Rudi Stephans einzige Oper „Die ersten Menschen“ in Frankfurt: Tobias Kratzer entdeckt ein aktuelles Endzeitstück

BegBegehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel)ehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). Foto: Matthias Baus.

Begehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). (Foto: Matthias Baus)

Die Frau steht am Fenster und schaut hinaus auf sanft geschwungene Hügel, grüne Hecken, blühende Rapsfelder unter blauem Himmel. Im Raum waltet werkelnd ein Mann, pflegt ein Beet unter einer UV-Lampe. Ein Stromaggregat ist zu erkennen, neben der Wohnküche eine Kammer mit Dosen und Einmachgläsern. Bis zu 200.000 Prepper bereiten sich Schätzungen zufolge in Deutschland auf einen Zivilisationskollaps vor; auf der Bühne der Oper Frankfurt blicken wir in Rudi Stephans Oper „Die ersten Menschen“ auf eine Familie, die in ihrem Bunker eine solche Katastrophe überlebt hat.

Nach draußen geht der Weg über einen Schacht, der nur mit Schutzmaske erklettert wird. Die Naturidylle in den Fenstern erlischt bei einem Stromausfall und erweist sich als bloße Projektion auf LED-Screens. Frau, Mann, zwei erwachsene Söhne: die letzten Menschen stehen vor uns.

Tobias Kratzer, ab 2025 Intendant der Hamburgischen Staatsoper und ein gesuchter Regisseur („Tannhäuser“ in Bayreuth), hat das Thema der Oper virtuos umgedeutet, ohne dem Sujet Gewalt anzutun. Denn eigentlich geht es um Adam und Eva, Kain und Abel – das ist das Personal von Rudi Stephans Oper aus dem Jahr 1914. Der höchst begabte Komponist blieb 1915 in der heutigen Ukraine auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs, eines von Millionen sinnlosen Opfern; einer, dessen Genius elend ausgelöscht wurde.

Passionierte, drängende Musik

Die Sehnsucht nach dem "wilden süßen Weib":

Die Sehnsucht nach dem „wilden süßen Weib“ führt zu einem ersten Gewaltausbruch: Iain MacNeil (Kajin) und Andreas Bauer Kanabas (Adahm). (Foto: Matthias Baus)

Welches Potenzial in dem 28-Jährigen am Erwachen war, eröffnet Sebastian Weigle dem Ohr mit dem sinnlich-üppig aufblühenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester – die letzte von 38 Premieren mit ihm in 15 Jahren als Generalmusikdirektor in Frankfurt. Eine würdige Wahl: Die Epoche der in die Moderne hinüberklingenden Spätromantik liegt dem Dirigenten besonders nahe, das hat er mit Richard Strauss oder Franz Schreker bewiesen. Und der junge Rudi Stephan zeigt in jedem Moment seiner passionierten, drängenden Musik, dass er alle Mittel seiner Zeit verlegenheitslos beherrscht. Es gibt keine Durchhänger in den zweieinhalb Stunden.

Schon in der ersten Szene deckt Kratzer auf, welche psychischen Konstellationen die Beziehungen bestimmen. Auch dass die Figuren der Bühne mehr repräsentieren als ein individuelles Schicksal. Es geht um Lebenstriebkräfte, die den Zugang eines Menschen zu seiner Welt bestimmen: Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung (Eva), Arbeit und Weltgestaltung (Adam), sexuelles Begehren (Kain) und Erfahrung des Transzendenten, die sich im Begriff „Gott“ verdichtet (Abel). Das Libretto verwendet die hebräischen Namens-Umschriften Adahm, Chawa, Kajin und Chabel mit einem dialektischen Sinn: Die Personen werden näher an die jüdische Heilige Schrift gerückt, gleichzeitig markieren die Bezeichnungen eine Distanz zur christlich-lateinischen Überlieferung und zur biblischen Thematik des Sündenfalls und der gestörten Gottesbeziehung.

In diesem Setting entwickelt sich eine Familienkonstellation, die eher an Ibsen, Strindberg und Freud denken lässt als an die Bibel. Adahm ist der unermüdliche Gestalter, der auch nach der Katastrophe aus seinem Geiste die Welt „neu pflanzen“ will. Seine Emotionen sind „im Brunnen in der Brust“ tief verschüttet. Chawa formuliert nach einem an Wagners „Tristan“ erinnernden Englischhorn-Solo in großen erotisch geladenen Bögen ihre Sehnsucht nach Nähe, unverständlich für ihren Mann, der den Sinn des Lebens in Arbeit sucht, ein „höheres Eden“ schaffen will: Das „neue Kleid“ für seine Frau ist eine praktische Schürze. Explizit und von explosiver Musik drastisch unterstützt, formuliert das Libretto das Erwachen von Kajins jugendlich ungestümer Sexualität: Aus unbestimmtem Drängen – er „fühlt nicht, was es ist, und fühlt doch, es ist da“ – kristallisiert sich das Begehren, das sich auf die einzige Frau dieser hermetischen Welt, seine Mutter Chawa richtet.

Präziser Sprach-Expressionismus

Der heute völlig unbekannte Dramatiker Otto Borngräber (1874-1916) hat diese Entwicklung in der überspannt expressionistischen Sprache des Librettos ohne blumige Umschreibung ausgedrückt – so explizit, dass die Uraufführung seines Schauspiels 1912 in München zum Skandal geriet und das Stück verboten wurde. Bei aller möglichen Kritik am Pathos der Worte: Borngräber erfasst die menschlichen Triebkräfte ungeniert direkt, anders als etwa Hugo von Hofmannsthal im raunenden Ungefähr seiner allegorischen und symbolischen Verschlingungen.

Ambur Braid (Chawa) und Iain MacNeil (Kajin). Foto: Matthias Baus.

Wenn sich Kajins aggressive Suche nach der Erfüllung seines sexuellen Begehrens zuspitzt, wechselt der Schauplatz auf Rainer Sellmaiers Bühne. Im düsteren Licht (Joachim Klein) wird eine zerstörte Welt sichtbar. Baumstümpfe, ein hoch gemauerter Kamin, ein aschgrau ausgebranntes Auto. Die Gestelle von Kinderschaukeln und ein wunderhaft farbenfroh gebliebenes Aufblas-Schwimmbecken signalisieren: Hier könnte einst ein Garten Eden gewesen sein, ein Zauberland verlorener Kindheit, bevor die Schlange dem Menschen das Wissen um „Gut“ und „Böse“, die Distanz zu sich selbst und zu seiner Umwelt eröffnet hat. Hier legen Chabel und Chawa ihre Masken ab, hier kommt es in einer Mischung aus religiöser Ergriffenheit und zitterndem Begehren zum Sex. Kajin, der zu kurz gekommene Bruder, oft begleitet vom „schmutzigen“ Instrument Saxophon, erschlägt Chabel in einem urgewaltigen Ausbruch purer Verzweiflung, ohnmächtig seiner ausbrechenden Gewalt ausgeliefert. In solchen Momenten zeigt sich, wie genau Kratzer die Personen führen kann, wie gekonnt er die inneren Kräfte und Konflikte der Charaktere freilegt.

Das Ende umreißt noch einmal den ganzen Horizont des Geschehens – und Stephans Oper bezieht in ihre Dramatik Eckpunkte der Religionskritik ein, die bis heute gültige Fragen stellen. Es geht um den Begriff des Existenz Gottes: Ist „Gott“ eine grenzenlose Lüge, schaffen wir ihn uns selbst, um unserer durchs All taumelnden Welt einen Sinn zu geben? Hat alles Geschehen seinen Grund, aber der ist ein Fluch (Adahm)? Was bringt es dem Leben, wenn ich einen Begriff von Gott habe (Chawa)? Und vor allem: Ist Gott gerecht, sieht er das „blutenden Herz“ (Kajin)? Was in Borngräbers Text formuliert ist, macht Kratzer auf der Bühne erlebbar: Theaterkunst von ungeahnter Tiefe und hohem Können. Wenn am Schluss für den sich selbst kastrierenden Kajin und das Elternpaar ein „neuer Tag“ anbricht, kriechen lemurenhaft graue Gestalten aus den Trümmern der alten Welt. Einer Welt, deren Bedürftigkeit nach Erlösung aus jeder ihrer düsteren Klüfte klagt.

Entdeckungen beanspruchen Aktualität

Die Frankfurter Produktion der „ersten Menschen“ bestätigt die Erfahrung mit anderen Werken abseits des Repertoires: Eine früher gar nicht einmal erfolglose Oper, länger vergessen, erweist sich als aktuell in ihrer Korrespondenz mit drängenden Themen unserer Gegenwart. Dafür hat es in den vergangenen Spielzeiten einige überraschende Beispiele gegeben: Karol Rathaus‘ „Fremde Erde“ in Osnabrück, Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“ in Bonn, Walter Braunfels‘ „Die Vögel“ in Köln, Ernst Kreneks „Leben des Orest“ in Münster, Peter Tschaikowskys „Zauberin“ in Frankfurt, Gioachino Rossinis „Le Siege de Corinthe“ in Erfurt, Benjamin Godards „Dante“ in Braunschweig. Nicht zu vergessen eindrucksvolle Uraufführungen, von „Dog Days“ von David T. Little ebenfalls in Braunschweig über „Blühen“ von Vito Žuraj in Frankfurt bis „Dogville“ von Gordon Kampe in Essen. Keine Rede davon, dass die Kunstgattung Oper an ihr Ende gelange, was im Zusammenhang mit der eingebrochenen Kartennachfrage bei den Bayreuther Festspielen wieder herbeigeraunt wird.

Doch Frankfurt macht auch auf Rudi Stephans „eigene, neuartige Tonsprache“ – so der Kritiker Paul Bekker – aufmerksam, die sich zwischen Wagner-Erbe, Strauss-Innovation und Schreker-Sensualismus ihren Weg erkämpft. Sebastian Weigle schreitet den musikalischen Horizont ab, von Stephans Spektrum grell dissonanter Akzente bis zu smarten Akkordfolgen, wie sie zwanzig Jahre später Paul Abraham in seinen Operetten verwendet hat, von einer Klangfarbenpalette auf der Höhe der Zeit bis zu ausladenden melodischen Konstrukten für die Solisten.

Das Personenquartett ist szenisch gefordert und muss sich musikalisch im Wagner-Format bewähren. Ambur Braid als Chawa zeigt gestützte Präsenz, lässt aber auch die Anstrengung der großen Bögen in der Höhe merken. Andreas Bauer-Kanabas gibt den leidenschaftslosen Adahm präzis deklamierend, aber auch mit einer trockenen Verzweiflung, die sich hinter Pragmatismus verkriecht. Iain MacNeil hat als Kajin die komplexeste Figur zu verkörpern und realisiert sein wildes Aufbegehren, seinen verzweifelten Zynismus, aber auch das drängende Pathos der Figur mit einem in Farben und Klang imponierenden Bariton. Ian Koziara sichert die visionären Leuchtetöne des Chabel im Timbre seines Zentrums ab, die Passaggio-Übergänge und die Höhen wirken angefochten.

Die Oper Frankfurt hat mit Rudi Stephans singulärem Werk wieder einmal längst fällige Entdeckerarbeit geleistet und sich als wichtiges Kraftzentrum der Oper in Europa bewiesen. In der kommenden Spielzeit mit ihren elf Premieren setzt Intendant Bernd Loebe diese Linie fort. Während sich der Nachfolger von Sebastian Weigle als GMD, Thomas Guggeis, am 1.Oktober mit Mozarts „Le Nozze di Figaro“ vorstellt, verspricht der Spielplan mit „Le Grand Macabre“ des vor 100 Jahren geborenen György Ligeti, Mozarts Frühwerk „Ascanio in Alba“, Alexander Zemlinskys „Der Traumgörge“ und Wolfgang Fortners „In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa“ wieder erstrangige Befragungen jenseits des Mainstreams.

 




Orte der Ödnis: Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ überzeugt an der Oper Frankfurt nur musikalisch

Als Katerina Ismailowa aus unruhigen Träumen erwacht, liegt sie auf einer Rollbahre, wie man sie in der Anatomie für tote Körper verwendet. Um sie herum ist nichts, außer einer speckig glänzenden, riesenhaften Mauer, deren grün-blau-grau-braun schillernder Rund alles hermetisch abschließt. Ein Ort der Ödnis, ohne Hauch von Schönheit, Freundlichkeit, Hoffnung.

Anja Kampe als Katerina Ismailowa in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Anja Kampe als Katerina Ismailowa in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Kaspar Glarner hat für Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ in Frankfurt eine Dystopie geschaffen, die keinen Ausweg zulässt. Es ist ein Ort der seelischen Gefangenschaft, der Unterdrückung aller Lebenstriebe: Katerinas künstlich weiße Haare sind zwar im Chic der zwanziger Jahre geschnitten, zeugen aber von ihrer erloschenen Seele. Eine VR-Brille muss helfen: Doch der Ausweg ist nur virtuell; Bibi Abel lässt in ihren Videos kitschige Blumen aufploppen. Eine Perspektive hat diese Frau nicht.

Giftige Pilze, serviert ohne innere Regung

Anja Kampes neutral gefärbte, anfangs technisch zweifelhaft in seifig-enge Höhe gezogene Stimme passt zu dieser abgestumpften Frau: Ungerührt geht sie in die Knie, als ihr sadistischer Schwiegervater Boris Ismailow einen grotesken „Liebesbeweis“ fordert. Ohne eine Spur von Mitgefühl befreit sie die Hausangestellte Axinja (einigermaßen zahm: Julia Dawson) aus den Händen ihrer Peiniger. Dem brutalen Boris – Dmitry Belosselskiy singt ihn großartig mit satt strömender Stimme – reicht sie ohne Regung die vergifteten Pilze. Ihren Mann Sinowi – Evgeny Akimov als eitler, profilloser Protz mit genau ausgearbeiteter Blässe – hilft sie umzubringen, als sei Mord ein Alltagsgeschäft. Ihre abstoßende Umgebung hat sie vereist. „Kalt wie ein Fisch“, sagt Boris, als er ihr, um ihre sexuellen Trieb anzufachen, violette Unterwäsche entgegenwirft.

Dmitry Golovnin (Sergei) und Anja Kampe (Katerina Ismailowa). Foto: Barbara Aumüller

Dmitry Golovnin (Sergei) und Anja Kampe (Katerina Ismailowa). Foto: Barbara Aumüller

Dass unter all den Demütigungen die innere Energie, die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, die seelische Empfindung nicht abgestorben ist, offenbart sich in der Begegnung mit dem neu eingestellten Arbeiter Sergei: Dmitry Golovnin porträtiert ihn mit funkelnd präsentem, schneidend und schmeichelnd agierenden Tenor als Schlange in einem athletischen Körper, viril, aggressiv und potent. Die Schwachstellen in Katerinas öder Existenz erfasst er sofort und nutzt sie zielstrebig für sich. Und Anja Kampe zeigt genau wie beabsichtigt die Gier der ausgehungerten Frau auf die körperliche Berührung, den Kuss, die Vereinigung.

In solchen Momenten kommt die Regie Anselm Webers zu eindrücklicher Intensität, die man in anderen Szenen vermisst. Seine Stärke zeigt der frühere Essener und Bochumer Schauspielchef, der seit 2017 das Sprechtheater in Frankfurt leitet, wenn es um die Begegnung von Personen geht, wenn viel Unausgesprochenes im Raum steht, wenn er detailliert aussagekräftige Gesten und Gänge einsetzt.

Die Konzeption von Ensembles dagegen bleibt blass und unscharf: Die Quälerei und versuchte Vergewaltigung der Axinja in einem Ölfass ist unentschlossen, weil die gespielte Brutalität nicht bedrohend wirkt. Die erste Begegnung Katerinas mit ihrem späteren „Serjoscha“ lässt keine Spannung zwischen den beiden entstehen. Die böse Ironie der Polizei-Szene im dritten Akt ist nicht überzeugend ersetzt durch die Langeweile einer Schlägerbande in einem abgewetzten Wohnzimmer. Die detailliert durchgestaltete Travestie des Popen (Alfred Reiter) lenkt lediglich von der zupackenden Dramatik der Ereignisse ab, als bei der Hochzeit der Keller mit der Leiche des ermordeten Sinowi geöffnet wird.

Das Glück des Abends kommt aus dem Graben

Tödliche Pilze: Anja Kampe (Katerina Ismailowa) und Dmitry Belosselskiy (Boris Ismailow). Foto: Barbara Aumüller

Tödliche Pilze: Anja Kampe (Katerina Ismailowa) und Dmitry Belosselskiy (Boris Ismailow). Foto: Barbara Aumüller

Und der vierte Akt mit einer vordergründig schmierigen Sonjetka – der ansprechend singenden Zanda Švēde – bleibt in seinem spannungslosen Bildaufbau und seiner fadenscheinigen Gegenständlichkeit ohne die schicksalhafte Hoffnungslosigkeit, die sich in der Weite der Landschaft und der Öde des ewigen Marschierens symbolisch manifestiert.

Auch Anja Kampe drückt die ultimative Demütigung Katerinas und das Entsetzen angesichts ihrer aufkeimenden Selbsterkenntnis eines verpfuschten Lebens mit ihrem lapidaren Timbre nicht aus. Empathie fühlt man mit dieser neutral sich selbst besingenden Katerina nicht. So rettet auch das szenische Ausrufezeichen nichts, den – während des ganzen Abends glänzend intonierenden und präsent agierenden – Chor aus dem Zuschauerraum singen zu lassen. Der „finster-satirische“ Charakter, den Schostakowitsch selbst seiner Oper zugesprochen hat, ist mit dieser Kolportage nicht erfasst.

Das Glück des Abends liegt im Graben: Sebastian Weigle und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester intensivieren Schostakowitschs illustrative und unmittelbar kommentierende Musik so grandios, dass sich das Drama in den Noten ereignet. In der Musik ist die innere Sehnsucht zu vernehmen, die auf der Szene kaum durch die verschlossenen Körperhüllen scheint. In der von Weigle zärtlich ausgeformten Wehmut ist die Hoffnung Katerinas zu spüren, in der Begegnung mit Serjoscha die lang vermisste innere Geborgenheit und Befriedigung zu finden. Aber auch die bissigen, grellen, brutalen Momente mit ihren gellenden Bläsern, den schäumenden Streichern und den böse meckernden oder atemlos hechelnden Holzbläsern kommen nicht zu kurz. Dabei lässt Weigle aber nie grob oder unkontrolliert spielen; er achtet auf Form und Rundung des Tons. Das gibt der Musik Schostakowitschs eine gewisse distanzierte Noblesse, die sich von krudem Naturalismus fernhält.

Musikalisch ist diese Premiere ein Triumph, szenisch rettet man sich so eben über die Runden.

Vorstellungen am 29. November, 8. und 12. Dezember.
Info: www.oper-frankfurt.de




Der Triumph des Absurden: Bohuslav Martinůs „Julietta“ an der Oper Frankfurt

Der Dschungel als Bild für die undurchdringlich überwucherte Grenze von Sein und Schein. Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Neuinszenierung von Bohuslav Martinus "Julietta". Foto: Barbara Aumüller

Der Dschungel als Bild für die undurchdringlich überwucherte Grenze von Sein und Schein. Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Neuinszenierung von Bohuslav Martinus „Julietta“. Foto: Barbara Aumüller

Traum oder Realität? Erinnerung oder Fiktion? Tatsache oder Vorstellung? Fragen, die nicht so einfach zu beantworten sind, wenn man in eine Stadt kommt, in der alle Bewohner ihre Erinnerung verloren haben. In der Vergangenheit nicht existiert. In der Geschichte synthetisch wird, nicht zu unterscheiden von bloßer Erfindung oder gar verkaufter Erinnerung. Bohuslav Martinůs Oper „Juliette ou La Clé des songes“ greift im Gewand des Surrealen, des Traumes, ein erkenntnistheoretisches Problem auf, über das wohl schon jeder einmal nachgedacht hat.

Ist das, was wir sehen und erleben, eigentlich „real“? Oder spielt uns der „Lügengeist“ René Descartes‘ eine Realität vor, die der Wirklichkeit nicht entspricht? Ist unser Leben ein Traum in einem Traum, wie Edgar Allan Poe sinnierte? Für den Skeptiker Descartes war die untrügliche Wahrheit, die des Menschen Vernunft erst möglich macht, die Voraussetzung der menschlichen Freiheit. Und die Evidenz Gottes die Voraussetzung dafür, der eigenen Vernunft zu vertrauen und damit in die Lage zu kommen, defizitäre Systeme und die eigene Begrenztheit zu kritisieren. Doch unsere Weltsicht schwankt zwischen naiver Vergötterung der Empirie („Ich glaube nur, was ich sehe“) und ratloser Auflösung jeglicher Gewissheit. Im Zeitalter eines radikalen Skeptizismus sticht der Gottes-Trumpf nicht mehr.

Die Frage nach Fiktion oder Realität stellt sich mit neuer Schärfe, angefacht noch durch eine populäres Denken durchziehende Form der Dekonstruktion, die keinen (Erkenntnis-)Stein mehr auf dem anderen lassen will. Für Jacques Derrida waren selbst Tod und Leben nicht unabänderlich – aus der Dekonstruktion ihres Gegensatzes entsteht das Gespenstische als neues Modell des Werdens der Welt. Da kommen uns Romantik und Surrealismus Hand in Hand entgegen und grinsen uns an ob unserer verzweifelten Versuche, beständige Ordnungen in der Welt zu finden, die wir – als letzten Ausweg – vielleicht noch im Hedonismus, Narzissmus oder der universalen Geltung des Ökonomischen entdecken.

Plötzlich stößt eine vergessene Oper auf gesteigertes Interesse

Kein Wunder also, dass Martinůs 1938 uraufgeführte und danach für zwei Jahrzehnte verschwundene Oper plötzlich ins Zentrum des Interesses rückt. 1959, nach der Wiesbadener deutschen Erstaufführung, war die Zeit dafür noch nicht reif; auch 2002 blieb die vorzügliche Wiederentdeckung in Bregenz ohne nennenswertes Echo, obwohl die Produktion auch in Paris gezeigt wurde. Jetzt, auf einmal, explodieren die Neuinszenierungen: Bremen, Zürich, Frankfurt; in der nächsten Spielzeit verlässt gar Daniel Barenboim sein wagnerisches Elysium, um in Berlin für Martinůs Werk zum Taktstock zu greifen.

Den Menschen fehlt das Gedächtnis: Geschichte schrumpft für sie auf einen Augenblick; dennoch gieren sie nach Erinnerungen. Szene aus der Frankfurter "Julietta"-Inszenierung Florentine Kleppers. Foto: Barbara Aumüller

Den Menschen fehlt das Gedächtnis: Geschichte schrumpft für sie auf einen Augenblick; dennoch gieren sie nach Erinnerungen. Szene aus der Frankfurter „Julietta“-Inszenierung Florentine Kleppers. Foto: Barbara Aumüller

Offenbar fasziniert die feine Grenze zwischen Illusion und Realität, auf der „alles Reale fiktiv erscheint und alle Fiktionen die Gestalt von Realität haben“, wie Martinů im Vorwort seines Klavierauszugs zu „Julietta“ (1947) formuliert. Ein weiteres Beispiel dafür, dass lange vergessene Opern plötzlich unglaubliche aktuelle Relevanz erhalten und mit Macht ins Repertoire drängen. In ihrer Frankfurter Inszenierung spitzt Florentine Klepper diesen Gegensatz zu – nicht zuletzt mit Hilfe des grellen, aber irgendwie künstlich wirkenden Realismus der Bühne von Boris Kudlička und der Kostüme Adriane Westerbarkeys.

In einer Hotelhalle – Beherbergungsbetriebe und fünfziger Jahre scheinen momentan bei Bühnenbildnern hoch im Kurs – bewegt sich eine quirlig bunte Gesellschaft. Dem Buchhändler Michel, der in die „kleine Stadt am Meer“ hineinstolpert, fallen die merkwürdigen Kleinigkeiten zunächst ebenso wenig auf wie dem mit dem detailreichen Realismus der Figuren beschäftigten Betrachter. Erst als ein kleiner Araber (die quirlige Nina Tarandek) behauptet, das gesuchte Hotel „du Navigateur“ existiere überhaupt nicht, erst als ein Mann mit Hut bekräftigt, er besitze einen Dampfer und ihn als Modell in einer wassergefüllten Plastiktüte vorweist, dämmert die Erkenntnis, in dieser Stadt könne es nicht mit rechten Dingen zugehen.

Michel, auf der Suche nach einer jungen Frau mit einer bezaubernden Stimme namens Julietta, muss erkennen: Die Menschen können sich an nichts erinnern, was länger als zehn Minuten zurückliegt. Es ist der Beginn einer Serie skurriler Begegnungen und Situationen. Was nie geschehen scheint, wird wiedererkannt, was soeben geschehen scheint, ist vergessen. Michel gelingt es nicht, aus der realen Irrealität dieses Welt-Gespinstes zu entkommen: Ob der Schuss, den er auf Julietta abfeuert, getroffen hat, werden er und wir nie erfahren …

Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Erstaufführung von Bohuslav Martinus "Julietta". Foto: Barbara Aumüller

Kurt Streit (Michel) und Juanita Lascarro (Julietta) in der Frankfurter Erstaufführung von Bohuslav Martinus „Julietta“. Foto: Barbara Aumüller

Im dritten Akt finden wir einen Bürokraten am Amte, der Träume verwaltet und zuteilt. Aber Martinůs Libretto setzt noch eins drauf, zieht noch eine Ebene des Surrealen ein: Alle auftretenden Personen – ein vom Wilden Westen schwärmender Hotelboy, ein trauriger Obdachloser, ein begehrlicher Sträfling – sprechen von „Julietta“: Aus der einen Geliebten wird die Frau in vielen Facetten. Ihre Stimme aus der Ferne führt Michel wieder auf die Reise. Er entkommt, genau wie der Traumverwalter – Michael McCown als vertrocknetes Subjekt – vorhergesagt hat, der geschlossenen Anstalt der Träume nicht.

Während in der letzten Spielzeit in Bremen Johanna Pfau und John Fulljames von Anfang an eine unbehaglich surreale Atmosphäre präsent setzten und zunehmend verdichteten, spielen Klepper und Kudlička mit dem zum Schein mutierenden realistischen Sein. Was logisch und stringent wirkt, verkrümmt sich allmählich in die aufgehobene Logik einer bedrohlichen Welt jenseits selbstverständlicher Kausalgesetze.

Was anfangs nur skurril wirkt, wird beängstigend, spätestens, wenn auf einer zweiten Ebene der Bühne graue, gesichtslose Gestalten wie Schlafwandler unfasslichen Zielen entgegenschwanken. In dem Moment, in dem sich die adrette exotische Bepflanzung eines Lichthofs als Dschungel in die Halle hineinschiebt, bricht die Illusion von Realität endgültig im Licht ungeheuerer Verrückung.

Zwischen rezitierendem Deklamieren und arioser Entfaltung

Für die Darsteller ist „Julietta“ eine doppelte Herausforderung: Sie müssen szenisch die skurrile Aktion in naturalistischen Habitus kleiden, der im Detail ständig Elemente eines bizarren Traums streift. Und sie sind in Martinůs Musik mit einem Spektrum zwischen Sprechen, musikalischem Rezitieren, Sprechgesang und arioser Entfaltung konfrontiert. In diesen Momenten bewährt sich wieder einmal die Frankfurter Ensemblepflege: Beau Gibson, Boris Grappe, Andreas Bauer, Magnus Baldvinsson, Judita Nagyová, Marta Herman und Maria Pantiukhova aus dem Opernstudio füllen in mehreren Rollen selbst peripher auftauchende Gestalten mit intensiver Präsenz.

Kurt Streit in der fordernden Partie des Michel agiert szenisch zu steif, um die zunehmende Verstörung deutlich zu machen. Stimmlich ist Streits ausgezeichnete Artikulation hervorzuheben, im Klang bleibt der Tenor allerdings oft fest und grell. Juanita Lascarro konkretisiert sich als Julietta aus der Erinnerung zum idealtypischen Weib mit warm-verführerischem Ton, um zum Schluss nur noch als – von Vibrato gefährdete – Stimme verortbar zu sein.

Frankfurts GMD Sebastian Weigle. Foto Monika Rittershaus

Frankfurts GMD Sebastian Weigle. Foto Monika Rittershaus

Das Wunder von Frankfurt ereignet sich im Orchester: Sebastian Weigle poliert Martinůs vielgestaltige Partitur zu einem funkelnden Edelstein erlesenster Klänge. Dem Hörer geht es wie der Figuren auf der Bühne: Er meint sich ständig, an etwas zu erinnern, was im nächsten Moment verflogen ist: die süffige Melodik Puccinis oder die perkussiven, querständigen Akkorde Strawinskys, die schwebende Lyrik Debussys oder die schwerblütigen Knalleffekte Skrjabins, der freche Ton des Schlagers oder die Melancholie eines Akkordeon-Chansons. Böhmischer Glanz oder Reibungen á la Erik Satie, trockener Humor á la Darius Milhaud oder die exotische Raffinesse eines Vincent d’Indy – das alles amalgamiert Martinů in einem elaborierten Reichtum, dessen facettenreicher Klang unter den Händen Weigles im Frankfurter Orchester blüht und hämmert, schwärmt und tanzt, raunt und fließt.

Es gab viele großartige Abende mit Sebastian Weigle, von Wagner bis Humperdinck und Strauss, aber die makellose Martinů-Premiere ragt heraus. Ein Glück, dass man von der Produktion eine CD erwarten darf. Und ein Glück, dass Martinůs Oper mit diesem Frankfurter Ereignis – hoffentlich – endgültig im Repertoire angekommen ist. Jetzt wäre es angebracht, den Komponisten nicht nur über „Julietta“ und seine bekanntere „Griechische Passion“ – in der nächsten Spielzeit am Essener Aalto-Theater – zu definieren, sondern sich auf Entdeckungstour zu begeben. Tipp für Spielplan-Macher: Die Filmoper „Die drei Wünsche“, 2002 in Augsburg vorzüglich, aber folgenlos inszeniert, harrt einer Wieder-Entdeckung.

Aufführungen von „Julietta“ in dieser Spielzeit an der Oper Frankfurt noch am 8. und 13. Juli.

Im „Bockenheimer Depot“ sind gleichzeitig drei Einakter Martinůs zu sehen: „Messertränen“, „Zweimal Alexander“ und „Komödie auf der Brücke“. Termine am 6., 9., 10., 12., 15., 16. und 17. Juli.

Info: www.oper-frankfurt.de




Einzigartige Vielfalt: Frankfurt stellt die Opern-Spielzeit 2015/16 vor

Die Frankfurter Oper. Foto: Werner Häußner

Die Frankfurter Oper. Foto: Werner Häußner

Ehrgeizige Projekte, eine umsichtige Ensemblepolitik und ein einzigartig vielfältiger Spielplan zeichnen die Oper Frankfurt unter der Intendanz von Bernd Loebe aus. In dieser Spielzeit etwa gehören dazu die glänzend durchdachte Inszenierung von Carl Maria von Webers „Euryanthe“ durch Johannes Erath oder die tief bewegende Aufführung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“. Loebe hat nun die Spielzeit 2015/16 vorgestellt und ein Programm präsentiert, das Maßstäbe setzt und in punkto Qualität – aber auch Quantität – weltweit einen Spitzenplatz beanspruchen darf.

Dreizehn Premieren kündigt das Haus an, davon zwei konzertant und drei in der Spielstätte „Bockenheimer Depot“. Ein zeitgenössisches Werk eröffnet wie schon in den letzten Jahren die Spielzeit: Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ wird von Benedikt von Peter (Bremen) szenisch realisiert und von Erik Nielsen musikalisch geleitet. Von Peter hat in den letzten Jahren durch mehrere, umstrittene und eigenwillige Inszenierungen auf sich aufmerksam gemacht. Am 18. September ist die Premiere; das Stück wird wegen der räumlichen Ausdehnung ins gesamte Haus sieben Mal en suite gespielt. Der Komponist, der am 27. November 80 Jahre alt wird, ist als Sprecher mit dabei. Als Chor fungiert – wie bei der Aufführung der Ruhr-Triennale 2013 – das ChorWerk Ruhr.

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Die zweite Premiere am 25. Oktober ist keines der typischen „Chefstücke“, dennoch steht Generalmusikdirektor Sebastian Weigle am Pult: Michail Glinkas „Iwan Sussanin“ ist ein Schlüsselwerk der russischen Operngeschichte, aber hierzulande kaum bekannt. Damit erfüllt sich der 80jährige Harry Kupfer einen Regiewunsch; er erstellt auch gemeinsam mit Chefdramaturg Norbert Abels aus den zahlreichen Fassungen eine für Frankfurt.

Im „Bockenheimer Depot“, einer ehemaligen Remise für die Straßenbahn, erklingt ab 23. Januar 2016 eine weitere Besonderheit: Valentino Fioravantis „Le cantatrici villane“. Die Komödie um Sitten und Unsitten der Belcanto-Oper des Mozart-Zeitgenossen war früher unter dem Namen „Die Dorfsängerinnen“ beliebt, ist aber seit Jahrzehnten aus dem Repertoire verdrängt. Fioravanti (1764-1837), zu seiner Zeit häufiger gespielt als Mozart, hat über 70 Opern geschrieben, bevor er 1816 in Rom in päpstlichen Diensten sich der Kirchenmusik zuwandte. Die 1799 uraufgeführte Buffa gehört zu seinen international beliebtesten Werken und ist ein Musterbeispiel des aus Neapel kommenden Unterhaltungsgenres der Zeit.

Eine Rarität, die erst in den letzten Jahrzehnten zögerlich neu gewürdigt wird, ist Giuseppe Verdis „Stiffelio“. Die Geschichte um einen protestantischen Prediger und seine zwischen Liebe und Leidenschaft zerrissene Gattin kommt ab 31. Januar 2016 in einer Inszenierung von Benedict Andrews auf die Bühne. Der australische Regisseur, der in Frankfurt debütiert, hat schon an der Berliner Schaubühnen am Lehniner Platz und der Komischen Oper gearbeitet. Andrews ist einer der jungen Regie-Hoffnungsträger Loebes. Händels „Radamisto“ erscheint ebenfalls ins „Bockenheimer Depot“, wo die Regie-Debütantin Dorothea Kirschbaum zudem Arnold Schönbergs „Pierrot Lunaire“ und der langjährige Regieassistent Hans Walter Richter die Uraufführung von Michael Langemanns „Anna Toll“ für einen Doppelabend inszenieren. Richter hat vor kurzem in Gießen die selten gespielte Donizetti-Oper „Linda di Chamounix“ wohlüberlegt aus dem Ruch des „Primadonnen-Vehikels“ befreit.

Das Kernrepertoire wird durch Neuinszenierungen von „Der Fliegende Holländer“, „Das schlaue Füchslein“, „Carmen“ und „Wozzeck“ ergänzt. Unter den 13 Wiederaufnahmen rangieren David McVicars gerühmter „Don Carlo“, Claus Guths „Rosenkavalier“ – der erst am 24. Mai Premiere hat – und sein Puccini-„Trittico“, Janáčeks „Sache Makropoulos“ mit Jonathan Darlington am Pult und Händels „Giulio Cesare“. Der „Ring“ Vera Nemirovas wird für zwei Zyklen wieder aufgenommen; hierfür beginnt der Vorverkauf schon am 1. Juni. Rasmus Baumann, Chef der Neuen Philharmonie Westfalen und früher Kapellmeister in Essen, dirigiert Humperdincks „Hänsel und Gretel“, Giacomo Sagripanti, mehrfach am Aalto-Theater zu Gast, leitet die Wiederaufnahme von Rossinis „Diebischer Elster“. Wiederkommen wird auch die von Anselm Weber (von Bochum kommender Schauspielchef in Frankfurt ab 2017) inszenierte „Tote Stadt“ von Erich Wolfgang Korngold, bei der Sebastian Weigle dirigiert.

Info: www.oper-frankfurt.de/de/page1019.cfm

Dirigiert in Frankfurt den "Ring", aber auch Glinkas "Iwan Sussanin": Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Dirigiert in Frankfurt den „Ring“, aber auch Glinkas „Iwan Sussanin“: Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel




Tiefe Gefühle, brisante Konflikte: Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt

Christof Loy bezieht mit seiner Inszenierung von Giacomo Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt klar Position: „Ich finde es … falsch, das Stück zu aktualisieren“, zitiert ihn das Programmheft. Falsch, weil die Naivität der Menschen auf der Bühne verloren gehen würde. Verzicht auf Aktualisierung freilich heißt für ihn nicht Verzicht auf Stilisierung: Herbert Murauer baut keine Hollywood-Wildwest-Kulisse. Sein Raum ist der von Loy so geliebten Kasten, diesmal eng, niedrig, flach wie ein Bretterverschlag.

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis "La Fanciulla del West". Foto: Monika Rittershaus

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis „La Fanciulla del West“. Foto: Monika Rittershaus

Nach draußen führt immer nur ein kleines, bedeutungsvolles Fenster. Es lässt einen blendend hellen Schein in den Raum – und in diesem Licht träumt Minnie, die Protagonistin: Von einem Aufbruch ins Irgendwo? Vom Glanz einer wahren Liebe? Vom inneren Licht der schmerzlich vermissten Bildung? Den Aufbruch wird sie am Ende wagen – hinein in ein goldenes Leuchten (Licht: Bernd Purkrabek), das sich auf den Gesichtern der Goldgräber im Frankfurter Opern-Kalifornien widerspiegelt.

Loy erzählt in dieser Übernahme von der Königlichen Oper Stockholm – ursprünglich sollte Richard Jones diesen Puccini inszenieren – nicht einen saftig-spannenden Western. Nur der Schwarz-Weiß-Filmvorspann spielt an auf die goldene Zeit der amerikanischen Filmindustrie, bedient den Primadonnen-Mythos, der ja auch in der Oper eine Rolle spielt, evoziert die Parallele zum Film, wenn handelnde Personen in Schwarz-Weiß auf die Bühnenwand projiziert werden.

Immer wieder überhöht Loy die vermeintlich realistischen Elemente der Erzählung und der Bühne: Nicht nur das Fenster ist mit seinem unwirklichen Lichteinfall eher eine Chiffre. Wenn Murauer zwischen Minnies Garderobe und die Bar „Polka“ eine Mauer zieht, und wenn der rasend verliebte Sheriff Jack Rance an dieser Wand steht und spürt, er werde sie nie überwinden, wächst der Raum über sich selbst hinaus, wird zum Gleichnisort tiefer Gefühle und brisanter Konflikte.

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis "Fanciulla del West" stehen. Foto: Monika Rittershaus

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis „Fanciulla del West“ stehen. Foto: Monika Rittershaus

Dennoch erzählt Loy vor allem: Er erzählt eine Geschichte von Melancholie, Heimweh, Einsamkeit; von Empathie und der Last der Herkunft, von Schicksal, Gemeinheit und Edelmut. Manchmal wirkt das etwas zu filmisch, macht es dem Zuschauer leicht, sich in der Rolle des genießenden Betrachters zurückzulehnen. Tilman Knabe hat das Konfliktpotenzial und die Tragödie in seiner Mannheimer Inszenierung radikaler zugespitzt: Knabe verlegt die Handlung in eine verlorene, heruntergekommene Militärstation an der Grenze zu Mexiko, brutalisiert die Konflikte zwischen den Goldgräbern, zeichnet Dick Johnson nicht als den edlen Tenor-Ganoven, sondern changierend zwischen Kriminellem und Widerstandskämpfer.

Scharf beleuchtet Knabe den Agenten des Konzerns Wells Fargo, Mr. Ashby, als Drahtzieher im Hintergrund, dessen Rolle die naiven Goldgräber nicht durchschauen, bis das Militär aufmarschiert – eine Lesart, die jene ausbeuterischen Zustände kritisiert, welche die historische Folie des sonst so malerisch empfundenen Western-Milieus sind. In Frankfurt ist Alfred Reiter ein geschniegelter, aber sonst eher harmloser Vertreter – was aber auch daran liegen könnte, dass die nachstudierte Übernahme aus Stockholm manches Profil nicht so scharf wie ursprünglich gedacht umrissen hat.

In seiner „Fanciulla“ – der ersten Inszenierung der Puccini-Oper in Frankfurt seit 1958 – gleicht Loy die zurückhaltende konzeptionelle Zuspitzung aus, weil er seine Protagonisten virtuos und sensibel führt. Das gilt nicht nur für die resolute, warmherzige Minnie der Eva-Maria Westbroek mit ihrer unbestimmten Lebenssehnsucht und ihrer tiefen Menschlichkeit, die man ganz altmodisch als Nächstenliebe bezeichnen möchte. Es gilt auch für den Sheriff Jack Rance, den abgebrühten Spieler, der unter seiner abgewiesenen Liebe zu Minnie wie ein Hund leidet, aber auch berechnend, zuschnappend wie ein scharfer Jäger, sein kann.

Carlo Ventre als Dick Johnson ist letztendlich doch eher Tenor als Darsteller – und nicht einmal ein besonders glanzvoller: Sein Timbre ist stets von einem heiser-verbrauchten Beiklang begleitet, seine Kraft ist eindimensional und führt nicht zu einem weit projizierten Stimmklang. Auch Ashley Hollands Bassbariton ist für den Sheriff nicht so optimal im Körper verankert, dass er seinen Ton resonanzreich gestalten könnte – so kommt sein psychologisch bewusstes, klug gestaltendes Singen leider immer wieder an physische Grenzen.

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus (3)

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus

Und Eva-Maria Westbroek, die oft gefeierte Dramatische, die Sieglinde des Frankfurter „Rings“, schafft es nicht, die Höhe in die Linie einzubinden, muss vor allem forcieren, wenn sie aus der Mittellage ins hohe Register aufsteigt. Dann wird der Ton gequält und prekär. Ihre warme, volle Mittellage dagegen überzeugt, steht ihr in allen gestalterischen Facetten zu Gebot und führt dazu, dass der zweite Akt – in dem das Keimen der Liebe zu Dick Johnson und die entsetzliche Enttäuschung fesselnd entwickelt ist – ein atemberaubender Höhepunkt der Frankfurter „Fanciulla“ wird.

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Der Regisseur hat auch ein Auge auf die zahlreichen Nebenrollen und die Individuen des Chores, den Matthias Köhler musikalisch sicher präpariert hat. Dass Loy Elisabeth Hornungs Wowkle – die indianische Bedienstete Minnies – allerdings zur komischen Figur macht, will nicht mehr einleuchten, wenn man in Mannheim Tilman Knabes an dieser Figur entwickelte Studie über den Rassismus der weißen Frau gesehen hat.

Rundweg begeisternd agiert in Frankfurt wieder einmal das Orchester. Nun hat stellvertretender GMD Alois Seidlmeier in Mannheim seinen Job wirklich ausgezeichnet gemacht, aber die Vielfalt der Farben, die dynamische Finesse, den impressionistischen Klangschmelz, aber auch die Prägnanz rhythmischer und repetitiver Motive, die schon an Janáçek denken lassen, hat das Mannheimer Orchester nicht so bezwingend umgesetzt wie seine Frankfurter Kollegen unter Sebastian Weigle. Modern und klangsinnlich zugleich, emotional und strukturiert: Weigles Blick auf Puccini überwindet alle Vorurteile; lässt hören, wie der Komponist die Traditionen des Belcanto und der Spätromantik transformiert in seine unverwechselbare Klangsprache, die mehr als nur eine ferne Ahnung von den Aufbrüchen der Moderne in sich integriert. Auch deshalb darf man der Frankfurter Oper wieder einmal für einen spannenden, erfüllten Abend dankbar sein.




Metapher des Zufalls: Sergej Prokofjews „Der Spieler“ in Frankfurt

Dostojewskis „Spieler“ ist eine existenzielle Figur, die ein Thema der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zusammenfasst, nämlich die Frage, wie sich der Mensch im Spannungsfeld von Mächten verhält, die er nicht beeinflussen kann. Oder die auf seine Aktionen unberechenbar reagieren. Tolstoi hat den historischen Zufall in seiner ganzen Absurdität in „Krieg und Frieden“ ausführlich thematisiert. Wie heißen die Alternativen? Gottergebenheit oder Nihilismus?

Schon die Bibel wusste, dass sich Gott nicht zu einem für den Menschen einsichtigen Sinnzusammenhang zwingen lässt: Den Guten kann es schlecht, den Schlechten gut gehen. Selbst für den gläubigen Menschen, falls er nicht vollkommen naiv ist, bleibt der dunkle, unerklärbare Rest der Geschichte, das strukturell Böse jenseits des moralischen Übels. Und Sergej Prokofjews „Der Spieler“ ist eine Oper, die das Schicksal auf den Spieltisch schleudert – selbst, wenn die Figuren in diesem Reigen vordergründig logisch triumphieren oder scheitern.

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Wer triumphiert in diesem Stück, das an der Oper Frankfurt eine bezwingende Neuinszenierung erfuhr? Nicht die Liebe, nicht das Glück, nicht die Berechnung. Die Kugel auf der riesigen leuchtenden Roulette-Scheibe von Hans Schavernoch rollt gleichmütig und unberührt. Nur die alte Babuschka, eine jener grotesk-unheimlichen Frauen aus Russlands literarischem Erbe, könnte als Siegerin durchgehen, weil sie der Kugel ihren Tribut zollt: Sie befeuert den blinden Zufall, indem sie ihr ganzes Vermögen verspielt statt es zu vererben.

Ein anderer Schein-Sieger ist der Spieler selbst, Alexej, der Hauslehrer des bankrotten Generals. Seine Glückssträhne – 20 Mal Rot hintereinander – aber ist die grelle Ouvertüre zum letzten Akt seines existenziellen Unglücks: Da scheitert mehr als die Liebe zu seiner Schülerin Polina, da scheitert ein Mensch im Angesicht des Ungreifbaren: Schicksal und Liebe sind unverfügbar, Geld rettet und richtet nichts.

Das Leben - ein Roulette: "Der Spieler" in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Das Leben – ein Roulette: „Der Spieler“ in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Die Bühne braucht einen solchen Kenner menschlicher Tiefen wie Harry Kupfer, um aus der spröden Konversationsoper das packende Stück zu schaffen, das in Frankfurt zu sehen war. Mit seiner auf die Personen konzentrierten Regie bespielt Kupfer das illustrierend-kommentierende Bühnenbild mühelos: Hans Schavernoch erinnert an Klinikflure und geheimnisvoll gläserne Paläste, zeigt die glamourösen Sterne der Halbwelt und die lautlosen Gefahren der Außenwelt. Die Katastrophe des Spielers Alexej beschränkt sich nicht aufs Individuelle: Als er am Ende die Pistole auf seine Schläfe richtet, schlägt ein Komet auf der Erde ein – wie in Lars von Triers „Melancholia“.

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews "Der Spieler" an der Oper  Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews „Der Spieler“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

In Frank van Aken weckt Harry Kupfer den Darsteller und führt ihn zu großer Klasse: Van Aken liefert sich an die Riesenpartie aus, singt sie psychologisch durchdringend, gestaltet sie spannungsreich in ihrer Ambivalenz, zwischen aussichtlos – und daher erst recht vorbehaltlos – Liebendem und grotesk im Spielrausch Versinkendem. An der Seite dieser grandiosen Sängerleistung kann kaum jemand bestehen, obwohl Kupfer mit den allesamt vorzüglichen Frankfurter Darstellern bewundernswert scharf beobachtete bizarre Typen formt.

Nur eine zieht gleich: Anja Silja als Babuschka, an den Rollstuhl gefesselt, kostet ihre Macht aus, auch wenn sie nur eine negative ist. Ihr Geld bekommt niemand, eher überlässt sie es dem blinden Lauf der Kugel: In dieser Szene triumphiert die absurde Sinnlosigkeit des Geldes. Siljas Auftritt ist eingehüllt von der Magie einer Bühnenlegende – und dieser auratische Glanz stimmt das Gehör für den Rest ihrer Stimme milde und aufmerksam.

Später, wenn Frank van Aken seinen Gewinn über sich abregnen lässt und in einem Haufen Papiergeld sitzt, wird dieser Gedanke szenisch noch einmal überhöht und präzisiert: Polina, das prätentiöse, undurchschaubare und in der Regie wohl bewusst uneindeutig belassene Weibchen, wirft dem hoffnungslos verliebten Alexej sein Geld an den Kopf – einer der unverwechselbaren Auftritte der wie immer in ihrer Rolle lebenden Barbara Zechmeister.

Dank Kupfers Regiekunst wirken die farcenhaft stilisierten Nebenfiguren nie übertrieben. Sie sind in ihrer Gier, ihrem Wahn, ihrer Verfallenheit grotesk komisch (die diversen Damen der Gesellschaft mit Claudia Mahnke als zynisch abgedrehter Blanche), lächerlich tragisch (der alte General Clive Bayleys) oder schmierig undurchsichtig (Martin Mitterrutzner als Marquis oder Sungkon Kim als Mr. Astley). Die Kostüme von Yan Tax, changierend zwischen historischen Anklängen und flirrender Eleganz, unterstreichen die Charaktere.

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Mit dem Frankfurter Orchester bewegt sich Sebastian Weigle wieder einmal auf dem Niveau, das er durch seine Wagner-Interpretationen, aber auch mit Humperdincks „Königskinder“ oder Korngolds „Die tote Stadt“  markiert hat. Prokofjew schenkt den Musikern nichts: Seine Musik kann hitzig und auftrumpfend sein, bewegt sich aber oft in komplex konstruierten Klangmixturen, in denen solistische Präsenz und ein unbestechliches Gehör für die Partner-Instrumente im Orchester nötig sind. Weigle lässt diese rhythmisch verstörten Farbgemische so bunt vorüberziehen wie die Lichter in Schavernochs Bühnenprojektionen (realisiert von Thomas Reimer). Prokofjew kann sarkastisch kommentieren, aber die Musik löst sich auch vom Geschehen und hat dann einen Zug zu Hindemith’scher Autonomie.

Dass diese Oper so selten gespielt wird – in der Rhein-Ruhr-Region etwa in einer Regie Bohumil Herlischkas 1980 in Düsseldorf – ist nicht recht verständlich. Man darf auf eine Wiederaufnahme in Frankfurt hoffen, nachdem die sieben Vorstellungen ausverkauft waren. De Nederlandse Opera, die im Moment Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“ spielt, kündigt den „Spieler“ für die kommende Saison an: Premiere der Inszenierung von Andrea Breth ist am 7. Dezember 2013.

 




„Ruhri“ am Main: David Bösch inszeniert in Frankfurt Humperdincks „Königskinder“

Engelbert Humperdinck ist einer jener Ein-Opern-Komponisten, von dem sich nichts im Repertoire gehalten hat als das zum Weihnachtsmärchen verniedlichte grausame Kinderschicksalsstück „Hänsel und Gretel“. Wissenschaft und Theaterpraxis haben seine anderen Bühnenwerke mit dem vernichtenden Satz eingesargt, dass der Meister an seinen „früheren Erfolg nicht anknüpfen konnte“.

Gefährdete kindliche Idylle: Amanda Majewski als Gänsemagd in Humperdincks "Königskinder" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Gefährdete kindliche Idylle: Amanda Majewski als Gänsemagd in Humperdincks „Königskinder“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Göttergleich fällt die Rezeptionsgeschichte das Urteil, ohne Bewusstsein für ihre eigenen, höchst vorläufigen Bedingungen. Der Regisseur Peter P. Pachl hat vor Jahren auf „Das Mirakel“ aufmerksam gemacht, ein einst ungeheuer erfolgreiches Theater-Experiment von Karl Gustav Vollmoeller und Max Reinhardt mit Musik Humperdincks – leider bisher vergeblich.

Einst erfolgreich, heute eine Rarität: Das gilt auch für Humperdincks zweite Oper „Die Königskinder“. An der Met, wo sie 1910 uraufgeführt wurde, war sie einige Zeit ein sicheres Repertoirestück. In den letzten Jahren gab es Versuche, ein neues Licht auf das spannende, den magischen Realismus eines Gerhart Hauptmann und symbolistische Strömungen der Wende zum 20. Jahrhundert aufnehmende Sujet zu werfen. In der Intendanz von Claus Leininger in Wiesbaden hat es Alois Michael Heigl 1991 eindrucksvoll realisiert; jüngst haben große Häuser wie München und Zürich eine neue Runde für die „Königskinder“ eröffnet.

Frankfurt zieht nun nach und verpflichtete mit David Bösch einen Regisseur, der in der Ruhr-Region seine ersten Arbeiten gezeigt hat und als innovativer, origineller Theatermann in Erinnerung bleibt: Viel gerühmt seine Shakespeare-Inszenierungen in Essen („Sommernachtstraum“, 2005) und Bochum („Romeo und Julia“, 2004), seine jeder Verkopfung widerstrebende Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Stücken, seine preisgekrönten Arbeiten wie „Viel Lärm um Nichts“ am Thalia Theater Hamburg.

Im Musiktheater hatte David Bösch diesen Erfolg nicht: Vivaldis „Orlando furioso“ in Frankfurt (2010) blieb in schrillem Klamauk stecken; auch sein Debüt in der Oper mit Donizettis „L‘Elisir d’amore“ am Münchner Nationaltheater wurde eher kühl aufgenommen. Mit den „Königskindern“ machte er sich an einen Stoff, dem die Autorin Elsa Bernstein-Porges zwar aus Märchenmotiven heraus entwickelt, aber nicht im Märchen verharren lässt. Was im ersten Akt, mit Hexe, Gänsemagd und Königssohn, noch mit vertrauten Figuren spielt, entwickelt sich im zweiten fast zum Sozialdrama, um im letzten Akt zu einer symbolistisch geprägten Nicht-Erlösungs-Geschichte zu mutieren.

Bösch und sein Team Patrick Bannwart (Bühne), Frank Keller (Licht) und Meentje Nielsen (Kostüme) nähern sich diesen verschiedenen Ebenen, indem sich die Geschichte aus der Sicht der beiden Heranwachsenden – der Gänsemagd und des Königssohns – entwickeln. Der Zauberkreis des ersten Bildes entspricht der Wahrnehmung eines Kindes: Die Gänsemagd empfindet den Druck der zweckmäßig organisierten Erwachsenenwelt; ihre „Erzieherin“ wird folglich zur „Hexe“, die sich schon in der Einleitung wie ein schwarzer Scherenschnitt am Horizont abzeichnet.

Das Kind spiegelt sich im Brunnen – eine symbolistisch geladene Chiffre – und genießt Sonne und Tiere; die Hexe drängt auf praktische Arbeit, deren Sinn freilich für das Kind undurchschaubar bleibt. „Wirst du den Kessel spülen? Ist der Brunnen nur gut als Spiegel?“ sagt die Alte: Ein Vers der exemplarisch für die unterschiedlichen Perspektiven steht.

Das Libretto von Elsa Bernstein-Porges, die unter dem Pseudoym „Ernst Rosmer“ geschrieben hat, bleibt jedoch nicht im Märchenhaften oder Psychologischen stecken – und Bannwarts Bühne zeigt das in überzeugender Bildsprache: Kreidezeichnungen kindlicher Spiele auf dem Boden, ausgeschnittene Gänse und Blumen rundum aufgesteckt. Das Kind entwirft sich seine Welt selbst. Sie beginnt, brüchig zu werden, als der Königssohn in sie eindringt. Die Entdeckung des „Du“ und der Erotik entfremden die Gänsemagd ihrer Welt. Entrinnen kann sie ihr noch nicht; erst als ihr der „Spielmann“ den Weg weist, den Zauber zu zerreißen, gelingt der Ausbruch in neue Erfahrungsräume.

Der zweite Akt in der Hellastadt trägt noch am deutlichsten die sozialkritischen Züge, die Bernstein-Porges im Sinn hatte: Bösch erzählt ihn als grimmige Parabel einer selbstgenügsamen Gesellschaft. Wie Maden aus einem Stück Speck kriechen die Bürger aus den Kanälen ihrer „Höllastadt“ – so verkündet der Zwischenvorhang mit dem abgestürzten korrekten „e“ den Namen. Der Herzensadel, mit „Lieben und Leiden“ errungen, gilt ihnen wenig, mehr noch: Sie bemerken ihn nicht einmal. Nur ihre Kinder weinen, als sie Königssohn und Gänsemagd aus ihrer satten Hölle vertreiben. Diesen sinistren Karneval dumpfer Selbstbezogenheit inszeniert Bösch zu wörtlich, stellt dralle Opernfiguren auf die Bühne. Da helfen auch die Schweinemasken nicht viel weiter.

Zweiter Akt der "Königskinder" an der Oper Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Zweiter Akt der „Königskinder“ an der Oper Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Für den sozialen Kältetod des Königskinder-Paares hält Patrick Bannwart seine Bühne wüst und öde. Nur nutzt Bösch die konzentrierende Leere nicht, um dieses Sterben zu transzendieren und der symbolistisch angelegte Figur des Spielmanns eine neue Dimension zu geben. Er steht nicht für eine Art Kunst-Erlöser, aber er ist eine sinngebende Gestalt, die dem inneren Entwicklungsweg der Kinder, aber auch ihrem Sterben die Bedeutung jenseits des Sozialdramas gibt. Das Lied des Spielmanns, in die Herzen gesenkt, macht die Kinder „sehend“; die Auferstehung der Königskinder in den Herzen gibt die Hoffnung auf eine neue Generation, fern der inneren Blindheit der Höllastadt und ihrer in Begierden gefangenen Bewohner.

Bösch verrät das Visionäre dieses Finales, wenn der vortrefflich singende und gestaltende Nikolay Borchev als humpelnder Opern-Opa über die Bühne hüpft, die Kinder ihre Holzschwerter zücken und das „Häppie Äntt“ auf hochgehaltenen Täfelchen konstatieren. Abwegig erscheint der Selbstmord der Königskinder per Schwertstreich. Er entwertet das Brot, das die Gänsemagd im ersten Akt backen muss, zum bloß peripheren Requisit, wo es doch ein sinnstiftendes dramaturgisches Mittel sein soll. Denn es ist nicht nur mit dem Todesfluch der Hexe behaftet, sondern auch mit dem Spruch des Mädchens: Der Esser „mag das Schönste sehn, so er wünscht sich zu geschehn“. Bösch findet kein theatrales Mittel, den symbolistisch-transzendierenden Aspekt von Humperdincks Oper zu vertiefen. Der dritte Akt verflacht, weil er sich zu wenig dem Sog des Vorhergegangenen entzieht.

Nur die Kinder verstehen den Spielmann (Nikolay Borchev). Foto: Wolfgang Runkel

Nur die Kinder verstehen den Spielmann (Nikolay Borchev). Foto: Wolfgang Runkel

Man darf annehmen, dass Frankfurts GMD Sebastian Weigle nicht ganz unbeteiligt an der Wahl des Stückes gewesen ist: Seine Domäne ist die deutsche Oper mit ihren Höhepunkten Wagner und Strauss. Humperdinck „Königskinder“ sind ein Zeugnis des mühevollen Strebens einer ganzen Komponistengeneration, sich aus dem riesigen Schatten Wagners heraus ins Licht neuer Ideen zu bewegen.

Humperdincks Schüler und des Bayreuther Meisters Spross und Erbe Siegfried Wagner ist ein anderer dieser vergessenen Generation, der im Licht einer neuen Rezeption geprüft werden müsste. Weitere sind zu nennen, etwa der langjährige Strauss-Vertraute Ludwig Thuille, ambivalente Komponisten wie Max von Schillings oder die französischen Vertreter des „Wagnerisme“. Vielleicht wäre diese verdienstvolle „Königskinder“-Aufführung ein Impuls, sich dieser Epoche zuzuwenden? Der erfolgreiche Intendant Bernd Loebe, der Anfang des Monats seinen Vertrag bis 2018 verlängerte, hätte die Kapazitäten seines Hauses und das Interesse des Publikums auf seiner Seite.

Und Sebastian Weigle bringt den Sensus für diese Art von Musik mit. Er macht mit dem wieder einmal ausgezeichnet disponierten Orchester der Oper deutlich, wo die Anklänge an Wagner liegen, aber auch, wo sich Humperdinck entschieden von dessen Vorbild abwendet. Weigle arbeitet kammermusikalische Finessen heraus, die den Techniker Humperdinck in bestem Licht erscheinen lassen, kennt aber auch den Herzenston der aufbrechenden Melodik, den schimmernden Zauber der Klangkombinationen. Dass er auf dem dreistündigen Weg durch Humperdincks Partitur auch matte Momente durchrutschen ließ, sei nicht verschwiegen.

Mit dem Königssohn hat sich das einstige Ensemblemitglied Daniel Behle erfolgreich eine schwierige Zwischenpartie erobert, die ihm weniger im lyrisch frei ausgestalteten Zentrum als in den noch nicht nachdrücklich genug gestützten Höhen Grenzen setzt. Amanda Majeski überzeugt durch ihre kindliche Aura und ihr Gespür für die Psychologie der Gänsemagd, geht aber zu zaghaft daran, vor allem im zweiten und dritten Akt Stimmfarben einzusetzen, die eine Entwicklung der Figur charakterisieren könnten.

Julia Juon, von der Szene zu sehr auf Märchenhexe festgelegt, muss den Beweis nicht antreten, was für eine großartige Sängerin sie ist. Man freut sich auf jeden Auftritt. Magnús Baldvinsson und Martin Mitterrutzner passen als Holzhacker und Besenbinder zu ihren Charakterpartien, die im dritten Akt manchmal in die Nähe missverstandener Lortzing’scher Chargen rücken. Für vorzüglich ausgefüllte kleinere Partien mögen Nina Tarandek und Katharina Magiera als Wirtstochter und Stallmagd stehen. Nicht zu vergessen sind der solide Chor Matthias Köhlers und der Kinderchor, der anspruchsvolle Aufgaben tapfer bewältigte. Michael Clark und Felix Lemke haben ganze Arbeit geleistet!

Weitere Aufführungen: 14., 19., 25., 27. Oktober.