Toten kommen wieder – die Schreckvision aller Gewaltmenschen bis hin zu de Schlächter Macbeth in Verdis Oper – und lassen sich nicht bannen: Die schwarze Frau zieht Lisa hinein in die Erinnerung; die Schiffwand dreht sich und öffnet sich zu einem Raum mit kalten Wänden.

Die Reling wird zum Wachtturm, die Schotten zum Lagertor. Wie es im Leben der Anna-Lisa Franz ein „Außen“ und „Innen“ gibt, so auch auf diesem Schiff: Das Äußere ist weiß, realistisch, gegenständlich. Das Innere ist der schmutziggraue Alptraum, die brutale Realität der Opfer. Das „Lieschen“ der Wirtschaftswunderzeit wandelt sich zur blonden Uniformierten. Die Frankfurter Inszenierung der „Passagierin“ hat also nicht – wie Holger Müller-Brandes (Regie) und Philipp Fürhofer (Bühne) in der deutschen Erstaufführung 2013 in Karlsruhe – auf realistische Elemente verzichtet, sie aber immer wieder in der Tiefe eines metaphorischen Raums gebrochen.

Weinbergs Oper klagt nicht an durch brutale, ungeschönte Szenen aus der Lagerqual. Aber das Libretto von Alexander Medwedew zitiert geradezu jene wohlbekannten Sätze, mit denen die Täter ihre Schuld relativierten: Befehl und Gehorsam, Pflicht und Korrektheit. Monströs ist die Verwunderung Lisas über den Hass, den ihr die Gefangenen entgegengebracht haben.

Für den Regisseur Anselm Weber (Intendant des Bochumer Schauspielhauses) ist Fräulein Franz keine „blutige Stute“, die prügelt oder tötet. Ihre Mittel sind subtiler, perfider: Sie gewährt scheinbar Momente der Menschlichkeit, etwa, wenn sie Marta und ihrem Geliebten Tadeusz ein heimliches Treffen ermöglicht. Aber ihr Ziel dabei ist die innere Demütigung der Gefangenen, wenn sie sich selbst verraten, um aus ihren Händen die Gunst zu empfangen. Marta spielte nicht mit – und Tadeusz auch nicht: Der Geiger, der den Lieblingswalzer des Kommandanten einüben soll, bevor er sich „in Rauch auflöst“, lehnt die Chance ab, Marta noch einmal zu sehen. Das Ende der Oper – und des Selbstbetrugs Lisas – kommt mit dem dämonisch verzerrten Walzer der Bordkapelle und einem träumerischen Lied Martas: Sie nennt die Namen ihrer Mithäftlinge, die nicht vergessen werden sollten – ein bezeichnender Kontrast zu der Szene im Lager, in der die Menschen mit bloßen Nummern aufgerufen wurden.

Die kalten Zahlen, die auch auf dem Zwischenvorhang die Namen zu verdrängen suchen, triumphieren nur in der Ideologie der Peiniger: Die Menschen im Lager lassen sich nicht enthumanisieren – auch wenn Weber mit den „Kapos“ in gestreifter Kluft mit Schlagstock ein Stück Realität zeigt. Mit bewegendem Spiel machen die Sängerinnen des Frankfurter Ensembles deutlich, wie Menschlichkeit im Verborgenen weiterlebt: Anna Ryberg, Maria Pantiukhova, Jenny Carlstedt, Judita Nagyova, Nora Friedrichs, Barbara Zechmeister und die beeindruckende Bronka von Joanna Krasuska-Motulewicz stehen für intensive Momente – und die hohe Ensemblekultur der Frankfurter Bühne.

Peter Marsh als Tadeusz in Weinbergs "Die Passagierin" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Brian Mulligan als Tadeusz in Weinbergs „Die Passagierin“ an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Tanja Ariane Baumgartner fügt mit der Lisa ihren stets reflektierten Rollenporträts ein weiteres, höchst gelungenes hinzu: Der Wechsel vom putzigen Fräulein zum camouflierten, schließlich hohnvoll ausbrechenden Sadismus der Aufseherin gelingt ihr szenisch wie stimmlich. Sara Jakubiak konkretisiert die „Passagierin“ Marta von einer fast schemenhaften Erscheinung zu einer starken, mutigen Frau im Lager; ihr poetisches Erinnerungslied am Ende der Oper singt sie mit feinen lyrischen Lasuren als einen sanften Appell, nicht zu vergessen.

Die Männer im Ensemble halten mit: Peter Marsh setzt seinen unverwechselbaren Charaktertenor für den konsternierten, um seine Karriere besorgten Diplomaten ein; Brian Mulligan verinnerlicht den Geiger Tadeusz, der als letztes Fanal des inneren Widerstands statt des geforderten Walzers vor dem Lagerchef die Chaconne Johann Sebastian Bachs spielt.

Der Frankfurter Chor war selten so glaubwürdig wie in dieser Produktion. Unter Leo Hussain brilliert das Orchester in den vielen kammermusikalischen Momenten ebenso wie in den schneidend harten Schlägen der Perkussionsgruppe oder in den verzerrten, in Mahler- und Schostakowitsch-Tradition stehenden parodistischen Zitaten aus der Unterhaltungsmusik. Um noch einmal Adorno zu zitiere: Hier hat das „perennierende Leiden“ sein Recht auf Ausdruck gefunden.

Weitere Aufführungen: 14., 20., 22., 28. März; www.oper-frankfurt.de