Wege zur Klassik – eigens für Kinder und Jugendliche

Wenn Kinder auf Klassik treffen, begegnen sich in aller Regel fremde Welten. Was sagen der jungen Generation schon Namen wie Goethe, Schiller, Hölderlin, Kleist oder Herder?

Einige ihrer Werke stehen zwar in den Schulen auf dem Stundenplan – meist auch erst, wenn aus den Kindern Jugendliche geworden sind – aber das heißt ja noch lange nicht, dass bei jungen Lesern auch Interesse geweckt wird.

Der Kamener Schriftsteller Heinrich Peuckmann, gelegentlich auch Gastautor der „Revierpassagen“, hat jetzt einen schmalen Band herausgebracht, der einen durchaus auffordernden Titel trägt: „Entdecke die Klassische Literatur“.

Verständliche Kernaussagen

Peuckmann beschreibt einerseits das Leben der namhaften Schriftsteller und bringt andererseits die Inhalte ihrer wichtigsten Werke auf den Punkt. Die Stärke seines Buches liegt darin, dass er die meist komplexen Zusammenhänge auf ihre Kernaussagen konzentriert und dazu noch leicht verständlich schreibt. Da zeigt er bei einem – für manche Oberstufenschüler doch recht sperrigen – Werk wie „Iphigenie auf Tauris“ die eigentliche Essenz dieses Stücks auf, und der Leser ist gleich mittendrin in der Frage, was eigentlich Humanismus bedeutet.

Ebenso anschaulich gerät die Beschreibung von Goethes „Faust“, laut Peuckmann „vielleicht das wichtigste Werk der deutschen Literatur überhaupt“. Auch hier führt er durch ein komplexes Werk, um am Ende die eigentliche Intention und die Urfrage der Menschen, was nämlich wohl die Welt zusammenzuhalten vermag, ganz klar und deutlich herauszustellen.

Biographische Skizzen

Aber keine Sorge: Peuckmann nimmt nun nicht ein klassisches Werk nach dem anderen aus dem Regal, um sie dann alle nach und nach vorzustellen. Er skizziert vielmehr auch die Biographien berühmter Dichter und Denker. Dass der Leser über Schiller und Goethe dabei deutlich mehr erfährt als über Hölderin oder Kleist, ist selbstredend. Goethe hat nun mal einer Epoche seinen Stempel aufgedrückt und führte ein umtriebiges Leben.

Daher ist es schon fast eine Pflicht, auch von Goethes Privatleben, seinen Liebschaften und seinen experimentellen Ausflügen in die Naturwissenschaften zu erzählen. Peuckmann räumt Goethes Italienreise einen hohen Stellenwert ein, zumal es dem Dichter im Süden offensichtlich gelungen ist, die ihn damals plagende innere Schreibblockade aufzubrechen.

Am Ende erinnert Peuckmann daran, dass nicht weit entfernt von Weimar, wo Goethe, Schiller und andere Größen gelebt haben, das KZ Buchenwald liegt. Dort, vor den Toren der Stadt, herrschte während der Nazi-Herrschaft eine kaum vorstellbare Barbarei – und das in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Ort, der einst als Sammelpunkt für Schriftsteller galt, die das Ideal des Humanismus zum Ausdruck brachten.

Heinrich Peuckmann: „Entdecke die Klassische Literatur“. Autumnus-Verlag, 66 Seiten, 10,90 Euro.




Der 11. September – 1944 war es ein Tag der Befreiung

Das Datum 11. September – auch amerikanisch als 9/11 abgekürzt – hat sich seit 2001 in das Weltgedächtnis eingebrannt. Die einstürzenden Türme des World-Trade-Centers in New York sind zu einem Zeichen geworden für die Verletzlichkeit der modernen Zivilisation.

Kriegsgefangene in der zerstörten Stadt Aachen. (Quelle: Bundesarchiv)

Zurzeit lese ich mit großem Gewinn „Das Ende. Kampf bis in den Untergang. NS-Deutschland 1944/45“ des britischen Historikers Ian Kershaw. Da geht es ebenfalls um Terrorismus, wenn auch um weit schlimmeren als 2001, und auch in dem Zusammenhang taucht das Datum 11. September auf. Das war nämlich der Tag im Jahre 1944, an dem „ausländische“ Soldaten, in dem Fall amerikanische, im Kampf gegen Nazi-Deutschland erstmals den Boden des Deutschen Reiches betraten. Dieses Ereignis fand in der Nähe von Aachen statt, und es war der Beginn unserer Befreiung.

Natürlich ist so eine Datumsgleichheit reiner Zufall und ohne jede Bedeutung, aber doch von anekdotischem Interesse. Es gibt auch noch drei weitere Septembertage, zu denen man einen Zusammenhang konstruieren könnte: Am 11. September 1609 entdeckte Hudson die Insel Manhattan – exakt jenen Ort, an dem 2001 die Türme brannten. Ebenfalls am 11. September, aber genau 200 Jahre vor dem Attentat, wurde Schillers Jungfrau von Orleans uraufgeführt, jene Tragödie, in der es auch um Befreiung geht. Und um Freiheit ging es auch am 11. September 1989: Da durchtrennte der ungarische Außenminister mit seinem österreichischen Kollegen den Stacheldrahtzaun zwischen ihren Grenzen, damit die Menschen aus der DDR ohne Repressalien „ausreisen“ konnten.

Der 11. September als besonders Datum, ähnlich wie in der deutschen Geschichte der 9. November. Allerdings, wer genau hinschaut, wird zu fast jedem Tag ähnliche Konnexionen darstellen können. Es bleibt eben doch fast alles Zufall, aber man kann daraus richtige Schlüsse ziehen.




Heilige in einer Gesellschaft der Eitelkeiten – Schillers „Jungfrau von Orleans“ in Essen

Von Bernd Berke

Ein paar Luftschlangen liegen noch herum, und manche Leute tragen noch Pappnasen. Doch jetzt ist erst mal Schluss mit lustig. Vorläufiges Ende der Spaßgesellschaft. Der übermächtige Feind steht vor den Toren der Stadt. Und so lange diese Bedrohung währt, müssen für eine gewisse Zeit wieder mal eherne Werte und Wunderglaube her. Dies ist die Stunde der „Johanna von Orleans“.

Volker Schmalöer inszeniert Friedrich Schillers Drama im Essener Schauspielhaus textnah und dennoch zeitgemäß. Geschickt hat er gekürzt und zugespitzt, doch nicht verfälscht. Der Regisseur hat einen seltsamen Datums-Zufall erkannt: Das Stück wurde am 11. September 1801 uraufgeführt, auf den Tag genau 200 Jahre vor den Terroranschlägen in den USA. Ist es bloße Zahlen-Mystik?

Manche Menschen glauben ja, es gebe keine Zufälle, sondern nur Fügungen. Und sieht sich jene Johanna etwa nicht als (christliche) „Gotteskriegerin“ im vermeintlich geheiligten Kampfe? Neuerdings hören wir ja, dass Selbstmordattentäter wähnen, im Jenseits von Jungfrauen empfangen zu werden…

Johanna dient nur noch als Maskottchen

„Gott und die Jungfrau!“ rufen die Höflinge des verzärtelten Franzosenkönigs Karl VII. (Maximilian Giermann) immer wieder. Das Hirtenmädchen Johanna, beseelt von „höherer-Sendung“, hat das Schlachtengeschick gewendet und Orleans vor englischer Besatzung bewahrt. Nun feiert man sie im Lorbeerkranze.

Die Festtafel für den satten und so faulen Frieden ist gedeckt. Die höfische Gesellschaft sonnt sich im gleißenden Blitzlichtgewitter. Mit hohl tönenden Phrasen und gravitätischen Posen wie fürs Geschichtsbuch spielen sie sich allesamt als Sieger auf. Johanna dient ihnen nur noch als Emblem, ja als Maskottchen. Diese Gesellschaft pfeift auf jede „Heiligkeit“. Selbst die scheinbar weihevollen Momente gleiten alsbald in süßliche Schlagerseligkeit („Ganz Paris träumt von der Liebe“) hinüber. Schon singen sie, als sei nichts geschehen.

Die Bagage, über der schon der Pleitegeier kreist, will rasch zurück zu ihren frivolen Späßen, zurück zum bodenlosen Luxus. Als wär’s ein Stück von heute. Sehr prägnant zeigt sich, wie Johanna (Strahlpunkt eines fast durchweg beachtlichen Ensembles: Sabine Osthoff) an dieser profanen, taktierenden und lavierenden Welt der kurzlebigen Zweckbündnisse zerbricht. Sie bleibt dabei eine durchaus zwiespältige Figur: Sichtbar wird ihre Größe, aber auch ihre tragische Lächerlichkeit in diesem Umfeld. Und auch sie selbst scheint ein wenig angekränkelt von Eitelkeit. Zumindest zeitweise gibt sie der Versuchung nach, sich auf den Glorienschild heben zu lassen. Da klingen manche ihrer martialischen Sätze nicht mehr inbrünstig, sondern nur noch blechern.

Der eigene Vater denunziert die Tochter als „Hexe“

Doch dann berührt es einen zutiefst, wenn Johanna dem Liebesblick von Lionel (Steffen Gangloff) erliegt, gleichsam ihre jungfräuliche Engelskraft verliert und ihr kämpferisches Aufstampfen danach zur trotzigen Groteske gerät. Ganz so, als sei mit der himmlischen Erleuchtung denn doch eine entscheidende Sinnquelle verlorenen gegangen.

Als „Hexe“ denunziert wird Johanna vom eigenen Vater (Volkert Matzen). Er kann offenbar nicht ertragen, dass sie sich der patriarchalen Verfügungsgewalt entziehen wollte. Zum Schluss legt er, anders, als im Original, selbst Hand an und schminkt ihr Gesicht weiß. Ein leiser, fast unmerklicher Tod, fernab von den Schlachtfeldern. Dann die Verklärung: Auf einem Podest fährt die sterbende Johanna aufwärts. Doch diese Erhebung ist nur ein Produkt der Mechanik. Woran sollen wir noch glauben?

Termine: 19. April, 5., 30. Mai. Karten: 0201/81 22-200




Leichtsinn im deutschen Herbst – Susanna Enk inszeniert Friedrich Schillers Drama „Die Räuber“ in Mülheim

Von Bernd Berke

Auch so kann man in Schillers „Räuber“ einsteigen; sanft, alltäglich und entspannt: Ein Hauptdarsteller bekommt auf der Bühne noch seine Nacken- und Schultermassage, er räkelt sich, lässt ein wohliges „Aahhhh!“ hören. Dann gleitet er in seine Rolle hinein, als sei’s ein Stück aus dem Improvisations-Theater. Das Spielchen kann beginnen.

Susanna Enk inszeniert den Klassiker des Aufbegehrens im Mülheinier Theater an der Ruhr ‚mit Bezügen zum „Deutschen Herbst“ der 70er Jahre, und zwar auch platt wortwörtlich: Verwelktes Laub breitet sich auf der Bühne aus, später hat man es im Kehraus zusammengefegt und säuberlich gehäuft.

Ringsum stehen Campingstühle und ein großer Kühlschrank, immer gut gefüllt mit Dosenbier. Über die ganze Breite spannt sich eine Hängebrückc für theatralische Turnübungen.

In diesem Ambiente lässt es sich anfangs achtlos herumlümmeln wie in einem Schiller-Comic. Am Ende ist’s nur noch ein Mordgelände, wo eine schrille Toncollage (Musik: Alexandra Holtsch) vom psychotischen Kreischen in den Köpfen kündet. Der Schmerz bleibt spürbar noch, auch in dieser oft bengelhaft leichtsinnigen Inszenierung.

Im Programmheft werden die Räuber zur Fahndung ausgeschrieben – wie einst die Terroristen der RAF. Tatsächlich soll man sich in jene bleierne Zeit versetzt fühlen, als politische Ansprüche in bloße Gewalt umkippten.

Der vom Bruder verleumdete und vom Vater (Holger Irrmisch) verstoßene Räuberhauptmann Karl Moor ist kein edler Rebell à la Robin Hood. Er verkörpert spiegelbildlich dieselbe (erzdeutsche?) Misere der Todessehnsucht und Selbstzerfleischung wie sein Bruder Franz („Die Kanaille“). Sie steigern sich parallel in Gesetzlosigkeit hinein, und schließlich finden diese brachialen Egozentriker Himmel und Hölle nur noch in sich selbst. Was flott zu beweisen war.

Gewiss: Franz (Benjamin Morik) ist ein keimfreier, stockstcifer Mensch, der – nun ja –  ziemlich an den CDU-Politiker Friedrich Merz erinnert. Damit wir sein Wesen begreifen, bügelt der Mann seine Unterhosen und verschweißt sie in Plastikfolie. Zudem besprüht er sie und sich selbst mit Desinfektions-Mittel. Ein Comedy-Lacherfolg beim Publikum.

Die Klamotten der Terroristen sind „todschick“

Karl (Oliver Kriesch-Matzura) hingegen lässt es lockerer angehen. Ständig schlabbert er mit Bier und pafft zahllose Zigaretten. Sein Revolten-Gehabe schließt Konsum nicht aus. Auch treten er und sein rabiates Trüppchen in einem Schmuddel-Outfit auf, als gelte es, eine topmodische „Kollektion Terror“ vorzuführen. Wahrhaftig „todschick“!

Beherzte Eingriffe in Text und Rollen: Räuber Spiegelberg, der die anderen zu immer wilderen Taten anstacheln will, wird von einer Frau (Justine Hauer) gespielt. Das soll wohl auf die RAF-Vordenkerin und spätere Antreiberin Ulrike Meinhof hindeuten. Auch gibt es Karl (sprich: Andreas Baader?) Gelegenheit zum freudlosen Beischlaf mit ihr – eine arge Klein-Mäxchen-Phantasie. Karls Liebste Amalie wird hingegen fast ausgespart Eine Vielzweck-Dienerin namens Daniela (bei Schiller ein Daniel) wird minutenweise zur Amalie erklärt. Dein Name sei Soundso…

Manchmal bewegt sich die lässige Deutung an der Grenze zur Albernheit, da wird etwa mit dem Namen „Moor“ blöder Scherz getrieben („Moor-Huhn“, „Tu-Moor“). Doch zuweilen ist es ein passables Rastelli-Spiel, das die Elemente der Vorlage verwirbelt. Ein Hauch von „Sturm und Drang“. Die Inszenierung schlingert, entgleist aber nicht. Man saust um den Text herum, hie und da Halt machend, anderes aus befremdeter Distanz betrachtend.

Termine: 13., 14., 29. und 30. März/Karten: 0208/599 01 88




Woran die stärksten Frauen scheitern mussten – Jürgen Bosse inszeniert Schillers „Maria Stuart“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Das soll Maria Stuart sein? Mit kahl geschorenem Haupte betritt sie die Essener Schauspielbühne. Schottlands Königin, die in Friedrich Schillers Drama als Schönheit sondergleichen gepriesen wird, sieht aus wie eine blasse Büßerin in Sack und Asche.

Doch sobald die junge Darstellerin Sabine Osthoff in Jürgen Bosses Inszenierung zu sprechen anhebt, weiß man’s besser: Nicht bußfertig, sondern so selbstgewiss und fordernd klingt ihre rasche Rede, als stehe sie auf feministischen Barrikaden. Aber derlei „Möblierung“ gibt’s in Wolf Münzners kargem, sehr spieldienlichem Bühnenbild nicht.

Mit Maria verglichen, wirkt Englands Regentin Elisabeth (höchst differenziert: Heike Trinker) geradezu sanftmütig, nachdenklich – und damenhaft elegant. Gleichsam als moderne Business-Frau hat sie auch seelische Kältezonen. Dass sie am liebsten jungfräuliche Amazone bliebe, möchte man ihr trotzdem (und trotz eines kraftvollen Bogenschusses) kaum glauben.

Aus Angst vor Volksaufruhr und königlich-weiblicher Konkurrenz hält Elisabeth jene Maria in England schmählich gefangen. Doch sie wirkt hier keineswegs harscher als ihre so mutwillige Widersacherin. Das gilt selbst für die zentrale Szene, die Begegnung der beiden Monarchinnen. Auch der feuerköpfige Mortimer (Benjamin Morik), der Maria aus dem Kerker befreien will, kommt anders daher als sonst. Zwischen all den steifen Staatsräten Englands (besonders imposant: Berthold Toetzke als Burleigh) tollt er in kurzen Hosen hemm und entfacht als wirrer Heißsporn eine Hektik, die mehr und mehr auch komische Züge trägt.

Ungemein rasch gesprochener Text

Apropos Hektik: Man hat zwar in Essen einige Rollen gegen den Strich besetzt, spielt jedoch den Text getreulich nach. Aber in welcher Eile! Hätte man sich doch nur dreieinhalb statt drei Stunden Aufführungsdauer gegönnt, so hätte man Sinn- und Denkpausen setzen können. Man sollte Schillers wunderbare Verse sorgsamer gliedern. Die Inszenierung hat also gewisse Schwachpunkte. Dennoch kommen die Qualitäten der Vorlage zur Geltung: Es ist und bleibt eben schlichtweg genial, wie Schiller die Wechselwirkungen hoher Staatspolitik, religiöser Gegensätze (Elisabeth ist anglikanisch, Maria katholisch) und erotischer Rivalitäten im Intrigenspiel verflochten hat. Das Drama von 1800 ist spannend bis auf den heutigen Tag.

Man ahnt ja auch den redlichen, durchaus tragfähigen Ansatz der Regie: Offenbar will Jürgen Bosse Möglichkeiten weiblicher Autonomie unter patriarchalischen Verhältnissen, im letztlich doch von Männern beherrschten Polit-Getriebe erkunden. Und so erscheinen Maria und Elisabeth wie zwei widerstreitende Seelen in einer vom selben Zwang beengten Brust. Man kann sich ungefähr ausmalen, wie stark die zwei Frauen gemeinsam wären. Zumindest in diesem (historischen) Kontext scheinen sie aber beide zum Scheitern verurteilt. Wenn das keine Tragödie ist…

Am Ende, nach Marias Hinrichtung, schwankt Elisabeth im golden schimmernden Kleide auf ihren Thron. Von allen Ratgebern verlassen, sitzt sie ganz einsam im langsam verlöschenden Licht. Ein wirklich einprägsames Schlussbild.

Termine: 23., 24. Sep. / 8., 14., 29. Okt. Karten: 0201/8122-200




Mit Kokain und Schäferhund in den deutschen Untergang – Ruhrfestspiele: Hansgünther Heymes Versuch mit Schillers „Räubern“

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Die Jungs von der Räuberbande balgen sich wie Kindsköpfe, sie tollen herum wie Welpen. Doch Vorsicht: Schon bald fällt das böse Wort vom „Deutschen Heldenblut“. Das ist kein Spiel mehr, das wird schrecklich. Denn Hansgünther Heyme hat für seine Ruhrfestspiel-lnszenierung Schillers „Räuber“ nach unguter Deutschtümelei abgegrast.

Besagte Bande des von seinem Vater (Hans Schulze) verstoßenen, fürchterlich-genialischen Karl Moor (Matthias Redlhammer) ist zunächst ein loser Haufen, offenbar aus allen möglichen „Szenen“ zusammengewürfelt. Ein paar Freaks, die die Umverteilung à la Robin Hood anstreben, sind dabei. Doch da ist auch schon einer, der ein T-Shirt mit deutschnationalem Aufdruck trägt.

Alsbald gebärdet sich das Trüppchen wie eine „Wehrsportgruppe Moor“, die mit einem alten, flippig bemalten Armeelastwagen unterwegs ist zum Morden und Brandschatzen. Vorn an der Stoßstange hängt schlaff ein toter Schäferhund, mit dessen Blut der fatale Räuberbund rituell besiegelt wird. Merke: Schäferhund gleich Rechtsradikalismus. Ausnahmslos.

…bis sie alle Stahlhelme tragen

Die Kerle werden jedenfalls immer martialischer und immer einheitlicher – bis sie allesamt mit schweren Ledermänteln und schließlich Stahlhelmen herumlaufen. Jaja, in Deutschland sind selbst wohlmeinende Rebellen immer in der Gefahr, dem Faschismus anheimzufallen. Und Karl, der doch nur das Beste wollte, erkennt viel zu spät den Fluch der bösen Tat. Sein Traum von schrankenloser Freiheit gebiert schrankenlosen Schrecken.

Der intrigante Bruder Franz (Peter Kaghanovitch), die Kanaille, zeigt denn auch nur die andere Seite der Medaille. Er ist gar nicht schlimmer als Karl, er ist sich der eigenen Bosheit nur früher bewußt und setzt sie gezielter ein.

Man kann sich einem Stück nähern, indem man spiel und schaut, was sich ergibt. Man kann aber auch sofort seine hehren Gedanken und Besorgnisse aufpfropfen und sich den Text danach zurechtbiegen. Letzteres ist hier wohl der Fall. Im Programmbuch heißt es über Karl: „Sein Aufbruch wird zum mörderischen Vergehen gegen Schwache, Kranke und ,Andere‘ und damit zum Menetekel – gerade heute“. So sieht die Inszenierung auch aus: unablässige Mühsal mit Polit-Pädagogik, die jedoch keinen Halt am Text findet.

Personen stehen da wie Monumente

Ganz sonderbar die Figurenführung: Da wird nichts sorgsam entwickelt, sondern die Personen stehen jeweils bei ihrem ersten Erscheinen ganz stark und entschieden da, wie Monumente fast. Doch dann scheinen sie zusehends zu zerbröckeln und zu verblassen, als hätte man sie unterwegs vergessen. Da verrät sich eine sträfliche Ungeduld der Regie, die sich auf der Bühne des öfteren in unmotivierte Erregungs-Handlungen ergießt, die wiederum nie recht bei ihren Gegenständen sind: unbeteiligte Wallungen. So paradox muß man es sagen. Kein Wunder, wenn Karls geliebte Amalia (erst „kesser Vater“, dann schutzloses Mädchen: Marina Matthias) sich erst mal eine Linie Kokain genehmigt.

Das Bühnenbild (Wolf Münzner) besteht vornehmlich aus blutrot beleuchteten Tüchern und einem Wassergraben, jenem wohl am meisten zuschanden gerittenen Bühnen-Zeichen der letzten fünfzehn Jahre. Der Graben hat keine Funktion, bleibt bloßes Schaustück. Nur „Pitschpatsch“ macht es, wenn sie hindurchwaten, und hernach verteilt sich das Theaterblut so pittoresk im Wasser…

Mit seiner gleichsam dampfenden Sprache erscheint der junge Schiller in dieser Inszenierung wie ein Nihilist oder Nietzsche-Apostel vor der Zeit. Nichts da mit einer Gnade der frühen Geburt! Unser haßgeliebter Idealist ist auch ein abgründiger Autor und Künder künftiger Katastrophen. Das könnte ein Ansatz sein. Aber wehe, wenn man ihn überall und partout beim Wort nehmen will. Und wehe, wenn eine Inszenierung ihrer Mittel so wenig sicher ist, wenn sie Statik und Dynamik, Tempo und Verzögerung so glücklos einsetzt wie diese. Dann wird Geschichte ortlos und zeitenleer, dann wird Schiller zum ungestümen Dampfplauderer. Gespielt wird das alles mit heißem, nein: überhitztem Bemühen. Auf dem schwankenden Boden des Konzepts geraten alle ins Straucheln.

Erschöpft-lustloser Beifall nach vier Stunden eines ebenso länglichen wie kurzatmigen Unterrichts. Selbst die Buhs klangen ermattet.

Nächste Vorstellungen im Festspielhaus: 4., 5., 6.. 7. Mai, jeweils 19.30 Uhr). 8. Mai (18 Uhr) / Tel.: 02361/91 84 40.




„Kabale und Liebe“ als Bühnen-Schachspiel – Hansgünther Heyme inszeniert Schiller in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Immer wieder werden Stühle über die Bühne getragen. Bevor und während sie reden, nehmen die Figuren so neue Positionen ein, im ständigen Wechsel, fast wie beim „Königlichen Spiel“: Bühnen-Schach, Gefühls-Schach. Es geht um Sieg und Niederlage, um Macht – und weniger um Liebe als um die gute Partie.

Als zermürbenden Stellungskampf der Figuren führt uns Hansgünther Heyme Schillers „Kabale und Liebe“ vor. Heyme, zeit seines Theaterlebens Schiller zugetan, läßt diesmal niemanden mit dem Motorrad auf die Szene rasen (wie einst im „Tell“), und auch schrille Brechungen à la Goethes „Faust“, wo Heyme Gretchen mit der Rockgitarre antreten ließ, unterbleiben. Statt dessen: Posen und Posituren, überdeutlich herausgestellte Gefühle bis hin zur (bewußten) „Schmiere“, große Gesten für kleine (und schnell wandelbare) Regungen. So werden auch bereits jene Momente vergiftet, in denen einmal wahres Fühlen durchbrechen will.

Bekanntlich geht’s um die bürgerliche Musikus-Tochter Luise Miller, die es zum adligen Ferdinand hinzieht – eine anno 1784 (Uraufführung) „unmögliche“ Liason. Die Verbindüng wird denn auch von der Vätergeneration, insbesondere durch blaublütige Intrigen (also „Kabale“) aufs Teuflischste hintertrieben. Effekt: Vor den Vätern sterben die Kinder, von Limonade aus eigener Mischung vergiftet.

Der zeitgebundene Anteil des Themas, der Konflikt zwisehen Adel und Bürgertum, ist für uns weit, weit weg. Dem trägt auch Heyme Rechnung: Einzige Möblierung ist ein überlanger Tisch, dessen Enden nur durch Beleuchtungswechsel als kaum wesentlich verschiedene Adels- und Bürger-Sphäre markiert werden. Man bewegt sich letzten Endes im selben Element der Uneigentlichkeit und der Unfahigkeit zu Gefühlen.

Darauf legt Heyme den Akzent, er „verbrechtet“ nicht und läßt auch nicht seine sonst so häufig eingesetzten „braunen Horden“ aufmarschieren, obgleich er (im Programmheft) das Stück stocknüchtern als „deutsches Material“ bezeichnet und sogleich Nietzsches fatalen „Übermensehen“ sowie Paul Celans „Todesfuge“ („Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“) herbeizitlert.

Auf Länge gesehen, wirkt besagte Künstlichkeit allerdings doch etwas uninspiriert, auch hemmt mitunter eine Art von Langsamkeit das Spiel, die dem Geschehen keinesfalls mehr Binnenspannung verleiht. Heftigere Emotionen treten eigentlich nur in zwei Situationen hervor: beim Adel, wenn’s so richtig ans Intrigieren geht, beim Bürgervater Miller, wenn er einen Geldhaufen fast anbetet. Nur Macht und Mammon machen hier sinnlich, Liebe ist nur Traum oder Mittel zum Zweck.

Wolf Münzners Bühnenbild läßt sehr viel Spielraum, der vornehmlich zur Distanzierung der Figuren voreinander genutzt wird. Die Kostüme (gleichfalls von Münzner) haben fast durchweg einen leichten Stich ins Exaltierte, was die Künstlichkeit des Geschehens noch steigert. Das Ensemble spielt insgesamt passabel, aber nie mitreißend. Das meiste Interesse für die Geschichte seiner Figur weckt noch Wolfgang Robert als Miller.

Recht knapper Beifall und vereinzelte Buhs für Hansgünther Heyme, der bei den Proben unglücklich in den Orchestergraben gestürzt war. Als Schauspielchef ist er nicht gestürzt, im Gegenteil: Er bleïbt bis 1995 in Essen, und zwar „gerne“, wie er versichert.

Bis Herbst 1990 ohne taugÏiche Spielstätte in Essen, ist Heyme mit dieser Premiere nach Mülheim ausgewichen. Die Produktion firmiert schlau unter dem Etikett „Kooperation Essen/Mülheim“, denn dafür gibt es Extra-Zuschüsse vom Land.




„Maria Stuart“ und die Lust an der Buße

Von Bernd Berke

Wuppertal. Aus dunklem, augenscheinlich königlich teuren Holz sind die Wände in Maria Stuarts Gefängnis und in den Räumen ihrer Widersacherin, der Königin Elisabeth. Der Vorhang: kostbares violettes Tuch. Die Musik: Streichquartett von Franz Schubert. Durchweg edel eingefaßt wie ein Kleinod, wie ein sorgsam verwahrtes Text-Geschmeide, sieht man in Wuppertal Schillers „Maria Stuart“ – im wahrsten Wortsinn ein Schmuck-Stück.

Adelheid Müthers Inszenierung behandelt die Vorlage äußerst schonend, fast scheu. Rena Liebenow spielt die Elisabeth. Würde oder Herrscherstolz sind bei ihr nur in Ansätzen zu spüren. Auch wird sie gar nicht so sehr von erotischer Frustration umgetrieben, wie dies Text und Aufführungskonvention nahelegen könnten. Nein, eigentlich ist sie – man kann es kaum anders ausdrücken – eine „ganz patente Frau“. Wenn nur die hohe Politik nicht wäre! Auf diesem Felde wird sie zum Opfer ihrer kleinen Unsicherheiten und derer, die diese Schwächen ausnutzen: ihrer Ratgeber bei Hofe.

Elisabeths Gefangene, Maria Stuart (Sabine Schwanz), Konkurrentin in politischer, erotischer und religiöser Hinsicht, wird in dieser Aufführung weitaus mehr stilisiert. Eine religiös Verzückte ist sie, gleich zu Beginn filigrane Fingerbewegungen vollführend wie eine entrückte Prophetin oder Heilsbringerin. Sie wirkt, als sei sie einem alten Gemälde entstiegen, als sei sie längst nicht mehr von dieser Welt. Ihre sinnliche Kraft, ihre Vergangenheit als Verführerin – weit liegt das alles zurück.

Die zentrale Szene, Marias Begegnung mit Elisabeth, ist denn auch vorherbestimmt. Diese Maria hat sich längst innerlich vom Leben gelöst. Wenn sie um Gnade bittet, so fast nur der Form halber. Erst, als sie den Tod vor Augen hat, erglüht sie wieder in Liebe: Angetan mit einem tief dekolletierten roten Kleid schreitet sie in beinahe schon frivoler Büßerinnen-Lust zum Schafott.

Die Inszenierung ist über weite Strecken eher ein Geschehenlassen; weder tritt sie dem Text zu nahe, noch zwängt sie die Darsteller in ein Korsett. Die auf Aktualisierung hindeutende Anspielung im Programmheft, nach der Barschel-Pfeiffer-Affäre verdienten die klassischen Tragödien und Staatsaktionen wieder neues Interesse, ist nur Koketterie.

Grenzen und Beengungen setzt also weniger die Regie, sie liegen hier eher im schauspielerischen Vermögen. Streckenweise erlebt man Aufsagetheater nach altbekanntem Schema: Wer gerade Text hat, tritt vor, spricht, tritt zurück, verharrt still, als habe er/sie nun mit dem Stück nichts mehr zu tun. Die besseren, dichteren Szenen sind daher meist jene, in denen nur eine oder zwei Personen auf der Bühne stehen.

Die Nebenrollen sind in sehr unterschiedlicher Güte besetzt. Die Spannweite reicht von Holger Scharnberg, der mit dem Part des Sekretärs Davison höchst präsent ist, über Publikumsliebling Heinz Voss, der als Shrewsbury einfach bruch- und geheimnislos als der „Gute Mensch von Fotheringhay“ auftritt, bis hin zu Herbert Ecker („Graf von Kent“), der sehr blaß bleibt. Alles in allem war die Ensembleleistung aber passabel.




Heyme verlegt Schillers „Wilhelm Tell“ in die Zeit der Ruhrbesetzung

Von Bernd Berke

Essen. So wie er im Buche steht, ist Friedrich Schillers „Wilhelm Tell“ längst unspielbar. Und so entledigt sich denn auch Hansgünther Heymes „Tell“ (Walter Kreye) solch güldener Worte wie „Durch diese hohle Gasse muß er kommen“, ganz hastig, als lasse er eine heiße Kartoffel fallen.

Der „Tell“ verfolgt Heyme seit Mitte der 60er Jahre, zunächst in Wiesbaden, dann nach Stuttgart, jetzt bis nach Essen. Oder besser: Heyme verfolgt den „Tell“, und zwar mit Kardinalfragen aus der neueren deutschen Geschichte. Unerbittlich.

Schon bei Schiller stand ja jener Kampf der Schweizer Kantone gegen Habsburg für deutsches Mißbehagen an französischer Besatzung im Vorfeld der Befreiungskriege. Heyme verpflanzt die Handlung ins Jahr 1923, als abermals Franzosen über den Rhein kamen und diesmal das Ruhrgebiet besetzten, um sich verweigerte Reparationsleistungen zu sichern. Bei Heyme geht das anfangs nach Art des „Grand Guignol“: Wie in einer Art Kasperltheater bespringt der gallische Hahn die blonde Germania, nach dem Gewaltakt galoppieren Marionettenpferdchen auf, es züngeln Flämmchen aus Pappe.

Zur Ruhrkampf-Zeit war „Tell“ im Revier eine Symbolfigur des Widerstands. Heyme wiederum will, was bis zu einem gewissen Grad legitim ist, zeigen, daß reaktionäre Kräfte diesen Widerstand ins Nationalistische umbogen, wodurch der NS-Ideologie der Boden bereitet wurde. Ob man all dies unbedingt an Schillers Stück demonstrieren muß, bleibt die Frage.

„Tausendjähriges“ Volkserbe und „Heil“-Rufe

Aus den verschiedenen Zeit-Ebenen ergibt sich auf der Bühne des Essener Grillo-Baus eine historische Collage, die mitunter ausfranst, zum „Flickerlteppich“ wird. Heyme mag die von Schiller positiv besetzten Freiheitskämpfer durch Streichungen und neue Betonungen noch so sehr ins Zwielicht zerren, er mag noch so nachdrücklich Satzfetzen wie die vom „tausendjährigen“ Volkserbe oder „Heil“-Rufe (die ja im Stück vorkommen) hervorheben – direkte Parallelen ergeben sich nur punktuell; wo Heyme mehr will, wirkt es zwang- und thesenhaft. Freilich: Reibflächen produktiven Widerspruchs hat Heyme dem Klassiker abgewonnen. Einige Aha-Erlebnisse kommen aber allzu früh und fraglos: Der Bühnenhintergrund ist schwarz-weiß-rot; also die Farben der Deutschnationalen und der NS-Fahnen. Damit’s überdeutlich wird, gleicht das rote Feld einem Blutspritzer.

Tell ist hier der brav-blauäugige Proletarier, äußerlich von Brecht’schem Zuschnitt. Auch Heyme kann Arbeiterposen nur noch ironisch zeigen, sozialistischen Realismus parodierend. Tell ist letztlich bloßes Werkzeug der Besitzenden, die bei der bündischen Sonnenwendfeier des Rütli-Schwurs die Widerstands-Fäden ziehen – allen voran der wohlhabende Stauffacher, der hier Krupps Rolle im Ruhrkampf durchscheinen lassen muß. Teil hat folglich „blaß“ und ausnutzbar zu erscheinen, Vogt Geßler (Michael Enk) kommt als eher trockener Funktionär daher, der „edle“ Attinghausen (Karl-Heinz Pelser) als Altgeneral aus preußischem Junkertum. Der im Stück ausdrücklich als Biedermann bezeichnete Stauffacher ist hingegen Brandstifter. Dies zu zeigen, gelingt dem weitaus besten Darsteller, Wolfgang Robert, mit beachtlicher Nuancierung.