Vom Rückfall in die Barbarei – Heinz Helles Endzeit-Roman „Eigentlich müssten wir tanzen“

In eine verstörende Endzeit-Situation zieht der Schweizer Autor Heinz Helle die Leser in seinem zweiten Roman „Eigentlich müssten wir tanzen“, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war und diese Auszeichnung durchaus verdient gehabt hätte.

Eine Gruppe von fünf Freunden, eine typische Männerrunde, verabredet sich zu einem Wochenende in einer abgelegenen Berghütte, und als sie wieder zurück wollen in ihren Alltag, finden Sie eine zerstörte Welt vor. Abgebrannte Häuser und Wälder, Leichen überall, kein Trinkwasser und keine Lebensmittel.

HeinzHelle

Durch diese Endzeit-Welt versuchen sich die Männer durchzuschlagen – aber wohin?

Nach und nach geht die Hoffnung verloren, nach und nach verschwinden die Reste der Zivilisation im Verhalten der nun ehemaligen Freunde, ohne moralische Skrupel liefern sie den jeweils anderen seinem Sterben aus.

In 69 kurzen Kapiteln berichtet der 37jährige Autor sachlich und ohne Belehrung oder Wertung, was Menschen in einer solchen Situation erlebt und gedacht haben könnten. Zum Schluss bleibt dem Erzähler – einem nicht näher Benannten aus der Gruppe – nur der hypothetische Ausblick auf ein Leben in Sicherheit, wie es ohne diesen Zusammenbruch hätte gelebt worden sein können.

Ein hoffnungsloses Buch? Zum einen sehr wohl, denn es zeigt, dass ohne die kulturellen Errungenschaften unserer Gesellschaft der Mensch nichts ist, dass wir zurückfallen können in die Barbarei, in eine Welt, in der alle einsam und ohne Sinn vor sich hin vegetieren. Andererseits will Heinz Helle uns wohl auch Mut machen, uns auf das zu konzentrieren, was in unserer heilen Welt an Glück oder Sinn möglich sein kann, auch wenn wir letztlich alle sterben müssen.

Heinz Helle: „Eigentlich müssten wir tanzen“. Roman, Suhrkamp, 173 Seiten, 19,95 €.




Hintersinn und Abgründe des Lebens – gesammelte Kurzerzählungen von Franz Hohler

Gesucht: eine Stadt mit X. Die Lösung Xanten wäre wohl zu leicht. Da dem Autor aber kein weiterer Name für sein Städte-Alphabet einfallen will, erzählt er einfach eine ganz andere Geschichte, die jedoch in einem Zusammenhang mit dem genannten Anfangsbuchstaben steht. Willkommen bei Franz Hohler, dessen Erzählungen in kein Schema passen.

Skurril, schräg, hintersinnig, abgründig: Die Geschichten des Schweizer Schriftstellers leben von der ungewöhnlichen Perspektive auf den Alltag, das Zeitgeschehen, den Zeitgeist oder das Miteinander. Dabei greift der Schriftsteller gern die kleinen Begebenheiten am Rande heraus, um auf das Große und Ganze zu kommen. Oft überlässt Hohler es auch dem Leser selbst, sich ein Urteil über Geschehnisse und Entwicklungen zu bilden, wenn er beispielsweise beschreibt, dass die Suche nach einem speziellen Buch per Internet ins Leere läuft, ein altgedienter Buchhändler mit einem Griff den Band jedoch sofort zur Hand hat.

hohler

Franz Hohlers Buch, das jetzt im Luchterhand-Verlag erschienen ist, enthält sämtliche kurzen Erzählungen des Autors, Jahrgang 1943, und damit eine Zusammenfassung von acht Büchern, von denen das erste 1970 veröffentlicht wurde. Wenn die Geschichten sieben oder gar acht Seiten umfassen, dann sind sie schon lang, viele füllen gerade mal eine Seite. Hohler, der 2002 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor erhielt, tritt sogar den Beweis an, dass gerade mal drei Zeilen für eine Handlung reichen. Andererseits: Manche Sätze geraten dem Autor aus gutem Grund etwas länger. Sie verhindern, dass der Leser über den Text oberflächlich hinweggeht.

Mit seinen Geschichten erweist sich Hohler als ein feinsinniger Beobachter, der ungewöhnliche Zusammenhänge herzustellen vermag und dabei einen ironischen Unterton mitschwingen lässt. So muss er zwangsläufig bei einem Werbeschreiben der Gesellschaft für bedrohte Völker weniger an Papua-Neuguinea denken als ein älteres Ehepaar, das seinen gewohnten Lebensrhythmus über Jahrzehnte beibehalten hat. Hohlers Erzählungen sind auch immer wieder für eine Überraschung gut, wenn er unter anderem Ereignisse in ein ganz anderes Umfeld transformiert. Wie lässt sich ein Autounfall, bei dem ein Mensch stirbt, beschreiben, wenn man ihn als Hinrichtung sieht?

Da der Autor viel in der Welt herumgekommen ist, handeln einige Geschichten von fernen Ländern und Kontinenten. Dass eine mongolische Hochzeit ganz anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt als hierzulande und es auch mal ein bisschen heftiger zur Sache gehen kann, ist eine lehrreiche Episode über andere Kulturkreise. In seinen Beschreibungen über Guatemala oder Paraguay lässt er das Groteske beiseite und das aus gutem Grund. Er will an dunkle Kapitel lateinamerikanischer Geschichte erinnern: Regime, die ihr Volk unterdrückt haben. Wortmächtig beschreibt er, welche Qualen Gefangene erleiden mussten. Die Opfer sollen nicht in Vergessenheit geraten.

Welche Pein Tiere zu ertragen haben, die man zur Schlachtbank führt oder zu Versuchszwecken (miss)braucht, kann man mitfühlen, wenn Franz Hohler sich in die Situation dieser Tiere hineinversetzt. Seine Empathie gegen den Krieg, in diesem Fall ist es der Waffengang im ehemaligen Jugoslawien, bringt er auf bemerkenswerte Weise zum Ausdruck, indem er einen Brief an Kain und Abel formuliert (die er irgendwo auf den Schlachtfeldern vermutet) und sie an ihre engen familiären Bande erinnert.

Mit seinen Vergleichen und seiner Bildersprache gelingt es dem Schriftsteller, Verwerfungen und Missstände anzusprechen, ohne gleich den moralischen Zeigefinger zu erheben. Da steht eines Tages der Frieden vor der Tür der Obdachlosenunterkunft oder eine blau gefärbte Amsel stößt bei ihren vermeintlichen Artgenossen auf Ablehnung, denn schwarz muss das Gefieder sein.

Zu den Themen, die Franz Hohler bewegen, gehören zweifellos auch religiöse und kirchliche Fragen. Wie das wohl mit der Schöpfung abgelaufen sein könnte, dazu findet man in dem Buch gleich zwei amüsante Versionen. In der Geschichte, die dem Buch den Namen gibt, kommt es zu einem eigenwilligen Aufbegehren gegen den Stellvertreter Christi auf Erden.

Franz Hohler: „Der Autostopper“. Die kurzen Erzählungen. Mit einem Nachwort von Beatrice von Matt. Luchterhand-Verlag, 764 Seiten, 19,99 €.




Festspiel-Passagen IX: Lust am Neuen und Seltenen

Während Händel mittlerweile im Repertoire der Opernhäuser eine wichtige Rolle spielt, gibt es bei anderen Komponisten von Weltgeltung noch einiges zu entdecken. Unermüdliche Arbeit für Gioachino Rossinis breit gefächertes Opernschaffen leistet seit Jahren das Rossini Festival in Bad Wildbad. Intendant Jochen Schönleber legt besonderen Wert auf Sänger, die den zum Teil exorbitanten Ansprüchen Rossini’scher Partien entsprechen. In den vergangenen Jahren hat das Festival manchem jungen Belcantisten zum Durchbruch verholfen.

In Rossinis kurzer Farce „Adina ossia Il Califfo di Bagdad“ ließ vor allem eine Nebenrolle aufhorchen: Christopher Kaplan als Ali – Mitglied des Jungen Ensembles der Semperoper Dresden – verbindet darstellerische Präsenz mit einem wohlgeformten Tenor. Auch Rosita Fiocco würde man gerne wieder hören, auch wenn die Koloraturen noch etwas schwer im Ansatz gebildet sind. Antonio Petris‘ Regie bemühte sich ohne Erfolg, dem Werk eine interessante Seite abzugewinnen. Ausnahmsweise mal ein Rossini, der für die Bühne zu Recht vergessen werden kann.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

2013 wird solches wohl nicht der Fall sein: So wie in diesem Jahr Rossinis „Semiramide“ steht dann das monumentale Abschlusswerk von Rossinis Opernschaffen im Programm: „Guillaume Tell“, konzertant und so vollständig wie möglich. Ein geradezu vermessenes Vorhaben; eine Herausforderung, der man sich in den Staatsopern-Sphären von Berlin oder München bisher nicht zu stellen wagte.

Auf keinen Fall wieder in die Geschichte zurücksinken sollte die andere Rarität des Wildbader Festivals 2012: „I Briganti“ ist eine nach Schillers „Räubern“ entworfene Oper Saverio Mercadantes. Uraufgeführt 1836 in Paris, war sie ein von Rossini unterstützter Versuch, Paris für diesen damals in Italien weithin bekannten Kollegen zu gewinnen. Ein Projekt, das trotz exquisiter Sängerriege scheiterte: Mercadantes konservativer Ansatz, zu sehr dem italienischen „Melodramma“ verpflichtet, konnte sich gegen die moderne Oper Giacomo Meyerbeers nicht durchsetzen.

Wildbad versuchte, das Stück erstklassig zu besetzen. Unter der wenig geschmeidigen, metrisch oft schematischen Leitung von Antonino Fogliani boten die Virtuosi Brunenses aus Brünn kaum mehr als eine solide Unterstützung der Solisten. Der hoch gelobte Tenor Maxim Mironov war als Ermano den virtuosen Anforderungen seiner Partie gewachsen, aber die Stimme hat Stetigkeit und warmen Klang zu gewinnen. Petya Ivanova als Amelia agiert wie eine Diva der fünfziger Jahre; ihre Stimme verliert im Lauf des Abends den Kontakt zum Körper, wird hart, dünn und im Klang prekär.

Bruno Praticó, der alte Haudegen, zeigt, wie es geht: Als alter Graf Moor entfaltet er im Duett mit seinem Sohn Ermano wundersam die Aura des technisch zuverlässigen Singens mit schier endlosen Bögen und sprechendem Klang. Die Regie ließ die Akteure alleine, die sich mit allen Peinlichkeiten abgelebter Opern-Gepflogenheiten über Wasser hielten und ständig auf den Dirigenten starrten. Mercadantes Oper aber sollte wegen ihrer dramatischen Anlage und ihrer feurig-sensiblen Musik einen Weg zu weiteren Inszenierungen finden.

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Weiter im Süden, in der Ostschweiz, brachten die siebten St. Galler Festspiele Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ auf die weiträumige Freilichtbühne vor der Kulisse der barocken Stiftskirche. Carlos Wagner inszenierte die „Legende dramatique“ als Welttheater mit Méphistophéles als Zirkusdirektor. Das wirkte nicht willkürlich bunt, sondern entspricht dem Charakter der Stücks.

Stellenweise verwies die Inszenierung den Zuschauer auf farbige Zeit-Panoramen und epische Großbilder, wie sie in Romanen von Charles Koster (Ulenspiegel), Victor Hugo (Der Glöckner von Notre Dame) oder Umberto Eco (Der Name der Rose) geschildert sind. Die Fantasie der Kostüme (Ariane Isabell Unfried) verhinderte peinliche Anklänge an Monumentalfilm-Ausstattungen; die Spielfläche (Rifail Ajdarpasic) mit ihren verschiedenen Ebenen und Plateaus ließ bewegungsreiches „Augenfutter“ zu. Dass er am Ende in einem Hamsterrad endet, lässt Méphistophéles ein wenig wie den betrogenen Teufel erscheinen: Sein Werk, Menschen – hier mit Hilfe von Marguerite als dienstbarem Geist – zum Bösen zu verführen, ist eine Sisyphusarbeit, die dank göttlicher Gnade und Barmherzigkeit zum vergeblichen Mühen verurteilt ist.

Berlioz‘ farbige und klanglich subtile Partitur eignet sich nicht für eine Freilicht-Produktion, bei der das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Bühne sitzt und mittels Lautsprecher verstärkt wird. Da mag sich Dirigent Sébastien Rouland noch so um die Finessen mühen: Der Klang bleibt oft grob und eindimensional. In den Opern der letzten Jahre, von Gaetano Donizettis Sintflut-Rarität „Il Diluvio universale“ über die frühen Verdi-Opern „Giovanna d’Arco“ und „I Lombardi alla prima crociata“ – heuer in Erfurt bei den Domstufen-Festspielen wieder aufgenommen – war das weniger problematisch, weil deren Partituren nicht so visionär klanglich gearbeitet sind wie die Musik des französischen Orchester-Revolutionärs. Mit Verdis selten gespielter Oper „Attila“ steht Sankt Gallen im Juni/Juli 2013 – im 200. Geburtsjahr Verdis – wieder auf der sicheren Seite (Premiere am 21. Juni 2013).

In Nürnberg rückten die Internationalen Gluck-Opern-Festspiele zum vierten Mal einen Komponisten ins Blickfeld, der hohe akademische Ehren genießt, im Bühnenalltag aber nicht allzu häufig präsent ist. Dass es nicht an stiller Einfalt und edler Größe liegen kann, zeigte das Staatstheater Nürnberg mit einer bestürzend konsequenten Aktualisierung von Glucks „Ezio“. Das finstere Machtspiel verlegte Andreas Baesler – in Nordrhein-Westfalen durch Regiearbeiten in Gelsenkirchen, Essen oder Münster kein Unbekannter – in die Überdrussgesellschaft einer außer Rand und Band geratenen Wohlstandszeit.

Nürnberg Gluck Festspiele Logo

Erpressung, sexuelle Gewalt, Mord gehören zum Verhaltensrepertoire. Ein derart geschärftes, in die Gegenwart geholtes antikes Drama lässt nicht kalt. Zumal der Schauplatz passt: Hermann Feuchter und Lilith-Marie Cremer bauten in der Theater-Tiefgarage hölzerne Verschläge, bei denen nicht klar war, ob die Darsteller oder die Zuschauer Gefangene oder Gaffer sind.

Die Darsteller agierten auf gefährliche Weise präsent, und die Musiker der Accademia Bizantina, der Neuen Nürnberger Ratsmusik und der Nürnberger Musikhochschule gaben unter Leitung von Nicola Valentini Glucks Musik trotz der akustischen Probleme Schlagkraft und Kontur. Eine tiefsinnige Choreografie des immer erfolgreicher agierenden Nürnberger Ballettchefs Goyo Montero zum ewigen Mythos des Don Juan und eine konzertante Aufführung der Oper „Das Goldene Vlies“ des gebürtigen Nürnbergers Johann Christoph Vogel (1756 bis 1788) rundeten die Festspiele zu einer kurzen, aber entdeckungsreichen Zeit. Peter Theiler, bis 2008 Intendant des Musiktheaters im Revier, hat bisher immer wieder Opern für die Bühne wiederentdeckt. So bleibt zu hoffen, dass er seine Linie 2014 – im 300. Geburtsjahr Glucks – mit ebenso viel Lust am Neuen und Ungewöhnlichen fortsetzen wird.




Fern vom Streit der Welt meditieren – Ausstellung „Comment rester zen / gelassen bleiben“ am Dortmunder Ostwall

Von Bernd Berke

Dortmund. Mit dem Wort „meditativ“ ist man oft schnell bei der Hand. Kaum geht’s mal ein wenig stiller zu im Getöse der Welt, so gebraucht man das Etikett gern. Jetzt aber sorgen im Dortmunder Ostwall-Museum 15 Künstler aus der Schweiz für ausgiebige und tiefere Kontemplation.

„Comment rester zen / gelassen bleiben“ heißt die zuvor in Paris gezeigte Schau mit Videos, Tafelbildern, Objekten und Installationen, die auf denkbar sanftmütige Weise mancherlei auratisch oder spirituell getönte Zustände beschwört. Kurator Michel Ritter vom Centre Culturel Suisse in Paris will denn auch ganz entschieden den Blick „nach innen“ richten und größtmöglichen Abstand nehmen von der (medialen) Allgegenwart der Gewalt. Die brennende Aktualität dieser Anti-Position muss man nicht langwierig erläutern: Die Folter-Bilder und das Enthauptungs-Video aus dem Irak spuken dieser Tage in allen Köpfen.

Mit höheren Weihen des Zen-Buddhismus hat das Motto der Ausstellung nur bedingt zu tun, der Begriff ist vielmehr in die französische Alltagssprache eingeflossen und bedeutet ungefähr: „So beruhige dich doch.“ Der deutsche Untertitel lautet schlichtweg: „Gelassen bleiben.“

Eine Anleitung zur Weltflucht? Oder das Aufrufen neuer Kräfte aus eigenen Seelengründen? Es dürfte jedenfalls zum besonderen Erlebnis werden, beispielsweise aus dem hektischen Getriebe der Einkaufszone in diese Ausstellung zu kommen: In einer Raum-Installation von Sylvie Fleury darf man sich als Besucher gar auf eine (beheizbare) Meditationsmatte legen, über asiatisch beschriftete Wandbehänge nachsinnen oder ein ebenso geheimnisvolles Video betrachten.

Einem aus Textilstoff gefertigten Schamanen namens „Baba“ (geschaffen von Vidya Gastaldon) wird man hier begegnen oder auch einem „leibhaftigen“ weißen Buddha, der sich monumental zur Ruhe gelegt hat, jedoch aus ganz ungewichtigem Styropor besteht. Nic Hess hat dieses Denk-Mal einer unverhofften Leichtigkeit errichtet.

Allüberall walten die ewigen Mysterien: Jürg Hassler und Hannes Bossert erkunden in einem Videofilm die Erdkräfte unter unseren Füßen, Daniele Buetti vergegenwärtigt mit einem Licht-Objekt Energieströme, als sei’s ein Sternenfeld. Sarah Glaisens Film, in dem ein Stück Eis unendlich langsam schmilzt, dauert drei Stunden. Und Ceal Floyer führt – gleichfalls filmisch – vor, wie Tinte, die aus einem Stift ausfließt, ganz allmählich einen immer größeren Kreis-Fleck erzeugt. Wer da genügend Geduld mitbringt, könnte in eine Art Trance geraten.

David Lamelas erhob sich im Fesselballon über die Ebenen und Häuser der schweizerischen Stadt Fribourg. Die Bilder von der langsamen Fahrt wirken so beruhigend wie alles Weitere in dieser Schau, die so leicht „konsumiert“ werden und doch in ungeheure Fernen führen kann. Danach sollte man man gaaaanz besänftigt sein.

Ostwall-Museum, Dortmund. Vom 16. Mai (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 11. Juli. Di/Mi/Fr/So 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Eintritt 3 Euro, kein Katalog.




Die Schweiz kommt schräg

Schweizer Impression (Foto: Bernd Berke)

Schweizer Impression (Foto: Bernd Berke)

Basel/Genf/Dortmund. Drei Tage, fünf Städte, zwei Sprachzonen. Es war ein straffes Kurzreise-Programm, das die Schweizer Kulturstiftung „Pro Helvetia“ und die Organisation „Präsenz Schweiz“ arrangiert hatten. Unterwegs gab’s manchen Vorgeschmack auf die vielen Gastpiele der Schweizer Kultur ab Mai in NRW. Zentrum mit rund 100 der 160 Veranstaltungen wird Dortmund sein.

Die 37. Internationalen Dortmunder Kulturtage tragen den Titel „scene: schweiz“. Nicht so sehr mit Glanz und Gloria der Künste will das Alpenland bei uns prunken, sondern den Blick eher auf „Alternativen“ auf diverse Freie Szenen richten.

Eröffnet wird der Reigen, der zahlreiche Dortmunder Spielorte (u. a. Konzerthaus, Theater Fletch Bizzel, Jazzclub „domicil“) umfassen wird, allerdings festlich; so mit einem klassischen Ballett des Grand Théatre de Genève am 16. Mai (18 Uhr) im Opernhaus. Die renommierte Compagnie, die im altehrwürdigen Gehäuse am heimatlichen Standort Genf über eine der modernsten Bühnen-Maschinerien Europas verfügt, wird einen Querschnitt durch ihr jüngstes Schaffen darbieten. Es dürfte eine ästhetisches Ereignis ersten Ranges werden. Tatsächlich geradezu paradiesisch schön: die Szenen aus dem Tanzstück „Para-Dice“. Ballettfans aus Dortmund und der Region können sich schon darauf freuen.

Der Hauptlinie des Festivals entspricht jedoch eher die freie Tanztruppe im Théâtre Sévelin, die sich auf einem alten Fabrikgelände in Lausanne niedergelassen hat. Gründer und Leiter Philippe Saire, der hier die einzige reine Tanzbühne der Schweiz etabliert hat, huldigt einem aufregenden, ja bisweilen aufwühlenden Körper-Theater, das hie und da an die wundersamen Exerzitien der Pina Bausch erinnert. Um Liebeslust, Liebesweh und sexuelle Identitäten geht es hier wie dort. Am 4. Mai wird die Compagnie Saire ab 20.30 Uhr in der Dortmunder Reinoldikirche auftreten, danach in Bonn, Aachen und Düsseldorf. Vorführen wird man die Produktion „Les Affluents“ (etwa: die Zusammenfließenden). Vielfältige Begegnungen der Geschlechter setzen dabei die geradezu „obszön“ wirkende Urgewalt des Eros, jedoch auch ungeahnt zärtliche Momente frei. Das Gastpiel soll nicht ohne Folgen bleiben: Mit dem Tanzhaus in NRW (Düsseldorf) will man künftig dauerhaften Austausch pflegen.

Natürlich wird nicht nur getanzt. Einige kabarettistisch, clownesk oder satirisch geprägte Schweizer Bühnenproduktionen kommen ab 12. Mai im Dortmunder „Fletch Bizzel“ heraus. Es wird zudem etliche Filmvorführungen geben. Emil Steinberger wird am 21. Mai zur Lesung im Schauspielhaus erwartet.

Vor allem aber wird die bildende Kunst ihre „Auftritte“ haben: Im Museum am Ostwall lautet das Motto vom 16. Mai bis 11. Juli: „comment rester zen“ (frei übersetzt: Wie man gelassen bleibt). Hier spüren Schweizer Künstler den schweigsam schwingenden Kräften meditativer Weltbetrachtung nach.

Bereits ab 1. Mai (bis 4. Juli) wird die imposante Dortmunder „PhoenixHalle“ auf dem westlichen Gelände des früheren Hoesch-Stahlwerks von mehr als 20 Schweizer Künstler(inne)n bespielt, und zwar mit neuesten Ausformungen der Foto-, Video-, Computer- und Internet-Kunst. Kostproben waren in Basel zu sehen. Manches scheint schöne, gar naive Spielerei zu sein, anderes ist vielleicht unterwegs zur Vision kommender, vollends technisch bestimmter Zeitalter. Federführender Gastgeber der Schau „So wie die Dinge liegen“ ist der von Deutschlands Kunstkritikern jüngst preisgekrönte Dortmunder „hartware medien kunst verein“ (Iris Dressler, Hans D. Christ).

Ein visuelles Großereignis namens „Wind der Hoffnung“ freilich konnte sich Dortmund nicht sichern, aus logistischen Gründen musste man abwinken und Oberhausen den Vortritt lassen: Ein fast 60 Meter hoher Fesselballon mit 35 Metern Durchmesser wird (vom 26. Mai bis 31. November) im Inneren des 117 Meter hohen Gasometers aufgepumpt – „passt und hat Luft“. Kurator Wolfgang Volz, der am selben Ort schon Christos Fässer-Invasion („The Wall“) zum Event mit 400 000 Besuchern machte, plant dazu Ton- und Lichtinszenierungen (Musik von Philip Glass) sowie eine bündige Dokumentation über die phänomenale Schweizer Abenteurer-Familie Piccard, deren anekdotenträchtige Nachlässe sich im Musée du Léman zu Nyon am Genfer See befinden. Auguste Piccard fuhr als erster Mensch mit einem Ballon in die Stratosphäre hinauf, sein Sohn Jacques stellte in einer Krupp-Spezialkapsel den nicht mehr zu verbessernden Weltrekord im Tieftauchen (rund 11000 Meter) auf – und dessen Filius Bertrand wiederum umrundete 1999 in jenem Ballon, der in Oberhausen gezeigt wird, die gesamte Erdkugel. Das soll’s dann aber auch gewesen sein: Bertrand hat zwei Töchter, die auch nach dem Willen des Vaters das landesübliche Leben genießen möchten…

Noch wird letzte Hand angelegt ans Programm der Kulturtage, das komplett am 20. April in Dortmund vorgestellt werden soll. Für Lukas Heuss, Betreuer der internationalen Projekte bei „Pro Helvetia“, ist jedenfalls die Zielrichtung klar: Die Schweiz will weg vom Klischee aus Bergidyll und Geldwäsche, ja Heuss findet sogar: „Diese Imagepflege haben wir bitter nötig.“ Eine „freche, kunstvolle, selbstkritische Schweiz“ solle statt dessen sichtbar werden.

Ins Umfeld gehören z. B. auch der Schweiz-Schwerpunkt der Wittener Tage für Neue Kammermusik (23. bis 25. April) und das Jazzfest „europhonics“ (im Herbst im neuen „domicil“-Haus an der Dortmunder Hansastraße). Die Schweiz kommt also auf breiter Front: mit manchmal schrägen Bildern, Klängen, Szenen. Alphorn, ade!

(Der Beitrag ist zuerst am 15. April 2004 in der „Westfälischen Rundschau“ erschienen)