Karsamstags-Fantasie: Abgesang auf einen von Büchern erschlagenen Leser (autofiktional)

„My Books“ by Jennerally – Lizenz: CC BY-NC-ND 2.0

Vielleicht hättest Du einfach damit nicht mehr anfangen sollen! Jahre bist du völlig zu Recht an diesem Buch vorbeigegangen, achtlos.

Aus welchem Grund nimmst Du es jetzt wider Erwarten zur Hand, wägst es ab, schlägst es aber nicht auf? Schlägst es plötzlich doch auf, schließt es sofort wieder. Öffnest es erneut, liest den Schmutztitel, den Innentitel, den Untertitel und bist enttäuscht, liest den ersten Satz und langweilst Dich.
Liest die ersten Seiten und – na klar – kennst die Geschichte bereits.

Etwas in der Art haben doch ungleich besser schon Tove Ditlevsen und Annie Ernaux geschrieben, John Burnside, Didier Eribon oder hierzulande jüngst Christian Baron. Dennoch liest Du noch etwas weiter, genießt es geradezu für ein paar Momente, einem Autor beim Scheitern zuzusehen.

Dann schaltest Du lieber den Fernseher ein. Schaltest den Fernseher wieder aus, liest das erste Viertel des Buches und ärgerst Dich darüber, dass das nicht fein säuberlich in Kapitel gegliedert ist. Sonst hättest Du vielleicht nur ein, zwei Kapitel gelesen, hättest Dir ein Small-Talk-Urteil bilden können, bevor Du das Buch achtlos weiterverschenkt haben würdest. Liest die Hälfte des Buches und weißt sowieso längst, wie es ausgeht. Liest drei Viertel des Buches, schläfst über einem zu langen Satz ein und schläfst dann später immer wieder an genau derselben Stelle ein. Liest irgendwann das Buch zu Ende und fluchst innerlich: „Hätte ich dieses Buch doch nie aufgeschlagen, hätte ich nie begonnen, dieses Buch zu lesen, hätte ich es doch nie ganz gelesen!“

Dann stellst Du das Buch in das Regal zurück. Eines Deiner Regale, die nicht mehr sicher stehen und nur noch lose in der Wand verschraubt und verdübelt sind. Ausgerechnet jetzt, da Du dieses völlig überflüssige Buch in das Regal zurückzustellen versuchst, statt es ins Altpapier zu werfen, beginnt das Regal zu schwanken, reißt die Dübel vollends aus der brüchigen Wand, und das ganze verfluchte staubige, schwere Regal mit seinen massiven Holzbrettern und Hunderten von dickleibigen Büchern stürzt auf Dich zu.

Du versuchst noch zurückzuweichen, aber Gadamers „Wahrheit und Methode“ hat Dich längst am Kopf getroffen, Blochs „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ hat Dir die Brille weggerissen, Daniil Charms Grotesken ein Stück Zahn ausgeschlagen, Montaignes blaugoldene Prachtausgabe der „Essais“ trifft Dich wie ein schwerer Stein und während Du langsam das Bewusstsein verlierst, fällt Dir ausgerechnet ein Wälzer in Großdruck aufs Gesicht und Du kannst gerade noch lesen: „Mittwegs auf unsres Lebens Reise fand / In finstren Waldes Nacht ich mich verschlagen, / weil mir die Spur vom graden Wege schwand …“.
Und Dir flackert’s durchs Hirn: Dante? Göttliche Komödie? Die Hölle? Erster Gesang …?

Monate später wird man Dich finden, fast mumifiziert in der kühlen, trockenen Wohnung, liegend wie gekreuzigt, anders aber als Gottes Sohn den Holzverstrebungen des Regals frontal zugewandt. Als hoch aufgeworfenes Leichentuch haben Hunderte von Büchern Deine Körperflüssigkeiten aufgesogen, jeder Verwesungsgeruch von der Zugluft verwirbelt.

Vor langer Zeit hattest Du so gern Bücher geöffnet, zu guter Letzt nun aber öffneten sie Dich.




Neuerscheinungen zur Leipziger Buchmesse: Scheitern ist wieder „in“

buch2014_4654_kleinerSpätestens die diesjährige Leipziger Buchmesse machte deutlich: Scheitern ist wieder ganz groß im Kommen. Seit mindestens dreißig Jahren wartet eine älter werdende Generation auf die Wiederherstellung des guten Rufs der Erfolglosigkeit, und nun, da sich der Wunsch endlich erfüllt, schwingen sich Jüngere zu den Propheten und Protagonisten des neuen Scheiterns auf.

Katrin Bauerfeind scheitert vergnüglich, wobei sie das tägliche kleine Scheitern der großen Katastrophe vorzieht. Beim neuen Flughafen Berlin Brandenburg habe man schließlich auch nicht die Rollbahn vergessen, sondern es seien 70.000 Einzelmängel, die sich zum großen Fiasko summierten.

Ariadne von Schirach gebietet im Titel ihres neuesten Buchs den zahlreichen Leserinnen und Lesern gar: „Du sollst nicht funktionieren“. Gut. Wenn sie das sagt, tun wir das in Zukunft nicht mehr und raffen all unseren Mut zusammen, um unvollkommen zu bleiben. In Deutschland scheitern wir gern auf Befehl. Zumindest fühlen wir uns wohler, wenn wir uns auf jemanden berufen können, der immerhin auf einem für philosophische Fragen reservierten Forum zum Scheitern aufruft.

Der Schweizer Lukas Bärfuss beschreibt in seinem Roman „Koala“ den nach diesem auf australischen Eukalyptusbäumen faul abhängenden Tier benannten Halbbruder des Protagonisten, der jede Arbeitsaufnahme verweigert und sich schließlich tötet. Hans-Ulrich Treichel schildert nicht ohne Selbstironie in „Frühe Störung“ eine Lebensvariante aus dem Akademikerprekariat, gepaart mit dem Versagen angesichts der Anforderungen einer sterbenden Mutter. Und der in Berlin lebende Peter Wawerzinek erzählt in „Schluckspecht“ sehr erfolgreich eine Alkoholikerbiographie (wobei zumindest die beiden letztgenannten Autoren nicht mehr zur jüngeren Generation gezählt werden dürfen).

Wollte man jedoch eine einigermaßen repräsentative Auskunft darüber wagen, in wie vielen der zigtausend Neuerscheinungen dieses Frühjahrs lustvoll und virtuos oder auch ungewollt gescheitert wird, an einer solchen Erhebung müsste man notwendigerweise scheitern.

• Katrin Bauerfeind: Mir fehlt ein Tag zwischen Sonntag und Montag. Geschichten vom schönen Scheitern. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-596-19891-7.

• Ariadne von Schirach: Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst. Tropen Verlag. Berlin 2014, ISBN 978-3608503135

• Lukas Bärfuss: Koala. Roman. Wallstein, Göttingen 2014, ISBN 978-3-8353-0653-0

• Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3518424223

• Peter Wawerzinek: Schluckspecht. Roman. Galiani Berlin, 2014, 978-3869710846