Altes Lied ganz neu: Die Nibelungen am Schauspielhaus Bochum

Die Männer sitzen ums Feuer und singen ein altes Lied in einer fremden Sprache, einer spielt Gitarre dazu. Hin und wieder versteht man sogar ein Wort: Denn die Sprache ist Mittelhochdeutsch und die Geschichte, über die sie singen, erzählt von Siegfrieds Heldentaten und Kriemhilds Rache. Regisseur Roger Vontobel hat für das Schauspielhaus Bochum Hebbels „Die Nibelungen“ inszeniert und das Stück buchstäblich als „Nibelungenlied“ kongenial an seine Ursprünge zurückgeführt.

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Die Gesangseinlagen beschwören den mittelalterlichen Mythos herauf und legen die archaischen Grundzüge der Heldengeschichte frei, so dass sie uns heute wieder etwas sagt. Überhaupt: Wie Vontobel es schafft, die Nibelungen-Sage als packende Sex-and-Crime-Story zu erzählen, so dass der Theaterabend trotz fünfeinhalbstündiger Spieldauer keine Sekunde langweilig, sondern extrem kurzweilig und spannend daherkommt, das ist wirklich eine großartige Regieleistung.

Dabei wirkt Vontobels Erzählweise, die mit einer großen Rückblende arbeitet, in der Siegfried und Kriemhilds Vorgeschichte inklusive Drachentötung und Mord entfaltet werden, keineswegs verflachend. Sehr genau erlebt man die Psychologie der Figuren, erkennt ihre Motive, ihre Schuld-, Eifersuchts- und Rachegefühle und kann verfolgen, wie diese Emotionen letztlich in grausame und tödliche Verstrickung führen.

Im Zentrum des Geschehens steht Kriemhild: Jana Schulz legt diese Figur als ein burschikos-naives Mädchen an, das erleben muss, wie ihre reine, große Liebe zu Siegfried durch Gier und Machtkalkül ihrer Brüder und Hagen funktionalisiert und letztlich zerstört wird. Kriemhilds Rache folgt aus gebrochenem Herzen und der Erfahrung, dass ihre engste Familie sie verraten hat. Darum ist sie umso grausamer und gibt sich erst zufrieden, nachdem sie alle in den Tod getrieben hat.

Diese Charakterentwicklung nimmt man der großartigen Schauspielerin jede Sekunde ab, ebenso wie man ihre sinnliche Bühnenpräsenz nur bewundern kann. Die lange Szene, in der sich Kriemhild die Asche Siegfrieds mit Schwamm und Waschkrug vom Körper reibt markiert sinnfällig die Zäsur. Hier wird aus der Trauernden die eiskalte Rächerin, die im Diven-Outfit ihre Erotik gezielt dazu einsetzt, den zweiten Ehemann Etzel (Matthias Redlhammer) ins Mordkomplott einzuspannen.

Doch auch die Handlungsmotive der übrigen Figuren sind klug herausgearbeitet: Hagen (Werner Wölbern) ist mitnichten nur der Bösewicht, der Siegfried aus Mordlust tötet. Als treuer Gefolgsmann und Berater König Gunthers geht es ihm um Machtpolitik: Er will das Haus Burgund in die Zukunft führen und scheut dabei vor keiner List zurück. Siegfried dagegen ist Mitwisser und Störenfried für ihn, denn er setzt Gerechtigkeit über Treue. In Hagens Welt muss er dafür sterben.

Nun der Held selbst, im Drachenlederanzug: Fast blass und verkopft kommt dieser Siegfried (Felix Rech) daher. Seine Macht von Zauberschwert und Tarnkappe ist ihm eher unheimlich, er wollte lieber für sich und Kriemhild ein kleines Glück, statt ein großer Held zu sein. Doch das Heldentum legt ihm Pflichten auf, die er scheut und das wird ihm zum Verhängnis. König Gunther (Florian Lange) dagegen will mehr, als seine Fähigkeiten erlauben: Er ist scharf auf Brunhild (Minna Wündrich), aber sie ist eindeutig eine Nummer zu groß für ihn, das bringt dieser Ehe nur Verdruss. Richtig komisch sind die Szenen, in denen das Vollweib Brunhild den armen Pantoffelhelden mit Verlaub „zusammenscheißt“ – ach hätte er doch ein nettes Mädchen von nebenan geheiratet anstatt dieser kraftstrotzenden Walküre, deren Wildheit niemand bändigen kann, weil sie aus eisigeren Gefilden stammt und das ganze Rheinland ihr einfach zu lieblich ist.

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Foto: Arno Declair/Schauspielhaus Bochum

Die politisch heikle Rezeptionsgeschichte des Nibelungenstoffes hat Vontobel sehr dezent integriert: In Ausstattung und Kostüm sind Anklänge an die Mode und Frisuren der vierziger Jahre zu finden, ohne allzu sehr die abgegriffene 3.-Reich-Symbolik zu bemühen. (Kostüme: Tina Kloempken). Auch die Idee, den berüchtigten Hunnenkönig Etzel als kultivierten Klavierspieler im weißen Anzug zu zeigen, hat Charme. So ist nicht von vorneherein klar, wer eigentlich hier die Barbaren sind und die Deutung gerät offener.

Selbst mit der Gewalt im Stück findet Vontobel einen klugen Umgang: Sicher, es fließt Blut, aber die schlimmsten Szenen lässt er hinter dem geschlossenen eisernen Vorhang spielen. So entstehen die Bilder des Schreckens durch bloße Geräuschkulisse im Kopf des Zuschauers – was sie umso eindringlicher macht (Bühne: Claudia Rohner).

Zeit nehmen, unbedingt hingehen: Wenn draußen vor dem Schauspielhaus Bochum ein Lagerfeuer brennt, gibt’s drinnen die Nibelungen zu sehen.

Weitere Infos und Karten:
http://www.schauspielhausbochum.de/spielplan/die-nibelungen/




Hose runter, Dax rauf: Der Geist protestantischer Erotik im Bochumer Schauspiel

Ach, was war das früher für eine wunderschöne Zeit: Statt mit Pornos im Internet ließen sich vor 100 Jahren die Männer noch durch eine leicht verrutschte Damenunterhose entflammen. Und zwar eine, die mit einem züchtigen Schleifchen und einer Rüsche am Fußknöchel endet und unter einem bodenlangen Rock getragen wird. Zumindest behauptet das Carl Sternheim in seinem Einakter „Die Hose“, der jetzt gemeinsam mit „Der Snob“ und „2013“ als „Trilogie aus dem bürgerlichen Heldenleben“ Premiere am Bochumer Schauspielhaus feierte.

Aus dem bürgerlichen Heldenleben. Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Aus dem bürgerlichen Heldenleben. Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Doch kann man diesen Text auch heute noch so erzählen?, fragte sich der Dramatiker Reto Finger und bearbeitete ihn lieber neu: Das wird vor allem im dritten Teil deutlich, der ursprünglich „1913“ hieß und nun in einem Dax-Konzern spielt, der „too big to fail“ werden will. Dazu muss der Patriarch ausgebootet werden, der die Firma erst groß machte, und das geschieht in König-Lear-hafter Manier, indem seine drei Töchter ihm das Aktienpaket abnehmen. Wer jetzt den Zusammenhang zwischen der rutschenden Hose und spätkapitalistischen Börsenspekulationen nicht begreift, sollte unbedingt weiterlesen. Denn der Geist des Kapitalismus liegt nicht in der protestantischen Ethik, sondern vielmehr in der protestantischen Erotik begründet. Ach, ja: Die Hauptrolle spielt Dietmar Bär, dem Fernsehpublikum bekannt aus dem Kölner Tatort.

Die Rolle des spießigen Beamten Theobald Maske verkörpert Bär mit Spielwitz und Ironie. Überhaupt ist die ganze Geschichte um die heruntergerutschte Hose seiner Frau Luise (Xenia Snagowski) einfach nur komisch: In einem altmodischen Sinne, der einen gewissen Retro-Charme entfaltet und Sommerleichtigkeit atmet. Denn Theobald vergisst seinen Ärger über seine liederliche Gattin schnell, als sie ihm durch ihr Missgeschick zwei verliebte Mieter ins Haus lockt, die seine finanzielle Lage gehörig aufbessern. Derweilen vergnügt er sich mit der Nachbarin (Katharina Linder) und offenbart, dass Moral ihm nur etwas gilt, wenn sie sich bezahlt macht. Auf jeden Fall kann er sich jetzt ein Kind leisten.

Nach demselben Prinzip verfährt sein Sohn in dem zweiten Stück „Der Snob“: Die Bühne wandelt sich von Etagenwohnung mit Perserteppich in ein mondänes Büro eines Firmenchefs und ehrgeizigen Aufsteigers (Felix Rech), dessen oberstes Ziel es ist, in bessere Kreise einzuheiraten. Dafür verleugnet er seine Familie und bietet dem Vater Geld, dass er aus seinem Leben verschwinde. Theobald nimmt’s nicht krumm, hat er diese merkantile Denkungsart seinem Sohn ja vorgelebt. Ihre persönlichen Entscheidungen folgen so einem ökonomischen Kalkül als Grundprinzip einer Gesellschaft, in der Klassenschranken fallen, weil nun der Mammon regiert.

Doch auch Christian als alter Mann und Aktien-Tycoon wird die Geister, die er rief, nicht mehr los und geht in „2013“ seinen machtgierigen Töchtern in die Falle, die sich wie die Heuschrecken von heute gebärden und auch noch stolz darauf sind. Barfuß geistert Bär alias Theobald als Wiedergänger des längst verstorbenen Vaters durch die Szene, die auf der Aktionärsversammlung des Maske-Konzerns spielt. Seine Mahnungen sind selbstverständlich in den Wind gesprochen, denn sein Sohn erntet nur, was er selbst gesät.

Einen seltsamen Zwitter zwischen Boulevard und kapitalismuskritischer Analyse hat Bochums Intendant Anselm Weber da inszeniert: Das Ergebnis ist allerdings witzig und zeigt starken Tobak von anno dunnemals in einer Ästhetik von heute. Leicht und böse zugleich – und kein bisschen langweilig.

http://www.schauspielhausbochum.de/spielplan/aus-dem-buergerlichen-heldenleben/162/




Zeitgeist auf der Bühne: „Kinder der Revolution“ in Bochum

logoSie hätten ganz einfach Büchner wählen können. Dantons Tod – auch ein Revolutionsdrama. Aber die Studierenden der Folkwang Universität der Künste wollten für ihren Abend an den Bochumer Kammerspielen selbst ein Stück Revolution schreiben.

Gemeinsam mit dem vielfach ausgezeichneten Regisseur Nuran David Calis suchten sie einen eigenen Zugang dazu, was in der Welt passiert, fanden Kontakt zu jungen Menschen aus neun Ländern und versuchten, ihnen via E-Mail, Skype oder persönliche Treffen nahe genug zu kommen, um sie auf der Bühne zu verkörpern.

Die „Geschichten der Menschen ohne die Medien“ wollten sie, rufen sie im Chor, und kündigen an: „Was jetzt kommt, sind keine Nachrichten, keine Ideologien, keine Theorien.“ Sondern? Ja, was ist „Kinder der Revolution“ geworden? Ein aufwändiges, spannendes Theater-Experiment, das auch von der Schwierigkeit handelt, ein Theater-Experiment auf die Bühne zu bringen.

Denn es ist ein sehr schmaler Grat zwischen einem Theaterexperiment mit authentischem Material und sozialkritischem Betroffenheitstheater. Regisseur Calis hat genau damit Erfahrung, man denke an seine  „Homestories – Geschichten aus der Heimat“ mit Jugendlichen aus Essen-Katernberg am Schauspiel Essen.  Die Schauspielschüler in Bochum versuchen die Balance zu meistern, indem sie immer wieder Brüche einbauen. Niemandem wird gestattet, zu tief in das Schicksal seiner Figur einzutauchen – die Kollegen holen einander dann spielerisch, ironisch oder auch unter Einsatz einer Wasserdusche in die Theater-Gegenwart zurück. Wie sehr lässt man sich auf „seine“ Figur ein, wie nahe soll man ihr kommen – das sind für Schauspieler existenzielle Fragen, auf die die jungen Akteure in diesem Stück ebenfalls Antworten suchen.

Phillip Henry Brehl etwa erzählt von Mohamed genannt „Bibi“, dem Tunesier, der sich aus Perspektivlosigkeit selbst anzündete und damit die arabische Revolution entfachte. Maximilian Schmidt schrieb sich mit der New Yorker Occupy-Aktivistin Cecilie, deren persönliche Krise ähnliche Dimensionen hat wie die Banken-Krise. Sandra Schreiber bringt uns Julia aus Spanien nahe, die durch die al-Qaida-Anschläge in Madrid politisiert wurde, und Mirja Fajfer spielt einen jungen Palästinenser, der noch nie etwas anderes als den Gaza-Streifen sah. Auf der Bühne aus grauen Kuben verwandeln sich die Akteure nie vollständig in ihre „Kontakte“, sie deuten an, wechseln zwischen Erzählen und Spielen.

Es gibt aber auch Geschichten des Scheiterns am selbst gesetzten Anspruch: Raphael Dwinger fand keinen Draht nach Russland, und Leander Gerdes suchte in London-Tottenham erwartbar ergebnislos nach Beteiligten an den Riots. Doch auch diese Geschichten sind spannend erzählt und bildstark inszeniert.

Insgesamt hatte der Abend etwas zu viele Ausrufezeichen, zu viele in die Luft gereckte Arme und Fäuste, letztlich auch zu viele Worte. Der Erkenntnisgewinn bleibt mager, viele bunte Puzzle-Teilchen ergeben zwar Motive, aber noch kein Bild. So ist das vermutlich, wenn man echte Menschen und Krisen auf der Bühne behandelt. Trotzdem: Ein gelungener Ansatz und ein sehenswertes Experiment.

Nähere Informationen: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/11470298

_________________________________________________________

(Der Text erschien zuerst im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




Zweite Chance: „Liliom“ im Bochumer Schauspielhaus

Eine Katze hat sieben Leben, James Bond wird unzählige Male erschossen und steht wieder auf und auch Liliom bekommt eine zweite Chance: Nach 16 Jahren Fegefeuer darf der Titelheld des gleichnamigen Stückes von Franz Molnár nochmal auf die Erde zurück, um sein verpfuschtes Leben gerade zu biegen. Zu den Klängen von „Skyfall“ steigt er auf die Bühne des Bochumer Schauspielhauses herab – und scheitert zum zweiten Mal.

LILIOMFoto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

LILIOM
Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Was zuvor geschah: Techno wummert, der Autoscooter kreist, Liliom (Florian Lange) macht einen auf dicke Hose. Er ist der „junge Mann zum Mitreisen“ im „Ringelspiel“, eine halbseidene Figur wie die anderen zwielichtigen Typen, die auf der Kirmes mit ihren Kunststückchen angeben. Zu diesem Zweck hat die Regisseurin Christina Paulhofer Artisten von Urbanatix engagiert, einem Kulturhauptstadtprojekt, das mit Street Art Shows das Publikum begeisterte. So mischen drei Tänzer und eine Tänzerin die Rummelplatz-Szene mit Flickflacks, halsbrecherischen Autoscooter-Stunts und fingierten Prügel-Szenen auf.

So ganz rund läuft die Choreografie bei der Premiere noch nicht, denn das Timing zwischen Showeinlagen und Stückhandlung muss extrem exakt sein, damit die Szenen nicht aus dem Rhythmus kommen. Aber das kann sich in den nächsten Vorstellungen ja noch zurechtruckeln. Für besonders gelungene Stunts bekommen die Urbanatixe Szenenapplaus, auf jeden Fall sorgt ihr Engagement für eine aktuelle Ästhetik des 1909 uraufgeführten Stückes.

Eigentlich handelt es sich um eine Liebesgeschichte im Armeleutemilieu mit düsterem Ausgang: Liliom, Schläger, Angeber und ein vagabundierendes Temperament, kann dem Mädchen Julie nicht gerecht werden. Weil sie die besseren Argumente hat, prügelt er sie. Einen Hausstand zu gründen, einer geregelten Arbeit nachzugehen, dazu ist er nicht geschaffen. Er bricht immer wieder aus der engen Wohnung aus. Als Julie schwanger wird, sind Freude und Stolz zunächst groß. Doch der Zuschauer ahnt: Das wird ein böses Ende nehmen. Geldmangel lässt ihn ein idiotisches Verbrechen begehen, aus Angst vor dem Gefängnis richtet er sich selbst.

Christina Paulhofer hat aber nicht nur die Charakterstudie des gescheiterten Angebers, sondern auch das Phänomen des weiblichen Masochismus im Blick: Warum lässt sich Julie prügeln? Und warum genießt sie es auch noch? Kristina Peters spielt die Julie als freche Göre in ihrem kurzen Röckchen, für die diese Liebe ein unreifer Mädchentraum ist. Da lässt sie sich lieber schlagen, als diese Illusion aufzugeben – mehr schrill und verstört denn verzweifelt. Ähnlich „Ringelspiel“-Besitzerin Frau Muskat (Julika Jenkins), die Liliom fürs Geschäft braucht – und sich dafür buchstäblich abwatschen lässt, eine gestandene Frau, plötzlich bedürftig nach Zuneigung des Jüngeren.

Doch dass die Weiber ihm verfallen sind, bringt Liliom keineswegs Glück. Bei seiner Wiederkunft auf der Erde begegnet er seiner Tochter (Mascha Schneider) zum ersten Mal und schlägt auch sie. Ihr hat’s ebenfalls nicht weh getan. Na, toll. Hier wird die Angelegenheit ein bisschen gestrig. Statt Liliom als Identifikationsfigur aufzubauen, hätte die Regie ihn lieber zum Teufel schicken sollen. Geschieht ihm doch recht, dem Idioten, soll er in der Hölle schmoren. Und Mädels: Weint ihm keine Träne nach!

Infos/Termine: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/10789286




Klassenkampf light: Schauspielhaus Bochum zeigt Brechts „Im Dickicht der Städte“

Am Schönsten ist das Bühnenbild: Aus tausenden bunten LED-Leuchten zusammengesetzt, glitzert auf schwarzem Bühnenhintergrund das nächtliche Chicago. Auch in seiner Zerstörung funkelt es noch verführerisch, wenn sich die die kleinen Lämpchen schon längst über den Bühnenboden verteilt haben. Am zweitschönsten ist die Musik: Nadja Robiné im Amy Winehouse-Outfit bereichert die Szenerie mit coolen Songs und jazzig angehauchten Rhythmen, arrangiert hat das Daniel Murena für das Schauspielhaus Bochum.

Ansonsten führt Roger Vontobels Inszenierung von Bertolts Brechts „Im Dickicht der Städte“ vor, was aus dem guten alten Klassenkampf geworden wäre, gäbe es ihn heute noch. Statt in einer Leihbücherei würde George Garga (Florian Lange) in einer Videothek arbeiten, was der Zuschauer dann auch großformatig im Video zu sehen bekommt. Die armen Leute, in diesem Falle seine Eltern, säßen unförmig verfettet und chipsfressend auf dem Sofa und glotzten Unterschichtsfernsehen. Seine Schwester Marie ginge lieber mit dem trashigen Brutalo-Rapper, Typ nervöser Irak-Veteran, als sich mit einem „Schlitzauge“ einzulassen.

Foto: Arno Declair

Foto: Arno Declair

Obwohl das „Schlitzauge“ namens Shlink schweinereich und folglich von einer Gang halbseidener Mafia-Typen umgeben wäre. Aus reiner Willkür und um des Kampfes willen, hat der Holzhändler die Absicht, den armen George Garga in den Abgrund zu stoßen und ihm seine Überzeugungen gleich mit abzukaufen.

Doch warum Holzhandel? Hier hätte Vontobel in seinem Brecht 2.0 eigentlich so einen Internetfritzen mit Allmachtsfantasien entwerfen müssen – wie beispielsweise WikiLeaks-Gründer Julian Assange oder so. Aber bei genauem Hinsehen: Ähnelt Matthias Redlhammer mit seinem silbergrauen Haar und seinem schwarzen Anzug dem nicht sogar ein bisschen?

Im Grunde also hat der Relaunch von Brechts Frühwerk (Uraufführung 1923) ganz gut geklappt. Die Frage ist nun, warum die Inszenierung trotzdem nicht so recht zündet. Ist uns der Klassenkampf einfach zu fern? Kapieren wir nicht mehr seine existenzielle Schärfe, weil unser Unglück (teilweise) sozial abgefedert wird? Ist die Vereinzelung schuld, das Phlegma, sich zusammenzutun und zu engagieren? Oder das resignierte Gefühl, gegen einen übermächtigen Gegner, der einfach mal so die WR-Redaktionsstelle oder den Opel-Arbeitsplatz abschafft, sowieso nichts ausrichten zu können?

Dabei sagt doch Shlink: „Wenn ihr ein Schiff vollstopft mit Menschenleibern, dass es birst, wird eine solche Einsamkeit in ihm sein, dass sie alle gefrieren. Ja, so groß ist die Vereinzelung, dass es nicht einmal einen Kampf gibt.“

Vielleicht haben wir unseren Brecht ja inzwischen eingeholt oder er uns: Die Krieger sind müde, Kämpfe finden nur noch als Scheininszenierungen in der Glotze und im Videospiel statt. Und natürlich in Weltgegenden, die uns nichts angehen. Und zwei Kämpfern zuzusehen, die selbst gar keine Lust haben zu gewinnen, ist naturgemäß öde. Ach, zapp das mal weg und gib lieber die Chipstüte rüber. Ich trink noch einen Bubble Tea.

Informationen: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/11204749




Nichts als Gespenster: „Out of body“ tanzt in Bochum

„Ohne Wahnsinn kein Verstand“: Die Gummizelle hat eine Panoramascheibe, durch die das Publikum die entfesselten Tänzer beobachten kann. In wildem Furor werfen sie sich gegen die Wände, übereinander, auf den Fußboden. Sie sind völlig außer sich, als versuchten sie, mit den Grenzen ihres Körpers auch die der Vernunft zu überschreiten und sich in eine neue Dimension zu katapultieren. „Out of body“ heißt der im Schauspielhaus Bochum uraufgeführte Abend der Herner Tanzgruppe Renegade, die damit ihre dritte Koproduktion mit dem Bochumer Schauspiel zeigt.

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer aus uns allen“ – auch das ein Satz, der während der mehrsprachigen Aufführung als Übertitel eingeblendet wird. Zugleich ein Motto, denn der blassgeschminkte Conférencier kündigt im Halbdunkel ein schauriges Zombietheater an.

Da gibt es den Wissenschaftler, der sich der „Gefühlologie“ verschrieben hat und deswegen mit einem Dutzend leerer Plastikflaschen jongliert. Diese Leere fühlt er auch in sich. Seine Tochter musste darunter leiden: Den Kopf in eine Plastiktüte gewickelt, erzählt sie kurz vor dem Ersticken über die Schrecknisse ihrer Kindheit. Wie die Schmetterlingssammlung ihres Vaters ihr Angst machte; wie die Insekten sie in ihren Bann zogen, auf ihr herumkrochen, sie schließlich angriffen.

Doch der Spuk hat Methode: Atmosphärisch lehnt sich Julio César Iglesias Ungos Choreografie an Horrorvideos an, in denen es von Zombies, Untoten oder Vampiren wimmelt. So stoßen die Tänzer in einen Bereich vor, der jenseits des Materiellen liegt. Was passiert, wenn die Seele den Körper verlässt? „Am Ende aller Straßen wartet der Tod“, lautet der beruhigende Begleittext auf dem Spruchband.

Mit den Mitteln des Tanzes die Überschreitung des Körperlichen zu erreichen und in das Reich der Gespenster vorzustoßen: Keine leichte Aufgabe, die der kubanische Choreograph, der u.a. für Wim Vandekeybus und Samir Akika getanzt hat, sich da vorgenommen hat. Die Tänzer erfüllen sie mit Humor, großer Gelenkigkeit und einem Schuss Akrobatik. Allen voran der Junge mit den Dreadlocks, der in einem unfassbaren Slapstick einen Besuch in der Spielhölle vortanzt. Dabei scheint er eher dem Comicheft als dem Ballettsaal entsprungen zu sein. So kommt dieses Tanztheater ziemlich unverbraucht und überraschend daher; es zelebriert den Geist der Subkultur und zieht daraus seine Energie. Die Kooperation mit der freien Szene funktioniert als eine Art Bluttransfusion fürs Stadttheater, mit der auch jugendliche Publikumsschichten angesprochen werden.

Nach einer Stunde und 15 Minuten ist der Spuk vorbei. Die Zombies sinken zurück in ihre Gräber. Wann sie wieder tanzen, erfahren alle Untoten und andere Nachtschattengewächse unter:

www.schauspielhausbochum.de




Traumhaus, später: Lutz Hübners „Richtfest“ am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt

Szene mit Henrik Schubert (Mick), Roland Riebeling (Frank) (Bild: Thomas Aurin, Schauspielhaus Bochum)

Szene mit Henrik Schubert (Mick), Roland Riebeling (Frank) (Bild: Thomas Aurin, Schauspielhaus Bochum)

Wohnst du noch oder lebst du schon zusammen? Die Baugemeinschaft als soziales Experiment eignet sich perfekt als Stoff für die Bühne.

Von sozialbewegt über großbürgerlich bis yuppiehaft reichen die unterschiedlichen Lebensstile der sechs Parteien, die sich unter dem Dach ihres neuen Traumhauses harmonisch vereinen wollen. Das Desaster ist selbstredend programmiert, denn zum „Richtfest“, so der Titel des neuesten Stückes von Lutz Hübner, kommt es nicht. Vorher haben sich die Mitglieder der Eigentümergemeinschaft unter der Regie von Anselm Weber am Schauspielhaus Bochum längst heillos zerstritten.

Dabei hätte alles so schön sein können: Der aufstrebende Architekt Philipp (Felix Rech) hat sein Traumhaus geplant, das Professorenpaar (Anke Zillich und Bernd Rademacher) strebt nach kultivierter Gemeinschaft mit Gleichgesinnten wie den sympathischen homosexuellen Musikern Frank (Roland Riebeling) und Mick (Henrik Schubert). Schon nicht so ganz ins Bild passen Birgit (Katharina Linder) und Holger (Michael Schütz), sie Leiterin einer Jugendhilfe, er spießiger Finanzbeamter, dem es zu Hause zu langweilig ist und der jetzt eine Spur zu aufdringlich Anschluss an neue Kreise sucht. Gestraft sind beide mit einer pubertierenden Tochter (Zenzi Huber), die sich gleich beim ersten Treffen an den Architekten ranschmeißt und mit schlechtem Geschmack: Statt großzügige Glasfassaden zu goutieren, wollen sie sich vor den Blicken der Welt lieber hinter Klinkern einkuscheln.

Den ersten handfesten Streit aber lösen die Kleinkindmutter Mila (Kristina-Maria Peters) und der junge Assistenzarzt Christian (Marco Massafra) aus. Ihre Finanzierung mit höchst geringer Eigenbeteiligung von 12 % steht ohnehin auf wackligen Beinen, da stellt das Paar fest, dass wieder Nachwuchs unterwegs ist. Und haut die übrigen Mitbewohner um Geld an. So lodern in der Baugemeinschaft die gesellschaftlichen Konflikte wie unter einem Brennglas auf: Familien mit Kindern werfen arrivierten Gutverdienern Egoismus vor, freiheitsliebende Kreative wollen sich ihren ästhetisch perfekten Lebenstraum nicht durch Hüpfburgen im Hinterhof verschandeln lassen. Die lebenslustige Rentnerin will nicht als günstige Betreuungsomi missbraucht werden. Sie hat ein ganz anderes Problem: Charlotte (Henriette Thimig) ist Messie und keiner soll es merken, doch das schwule Pärchen ist ihr schon längst auf den Trichter gekommen. Die Lage spitzt sich zu, als die alte Dame einen Schlaganfall erleidet und die Gemeinschaft mit einem Pflegefall konfrontiert ist. Jetzt erweist sich, dass ein Zusammenleben, das über die bloße Zweckgemeinschaft hinausgeht, bedeutend mehr Solidarität erfordert als anfangs vermutet. Will ich wirklich für alte Menschen oder die Kinder anderer Leute die Verantwortung übernehmen?

Kommt die Anfangsszene noch etwas hölzern über die Rampe, gewinnt die Aufführung mit zunehmender Konfliktschärfe deutlich an Tempo. Hinter den Rollen treten Charaktere hervor. Am überzeugendsten agiert Henriette Thimig als ehemalige Kneipenwirtin Charlotte, die sich von der netten Omi von nebenan erst in einen abgründigen Messie und dann in eine hilflosen Pflegfall verwandelt.

Doch warum ist diese Uraufführung so betont karg ausgestattet? Sicher, das Traumhaus ist vorläufig nur eine Vision, realisiert wird es nie. Hübners Stück ist als satirische Milieustudie konzipiert, aber die leere Bühne und einige auf eine weißgraue Plane gekritzelte Grundrisse bieten dem Zuschauer wenig Anknüpfungspunkte.

Etwas abstrus gerät auch die Schlussszene: Vom Text behauptet wird eine Gartenparty auf der Terrasse. Dass sich alle im letzten großen Streit mit dem Gartenschlauch nassspritzen, mag noch angehen. Auch, dass sie die Bauplanen herunterreißen und sich vor einsetzendem Regen schützen. Doch warum fängt es zu allem Überfluss an zu schneien? Dann pustet auch noch die Nebelmaschine Rauchschwaden auf die Bühne. Das ist wohl philosophisch gemeint: Ohne Haus ist der Mensch eben allen Elementen hilflos ausgesetzt. Und da er sich mit seinem Nachbarn nicht vertragen will, kann er sich auch kein neues Haus mehr bauen. Er ist allein und wird es lange bleiben…

Infos: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/10789227




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Als Wolfgang Welt die Treibsätze seiner Texte zündete

So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.




Schauspielhaus Bochum: Folkwang-Schüler präsentieren sich im „Spiel des Lebens“

 

Theaterrezension in exakt 150 Wörtern, Teil III:

„Spiel des Lebens“, Schauspielhaus Bochum, von Schauspielschülern der Folkwang-Universität der Künste

Text: Lutz Hübner, Uraufführung: 16.3.2012

 

Jeder hat 9 Minuten. Für Zauberei, Rampentricks oder den großen dramatischen Monolog. Für Tragik, Komik, tragische Komik. Und die Frage: Was – verdammt noch mal – wollen die Zuschauer eigentlich im Theater sehen?

Die Abschlussklasse der Folkwang-Universität spielt 2012 keinen Klassiker im Bochumer Schauspielhaus. Sie hat sich vom Star-Dramaturgen Lutz Hübner etwas auf die Leiber schreiben lassen.

 

Über der Bühne tickt die Uhr. Von „1:30:00“ bis zum Nullpunkt. Die Schauspielschüler spielen Schauspielschüler. Sind nervös, neidisch, notorisch übersehen oder auf der Suche nach sich selbst.

Wer sind sie heute? Wer in 20, 30 Jahren? Wer macht den Anfang, wenn das Kollektiv stockt und haspelt?

 

Und dann doch Antworten: Alles, was Theater ausmacht, auf vier Szenen reduziert. Coming of age. Boy meets girl. Who dunnit? Achievement.

Jeder präsentiert sich. Genial.

BÜHNENBILD Showtreppe. Nachbildung der Schauspielhaus-Kantine. Weniger = mehr.

SCHAUSPIELER Zehn. Zwischen herausragend und hinterdenohrennochetwasgrün.

KOSTÜME Charakterisieren die Typen. Karikieren die Klassiker.

TEXT Entlarvend. Humorvoll.

 

weitere Termine




„Heimat ist auch keine Lösung“ – das Schauspielhaus Bochum hat Recht

Karte Schauspielhaus BO Heimat

Theater-Rezension in exakt 150 Wörtern, Teil II:

Schauspielhaus Bochum „Heimat ist auch keine Lösung“, musikalischer Abend, Premiere 21.1.2012

Nebel wabert. Zieht ins Publikum. Fließt um die Schultern und in die Lungen.

Auf der Bühne: ein Vollmond. Ein Mann, der vom Leierkastenmann singt.

Ein Hafen ist das also. Ein Ort des Aufbruchs. Des Verlassens. Der Hoffnung. Der Wehmut. Des Fernwehs. Ein Ort, an dem die alten Lieder von daheim plötzlich wichtig werden.

„Heimat ist auch keine Lösung“, so hat Thomas Anzenhofer den musikalischen Abend genannt. Recht hat er. Die erste Szene zeigt schon, wohin der Abend führt.

In aller Herren Länder. In alle Gefühle. In schwermütigen kubanischen Jazz, in afrikanische Trommelfreude, in dröhnenden New Wave. Zu Nietzsche, Udo Jürgens, Ton Steine Scherben. Zu Idylle, Fremdsein und Schnaps.

Italienische Mandolinen-Sehnsucht trifft auf jiddische Fiddel-Wut, türkisches Wehklagen auf Hans Albers. Und in „Sweet Home Alabama“ wird gejodelt.

karte schauspiel bo heimat rückseite

SOUND Wispernd. Dröhnend. Verständlich. Je nachdem.

BÜHNENBILD Roh. Video-Leinwand, Bühne, Theke.

VIDEO Live. Abwechslungsreich.

KOSTÜME Tramp-inspiriert. Neuzeit-Stereotypen.

SCHAUSPIELER Alle drei grandios.

HUMOR Aber holla!




„Den Ruhrpott muss man lieben“ – Gespräch mit der Schauspielerin Tana Schanzara

Von Bernd Berke und Rolf Pfeiffer

Bochum. Man kann es bei aller Diskretion nicht ganz verschweigen: Tana Schanzara, die große Dame des Theaters im Ruhrgebiet, feiert nächsten Montag ihren 80. Geburtstag. Die WR hat sie – mitten in der Probenarbeit – in ihrer Bochumer Theater-Garderobe besucht. Der kleine Raum ist gefüllt mit Maskottchen und Erinnerungsstücken an ihre lange Laufbahn. Zur Begrüßung bietet Tana uns erst mal ein Piccolo-Fläschchen Sekt an.

WR: Ihre Garderobe sieht ja aus wie eine kleine Bühne. Viele Dinge – und so schön bunt.

Tana Schanzara: Ja, ich schmeiß nie was weg. Da schenken einem die Leute nette Sachen und sagen Toi-Toi-Toi! Das muss man doch aufheben. Bei manchen Kollegen sieht’s dagegen steril aus. Wie in der Klinik.

Wie viele Rollen haben Sie wohl schon gespielt?

Tana Schanzara: Och. weiß ich gar nicht! Reichlich.

In Bochum haben Sie praktisch alle Nachkriegs-lntendanten kennen gelernt.

Tana Schanzara: Ja, außer Saladin Schmitt. Eigentlich mocht‘ ich sie alle gern, auch Matthias Hartmann. 1954 kam ich aus Gelsenkirchen als Gastschauspielerin nach Bochum – mit Jürgen von Manger. Wir fuhren mit dem Bus. Auf diesen Strecken Manger seine Tegtmeier-Geschichten erfunden. Was haben wir gelacht!

Wie hat alles begonnen?

Tana Schanzara: Meine Eltern waren am Theater, beide als Sänger. Als ich in Kiel geboren wurde, gab meine Mutter ihren Beruf auf. Eine schwere Hypothek für mich. Übrigens war ich eine ziemlich schwere Geburt. Meine Mutter hat drei Tage lang geschrien wie am Spieß. Ich hab‘ selbst nie ein Kind haben wollen.

Sie gelten als die Ruhrgebiets-Figur schlechthin.

Tana Schanzara: Ja, weil ich so lange hier bin. Claus Peymanns Chefdramaturg Uwe Jens Jensen hat oft mit mir geblödelt. Irgendwann hat er gesagt: Du musst ein Solostück haben. Die Songtexte, so richtige Ruhrsongs, hab‘ ich mir selbst geschrieben und bin damit auch getingelt. Das brachte schön Geld. Jensen hat dann kleine Stücke drumherum verfasst. Die Sachen liefen dann wie Bolle. Und die Kritiken: Überragend wär‘ ich gewesen! So ‚was liest man doch gern. Dann kamen noch Film und Fernsehen.

Sie stehen fürs Revier, obwohl Sie in Kiel geboren sind.

Tana Schanzara: Als ich drei Jahre alt war, zogen meine Eltern von Kiel nach Dortmund, in die Leipziger Straße. Da bin ich aufgewachsen und habe auch früh Ballett-Unterricht genommen. Also bin ich eigentlich „von hier“.

Haben Sie eigentlich immer noch Lampenfieber?

Tana Schanzara: Aaach! Natürlich. Wer sagt, er hat keins, der lügt.

Was ist denn das Spezielle am Ruhrgebiet?

Tana Schanzara: Naja, ich habe mal so ein Lied gemacht (singt): „Wenn der ganze Ruhrpott eine Stadt war, wär’n wir wie New York so groß…Mit unsren schönenEcken müssen wir uns nicht verstecken.“ So isset doch!

Dann finden Sie es sicher auch gut, dass sich Essen und das Ruhrgebiet als Kulturhauptstadt Europas beworben haben.

Tana Schanzara: Ja, das würde mich sehr freuen. Und wenn schon, dann muss der ganze Ruhrpott Kulturhauptstadt werden. Essen alleine bringt es nich‘. Die sollen es werden und den Titel annehmen – aber bitte für uns alle.

Was halten Sie von jüngeren Comedy-Leuten im Revier?

Tana Schanzara: Wennse von hier sind, könnses machen. Aber manche sprechen die Sprache gar nicht richtig. Das ist dann schlecht. Auch ein Herbert Knebel hat letztlich von Manger gelernt. Der Manger war ja aus Hagen, der hat alles erfunden, und er hat die Sprache der Gegend einfach geliebt. Übrigens will mir Hape Kerkeling – er is‘ ja aus Recklinghausen – bald einen neuen Liederabend schreiben, er hat’s versprochen. Leider hat er so wenig Zeit. Aber ich könnte ja auch mal Helge Schneider fragen…

Hatten Sie eigentlich jemals einen Misserfolg?

Tana Schanzara: Ich tu immer mein Bestes, und bisher hat’s immer geklappt.

Fällt es Ihnen leicht, die Texte zu lernen?

Tana Schanzara: Da hat man ja Routine. Doch wenn man trotzdem mal einen „Hänger“ hat, ist es heute schwierig. Früher saß die Souffleuse in einem Kasten. Das Publikum hörte fast nichts, wenn sie einem zuflüsterte. Der Kasten war den Bühnenbildnern aber im Weg. Jetzt sitzt die Souffleuse irgendwo, wo sie keine Sau auf der Bühne hört. Wenn jetzt was schiefgeht, schreit sie von ganz hinten her oder aus der ersten Zuschauerreihe. Alle hören es, nur die Schauspieler nicht.

Was machen Sie an Ihrem Geburtstag?

Tana Schanzara: Ich wollte ja schon abhauen. Aber das geht wohl nicht. Ich mag die Zahl gar nicht, die ich da erreiche. Nun ja. Jetzt muss ich wohl gleich zur Probe. So geht’s eben: Hart aber grausam.

______________________________________________________

ZUR PERSON

„Perle vom Pott“ kam in Kiel zur Welt

  • Am 19.12.1925 wird Konstanze Schwanzara (Taufname) in Kiel geboren.
  • Nach dem Abitur nimmt sie Schauspielunterricht in Köln. Bevor sie 1956 als festes Ensemblemitglied nach Bochum kommt, hat sie Engagements in Bonn, Köln, Mannheim, Oldenburg und Gelsenkirchen.
  • Film und Fernsehen (kleine Auswahl): „Jede Menge Kohle“ (1981, von Adolf Winkelmann, „Willi und die Windsors“ (1996) und „Die Oma ist tot“ (1997), beide von Hape Kerkeling, „Jazzclub“ (2004, von Helge Schneider).
  • Heute hat in Bochum der neue Liederabend mit Tana Schanzara Premiere:„A Kiss is just a Kiss“.
  • „Vatta, aufstehn!“ war in den 70er Jahren Tanas größter Hit.
  • Kosenamen: „Perle vom Pott“, „Ruhrpott-Duse“.



Elmar Goerden: „Man muss die Texte ernst nehmen“ – Gespräch mit dem neuen Bochumer Theaterchef

Bochum. Mit der nächsten Spielzeit tritt er als neuer Intendant Matthias Hartmanns Nachfolge in Bochum an: Was darf das Theaterpublikum von Elmar Goerden (42) und seinem neu formierten Ensemble erwarten? Ein Gespräch mit Goerden im Bochumer Rathaus, wo sein „Vorbereitungs-Büro“ die neue Saison plant.

Elmar Goerden beim Interview (Bild: Bernd Berke/WR)

Elmar Goerden beim Interview (Bild: Bernd Berke/WR)

Sie kommen gerade aus den Proben. An welchem Stück arbeiten Sie denn?

Elmar Goerden: An Goethes „Iphigenie“. Das wird Mitte Oktober eine wesentliche Säule des Eröffnungsprogramms sein. Wir werden dann in 14 Tagen fünf oder sechs Premieren auf die Bühne bringen, drei davon gleich am ersten Wochenende. Selbstverständlich werden wir auch Gegenwartsautoren spielen – unter anderem von Botho Strauß, Peter Handke und Sarah Kane.

Welche Konturen hat das neue Ensemble? Und welche Darsteller aus Hartmanns Team gehören weiter dazu?

Goerden: Zunächst einmal: Ich halte das Ensemble für eine der größten Errungenschaften des deutschen Theaters. Ich bin ein Liebhaber des festen Ensembles, das zusammenwächst. Es kommen Schauspieler aus Wien, Berlin, München und Hamburg. Einige bleiben Bochum aber auch erhalten: Margit Carstensen, Veronika Bayer, Lena Schwarz, Jele Brückner, Maja Beckmann, Ernst Stötzner, Manfred Böll, Martin Rentzsch – und natürlich die Seele des Hauses, Tana Schanzara. Sie ist ja ein unglaubliches Geschöpf, für das man nur danken kann. Ganz selten, dass man so etwas noch findet…

Wer kommt neu hinzu?

Goerden: Stellvertretend für ein starkes Ensemble: Zum Beispiel Imogen Kogge von der Berliner Schaubühne, aus Wien die Nestroy-Preisträgerin Ulli Maier, vom Burgtheater Agnes Riegl, Henning Hartmann haben wir Peymann „abgeluchst“. Cornelia Froboess wird hier spielen, Catrin Striebeck, Michael von Au – und einige andere.

Haben Sie Angst vor den Erwartungen in Bochum? Die jetzigen Zuschauerzahlen sind ja kaum noch zu steigern.

Goerden: Das verstehe ich eher als Ansporn.

Spüren Sie eine Konkurrenz mit Bühnen in den Nachbarstädten?

Goerden: Nein. Warum auch? Es ist nicht meine Art, ängstlich nach nebenan zu schielen. Jeder macht das Theater, das er machen muss. Wir brauchen sicherlich ein eigenes Profil. Und das Bochumer Schauspiel wird ein Gesicht haben, das man erkennt. Ich gönne Nachbarn wie Dortmund und Essen jeden Erfolg. Es ist doch schön, dass es in dieser Region eine so hohe Reibungsdichte künstlerischer Impulse gibt. In München habe ich fast in einer Diaspora gearbeitet. Da gibt es Theater-Reichtum in der Stadt, aber ringsum praktisch nichts. Als gebürtiger Niederrheiner fühle ich mich überhaupt im Ruhrgebiet zuhause. Hier versteh’ ich die Leute auch besser.

Kein Problem, wenn in drei Städten dasselbe Shakespeare-Stück herauskommt?

Goerden: Stören würd’s mich nur, wenn alle drei Inszenierungen gleich wären. Übrigens braucht man ja eine bestimmte Situation im Ensemble, wenn man gewisse Stücke spielen will. Wenn Sie keinen Hamlet haben, können Sie keinen „Hamlet“ machen. Entscheidend ist: Welche Stoffe binden wir an welche Leute? Wer passt wozu? Da ist es wichtig, dass man Menschen hat, die hier bleiben wollen. Deshalb werden wir auch einige Regisseure fest ans Haus binden, zum Beispiel Tina Lanik und Jan Bosse.

Wie schätzen Sie das Publikum in Bochum ein?

Goerden: Hier gibt es eine allgemeine Gründüberzeugung, dass Theater ein Mittelpunkt der Stadt ist. Das Publikum ist ausgesprochen offen, manchmal kann es sich geradezu leidenschaftlich an eine Aufführung „verschenken“ – und es ist sehr strapazierfähig.

Sind denn Strapazen zu erwarten?

Goerden: Nun, wenn wir mit Goethes „Iphigenie“ beginnen, dann kommt das nicht von ungefähr, sondern es ist bereits eine Art „Notenschlüssel“. Ein solches Stück ist kein Steinbruch, aus dem man sich nach Gutdünken bedienen kann. Man muss die Texte ernst nehmen, man muss sich fragen: Was geht in ihnen um? Und n i c h t gleich bei auf ersten Probe sagen: Was soll das m i r? Was kommt m i r davon nahe? Dann würden die Inszenierungen sehr schmal werden, die Sprache würde verarmen. Wir wollen keine allseits bekömmlichen 60-Minuten-Versionen anbieten, keine Fernsehformate.

Also geht es im Prinzip werktreu zu?

Goerden: Die Texte müssen sich entfalten, sie brauchen ihren besonderen Hallraum. Nicht, weil wir Antiquitäten-Fans sind, sondern weil wir glauben, dass darin etwas aufgehoben ist, was uns heute fehlt: Schicksale und Gefühlskräfte von einer Größe, wie es sie so nicht mehr gibt. Man kann ein Wort wie „Ach“ von Goethe kurzerhand streichen. Man kann sich aber auch fragen, ob es nicht ein besonderer Herzenslaut ist. Es handelt sich dabei keineswegs um „Werktreue“, wie sie Bundespräsident Horst Köhler kürzlich angemahnt hat. Die Werke einfach so zu lassen, wie sie sind, das wäre nur die Abwicklung von Reclam-Heften. Ich will die Stücke vor das Licht der Zeit halten, in der wir leben. „Zeitlose“ Klassiker gibt es gar nicht.

Da darf man sich wohl auf ziemlich lange Theaterabende einrichten?

Goerden: Nicht unbedingt. Ich betrachte Theater nicht als strenges Exerzitium. Es geht mir nicht darum, den Leuten zu vermitteln: Haha, ihr lebt so in den Tag hinein, jetzt zeigen wir euch mal, wo der Hammer hängt. Demonstrative Belehrung von der Bühne herab ist langweilig.

___________________________________________

ZUR PERSON:

Elmar Goerden wurde am 29. März 1963 in Viersen/Niederrhein geboren.
Schon als Jugendlicher trampte er öfter zum Bochumer Schauspielhaus. Nach Claus Peymanns Aufführung der „Hermannsschlacht“ von Kleist stand der Berufswunsch des damals 15-Jährigen fest: Theaterregisseur! Zwischenzeitlich wäre Goerden allerdings fast Fußballprofi geworden. Das Zeug dazu hätte er wohl ebenfalls gehabt.
Goerden studierte Kunstgeschichte, Anglistik und Theaterwissenschaft in Köln, Edinburgh, Birmingham und New York. Von 1991-1994 arbeitete er als Regieassistent für die Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. Seine Lehrmeister dort waren u. a. Andrea Breth, Luc Bondy, Robert Wilson und Peter Stein.
Ab 1996 war Goerden Hausregisseur am Stuttgarter Schauspielhaus. 2001 ging er als Regisseur und Oberspielleiter zum Residenztheater in München.

(Der Beitrag stand in ähnlicher Form am 28. Mai 2005 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund. Das Gespräch führten die Kulturredakteure Bernd Berke und Arnold Hohmann).




Bruchloser Wechsel an Bochums Bühne – Matthias Hartmann übergibt an Elmar Goerden

Von Bernd Berke

Bochum. Es herrscht Harmonie in der Bochumer Theaterweit: Elmar Goerden (40), designierter Intendant des Schauspielhauses ab 2005, stellte sich gestern glücklich strahlend im Rathaus der Revierstadt vor: „Es ist eine Freude, hier zu sein.“ Am liebsten, so Goerden, würde er nun jeden Mauerstein des Theaters mit eigenen Händen berühren.

Offenbar ist er ein Mann des sinnlichen Zugangs. Und seine guten Erinnerungen an Bochum reichen weit zurück. Als Jugendlicher, so der gebürtige Viersener, sei er vom Niederrhein an die Ruhr gepilgert, um Peymanns Inszenierung der Kleistschen „Hermannsschlacht“ zu sehen. Seither habe er gewusst: „Ich will zum Theater“.

Gesegnete Verhältnisse

Sodann pries er die „gesegneten“ Verhältnisse, die er in Bochum vorfinde. Unter Matthias Hartmann, so Goerden, stehe das traditionsreiche Haus „wie eine Eins da“. Es sei verwurzelt in der Region, das Publikum ströme zahlreich herbei und sei bestens gemischt. Elmar Goerden will daher für einen behutsam akzentuierten, bruchlosen Übergang sorgen und „das Rad nicht neu erfinden“.

Exakte Dramaturgie: Kaum hatte Goerden die lobenden Sätze gesprochen eilte der jetzige Amtsinhaber Hartmann in den Saal. Die beiden sind befreundet. Also kam’s zur herzlichen Umarmung, in die dann auch Bochums Kulturdezernent Hans-Georg Küppers einbezogen wurde.

Küppers rechnet fest mit der Zustimmung des Stadtrats im Januar. Er habe vor der Entscheidung „manche schlaflose Nacht verbracht“, denn die Messlatte für den Hartmann-Nachfolger habe hoch gelegen. Mit Goerden komme ein Intendant, der selbst Regie führe und daher interne Feinstrukturen viel genauer kennen werde als ein bloßer Verwalter.

Bisher am Münchner Residenztheater

Welche Schauspieler und weiteren Regisseure er ans Bochumer Schauspiel holen wird, mochte Goerden noch nicht verraten. Er habe bereits genaue Vorstellungen, müsse aber noch Gespräche führen. Vager Richtungsweiser: Am Münchner Residenztheater, wo Goerden derzeit als Oberspielleiter (Intendant: Dieter Dorn) wirkt, hat er zuletzt mit Darstellern wie Lambert Hamel, Oliver Nägele und Rudolf Wessely gearbeitet; beispielsweise in Stücken von Shakespeare, Lessing, Handke und Schimmelpfennig.

Jedenfalls gilt Elmar Goerden als Regisseur, der eine gewisse Texttreue wahrt und Stücke nicht nach Gutdünken „zertrümmert“. Mit seinen Worten: „Der Text ist für mich ein ernst zu nehmendes Gegenüber.“ Es sei ihm daran gelegen, in jeder Saison mindestens einen großen Klassiker^zeitgemäß zu befragen.

Das Bochumer Theater, so der bodenständig wirkende Goerden, könne man nur „mit einer besonderen Passion“ leiten. Dabei wolle er das hohe Gut des Ensemble-Gedankens besonders pflegen. Erkennt den Teamgeist übrigens aus anderer Warte: Goerden war bei Borussia Mönchengladbach mal auf gutem Wege zum Profifußball. Erst eine Verletzung stoppte seine Kicker-Ambitionen.