Der tiefste Ernst ist ein Verwandter des Lachens – Frankfurter Schirn-Kunsthalle zeigt erste große Retrospektive seit dem Tod von Jean Dubuffet
Von Bernd Berke
Frankfurt. Jean Dubuffet (1901—1985) gilt heute meistenteils als Hauptvertreter der sogenannten „art brut“ (etwa: rohe Kunst), einer Richtung, die auf alle großen Traditionen (auch die der Abstraktion) pfeift und sich z. B. an bildnerische Hervorbringungen von Geisteskranken anlehnt. In der Kunsthalle Schirn zu Frankfur/Main ist jetzt, bei der ersten großen Retrospektive nach Dubuffets Tod, festzustellen, wie wenig mit solch einer Schubladen-Zuordnung gesagt ist – bestenfalls ein Körnchen der Wahrheit.
Richtig ist, daß Dubuffet (von seinen frühen und erzkonventionellen Anfängen in den 20er Jahren abgesehen) die Tradition aggressiv von sich wies. Bei seinen Angriffen auf die intellektuell hochgezüchtete Moderne hat er Beifall von falscher Seite riskiert. Dubuffet hat seinen ureigenen Weg gesucht. Dieser Weg hatte freilich viele Gabelungen. Man kann das in der Frankfurter Ausstellung anhand von 250 Exponaten aus aller Welt beispielhaft nachvollziehen: Wenn Dubuffet einmal ein Thema oder eine Form für sich entdeckt hatte, blieb er lange dabei. Dann schuf er Serien, deren Variationen sich über Jahre hinzogen. War aber ein Alphabet der Möglichkeiten durchbuchstabiert, brach der Künstler abrupt ab und wandte sich neuen „Schriften“ zu.
Wirklich eigenständig wird Dubuffets Kunst etwa ab 1943. Da malt er grell-groteske „Marionetten der Städte“, etwa jene wie an Fäden hängende Wesen in der U-Bahn („métro“-Serie). Während da der Mensch in der Menge bedeutungslos zu werden scheint, verschwindet er ansonsten in der Weite von Landschaften oder neben riesigen Kühen, die ihn mit kreatürlicher Kraft an den Bildrand drängen. Im Jahr 1945 verblassen bei Dubuffet menschliche Umrisse gar vor grauen Mauern.
Will diese Kunst über den Mensehen hinaus — oder hinter ihn zurück? Solche Menschenbilder wirken jedenfalls entweder magisch-„primitiv“ wie prähistorische bzw. Stammeskunst oder im schönsten Sinne kindlich: Tiefster Ernst und befreites Lachen liegen da oft noch ganz dicht beisammen. Wichtig werden dann billige, bewußt „unkünstlerische“ Materialien wie Kiesel, Sand und Glas. Mit derlei Ingredienzen wirft Dubuffet etwa ein grobkörnig gehäufeltes Raster über eine in Öl gemalte nackte Männerfigur, die den „Willen zur Macht“ (Titel, 1946) und damit eine Art „Ur-Hitler“ verkörpert. Großartig die Bilder, in denen der Materialeindruck sich verselbständigt, z. B. „Tischklumpen“ oder „Felder des Wohlbehagens“ (beide 1951). Diese Arbeiten wirken nicht mehr wie hergestellt, sondern wie immer schon dagewesene Materie. Konsequent, daß Dubuffet dann auch Fundsachen wie Schwämme oder Schlacke-Stücke nach winzigen Eingriffen zu Kunstwerken ernennt. Da blitzt in fast umgeformter Materie plötzlich Bedeutung auf.
Bewußt im Sinne einer „antikulturellen“ (Dubuffet) Kunst gestaltet sind die jeder Herkömmlichkeit des Genres spottenden Frauenakte. Diese Damen ähneln in ihrer zerrinnenden Körperlichkeit eher formlosen Landschaften.
Über einige weitere Bildgruppen („Paris circus“) dringt Dubuffet mit dem 17 Jahre währenden, obsessiven Experiment „Hourloupe“ (lautmalerischer Begriff) auch in die dritte Dimension und zu einer Art Bilder-Skulpturen-Theater vor. In Frankfurt ist eine Bühne zu bestaunen, auf der Dutzende dieser rot-weißblauen Pappmachefiguren ein bizarres, stummes Ballett tanzen.
Danach kehrt Dubuffet zu Collagen zurück, zu einem comic-haften „Traum-Theater“ der Lebenssituationen und schließlich zu den „non-lieux“ (Nicht-Orten), hellsichtig hingesetzten Pinselstrichen auf schwarzem Grund.
Jean Dubuffet. Kunsthalle Schirn, Frankfurt, Am Römerberg. Bis 3. März 1991. Katalog 42 DM.