Von Sarah Kirsch bis Samuel Beckett – ein paar Buchhinweise für gedehnte, gestauchte und gewöhnliche Tage

Hier noch vier kurze Lektüre-Hinweise, nicht nur für die weiterhin womöglich etwas längeren Tage ohne Restaurantbesuche, Live-Konzerte, Theaterabende, echte Kinoerlebnisse (nix Netflix) etc.; zumal heute auch noch der „Welttag des Buches“ begangen wird:

Dichterische Dachbodenfunde

Politisches, Privates und Naturerfahrung hat die Dichterin Sarah Kirsch (1935-2013) schon seit jeher subtil und wechselwirksam miteinander verwoben. Davon zeugt auch der posthume Band mit dem lapidaren Titel „Freie Verse“, der u. a. auch neunzehn bisher unveröffentlichte Gedichte enthält, die tatsächlich auf einem Dachboden entdeckt worden sind und dem bislang bekannten Werk noch einmal neue Nuancen hinzufügen.

Es gibt hier zwar idyllische Momente, aber es sind beileibe keine naiven Idyllen. In den insgesamt 99 Gedichten zeigt sich wieder und wieder, dass und wie die Gesellschaft Menschen und Natur zutiefst prägt, so dass man zwar widerstehen, aber niemals ganz entkommen kann. Derlei Befunde erschöpfen sich allerdings niemals in bloßer Feststellung, sondern sie werden in poetischen Fügungen ästhetisches Ereignis.

Nur ein wortkarges Beispiel:

Epitaph

Ging in Güllewiesen als sei es
Das Paradies beinahe verloren im
Märzen der Bauer hatte im
Herbst sich erhängt.

Sarah Kirsch: „Freie Verse“. Manesse. 126 Seiten, 20 Euro.

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Briefwechsel Kirsch / Wolf

…und noch einmal Sarah Kirsch, diesmal in nahezu 30 Jahre umfassenden Briefwechsel-Dialogen mit Christa Wolf (1929-2011). Zwei herausragende weibliche Stimmen aus der einstigen DDR also, beide Trägerinnern der vielleicht renommiertesten aller deutschen literarischen Auszeichnungen, des Georg-Büchner-Preises. Und doch so verschiedene Charaktere…

Von 1962 bis 1992 spannt sich der Bogen der persönlichen und postalischen Begegnungen sowie der politischen Auseinandersetzungen, also über die Jahre der deutsch-deutschen „Wende“ hinaus. In den ideologischen Wirrnissen jener Jahre haben sich beide geistig auseinandergelebt. Auch das dokumentiert dieser (reichlich mit Anmerkungen, Bibliographie und Register versehene) Band ebenso lehrreich wie schmerzlich.

Sarah Kirsch / Christa Wolf: „Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt. Der Briefwechsel“. Suhrkamp, 438 Seiten. 32 Euro.

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Durch eine gespenstische Welt

Die Sonne schien, da sie keine Wahl hatte, auf nichts Neues.“ So lautet ein berühmtes und charakteristisches Zitat von Samuel Beckett. Auch in seinem Werk dürfte es nichts Unbekanntes mehr zu entdecken geben. Oder etwa doch?

Nun, es gibt eine Erzählung von 1933, die erst 2014 auf Englisch und nun auf Deutsch veröffentlicht worden ist. Im Ursprungsjahr war der Text, der eigentlich als Ergänzung zu „Mehr Prügel als Flügel“ („More Pricks Than Kicks“) gedacht war, dem Lektor gar zu chaotisch vorgekommen.

Das Werk des damals 27jährigen Beckett heißt „Echo Knochen“ (Original „Echo’s Bones“) und ist in der Tat alles andere als eine eingängige Lektüre. Diese überaus anspielungsreiche Prosa erlaubt aber gleichsam einen Blick ins frühe Werden des Beckettschen Themen- und Figureninventars. Wie der Übersetzer Chris Hirte im Nachwort verrät, hatte er seine liebe Not mit diesem ungeheuren Text, der – mit vielen Bruchlinien – durch eine wirre Traum- und Gespensterwelt führt. Empfehlenswert für wahre und mit beharrlicher Geduld gesegnete Beckett-Exegeten bzw. überhaupt für avancierte literarische Tüftler.

Samuel Beckett: „Echos Knochen“. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Mark Nixon, Übersetzung aus dem Englischen und ein Nachwort von Chris Hirte. Suhrkamp Verlag, 123 Seiten, 24 Euro. 

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Auf die Freuden des Lebens

Ehrlich gesagt: Das große Gewese um Wiglaf Droste (1961-2019) habe ich nie so ganz verstanden. Was er geschaffen hat, ist sicherlich schätzenswert, aber nach meiner Auffassung doch nicht so herausragend und kultverdächtig, wie viele zu meinen scheinen. Ich persönlich würde (je nach Stimmungslage) im komischen Genre andere Hochbegabungen vorziehen – allen voran Max Goldt. Aber das ist nun meine Sache.

Egal. Droste hatte und hat nun mal seine Fangemeinde und vor allem der sei der pralle Gedichtband „Tisch und Bett“ ans Herz gelegt. Die Lyrik aus den letzten Jahren seines allzu kurzen Lebens erweist sich vorwiegend als Lob der guten Dinge auf Erden, es sind freilich unfeierliche Strophen auf die Freuden des sinnlichen Daseins. Und gegen solche Diesseitigkeit ist ja nun wirklich nichts einzuwenden.

Wiglaf Droste: „Tisch und Bett“. Gedichte. Verlag Antje Kunstmann. 256 Seiten. 18 Euro.

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P. S.: Und bitte daran denken: Kauft oder kaufen Sie nach Möglichkeit am Ort. Unterstützt den lokalen Buchhandel. Gerade jetzt. Versprochen?




Sarah Kirschs „Märzveilchen“: Fern vom dröhnenden Lärm der Welt

Die Wochentage heißen hier beispielsweise Montauk, Mistwoch, Donner, Sonntach. Sie verteilen sich auf Monate wie Jaguar, Zebra, Nerz, Mandril, Mayen oder Junius. Hamburgs Schanzenviertel firmiert als Chancen-Viertel. Mit dem Internet verhält es sich so: „Sonst gab es nur Mist im Indernetz und man vergeudet seine herrliche Zeit.“

Wie soll man das finden, wenn jemand seine Notizen stellenweise so verdrechselt datiert und verballhornt: liebenswert versponnen oder auch ein bisschen albern?

Sobald man freilich weiß, dass hier die hochgeachtete Lyrikerin Sarah Kirsch am Werk ist, und wenn man nur einige Seiten liest, so lässt man es gern gelten. Denn auch in dieser Kurzprosa erklingt ja immer wieder dieser leise, ganz eigene, mitunter aufgerauhte Herzton, den man nicht missen mag.

Ihr neuer Band „Märzveilchen“ enthält Aufzeichnungen von Dezember 2001 bis September 2002. Ein recht kurzer Zeitabschnitt also, der inzwischen aus gemessener Distanz betrachtet werden kann.

Es ist kein Tagebuch im üblichen Sinne. Nicht tagtäglich stehen da Einträge, es gibt Lücken. Die Mitteilungen sind angenehm lakonisch, bisweilen etwas schnoddrig, hie und da behaucht mit Berlinischem Atem: „Beschäftige mir mit alle möglichen Texte.“

Sarah Kirsch hat sich von Lärm der Welt in einen entlegenen Winkel Schleswig-Holsteins zurückgezogen. Nur unwillig und widerstrebend lässt sie sich noch bei literarischen Anlässen sehen. Ihr Fazit nach einem solchen Abstecher: „Also ein Dichtertreffen brauch ich in diesem Leben nicht mehr…“

Ein Aquarell von Sarah Kirsch ziert den Buchumschlag

Ein Aquarell von Sarah Kirsch ziert den Buchumschlag

Wiederholt betont sie, wie froh sie sei, beispielsweise nicht im Berliner Rummel zu leben und dort vom Wesentlichen abgelenkt zu werden: „Ich will viel lieber in Ruhe vertrotteln.“ Schon das beschauliche Städtchen Rendsburg genügt für den meisten Bedarf.

In der Abgeschiedenheit werden auch unscheinbare Glücksmomente festgehalten, so etwa beim Fernsehen nebst Strümpfestricken: „…und ruhe so wunderbar leichtherzig in mir, dass ich gar nicht genug davon kriege.“

Zwei gegenläufige, doch auch ineinander verwobene Hauptstränge ziehen sich durch diese Kurzprosa. Zum einen und vor allem die natürlichen Vorgänge im Jahreskreislauf. Jede Wetterwendung, jeder Vogelflug können dort draußen in Tielenhemme an der Eider zum Ereignis werden. Treffliches Zitat: „Es geschieht immer das Gleiche, worauf ich stets warte.“

Zum anderen registriert die Dichterin manche politischen und sonstigen Aufregungen, wie sie durchs Fernsehen in ihre oft sturmumtoste Klause dringen. Es sind gleichsam arge Störgeräusche aus der unselig betriebsamen oder auch katastrophalen Welt, die damals durch den 11. September 2001 gerade gründlich erschüttert worden war.

Überhaupt sieht die Autorin viel fern – von Rohmer-Retrospektiven über die Muppets bis hin zu Partien der Fußball-WM 2002. Auch Theaterinszenierungen verfolgt sie im TV. Man mag so nicht auf der Höhe aller landläufigen Debatten bleiben. Doch lässt sich wohl nur so ein lyrischer Ton finden und halten; indem man sich weitgehend verschließt vor den dröhnenden Verhältnissen und seinen Garten bestellt.

Es bleibt also Zeit fürs Schreiben und die Lektüre. Hervorbringungen der literarischen Großprominenz beurteilt Sarah Kirsch mitunter harsch. Während sie etwa V. S. Naipaul rühmt, heißt es über Peter Handkes Roman „Der Bildverlust“ knapp: „Heldin eine Bankiersfrau. 750 Seiten in schlechter Sprache.“ Und über Günter Grass’ „Im Krebsgang“: „Dieses bürokratische Gerede – nie kann man fliegen, es ist ganz entsetzlich!“

Ungleich einlässlicher spürt sie den Meistern der Romantik nach, in deren Versen Hoffnung und Tröstungen der Natur aufgehoben sind. Der Buchtitel „Märzveilchen“ beschwört das gleichnamige Gedicht von Adelbert von Chamisso herauf, gegen Schluss zitiert Kirsch das „Herbstweh“ des Joseph von Eichendorff, das ins vollkommen Lautlose ragt:

„Bald kommt der Winter und fällt der Schnee, /
Bedeckt den Garten und mich und alles, alles Weh.“

Sarah Kirsch: „Märzveilchen“. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA). 238 Seiten. 19,99 Euro.




Schlimme Nachrichten dringen bis in den Elfenbeinturm – Zwischen Prosa und Lyrik: Sarah Kirschs Tagebuch „Das simple Leben“

Von Bernd Berke

„Das simple Leben“ nennt Sarah Kirsch ihr neues Buch. Doch dieses Dasein ist ganz und gar nicht einfach.

Das Leben der Dichterin spielt sich, unterbrochen von gelegentlichen Lesereisen, ganz bewußt in Klausur ab. Aus ihrem Prosa-Tagebuch mit lyrischem Grundton erfährt man, wie sie sich in ihr Werk versponnen hat, sich am stürmischen Nordseestrand, wo er noch nicht von Touristen erobert ist, verschließen will vor der Welt. Dort geht sie – ein nur scheinbares Idyll – mit ein paar getreuen Menschen, mit Schafen und Bobtail, Katz‘ und Esel um, läßt sie sich beim Anblick der Wolkenspiele in lyrische Stimmungen treiben.

Ganz ohne Ironie spricht sie von „meinem Elfenbeinturm“ und mokiert sich über die Alltags-Spießer ringsum. Doch derlei Anflüge von Hochmut können bei ihr entsetzlich rasch umschlagen, auch in akute Depression. Häufig erwähnt sie die (Seelen-)Wetterlage: „Herrschte das feinste Selbstmörder-Wetter wie ich es liebe“.

Suche nach rettenden Momenten

Die Gedanken sind unfrei. Sie werden überfallen und gefangen von den Nachrichten des Tages, die die friedliche Abgeschiedenheit immer wieder schmerzhaft aufreißen: Da sind die langfristigen Nachwirkungen von Tschernobyl, die Kriege am Golf und auf dem Balkan, Enthüllungen über Untaten der Stasi, das ganze deutsch-deutsche Getöse, die allseits geschundene Natur. Alltägliche Apokalypse.

Die Schreibende fühlt sich diesem schlimmen Weltgetriebe hilflos ausgeliefert. Sie sucht Rettung, indem sie das Private unter die Lupe nimmt und die große Politik gleichsam im umgedrehten Fernglas betrachtet. Dann erscheint beides gleich groß. Doch auch das Dichten im einsamen Gehäuse fällt zur Last: „Meingott es wird auch immer schwerer. Man erhascht ein Splitterchen vor alles versinkt.“

Articul und Akwareller

Sarah Kirsch bleibt, auch wenn sie ein Prosa-Tagebuch wie dieses schreibt, Lyrikerin. Die Wortfolge – freischwçbend ohne Satzzeichen – nähert sich jener von Gedichten, auch Zwischentitel deuten auf solche Herkunft. Und die hauchzarten Gefühlswerte ließen sich manchmal wohl überhaupt besser in Einzelzeilen gießen als in epischen Text.

Ein Besuch im elend verfallenden Greifswald löst Tränen aus. Ein übriges tun die seinerzeit (als sie gegen Biermanns Ausbürgerung sich auflehnte und fortging aus dem Osten) über Sarah Kirsch angelegten Stasi-Akten, die sich für sie jetzt lesen wie ein Schundroman. Gegen solch finstere Realität stellt Sarah Kirsch verzweifelt ihre eigene kleine Welt wie ein Märchen, in dem die Dinge etwas andere, zauberische Namen haben: Sie schreibt einen „Articul“, malt „Akwareller“, fährt auf eine „Insul“, trinkt jede Menge „Koffie“ – und macht sich auf solch beinahe sprachmagische Weise empfänglich und durchlässig etwa für die Geisterstimmen von im Meer Ertrunkenen. Spökenkiekerei?

Es bleibt der schwachen Menschin nur, der Natur im Kleinen ein wenig aufzuhelfen. „Schafe drehn“ heißt eine der letzten Zwischen-Überschriften: Einige Tiere sind in matschige Kuhlen geraten und können sich nicht mehr aus eigener Kraft aufrichten. Hier kann sie beistehen. Sonst scheint alles vergebens, wie ein Anrennen gegen Windmühlenflügel oder Vulkane. Letzter Satz des Buches, bedrohlich genug: „Der Ätna speit“.

Sarah Kirsch: „Das simple Leben“. Deutsche Verlagsanstalt (DVA), Stuttgart. 100 Seiten. 26 DM.