Arbeitsschweiß und Maschinenrhythmus: „Stahlkocher“ als Thema eines Konzerts in Dortmund

Die Torte trägt einen Smoking, ist eingehüllt in Noten und fußt auf einer Klaviertastatur. Damit es endlich weitergeht, betätigt sich Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz ausnahmsweise destruktiv. Messer her, energische Schnitte, und schon landen die ersten saftigen Schokoladenkuchenstücke auf den Tellern.

Dortmunds GMD Gabriel Feltz schneidet seine Torte an. (Foto: Werner Häußner)

Das Produkt der Konditorenkunst gilt der Hommage an eine ansonsten durch und durch aufbauende Persönlichkeit: Gabriel Feltz feiert nach dem Zweiten Philharmonischen Konzert der Dortmunder Philharmoniker sein zehnjähriges Dienstjubiläum in der Stadt.

Da wird viel Harmonie bekundet: Oberbürgermeister Thomas Westphal, Theaterdirektor Tobias Ehinger und Orchestervorstand Hauke Hack singen Hymnen auf den rührigen GMD, heben Ideenreichtum, Innovationskraft, Energie und Fleiß hervor, lassen mit launigen Bonmots auch mal schmunzeln. Feltz dankt, bekundet seine Verbundenheit mit Dortmund und verteilt dann entschlossen das süße Präsent.

Künstlerisch hat das Philharmonische Konzert das Lob mit einem so originellen wie hochkarätig dargebotenen Programm unterfüttert. Einer der glückhaften Abende mit Feltz, von dem – der Kritiker hat die undankbare Aufgabe solcher Hinweise – es auch schon andere zu erleben gab. Ein Abend unter dem Motto „Stahlkocher“, denn diese Saison widmet das Orchester seiner Heimatregion, dem Ruhrgebiet. Die programmatischen Linien ziehen sich von unter Tage über Fußball, Flora und Fauna bis zum Tanz und mit der Taubenzucht auch hinauf in den früher gar nicht so blauen Himmel über der Ruhr.

Ein T-Shirt zum Jubiläum. (Foto: Sophia Hegewald)

Mit unbekannten Werken lassen die Philharmoniker also noch einmal die vergangene Landschaft der Schwerindustrie künstlerisch greifbar werden. Dass die Welt der Industriearbeit im Sozialismus zumindest dem Anspruch nach einen zentralen Schwerpunkt bildete, hat sich auch im musikalischen Schaffen niedergeschlagen. „In der Eisengießerei“ ist ein dreiminütiges Stück des in großen Musiklexika nicht auffindbaren Alexander Mossolow (1900-1973), das diesen Blickwinkel beispielhaft repräsentiert.

Mossolow, vor seiner Verurteilung als „Konterrevolutionär“ ein musikalischer Avantgardist, lässt das Orchester unter Missachtung herkömmlicher Regeln den Geräuschpegel einer Fabrik erzeugen: Lärmcluster, rhythmisches Stampfen, das regelmäßige Quietschen irgendeines mechanischen Teils, dumpfe und grelle Schläge – und dazwischen dürfen vier Hörner mit vollem Schalldruck Signale gellen lassen, bevor mit Gong und Knall die Maschinerie zum Stillstand kommt. Naturalistischer geht’s nimmer, und man fragt sich, was wohl geworden wäre, hätten Bert Brecht und Kurt Weill ihre von konservativen Kreisen in Essen hintertriebene „Ruhr-Oper“ tatsächlich geschrieben – oder Mossolow sein Ballett „Stahl“, das bis auf diesen Satz über die Fabrik unausgeführt blieb.

Mossolow hat noch andere solcher Werke wie „Die Traktorenbrigade fährt in die Kolchose ein“ hinterlassen; viele sind verschollen, fast alle wissenschaftlich unbearbeitet, aber die drei Minuten wecken Lust, zum Beispiel einmal eine seiner Sinfonien zu hören, die wohl einen wunderlichen Kontrast zu seinem Zeitgenossen Dmitri Schostakowitsch bilden würden. Denn Mossolow unterwarf sich später dem Diktat der sowjetischen Kunstdoktrin, um unauffällig sein Leben zu führen.

Das andere in den thematischen Rahmen passende Werk ist Sergej Prokofjews „Der stählerne Schritt“ op. 41, ein unverkennbares Propagandawerk, das nach Folklore-Fetzen, schrägem Pathos und verfremdetem Mussorgsky in eine hochvirtuos stilisierte Stahlfabrik führt, wo der neue „heroische“ Sowjetmensch in Richtung Kommunismus unterwegs ist. Dass die Entfremdung nicht aufgehoben ist, macht Prokofjews Musik – bewusst oder nicht – aber auch deutlich. Unter dem brutalen Stampfen des Rhythmus, dem Takt von Maschinen dem schrillen Kreischen unerkannt bleibender technischer Vorgänge droht das Individuum unterzugehen.

Vielleicht ist diese Lesart zu spekulativ: Aber Prokofjew sträubt sich dagegen. Er lässt immer wieder Soli durch die Kulisse des Lärmens brechen; zwei Fagotte haben viel zu tun, die anderen Holzbläser treten auf einmal mit einer Kantilene hervor und der Klang verschiebt sich immer wieder in neuen Instrumentenkombinationen. Die Dortmunder lassen keinen Arbeitsschweiß auf ihre Stirnen treten. Sie sind in jedem Moment souverän und reaktionsschnell bei der Sache, und Feltz plustert die dissonanten Blechbläser nicht auf, sondern strukturiert den Maschinenlärm, der weit stilisierter und „abstrakter“ gefasst ist als bei Mossolow.

Das ist eine der deutschen „Pacifics“ der Baureihe 01, wie sie Arthur Honegger musikalisch porträtiert hat. Solche Lokomotiven waren bis in die sechziger Jahre auch in Dortmund in großer Zahl anzutreffen. (Foto: Archiv Häußner)

Ein dritter Aspekt der Industrialisierung beschließt das Konzert. Arthur Honegger, wie übrigens auch Antonín Dvořák ein bekennender Eisenbahnfan, lässt in seinem Klanggemälde „Pacific 2.3.1.“ die Arbeitsgeräusche einer Schnellzug-Dampflokomotive zu einem raffinierten Musikerlebnis werden. Auch für dieses Stück kann man einen Dortmund-Bezug reklamieren: „231“ sagt in angelsächsischen Ländern etwas über Anzahl und Anordnung der Achsen einer Lokomotive. In Deutschland waren etwa die ab 1925 gebauten Dampfloks der Baureihe 01 solche „Pacifics“, und in Dortmund war bis zum Ende der Dampfzeit in den sechziger Jahren eine erhebliche Anzahl dieser Maschinen stationiert.

Das Orchester  bringt Honeggers beschreibende Musik mit Glanz und Verve zum Klingen, aber Feltz lässt sie nicht klangmalerisch schnaufen und pulsieren wie etwa Rossini in seinem köstlich-ironischen „Vergnügungszug“. Vielmehr stellt er heraus, dass Honegger eine gewitzte analytische Studie über Bewegung, Metrum und Rhythmus geschaffen hat.

Den Kontrast zu all diesen Reminiszenzen an das Industriezeitalter bildet Sergej Rachmaninows beliebtes c-Moll-Klavierkonzert op. 18, das Herz des Abends. Nikolai Lugansky hat am Anfang nicht die Entschiedenheit, den Flügel aus der Deckung des Orchesters treten zu lassen, aber die Balance findet sich rasch. Die dunkel timbrierten Streicher des Beginns münden in eine wirkungsvolle Steigerung, und dann findet der Pianist zu schwebenden Klängen, aparten Rückungen und Varianten im Tempo.

Der dritte Satz, ein „allegro scherzando“, gelingt konturenscharf, kraftvoll zupackend, aber nicht dröhnend. Brillanten Schritts geht es in Richtung Finale, es herrscht die Lust am saftigen Musizieren, das auch vor Pathos nicht zurückscheut. Rachmaninow als Gegenwelt – lassen da nicht die grünen Eilande des Ruhrgebiets grüßen, in die Denkmäler der Industrie als neue Orte einer Romantik ragen, die unseren schaffenden Vorfahren unwirklich vorgekommen wäre?

Das nächste Philharmonische Konzert, diesmal mit Christoph Altstaedt als Dirigent, trägt den Titel „Taubenzüchter“ und präsentiert Antonín Dvořáks „Die Waldtaube“, seine 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ und das farbig-sinnliche Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds mit Anna Tifu als Solistin. Termin: 14./15. November, jeweils 19.30 Uhr im Konzerthaus Dortmund. Tickets: www.theaterdo.de, Tel.: (0231) 50 27 222.




Sympathischer Tourneebeginn: Daedalus-Quartett mit amerikanischer Musik der Gegenwart in Essen

Das Daedalus-Quartett hat sich seit seiner Gründung im Jahr 2000 zu einem der führenden amerikanischen Streichquartette entwickelt. Beginnend mit einer Matinee in der Essener Philharmonie tourt das Ensemble im Februar und März mit 20 Konzerten durch deutsche Städte. Wenn ein solch profiliertes Quartett nach Europa kommt, liegt es nahe, auch zeitgenössisches Schaffen aus dem musikalisch hierzulande weithin unbekannten Land jenseits des Ozeans vorzustellen.

Das Daedalus-Quartett. Foto: Lisa-Marie Mazzucco

Das Daedalus-Quartett. (Foto: Lisa-Marie Mazzucco)

Zum Glück hat sich die Philharmonie nicht Beethoven, Brahms und Puccini gewünscht, sondern das Daedalus-Quartett mit einem ungewöhnlichen und alleine daher reizvollen Programm debütieren lassen: Umrahmt von Felix Mendelssohn-Bartholdys letzten Streichquartett-Kompositionen, dem Tema con Variazioni und dem Scherzo aus den vier Sätzen op. 81 und einem Satz aus Joseph Haydns op. 1/3 als Zugabe, spielte die amerikanische Formation Sergej Prokofjews selten aufgeführtes Streichquartett Nr. 1 in der ungewöhnlichen Tonart h-Moll und die „Chaconne“ von Fred Lerdahl. Der in den USA bekannte Komponist und Musiktheoretiker, der u.a. bei Wolfgang Fortner in Freiburg studiert hat, schrieb das Werk 2016 zum 15jährigen Bestehen des Daedalus-Quartetts, das zuvor schon Lerdahls drittes Streichquartett uraufgeführt und gemeinsam mit den Quartetten Nummer eins (1978/2008) und zwei (2010) auf CD aufgenommen hatte.

Dramatische Impulse und virtuoser Anspruch

Die Bezeichnung „Chaconne“ weist auf Bach zurück und unterstreicht, dass Lerdahl seine Erfindungsgabe im Dialog mit der Tradition entfaltet. Und wie bei Bach prägen die mit Buchstaben aus dem Namen des Quartetts korrespondierenden Noten (D, A, E) das musikalische Material. Dieses stellen die vier Musiker im stillen, fragmentarisch wirkenden Beginn vor.

Allmählich bildet sich aus den wie vor ferne her wehenden Motiven ein Zusammenhang, der sich zunehmend verdichtet und zu einem komplexen harmonischen Geflecht mit dramatischen Impulsen und virtuosem Anspruch entwickelt. Das Ende knüpft nach den labyrinthischen Verschlingungen der Stimmen – passend zum Namen der Quartetts, denn Dädalus gilt als Erfinder des Labyrinths – wieder am Beginn an. Eine zyklische Form, die in der zeitgenössischen Musik beliebt ist.

Min-Young Kim, Matilda Kaul, Jessica Thompson und Thomas Kraines umrahmen das Konzert mit europäischer Tradition: Die beiden Quartettsätze aus op. 81 von Felix Mendelssohn-Bartholdy und den Satz aus Haydns op. 1/3 spielen sie mit leichtem, aber nicht zu glattpoliert verschmelzendem Ton. Bewundernswert konzipiert ist die strukturell fundierte Dynamik: Der große Bogen korrespondiert mit der harmonischen Verdichtung in Mendelssohns Variationen. Die federleichte Agilität des Quartetts lässt das Scherzo in genießerischer Delikatesse vorbeihuschen.

Energie im Rhythmus und nervöse Bewegung

Das schlanke, manchmal eine Spur zu zurückhaltende Klangbild des Quartetts führt in Sergej Prokofjews selten gespieltem Ersten Streichquartett zu einer struktursichtigen Darstellung mit Energie im Rhythmus und einer drängenden, nervösen Bewegung. Die differenziert markierte, weit gespannte, aufwärts strebende Melodie der ersten Violine nimmt Min-Young Kim mit drängendem Elan. Die Achtelbegleitung in punktierten Terzen und Quarten gibt dem Streben einen nervösen Zug; die Pizzicati des Cellos setzt Thomas Kraines etwas zu sanft. Der Schwung hält im weichen Allegro moderato etwas inne. Die Polyphonie wird aber im Marcato mit rhythmisch akzentuierten Repetitionen zur ersten Violine wieder reduziert, der nervös drängende Zug gewinnt wieder die Oberhand. Die melodische Phrase des Beginns wandert, harmonisch in der Begleitung vielfach gespiegelt, durch die Instrumente.

Der zweite Satz mit seinem inneren Bruch vom langsamen zu schnellem Tempo beginnt satt und dunkel, steigert sich dann zu unruhiger, vitaler Expression. Den dritten Satz mit seiner dichten harmonischen Faktur durchleuchtet das Quartett exemplarisch genau und klarsichtig. Ein Prokofjew, der im noblen Zugriff des Daedalus-Quartetts eher in eine klassizistisch polierte als in eine expressiv aufgeraute Richtung weist. Ein sympathisches Debüt.

Am Mittwoch, 14. März, 19.30 Uhr ist das Daedalus-Quartett noch einmal in der Region zu erleben. Auf Schloss Heessen in Hamm spielt es Mendelssohn, Brahms und das Streichquartett Nr. 2 op. 19 von Charles Ives. Info auf der Webseite des Stadt Hamm.

 




Ein warmer, tragender Klang: Der Kammermusiksaal des Musikforums Bochum ist ein Glücksfall

Das „Viktoria Quartett“ mit Philipp Willerding-Bach, Jiwon Kim, Aliaksandr Senazhenski und Esiona Stefani (v.l.n.r.). (Foto: Christoph Fein)

Streichquartett-Abende sind immer einen Besuch wert. Darf sich das geneigte Publikum doch gewissermaßen auf einem Olymp der Kunst wähnen. Hier wird die reine Vierstimmigkeit zelebriert, geht es mithin um nicht weniger als die Königsgattung der Kammermusik.

Kein Komponist, der was auf sich hielt oder hält, der nicht für Streichquartett schrieb oder schreibt. Von Haydn und Vorläufern bis hin zu Wolfgang Rihm und Jüngeren – kaum ein Kanon kommt ohne Werke für die Kombination von zwei Geigen, Bratsche und Cello aus.

Was Wunder: Der große Goethe hat dazu, ganz im Geiste der Aufklärung, seinen Segen gegeben. „Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.“ Da ist es zudem wenig verwunderlich, dass bis heute immer wieder neue Streichquartett-Ensembles sich der Herausforderung des rationalen musikalischen Gesprächs stellen wollen.

Bei den Bochumer Symphonikern haben sich im Laufe der Zeit zwei entsprechende Formationen gebildet. Zunächst „Bermuda4“ und später, genauer gesagt vor etwa drei Jahren, das „Viktoria Quartett“. Beide haben für diese Saison eine eigene Reihe eingerichtet. Allein, aktuell gestaltet ausschließlich das „Viktoria Quartett“ die Konzerte, „Bermuda4“ befindet sich in einer Phase der Neuorientierung. Selbstreflexionen dieser Art sind beileibe nichts Ungewöhnliches, auch berühmte Ensembles sind davor nicht gefeit. Über Binnenspannungen im Quartettbetrieb wurden schon Bücher geschrieben – und es bleibt nur der Wunsch, dass sich am Ende alles wieder aufs Beste einrenkt.

Nun also: Das „Viktoria Quartett“ hat den dritten Abend der Reihe übernommen, das wohl kurzfristig zusammengestellte Programm weist Prokofjews 1. (op. 50) und Beethovens 4. Quartett (aus op. 18) aus. Für uns ist es im übrigen die erste Gelegenheit, den Kammermusiksaal des neuen Bochumer Musikforums zu testen. Und es sei gesagt: Das Hörerlebnis ist außerordentlich.

Der Klang umfängt das Publikum mit angenehmer Wärme, wer die Augen schließt, mag kaum glauben, dass alle Töne doch von vorn kommen. Dazu verhelfen die reflektierenden Flächen der Seitenwände, wie andererseits zwei raumhohe schwere Vorhänge die prinzipiell trockene Akustik abmildern. Gleichwohl wird jede noch so filigrane Klangnuance bis in die hinterste Reihe getragen. Selbst das leiseste Pianissimo findet in kristalliner Klarheit jedes Ohr. Andererseits: Dissonante Schärfen, wie sie Prokofjew oft genug vorschreibt, versagen sich in hoher Lage jedes Klirren. Diese kleine Schuhschachtel, maximal auf 325 Plätze ausgerichtet, ist für Kammermusiker ein Glücksfall.

Gleichzeitig jedoch eine Herausforderung. Wo nichts ungehört bleibt, ist Präzision gefragt. Das fängt bei der Intonation an, ist in Sachen Tongebung von Bedeutung, betrifft nicht zuletzt die Kunst des Zusammenspiels. Der rationale Diskurs ist das eine, das konzentrierte Hören aufeinander die andere Seite der musikalischen Medaille. Wie schön, dass sich das „Viktoria Quartett“ als Organismus präsentiert, dessen Solisten nie in den Vordergrund drängen. Interessant ist vielmehr, dass kaum eine Führungsrolle auszumachen ist. Esiona Stefani (1. Violine), Jiwon Kim (2. Violine), Aliaksandr Senazhenski (Viola) und Philipp Willerding-Bach (Violoncello) verstehen einander ziemlich gut, intonieren äußerst sauber, nur hier und da fehlt es an präziser Tonfokussierung.

Bei Prokofjew gelingt die Balance zwischen akzentuierter Motorik und stimmungsvollem Legato-Ton überzeugend. Das Spiel des Quartetts ist energiegeladen, zielt aber vor allem auf die expressive Ausgestaltung des Finales, einem Lamento von erheblicher Dramatik. Beethovens Werk wiederum hätte insgesamt mehr Biss verdient, andererseits wird die Modernität des Stückes (frühe Anklänge an die Romantik) fein herausgearbeitet. Ja, der Besuch dieses Konzerts hat sich gelohnt.

 




Jugendjahre eines Genies: Yefim Bronfman spielt das frühe Klavierwerk von Prokofjew

Yefim Bronfman (57), Grammy-Preisträger, gilt hierzulande noch immer als Geheimtipp (Foto: Dario Acosta)

Yefim Bronfman (57), Grammy-Preisträger, gilt hierzulande noch immer als Geheimtipp (Foto: Dario Acosta)

Es gibt Konzerte, die längst begonnen haben, bevor auch nur der erste Ton erklingt. Der Blick auf das angekündigte Programm lässt stutzen. Wie in aller Welt passen Werke von Sergej Prokofjew und Robert Schumann zueinander?

Was hat das russische „Enfant terrible“ mit dem zentralen Exponenten der deutschen Romantik zu tun? Was mag dabei herauskommen, wenn ein Pianist sich anschickt, Klavierwerke dieser scheinbar grundverschiedenen Komponisten miteinander zu verschränken?

Yefim Bronfman gibt uns die Antwort. Der amerikanisch-israelische Pianist, 1958 in Usbekistans Hauptstadt Taschkent geboren, beglückt uns im Konzerthaus Dortmund mit einem jener Recitals, aus denen man klüger wieder herauskommt, als man hineingegangen ist. Denn wer Prokofjew vor allem als kühnen Avantgardisten sieht, der die romantische Tonwelt von Rachmaninow und Rimski-Korsakow mit anarchischem Schwung vom Tisch fegte, erlebt an diesem Abend sein blaues Wunder.

Schon der Beginn ist beinahe ein Schock. Prokofjews 1. Klaviersonate klingt uns so verblüffend schumanesk entgegen, dass wir uns die Ohren reiben möchten. So leidenschaftlich trumpft das Werk des 16-Jährigen auf, so vollgriffig sind die Akkorde und so leuchtend die Momente der Poesie, als habe der Mann aus Zwickau Prokofjew bei der Niederschrift über die Schulter gesehen.

Wie das junge Genie sich allmählich von diesen Traditionslinien löst, wie er bis zu den mit 26 Jahren komponierten Klaviersonaten Nummer 3 und 4 zu seiner eigenen Tonsprache findet, führt Bronfman im Konzerthaus Dortmund mit einer Spielfreude vor, die ein formidables kleines Prokofjew-Feuerwerk zündet.

Wie nebenbei bestätigt Bronfman, welche Spitzenposition er in der internationalen Pianisten-Elite einnimmt. Sein kraftvoller Klang erreicht imperiales Format, ohne je künstlich aufgedonnert zu wirken.

Fingerfertigkeit ist bei diesem Pianisten reine Nebensache. Ihm geht es um die Aussage, um den Kern der Musik, mag sie nun feurig vorwärts stürmen wie im Kopfsatz der 3. Sonate (Allegro tempestoso) oder von existenzieller Einsamkeit sprechen wie der langsame Satz der 4. Sonate (Andante assai). Da steigen Klänge aus dem Konzertflügel wie fahler Dunst. Darunter liegt Grabestiefe. Düsteres Klopfen, zwielichtes Schillern, dann wieder unerwartet grelle Schlaglichter: Bronfman ist ein Magier, der uns bannt und schaudern lässt, der den chamäleongleichen Wendungen von Prokofjews Tonsprache mit größter Hingabe folgt.

In Robert Schumanns „Faschingsschwank aus Wien“ erkennen wir den stürmischen Gestus wieder, den Prokofjew später zu rhythmischem Drive, ja bohrender Motorik weiterentwickeln wird. Ein Ereignis ist auch Bronfmans Interpretation von Schumanns „Arabeske“ op. 18, die bei ihm nicht harmlos vor sich hin plaudert, sondern wie ein leises, ernstes Selbstgespräch tönt. Es muss ein Dichter sein wie aus den „Kinderszenen“, der da spricht.

Gipfelpunkt und Abschluss des Abends ist Prokofjews 2. Klaviersonate op. 14, in der die brachiale Kraft und die diabolischen Elemente anklingen, wie wir sie vom Komponisten der so genannten „Kriegssonaten“ kennen. Was wie ein harmonisch erweiterter Schumann beginnt, wühlt und bohrt sich voran, bis eine expressionistische Kantigkeit erreicht ist.

Aber bei aller wirbelnden Virtuosität ist es auch hier der langsame Satz, mit dem Yefim Bronfman nach den Sternen greift. Weltabgewandt ist diese Musik, hoffnungslos verloren, und der Künstler nimmt uns mit in diese Landschaft, die nach kahlen Tannen auf dunklem Felsengrund klingt, nach einer stillen, erstorbenen Welt im Schneegestöber. Verführerisch ist das und unvergesslich. Tosender Beifall von einem Publikum, das über weite Strecken bemerkenswert konzentriert gelauscht hat.

(Die Website des Künstlers informiert u.a. über Konzerttermine und Diskographie: http://www.yefimbronfman.com)




Verstörender Mystery-Thriller: Prokofjews „Der feurige Engel“ an der Rheinoper Düsseldorf

Ruprecht (Boris Statsenko) kniet vor Renata (Svetlana Sozdateleva. Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Ruprecht (Boris Statsenko) kniet vor Renata (Svetlana Sozdateleva. Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Die Begegnung mit Renata wird sich als fatal erweisen. Aber davon ahnt Ruprecht nichts, als er die rätselhafte Frau zufällig kennen lernt. Fasziniert von ihrer Mischung aus mädchenhafter Schwärmerei und leidenschaftlichem Verlangen, hilft er ihr auf der Suche nach dem feurigen Engel: Einer von Licht umstrahlten Erscheinung, die ihr vom achten bis zum 16. Lebensjahr schützender Begleiter und zärtlicher Seelenpartner war, so Renata.

Später glaubte sie eine Inkarnation des Engels in der Person des Grafen Heinrich wieder zu erkennen. Doch auch dieser ließ sie nach einem gemeinsam verbrachten Jahr allein.

Interessiert lauscht Ruprecht dieser Geschichte. Bald schon wird der eigentlich bodenständige Mann vollkommen den Halt verlieren. Wir, die Besucher der Rheinoper Düsseldorf, erleben in Sergej Prokofjews Fünfakter „Der feurige Engel“ den erschreckenden Identitätsverlust eines Mannes, der sich zum devoten Gefährten einer Besessenen macht. Im Gefolge von Renata, die seinen Wunsch nach Liebe zurück weist, verstrickt sich Ruprecht in einem Netz aus Wahn, schwarzer Magie, Aberglauben und Okkultismus.

Regisseur Immo Karaman macht aus diesem expressionistischen Psychodrama einen Mystery-Thriller, der in einer von Äbtissinnen geleiteten Nervenheilanstalt beginnt. Von dort schreiten Renata und Rupprecht in die Welt hinaus. In Köln kommt es zu Begegnungen mit Doktor Agrippa, dem Grafen Heinrich, schließlich sogar mit Faust und Mephisto. Aber sind diese Episoden Wirklichkeit? Oder haben Ruprecht und Renata das Irrenhaus nie verlassen?

Dr. Agrippa (Sergej Khomov, l.) operiert am offenen Gehirn (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Dr. Agrippa (Sergej Khomov, l.) operiert am offenen Gehirn (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Der geniale Kniff von Karaman besteht darin, uns immer stärker an unserem Unterscheidungsvermögen zweifeln zu lassen. Was ist Realität? Was Vision? Immer wieder zieht die Regie Trennwände in den Bühnenraum ein, als wolle sie die Sphäre der Irren und der geistig Gesunden voneinander scheiden. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Karaman zieht uns den Boden unter den Füßen weg, schickt uns mit Ruprecht in den finsteren Strudel. Alle Grenzen verwischen, unsere Sinne verwirren sich.

Wo eben noch ein Ballsaal war, elegant gekleidete Paare sich im Tanz drehten, verwandelt sich die Szene innerhalb einer Sekunde zurück in den tristen Saal der Heilanstalt. So rasch und gleitend geschieht diese Verwandlung, dass wir uns die Augen reiben, ja am liebsten Einspruch erheben möchten. Irgendwann hämmert Ruprecht verzweifelt gegen eine vergitterte Tür in der Wand. Das Bild wird plötzlich erschreckend doppeldeutig. Begehrt der Verzweifelte Einlass zu Renata? Oder ist er womöglich selbst Insasse und will hinaus?

Menschliche Schreie dringen durch die Wand. Wir können nicht sehen, was vor sich geht, aber gerade deshalb spielt unsere Phantasie verrückt. Wenn Renata von den Ärzten Elektroschocks bekommt, wenn eine unsichtbare Macht Möbel verrückt und an Wände klopft, wenn der Arzt wie eine Ausgeburt aus einem Frankenstein-Film wirkt, jagt das manchen Schauder über das Rückgrat. So gekonnt auf der Klaviatur des Horrors spielend, gelingt Immo Karaman mit dieser dichten und detailgenauen Inszenierung ein atemberaubender Wurf.

Renata (Svetlana Sozdateleva) gerät in die Fänge eines Exorzisten (Jens Larsen. (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Renata (Svetlana Sozdateleva) gerät in die Fänge eines Exorzisten (Jens Larsen. (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Prokofjews geniale Musik lädt die thematischen Spannungsfelder mächtig auf. Glaube und Aberglaube, Religion und Wissenschaft, keusche Unschuld und sexuelle Triebkraft tönen aus dieser aufwühlend expressionistischen Partitur.

Unter der umsichtigen Leitung von Kapellmeister Wen-Pin Chien geizen die Düsseldorfer Symphoniker nicht mit magischen Klängen. Immer wieder schaffen die Musiker eine doppeldeutige, mystische, zwielichte Atmosphäre. Aber sie entwickeln auch brachiale Wucht: zum Beispiel in der Agrippa-Szene, die so stark gleißt und wummert, dass sich der Klang förmlich in die Brust bohrt. Dämonisch sausen die Glissandi in der Klopfgeist-Szene, und Renata steigert sich in wahnsinnige Erregung, weil sie denkt, die Rückkehr des feurigen Engels stehe kurz bevor.

Svetlana Sozdateleva singt die Partie der Renata mit viel Wärme. Wahnhafte Ausbrüche, in denen Prokofjew die Anforderungen an die Sängerin auf die Spitze treibt, gestaltet sie mit einer Leidenschaft, die zuweilen in Wildheit und Trotz umschlägt. Die Sängerin verleiht Renata den irrlichternden Charme eines längst zur Frau gereiften Mädchens, das mit dem Aufbrechen seiner Sexualität nie fertig wurde. Boris Statsenko legt Ruprecht zunächst auch stimmlich als Gentleman an, gibt ihm die Statur eines ritterlichen Beschützers. Dabei wirkt er zuweilen ein wenig steif, aber es bleibt doch mehr als deutlich, wie Ruprechts Persönlichkeit immer mehr zusammenbricht.

In Verbindung mit dem gut aufgelegten Sängerensemble und einer starken Leistung des Rheinopern-Chors wird der Abend zu einem jener beglückenden Opernerlebnisse, die an Intensität ohne Vergleich dastehen. Da müsste man schon Hitchcock, Edgar Allen Poe und Stephen King zusammen bemühen.

(Folgetermine nur noch bis 15. November 2015. Informationen: http://operamrhein.de/de_DE/repertoire/der-feurige-engel.1045093)




Subversive Untertöne: Sergej Prokofjews „Die Verlobung im Kloster“ in Dortmund

Valery Gergiev ist künstlerischer Leiter und Intendant des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg (Foto: Alexander Shapunov/Konzerthaus Dortmund)

Valery Gergiev ist künstlerischer Leiter und Intendant des Mariinsky-Theaters in St. Petersburg (Foto: Alexander Shapunov/Konzerthaus Dortmund)

1936 löste Sergej Prokofjew seine Wohnung in Paris auf. Just in den finsteren Jahren des stalinistischen Terrors zog er mit seiner Frau und zwei Söhnen endgültig nach Moskau zurück. Es war nicht nur Heimweh, das ihn zu diesem folgenreichen Schritt bewog.

Nachdem er im Westen darunter gelitten hatte, vor reichen Gönnern, Agenten, Verlegern und Orchesterchefs katzbuckeln zu müssen, verführte ihn Stalins Propaganda vom „Kulturarbeiter an der künstlerischen Front“, vom Künstler „als führendes Mitglied der neuen Sowjetgesellschaft.“

Die Vorteile waren zunächst erheblich. Prokofjew erhielt jährlich garantierte Aufträge, Vorschüsse, eine kostenfreie Wohnung, Studienreisen, kostenlose Schule für die Kinder, freie Krankenversicherung und Sonderprämien. Er feierte große Erfolge, aber die bittere Rechnung blieb nicht aus. In der berüchtigten „Formalismusdebatte“ ritten Kulturfunktionäre scharfe Attacken gegen sein Schaffen. Stalins immerzu schwankende Richtlinien von der wahren Sowjetkunst führten unter Künstlern und Intellektuellen zu einem Klima ständiger Angst.

Auch Prokofjews lyrisch-komische Oper „Die Verlobung im Kloster“, nur ein Jahr vor Hitlers Überfall auf Russland vollendet, wurde als „typische Erscheinung des Formalismus“ gegeißelt und erhielt Aufführungsverbot. Dabei hatte der Komponist für diese sechste seiner insgesamt acht Opern einen heiteren, volkstümlichen Stoff gewählt.

Der Vierakter handelt von Liebeswirren im Sevilla des 18. Jahrhunderts. Zwei junge Paare finden erst nach erheblichen Turbulenzen zueinander, ganz wie im „tollen Tag“ von Mozarts „Le Nozze di Figaro“. Das ist kein Zufall, denn der irische Dramatiker Richard Brinsley Sheridan, der das Theaterstück „La Dueña“ und somit die Vorlage schrieb, war ein Zeitgenosse des französischen Schriftstellers Pierre Augustin Beaumarchais – und damit auch von Mozart.

Als Rarität bereicherte „Die Verlobung im Kloster“ die aktuelle Prokofjew-Zeitinsel im Konzerthaus Dortmund. Die buffoneske Heiterkeit des rund dreistündigen Werks entpuppt sich dabei als keineswegs harmlos. Vielmehr würzte Prokofjew die Partitur mit unterschwelliger Ironie. Sein Gespür für das Lächerliche treibt dabei Blüten, die eine feine Perfidie verströmen.

Auf solch subversive Untertöne verstehen sich Chor, Orchester und Sänger des Mariisnky-Theaters St. Petersburg offenbar blendend. Kraftvolle Motoren des turbulenten Spiels sind Evgeny Akimov (Don Jeronimo) und der kurzfristig eingesprungene Sergei Aleksashkin (Mendoza): ein auf geldwerten Vorteil bedachter Vater der eine, ein ungehobelter, aber reicher Fischhändler der andere. Wie diese beiden miteinander um Don Jeronimos Tochter Luisa schachern, wie sie wüten und sich winden, ist ein köstliches und stimmstarkes Schauspiel. Mendoza, der vermeintlich Bauernschlaue, entpuppt sich dabei als Trottel, weil er sich hereinlegen und mit der alten Hauswirtin abspeisen lässt (spanisch: Dueña). Und Don Jeronimo, der unbedingt den lukrativen Kuhhandel um seine Tochter über die Bühne bringen will, ist einer jener Choleriker, deren Zorn leicht ins Lächerliche verrutscht.

Die Komik gipfelt in einer zirkusreifen Hausmusik-Szene, in der ein Trio aus Klarinette, Trompete und Basstrommel quietschfidel vor sich hin dilettiert, vom Hausherrn aber dauernd unterbrochen wird. Der findet es schließlich angesagt, die Leitung des Trios selbst zu übernehmen. Evgeny Akimov (alias Don Jeronimo) nutzt die Gelegenheit, um Chefdirigent Valery Gergiev zu imitieren: die flatternden Handbewegungen und der auf Zahnstocher-Format geschrumpfte Taktstock haben köstlichen Wiedererkennungswert. Die nächste böse Parodie lässt nicht lange auf sich warten. Im Kloster findet ein allgemeines Besäufnis statt, begleitet von scheinheiligen Chorälen. Die Mönche, die da Wein trinken und lärmen, predigen mit größter Strenge Wasser, sobald der heiratswillige Besuch eintrifft.

Das Orchester des Mariinksy-Theaters ist bei diesen komischen Eskapaden weit engagierter bei der Sache als am ersten Abend der Prokofjew-Zeitinsel. Es nimmt seinen Hang zum knalligen Forte zurück, um den Sängern den Vortritt zu lassen, Ironisches fein zu untermalen und mancher Farce die rechte Farbe zu geben. So löst sich für Prokofjews Figuren und für die Dortmunder Zuhörer alles in Wohlgefallen auf.

 (Die nächste „Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund gilt dem schwedischen Jazzposaunisten und Sänger Nils Landgren. Informationen: http://www.konzerthaus-dortmund.de/abonnements_details.html?id=253&saison=201415)




Auf den Spuren eines Modernisten: Prokofjew-Zeitinsel im Konzerthaus Dortmund

Valery Gergiev (l.) und der Pianist Behzod Abduraimov (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Valery Gergiev (l.), der Pianist Behzod Abduraimov und das Orchester des St. Petersburger Mariinsky-Theaters (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Nicht einmal Blumen gab es für seinen Sarg. Alle Floristen und Gewächshäuser in Moskau waren leer gekauft am 5. März 1953, als der Komponist Sergej Prokofjew starb: am gleichen Tag wie der Despot Josef Stalin, dessen Schatten er selbst im Tode nicht entkam.

Die sowjetischen Zeitungen nahmen vom Ableben des Komponisten keine Notiz. Es war die New York Times, die am 9. März zuerst darüber berichtete. Prokofjews erste Frau Lina Codina, zu diesem Zeitpunkt in einem sibirischen Lager inhaftiert, erfuhr die traurige Nachricht erst im Sommer.

Der da fast unbemerkt verschied, war weit mehr als der Schöpfer des weltweit beliebten musikalischen Märchens „Peter und der Wolf“. Er war ein Neuerer, der sich in der Rolle des skandalträchtigen Modernisten wohl fühlte, der die russische Romantik à la Rachmaninow, Skrjabin und Tschaikowsky mit genialischem Schwung vom Tisch fegte. An Politik im Grunde wenig interessiert, richtete er sich nach seiner Rückkehr aus dem Ausland gleichwohl in der Rolle des Staatskünstlers und Stalin-Preisträgers ein. Vor den Angriffen bornierter Kulturfunktionäre und Verfolgungen des Regimes schützte ihn das aber nicht.

Das Konzerthaus Dortmund beleuchtet Prokofjews Schaffen jetzt im Rahmen einer dreitägigen „Zeitinsel“, gestaltet von dem Dirigenten Valery Gergiev und dem Orchester des St. Petersburger Mariinsky-Theaters. Viel Interessantes gibt es dabei zu entdecken, so zum Beispiel die nur wenigen Musikfreunden bekannte komische Oper „Die Verlobung im Kloster“, die Dmitri Schostakowitsch einst mit Verdis „Falstaff“ verglich. Die Musik zu Sergej Eisensteins Monumentalfilm „Iwan der Schreckliche“ ist am dritten und letzten Abend in der Oratorienfassung von Abram Stassewitsch zu erleben. Ihr gehen Auszüge aus der Ballettmusik zu „Cinderella“ voraus.

Denis Kozhukhin, geboren 1986 in Nishni Nowgorod, ist Sohn einer Musikerfamilie (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Denis Kozhukhin, geboren 1986 in Nishni Nowgorod, ist Sohn einer Musikerfamilie (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Gewiss ist es eine sinnvolle Idee, die Prokofjew-Zeitinsel mit einer Gesamtaufführung der fünf Klavierkonzerte zu beginnen, vermitteln sie doch einen Eindruck von der Experimentierfreude des Komponisten sowie von seinen überragenden pianistischen Fähigkeiten. Valery Gergiev, der diesen Prokofjew-Marathon zuvor bereits in St. Petersburg realisierte, brachte vier Pianisten nach Dortmund mit, die dem Mariinksy-Theater besonders verbunden sind: Alexej Volodin, Denis Kozhukhin, Behzod Abduraimov und Sergei Babayan.

Der Maestro selbst ließ indes auf sich warten. Erst um 19.10 Uhr traf der von manchen überbeschäftigt genannte Arbeitswütige am Dortmunder Hauptbahnhof ein, weshalb der für 19 Uhr geplante Konzertbeginn spontan um eine halbe Stunde verschoben werden musste. Die Einstudierung in Dortmund hatte Gergiev einem Assistenten überlassen. Eine Anspielprobe fiel folglich flach. Immerhin muss der Musikzar aus St. Petersburg noch Zeit gefunden haben, auf dem Weg von der Bahnsteigkante auf die Konzerthausbühne fix in den Künstlerfrack zu hüpfen – und dies trotz erheblicher Rückenschmerzen.

Sein Dirigat wirkt an diesem Abend pauschal mit einer Neigung zur Fahrigkeit. Die Streicher fallen durch einen Hang zu uninspiriertem Mezzoforte-Brei auf, die Blechbläser mit dem zu unkultivierter Lautstärke. Nur selten sind die Holzbläser in diesem hypertroph aufgeblähten Klangballon zu vernehmen. Dass es bei manchem Tempowechsel merklich im Getriebe knirscht und fast alle Musiker so nach hinten gelehnt sitzen, als seien sie am Rückenteil ihrer Stühle festgeklebt, vervollständigt das Bild einer eher lustlosen Professionalität. Gergiev, seit 1988 Chefdirigent dieses traditionsreichen Orchesters, mag über die Köpfe und die Fingerfertigkeit der Musiker verfügen: ihre Herzen erreicht er an diesem Abend nicht.

Alexei Volodin (l.) ist in der aktuellen Konzertsaison Residenzkünstler des Mariinsky-Theaters (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Alexei Volodin (l.) ist in der aktuellen Konzertsaison Residenzkünstler des Mariinsky-Theaters (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Besonders konturlos und verschwommen klingt das Klavierkonzert Nr. 1, für das der junge Prokofjew den mit der Schenkung eines Konzertflügels verbundenen Anton-Rubinstein-Preis erhielt. Alexei Volodin bleibt trotz aller Virtuosität zu stark einem gefälligen Schönklang verhaftet, um die Neuartigkeit und die kompositorischen Kühnheiten des Werks aufleuchten zu lassen. Da geht Denis Kozhukhin schon ganz anders zur Sache: Er verdichtet den dissonanzenreichen, hochvirtuosen Satz des 2. Klavierkonzerts zu spannungsvollen Exzessen, ohne darüber das Gespür für feine Groteske und traumversunkene Lyrik zu verlieren. Mag manche Passage noch nach Rachmaninow klingen, so wischt Kozhukhine diesen Eindruck durch frenetische Steigerungen zur Seite, die ahnen lassen, warum die Uraufführung 1913 in Pawlowsk zu einem Skandal geriet.

Furios auch die Leistung von Behzod Abduraimov, unter dessen Händen das 3. Klavierkonzert sich entfaltet wie ein abwechslungsreiches Feuerwerk. Abduraimov versteht sich auf motorische Wucht ebenso wie auf kapriziös-nervöse Farben. Er kann tändeln, irisierende Klangnebel aufsteigen lassen, aber auch orgiastische Oktav-Gewitter in die Tasten donnern, ohne lärmend zu klingen oder die Trennschärfe seines Anschlags einzubüßen. Nach diesem spektakulären Husarenritt wirkt das 4. Klavierkonzert für die linke Hand, komponiert für den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein, beinahe ein wenig lahm. Alexei Volodin bleibt als Interpret blass, das Werk entbehrt unter seinen Händen der Magie, der Atmosphäre.

Sergei Babayan, zu dessen Schülern auch Daniil Trifonov zählt, ist Amerikaner armenischer Herkunft (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Sergei Babayan, zu dessen Schülern auch Daniil Trifonov zählt, ist Amerikaner armenischer Herkunft (Foto: Petra Coddington/Konzerthaus Dortmund)

Den Schlusspunkt zu setzen, bleibt dem armenischstämmigen Pianisten Sergei Babayan vorbehalten. Er meistert das 5. Klavierkonzert mit markantem Ton, verleiht ihm imperialen Glanz und hämmernde Wucht. Die Bässe reißen Abgründe auf, im Diskant herrscht gleißende, fast schmerzende Helligkeit. Und doch gönnt Babayan uns auch schillernd fragile, nachgerade zärtliche Klänge, wie wir sie aus der Ballettmusik zu „Romeo und Julia“ kennen. Prokofjew, das wandelbare Genie, war zuweilen ein rechtes Chamäleon.

Die nächste „Zeitinsel“ im Konzerthaus Dortmund gilt dem schwedischen Jazzposaunisten und Sänger Nils Landgren. Nähere Informationen: http://www.konzerthaus-dortmund.de/abonnements_details.html?id=253&saison=201415




Eröffnung der Konzertsaison in Krefeld: Mit Jac van Steen nach Russland

Wieder ein russisches Programm, wieder eine Geigerin: Die Brücke zur vergangenen Spielzeit wird offensichtlich geschlagen. Brachte Generalmusikdirektor Mihkel Kütson im vorletzten  der Serie der Abo-Konzerte der Niederrheinischen Sinfoniker Schostakowitsch und Mussorgsky, startete Gastdirigent Jac van Steen in Krefeld mit Tschaikowsky, Prokofjew und den souverän entfalteten Sinfonischen Tänzen Sergej Rachmaninows.

Viviane Hagner, die in Berlin lebende und unterrichtende Münchnerin, ist die Solistin des Zweiten Violinkonzerts Prokofjews. Keine der Geigerinnen, die auf der Glamourwelle mitschwappen. Ganz konzentriert auf den musikalischen Auftritt, wenn sie mutterseelenalleine das Konzert eröffnet. Ohne Sentiment, aber auch ohne die dunklen Verschattungen der Melancholie. Hagner bezieht Position: Die emotionale Geste, die demonstrative Emphase scheint ihre Sache nicht zu sein.

Das bestätigt sich spätestens im zweiten Satz. Der erste ändert ja seine Haltung rasch, fordert von der Solistin locker-virtuose und energisch-nachdrückliche Passagen. Der zweite flankiert ein pointiert kurznotiges Allegretto mit kantablen Teilen, die sich durchaus zum hymnischen Gesang steigern ließen. Nicht so von Viviane Hagner: Sie bleibt in der leidenschaftlichen Lyrik Prokofjews bei ihrem schlank-energischen, aber wenig eingefärbten Ton – als habe sie sich das Etikett der „Sachlichkeit“ tatsächlich auf die Fahnen gepappt.

Auch der letzte Satz, „ben marcato“, verlässt diese Linie nicht: Hagner markiert Rhythmus und Artikulation in der Tat ausgeprägt. Sie gibt sich keine Blöße in der Sorgfalt, mit der sie selbst kleinste Details modelliert. Aber gefangen nimmt sie mit ihrer Lesart nicht: Die Distanz, das gemiedene Risiko im Ausdruck, sind zu offen hörbar. Auch die Bach-Zugabe Hagners scheint zu bestätigen: Hier ist ein kühler Kopf zugange.

Jac van Steen (Foto: Dortmunder Philharmoniker)

Jac van Steen (Foto: Dortmunder Philharmoniker)

Den kühlen Kopf musste auch Jac van Steen bewahren: In der fragwürdigen Akustik des Krefelder Seidenweberhauses wollten sich die Klänge in Tschaikowskys „Romeo und Julia“ nicht verbinden. Das Orchester fand nicht zu geschmeidigem Klang, die Holzbläser schienen ihre Töne direkt und massiv über die Rampe zu wuchten. Auf einem anderen Platz dürfte das wohl anders geklungen haben – die Tücke des Saals ist mir noch unberechenbar. Dafür war deutlich zu hören, wie sauber die Streicher ihre Skalen formen, wie energisch rhythmische Akzente auf den Punkt gesetzt werden und wie bereitwillig die Sinfoniker die leidenschaftliche Phrasierung, die Vorstellung eines breiten, intensiven Klangs umsetzen.

Der Dirigent ist in der Region kein Unbekannter. 2011 hat die Stadt Dortmund seinen Vertrag nicht verlängert – und dies mit dem neuen Profil des Musiktheaters unter Jens-Daniel Herzog begründet. Die Profilierung ist freilich in den Anfängen steckengeblieben, aber Steen hat die Freiräume genutzt und steht inzwischen an Pulten wie dem des Philharmonia Orchestra London. Das Ulster Orchestra hat ihn zu seinem Ersten Gastdirigenten ernannt; an der Opera North In Leeds dirigiert er im Februar 2015 Puccinis „Gianni Schicchi“ und de Fallas „La Vida breve“.

Die brillante Instrumentierung der Rachmaninow-Tänze war der Saal-Akustik dann offenbar gelegener: Jetzt passten Balance und Klangfarben zueinander, fand sich die richtige Mischung von schmelzendem und scharf konturiertem Klang. Zum Beispiel im ersten Satz, der trotz des „non“ in der Bezeichnung ein Allegro ist. In den ans Groteske rührenden Klavierstellen. Oder in der Korrespondenz des Altsaxofons – Martin Hilner spielt es berührend – mit den Bläserkollegen. Oder auch in den herben koloristischen Reibungen und Kontrasten zwischen den Solisten. Oder in den schlank-klaren Trompeten des letzten Satzes. Oder den dunkel-sämigen Klängen der Violine von Konzertmeisterin Chisato Yamamoto.

Überzeugend auch die Momente episch anmutender Lyrik, die sich im Kopf mit den schwermütigen Bildern aus den Weiten Russlands verbindet. Steen bringt nach solchen Ruhepunkten die Musik wunderbar wieder in Bewegung, achtet auf geschmeidige Rhythmen, steigert organisch. Die Sinfoniker beweisen ein beachtliches Format, eine Kultur des Zusammenspiels, die für die kommende Saison schöne Hoffnungen weckt.

Auf die Musiker warten noch ein paar sinfonische Herausforderungen: Leonard Bernsteins „Jeremia“-Sinfonie etwa, Jean Sibelius‘ Erste Sinfonie oder Arthur Honeggers selten gespielte Vierte Sinfonie „Deliciae Basiliensis“. Sympathisch, das Mihkel Kütson immer wieder solche Trouvaillen in seine Programme einstreut. So etwa ein Konzert für Tuba und Orchester (2006) des 1971 geborenen Schweden Fredrik Högberg, oder ein Cellokonzert des einst bedeutenden, aus Seesen am Harz stammenden Cellisten und Komponisten Wilhelm Fitzenhagen (1848-1890), der Tschaikowskys Rokoko-Variationen kritisch begleitet und uraufgeführt hat. Der Cellist Alban Gerhardt wird als Solist in beiden Werken zu hören sein.

Wiederholung des Ersten Sinfoniekonzerts am 4. September in der Kaiser-Friedrich-Halle Mönchengladbach und am 5. September im Seidenweberhaus Krefeld. Info: www.theater-kr-mg.de/karten




Schreckensklänge in der Idylle – Beatrice Rana debütiert beim Klavier-Festival Ruhr

Eine Entdeckung: Die junge italienische Pianistin Beatrice Rana. Foto: KFR/Julien Faugere

Eine Entdeckung: Die junge italienische Pianistin Beatrice Rana. Foto: KFR/Julien Faugere

Der Mann vom Rundfunk ist ganz aus dem Häuschen: Ein Wasserschloss, liebevoll restauriert, idyllisch gelegen, als Spielstätte fürs Klavier-Festival Ruhr. Ja, mancher mag noch immer staunen angesichts des Hauses Opherdicke, das so gar nicht ins Klischee vom düsteren Ruhrgebiet passen will, sich vielmehr harmonisch einfügt ins ländliche Westfalen. Das Festival jedenfalls hat das Schloss in Holzwickede, dessen bewegte Geschichte bis ins 12. Jahrhundert zurück reicht, schon vor etlichen Jahren als Kunst-Domizil für sich entdeckt.

Im Spiegelsaal gilt’s der Musik, ein lichter, hoher Raum, der Platz bietet für etwa 120 Besucher. Doch das hübsch anzusehende Kleinod hat seine Tücken, und die sind akustischer Art. Wer hier auftritt, darf den dynamischen Pegel nicht zu weit aufziehen. Andernfalls wird der Hörgenuss zur Gehörüberreizung. Ein Glück also, dass die junge italienische Pianistin Beatrice Rana, während ihres Debütkonzerts beim Festival, nur einen B-Flügel spielt und nicht das größere, voluminösere D-Modell.

Ranas Interpretationen sind auch so von ausreichend Kraft und Leidenschaft geprägt. Sodass sich die Klänge nicht im ungefähren verlieren. Verbunden ist ihr Spiel indes mit einer leicht angestrengt wirkenden Konzentration, die dazu führt, dass etwa in der 1. Partita Johann Sebastian Bachs die barocke Rhetorik nicht frei fließt. Zudem kleidet die Solistin alles in ein romantisches Gewand, das sich alsbald in Schumanns Symphonischen Etüden voll entfaltet.

Das Andante-Thema, das Rana düster-dramatisch zelebriert, um dann die Variationen ähnlich dunkel timbriert und wie im Rausch aneinander zu reihen, gibt gewissermaßen die Charakteristik dieses orchestral anmutenden Schumann-Werkes vor. Kaum einmal gönnt sich die Pianistin ein versonnenes Innehalten, liebt vielmehr die virtuose Geste und spielt durch Harmonik bedingte Stimmungswechsel so, als sei sie selbst davon überrascht.

Blick aufs Wasserschloss Haus Opherdicke, dessen Spiegelsaal Spielstätte des Klavier-Festivals ist. Foto: -n

Blick aufs Wasserschloss Haus Opherdicke, dessen Spiegelsaal Spielstätte des Klavier-Festivals ist. Foto: -n

Doch nach und nach, etwa mit Leopold Godowskys Elegie für die linke Hand, die Rana in aller Ruhe dynamisch differenziert aufklingen lässt, gewinnt ihr Spiel an Souveränität. Kulminierend in einer faszinierenden Deutung der 6. Sonate Sergej Prokofjews. 1940, also zu Kriegszeiten entstanden, gibt sie mit ihren Bruitismen, die an Maschinenmusik erinnern, beredtes Zeugnis von den Schrecken des massenhaften Mordens. Hier reizt Rana die Dynamik so weit als möglich aus. Trotzdem entsteht im Spiegelsaal nicht das Gefühl, einer Schlacht um den lautesten Ton beizuwohnen.

Und mag in den Mittelsätzen auch ein wenig der traurig-ironische Biss fehlen, gestaltet sie das Finale umso mehr in aller Unerbittlichkeit, nutzt eine kurze Legato-Passage zur Reflexion, um am Ende die harschen, gleißenden Klänge in einem Cluster zu kulminieren – größer kann der Kontrast zur idyllischen, friedvollen Umgebung wohl nicht sein.

 

 




Klavier-Festival Ruhr beginnt mit Werken für die linke Hand – Gedenken an den 1. Weltkrieg

Die Pianisten Leon Fleisher (l.) und Nicholas Angelich sowie die Neue Philharmonie Westfalen mit Dirigent Dennis Russell Davies eröffneten das Klavier-Festival Ruhr 2014. Foto: Mohn/KFR

Die Pianisten Leon Fleisher (l.) und Nicholas Angelich sowie die Neue Philharmonie Westfalen mit Dirigent Dennis Russell Davies (r.) eröffneten das Klavier-Festival Ruhr 2014. Foto: Mohn/KFR

In der Geschichte des Klavier-Festivals Ruhr, wurzelnd im Klaviersommer, den Jan Thürmer 1984 in Bochum ins Leben rief, ist die Nutzung großer Industriehallen als Spielstätte zunächst kein Thema gewesen. Erst 2002 gab es die Premiere auf Zollverein in Essen, mit einer sensationellen Doppelvorstellung von George Antheils skurriler Maschinenmusik namens „Ballet mécanique“. Ein Jahr später folgte die Bochumer Jahrhunderthalle, das Festival wurde hier Teil der „Extraschicht“.

Dabei ist es kein Zufall, dass die neuen Podien erst so spät ins pianistische Rampenlicht rückten. 2002 ist das Gründungsjahr der Triennale, die ihre Theaterbretter vornehmlich in eben jenen Werkshallen der Kohle- und Stahlindustrie aufbauen wollte. Dafür bedurfte es allerdings zunächst einer millionenschweren baulichen Aufhübschung. So bekam etwa die Bochumer Jahrhunderthalle ein gläsernes Foyer. Und das Dach wurde ausgebessert, um den Regen fernzuhalten.

In diesem Ambiente wurde nun das diesjährige Klavier-Festival Ruhr eröffnet. Es war zu erfahren, dass der Vertrag des seit 1996 amtierenden Intendanten Franz Xaver Ohnesorg um fünf weitere Jahre verlängert wurde. Es war zu erleben, dass prasselnder Regen ein akustischer Störfaktor sein kann. Denn es handelt sich hier nicht um einen isolierten Konzertsaal. Nur gut, dass der Hagelschauer vor Beginn der Aufführung niederdonnerte, sonst hätte es wohl eine Zwangspause geben müssen.

Seit 2003 ist das Klavier-Festival bei der "Extraschicht" in Bochums Jahrhunderthalle präsent. Das lockt durchaus neue Publikumsschichten. Foto: -n

Seit 2003 ist das Klavier-Festival bei der „Extraschicht“ in Bochums Jahrhunderthalle präsent. Es lockt so durchaus neue Publikumsschichten. Foto: -n

Im Vorlauf des eigentlichen Aufführungs-Raumes durfte sich das Publikum übrigens einer erheblichen olfaktorischen Reizung stellen. Der Gestank gab durchaus Anlass zur Beschwerde. Wie denn auch das Imbissangebot im Foyer von der eher mageren Art war. Keine Frage, die Spielstätte mag ihren Reiz haben. Und das Ansinnen des Klavierfests, vor allem durch die „Extraschicht“ neues Publikum zu gewinnen, ist natürlich legitim. Doch die äußeren Bedingungen, der hauseigene Service zumal, sollten schon, soweit möglich, einen gewissen Standard erfüllen. Nun, für Herbst 2015 ist die Eröffnung der Bochumer Symphonie geplant – ein Konzertsaal als ernstzunehmende Alternative.

Musikalisch wurde die Jahrhunderthalle jetzt zum Schauplatz des Gedenkens an den 1. Weltkrieg. Diese „Urkatastrophe“ führte nicht zuletzt dazu, dass sich ein neues pianistisches Repertoire herausbildete, Klavierstücke für die linke Hand entstanden. Das war dem unglücklichen Umstand geschuldet, dass es Pianisten wie Paul Wittgenstein gab, die im Krieg den rechten Arm verloren hatten. Viele Komponisten schrieben für ihn Konzerte, aber auch Kammermusik. Manches davon gilt es neu zu entdecken. Eine Spurensuche, der sich das große Pianistentreffen nun annimmt. Zum Einstieg erklingen deshalb die Klavierkonzerte für die linke Hand von Sergej Prokofjew, mit Leon Fleisher als Solisten, und Maurice Ravel, gespielt von Nicholas Angelich.

Der rote Flügel, Markenzeichen des Festivals, vor der Bochumer Industriehalle. Foto: Wohlrab/KFR

Der rote Flügel, Markenzeichen des Festivals, vor dem Bochumer Industriedenkmal. Foto: Wohlrab/KFR

Fleisher geht das in seiner Struktur klassizistisch anmutende Werk Prokofjews behutsam an, in nuancierter Tongebung. Manches aber wirkt allzu zaghaft, der spöttische Biss fehlt, den diese Musik eben auch bietet. Schön ist dabei, dass die Neue Philharmonie Westfalen (in erweiterter Kammerbesetzung) mit Dirigent Dennis Russell Davies die Klangbalance hält, den Solisten trägt.

Düsterer, teils monumentaler, herber und fiebriger gibt sich das Ravel-Konzert. Die Jazzelemente mögen den Großstadtsound der wilden 20er wiederspiegeln, doch die vorangegangene Katastrophe wird nicht ausgeblendet. Solist Nicholas Angelich spielt entsprechend mit  packendem Zugriff, zudem elegant, teils rhythmisch pointiert.

Der Abend ist indes auch einer des Orchesters. Wie die Neue Philharmonie Westfalen Ravels „Rhapsodie Espagnole“ interpretiert, beseelt, leidenschaftlich, den Klangfarbenreichtum des Werks auf Schönste herausstellend, verdient allen Beifall. Und zu Beginn, mit Prokofjews Opern-Suite „Die Liebe zu den drei Orangen“, stürzen sich die Musiker mutig, manchmal allerdings allzu plakativ, ins Brachiale, Martialische.

Informationen: http://www.klavierfestival.de




Verklärung im Diesseits: Riccardo Muti und das Chicago Symphony Orchestra in Essen

Riccardo Muti. Foto: Todd Rosenberg

Riccardo Muti. Foto: Todd Rosenberg

Es gehört zum halben Dutzend der amerikanischen Spitzenorchester, ist auf zahllosen Aufnahmen unter berühmten Dirigenten festgehalten und garantiert für eine technische Brillanz, die weltweit nur von wenigen Klangkörpern erreicht wird: Das Chicago Symphony Orchestra machte bei seiner Winter-Tournee Station in Essen. Die Philharmonie als einer von vier europäischen und einziger deutscher Auftrittsort: Das ist eine Auszeichnung.

Chefdirigent Riccardo Muti steht – wie 2007, beim letzten Besuch der Chicagoer Musiker – am Pult und rahmt das Konzert mit zwei Werken Giuseppe Verdis, einem der „Jubilare“ des Jahres 2013. Zur Eröffnung die Ballettmusik aus „Macbeth“, höllisch ausgelassene und dämonisch erhabene Musik, die leider in szenischen Aufführungen – auch am Aalto-Theater – so gut wie immer fehlt. Und die „Nabucco“-Ouvertüre als Zugabe: ein Zugstück, das Klangpracht und Präzision des amerikanischen Spitzenorchesters zur Geltung bringt.

Seine technische Klasse zeigt das bald 125 Jahre alte Orchester in Prokofjews „Romeo und Julia“-Suite: Violinfiguren aus einem Guss und mit hinreißendem Schwung, ein schmeichelndes Klarinettensolo, auratische Mixturen aus Harfe und sehnsuchtsvollem Saxofon. Der stählerne Marschrhythmus in den „Masken“ ist auf pure Überwältigung angelegt; die feinen Abstufungen von Piano und Pianissimo lassen den Atem anhalten. Mit praktischen Folgen: Husten-Alarm gab es diesmal im Alfried Krupp Saal nicht, dafür klimperten die Armreife manch eleganter Dame wie die Ketten der Gefangenen im „Nabucco“-Chor.

Riccardo Muti, 72 Jahre alt und inzwischen eine Dirigenten-Legende, agiert ohne Show, gibt dem Orchester viel Freiheit. Das ist nicht immer vorteilhaft. Der erste Trompeteneinsatz in der „Macbeth“-Ballettmusik geht um ein Haar schief, weil der Maestro zu hastig beginnt. Das erste Orchester-Crescendo will nicht klingen. Die unheimliche Posaunen-Hymne markiert den Höhepunkt, das Erscheinen der düsteren Göttin Hekate, ohne majestätische Düsternis, weil die Balance mit den Streicher-Begleitfiguren nicht passt. Den Sostenuti, die für die lauernde Leere nach dem Ende des Spuks stehen, fehlt das gläsern-fahle Zwielicht. Dem Hexenwalzer des dritten Teils gibt Muti dann allerdings die expressive rhythmische Markanz, die seine Verdi-Dirigate gemeinhin auszeichnet – nachhörbar auf vielen Plattenaufnahmen, unter anderem einem „Macbeth“ mit Fiorenza Cossotto in der Titelpartie.

Zum „Auftakt“ des Strauss-Jahres 2014 bringt das Orchester aus Chicago „Tod und Verklärung“ mit. Das Werk des 24jährigen ist geprägt von der Klangsinnlichkeit der Musik an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, aber auch von der spätromantischen Sehnsucht nach dem Ausgriff in Sphären jenseits irdischer Begrenzung. Der Agnostiker Strauss hat diesen spätromantischen Impetus später trocken-ironisch wegerklärt mit dem Bedürfnis, ein Stück zu schaffen, das in c-Moll beginne und in C-Dur ende.

Das ist Strauss gelungen – und wie! Die Raffinesse klanglicher Entwicklungen ist kein Selbstzweck. Ihre tiefe symbolische Bedeutung ist mit dramatischer Unmittelbarkeit zu greifen – da braucht es auch nicht das später hinzuerdichtete „Programm“. So wundert es ein wenig, dass ein genuiner Opern-Dirigent wie Muti auf den szenografischen Aspekt so wenig Wert legt. Das Orchester findet die Streicher-Bläser-Balance nicht so, dass die Mischklänge expressive Konturen erhielten.

Zu Beginn freilich erblüht die Idylle in schönster, weiträumiger Phrasierung, auch nach dem ersten Einschnitt durch einen markanten Trommelschlag baden sich Oboe, Harfen und Violinen in süßen Harmonien, die später durch das tiefe Blech und die Bassklarinette in sanfter Wehmut umflort, aber nicht in herber Düsternis gebrochen werden. Der dünne Faden zwischen dem letzten machtvollen Eintritt des Todesmotivs und der anbrechenden Verklärung ist irdisch direkt gewoben, statt sich im Pianissimo zwischen den Sphären zu spinnen. Und das Aufwölben der Motive auf das abgeklärte C-Dur zum Schluss hin geht ohne Haltungswechsel einher. Der Auftakt des Strauss-Jahres 2014 bleibt diesseitig.




Gezähmte Wildheit: Patricia Kopatchinskaja in der Essener Philharmonie

Patricia Kopatchinskaja. Foto: Marco Borggreve

Patricia Kopatchinskaja. Foto: Marco Borggreve

Auf die wohlige Sphäre berührungslosen Genusses war die in Moldawien geborene und in Wien aufgewachsene Geigerin Patricia Kopatchinskaja noch nie abonniert. Auch nicht auf die hochgezüchtete Virtuosität oder die augenzwinkernde Barbie-Erotik irgendwelcher geigenden höheren Töchter. Das hat ihr den zweifelhaften Titel der „jungen Wilden“ eingebracht, den sie selbst einmal scherzhaft übersteigert hat: „Wildsau unter Hausschweinen“.

Wenn die Kopatchinskaja spielt, geht es um Wahrhaftigkeit und Tiefenschichten. „Wir spielen ja keine Noten, sondern Emotionen“, sagte sie einer Interviewerin. Ihre Diskografie zeigt, wo sie diese findet: Beethoven ist der einzige „Klassiker“, alle andere Musik für Violine und Orchester stammt von unbekannten oder zeitgenössischen Komponisten: Johanna Doderer, Gerd Kühr, Gerald Resch, Otto Zykan. Oder vom Klavierkollegen und -begleiter Fazil Say. Da ist ihre neueste Aufnahme – erschienen im Oktober – beinahe schon Mainstream: Konzerte von Igor Strawinsky und Sergej Prokofjew.

Im Konzert des London Philharmonic Orchestra in der Essener Philharmonie stand eben jenes Zweite Prokofjew-Konzert in g-Moll auf dem Programm. Schon der Einstieg ließ aufhorchen. Man kann es ganz anders beginnen als die moldawische Geigerin. So wie Jascha Heifetz etwa, der eine rasche, klare Introduktion spielt, orientiert am Ideal der vom Komponisten propagierten „neuen Einfachheit“. Oder wie Geneviève Laurenceau: Sie formt eine russische Seelen-Kantilene, dunkel-vibrierend und voller Schmerzenslust.

Konzert in der Philharmonie: Patricia Kopatchinskaja und Dirigent Vladimir Jurowski. Foto: Sven Lorenz

Konzert in der Philharmonie: Patricia Kopatchinskaja und Dirigent Vladimir Jurowski. Foto: Sven Lorenz

Patricia Kopatchinskaja sieht diese schlichte Intervallfolge in einem anderen Licht: Sie startet leise, als habe sie einen Fetzen einer Melodie wie zufällig aus der Luft gefangen und banne ihn nun in den Zauberkreis ihrer Geige. Das Orchester unter seinem grandiosen Dirigenten Vladimir Jurowski – einem der Aufsteiger des neuen Jahrtausends – folgt dieser fragend formulierten, im Ton sanft, aber aufgerauten Kantilene in leisen Schatten, behutsam erblühenden Bläsermomenten, lässt die barfüßige Geigerin auf sattfarbige Bassklarinetten- und Fagott-Teppichen traumwandeln. Auch der erste Höhepunkt bleibt diskret: Prokofjew schreibt gedämpfte Lautstärken zwischen Pianissimo und Mezzoforte vor.

Mit der „Wildsau“ war es da nix. Auch wenn die Geigerin in Figurationen, Doppelgriffketten und Arpeggien zur Sache geht, mit feurig-risikobereitem Strich, mit unglaublichen Farben, mit expressiven hohen Tönen auf den tiefen G- und D-Saiten. Aber Kopatchinskaja sucht nicht exzentrisch nach dem Effekt eines wilden, rauen Tons. Sie verzärtelt auch nichts, sondern bricht den Ton im zarten figurierten Spiel, in der Dichte der Details, in den zugespitzten, virtuosen Parforce-Momenten des dritten Satzes.

Aber die Geigerin opfert deshalb nicht auf den rissigen Altären des kompromisslos „hässlichen“ Zugriffs. Sie hält auch das Überdrehte, die Anflüge des Grotesken stets im Zaum. Das ist keine faule Kompromissbereitschaft, um den Zuhörern die Zumutung der Musik zu ersparen. Es ist dem Blick auf Prokofjews Intention geschuldet: „Neue Einfachheit“ heißt ja auch, sich in der expressiven Wut nicht zu verlieren. Wunderbar ist, wie Kopatchinskaja ihr Spiel-Temperament in Bezug zu den Farben des Orchesters setzt. So erreicht sie gemeinsam mit den vortrefflichen Londoner Künstlern die emotionale Tiefenschicht einer Musik, die andere eher kühl-artistisch verstehen.

Das London Philharmonic und sein russischer Dirigent verstehen sich gut: Sergej Rachmaninows letztes Orchesterwerk, die „Sinfonischen Tänze“, gibt dem Orchester jede Chance, von prächtigen Soli bis zu satten Klangflächen alle Facetten seiner Kultur zu zeigen. Und für Nikolai Rimski-Korsakows Suite aus der Oper „Die Nacht vor Weihnachten“ findet es die glitzernde Helle der oberen Register, die teuflische Tiefe des gedämpften Blechs, den aggressiven rhythmischen Prunk in der scharfkantigen Polonaise. Und man fragt sich, warum es in den Theatern zu Weihnachten immer nur „Hänsel und Gretel“ gibt: Russland bietet bezaubernde Opern fürs Fest – es müsste sie nur mal jemand auf die Bühne bringen!




Metapher des Zufalls: Sergej Prokofjews „Der Spieler“ in Frankfurt

Dostojewskis „Spieler“ ist eine existenzielle Figur, die ein Thema der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zusammenfasst, nämlich die Frage, wie sich der Mensch im Spannungsfeld von Mächten verhält, die er nicht beeinflussen kann. Oder die auf seine Aktionen unberechenbar reagieren. Tolstoi hat den historischen Zufall in seiner ganzen Absurdität in „Krieg und Frieden“ ausführlich thematisiert. Wie heißen die Alternativen? Gottergebenheit oder Nihilismus?

Schon die Bibel wusste, dass sich Gott nicht zu einem für den Menschen einsichtigen Sinnzusammenhang zwingen lässt: Den Guten kann es schlecht, den Schlechten gut gehen. Selbst für den gläubigen Menschen, falls er nicht vollkommen naiv ist, bleibt der dunkle, unerklärbare Rest der Geschichte, das strukturell Böse jenseits des moralischen Übels. Und Sergej Prokofjews „Der Spieler“ ist eine Oper, die das Schicksal auf den Spieltisch schleudert – selbst, wenn die Figuren in diesem Reigen vordergründig logisch triumphieren oder scheitern.

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Wer triumphiert in diesem Stück, das an der Oper Frankfurt eine bezwingende Neuinszenierung erfuhr? Nicht die Liebe, nicht das Glück, nicht die Berechnung. Die Kugel auf der riesigen leuchtenden Roulette-Scheibe von Hans Schavernoch rollt gleichmütig und unberührt. Nur die alte Babuschka, eine jener grotesk-unheimlichen Frauen aus Russlands literarischem Erbe, könnte als Siegerin durchgehen, weil sie der Kugel ihren Tribut zollt: Sie befeuert den blinden Zufall, indem sie ihr ganzes Vermögen verspielt statt es zu vererben.

Ein anderer Schein-Sieger ist der Spieler selbst, Alexej, der Hauslehrer des bankrotten Generals. Seine Glückssträhne – 20 Mal Rot hintereinander – aber ist die grelle Ouvertüre zum letzten Akt seines existenziellen Unglücks: Da scheitert mehr als die Liebe zu seiner Schülerin Polina, da scheitert ein Mensch im Angesicht des Ungreifbaren: Schicksal und Liebe sind unverfügbar, Geld rettet und richtet nichts.

Das Leben - ein Roulette: "Der Spieler" in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Das Leben – ein Roulette: „Der Spieler“ in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Die Bühne braucht einen solchen Kenner menschlicher Tiefen wie Harry Kupfer, um aus der spröden Konversationsoper das packende Stück zu schaffen, das in Frankfurt zu sehen war. Mit seiner auf die Personen konzentrierten Regie bespielt Kupfer das illustrierend-kommentierende Bühnenbild mühelos: Hans Schavernoch erinnert an Klinikflure und geheimnisvoll gläserne Paläste, zeigt die glamourösen Sterne der Halbwelt und die lautlosen Gefahren der Außenwelt. Die Katastrophe des Spielers Alexej beschränkt sich nicht aufs Individuelle: Als er am Ende die Pistole auf seine Schläfe richtet, schlägt ein Komet auf der Erde ein – wie in Lars von Triers „Melancholia“.

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews "Der Spieler" an der Oper  Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews „Der Spieler“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

In Frank van Aken weckt Harry Kupfer den Darsteller und führt ihn zu großer Klasse: Van Aken liefert sich an die Riesenpartie aus, singt sie psychologisch durchdringend, gestaltet sie spannungsreich in ihrer Ambivalenz, zwischen aussichtlos – und daher erst recht vorbehaltlos – Liebendem und grotesk im Spielrausch Versinkendem. An der Seite dieser grandiosen Sängerleistung kann kaum jemand bestehen, obwohl Kupfer mit den allesamt vorzüglichen Frankfurter Darstellern bewundernswert scharf beobachtete bizarre Typen formt.

Nur eine zieht gleich: Anja Silja als Babuschka, an den Rollstuhl gefesselt, kostet ihre Macht aus, auch wenn sie nur eine negative ist. Ihr Geld bekommt niemand, eher überlässt sie es dem blinden Lauf der Kugel: In dieser Szene triumphiert die absurde Sinnlosigkeit des Geldes. Siljas Auftritt ist eingehüllt von der Magie einer Bühnenlegende – und dieser auratische Glanz stimmt das Gehör für den Rest ihrer Stimme milde und aufmerksam.

Später, wenn Frank van Aken seinen Gewinn über sich abregnen lässt und in einem Haufen Papiergeld sitzt, wird dieser Gedanke szenisch noch einmal überhöht und präzisiert: Polina, das prätentiöse, undurchschaubare und in der Regie wohl bewusst uneindeutig belassene Weibchen, wirft dem hoffnungslos verliebten Alexej sein Geld an den Kopf – einer der unverwechselbaren Auftritte der wie immer in ihrer Rolle lebenden Barbara Zechmeister.

Dank Kupfers Regiekunst wirken die farcenhaft stilisierten Nebenfiguren nie übertrieben. Sie sind in ihrer Gier, ihrem Wahn, ihrer Verfallenheit grotesk komisch (die diversen Damen der Gesellschaft mit Claudia Mahnke als zynisch abgedrehter Blanche), lächerlich tragisch (der alte General Clive Bayleys) oder schmierig undurchsichtig (Martin Mitterrutzner als Marquis oder Sungkon Kim als Mr. Astley). Die Kostüme von Yan Tax, changierend zwischen historischen Anklängen und flirrender Eleganz, unterstreichen die Charaktere.

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Mit dem Frankfurter Orchester bewegt sich Sebastian Weigle wieder einmal auf dem Niveau, das er durch seine Wagner-Interpretationen, aber auch mit Humperdincks „Königskinder“ oder Korngolds „Die tote Stadt“  markiert hat. Prokofjew schenkt den Musikern nichts: Seine Musik kann hitzig und auftrumpfend sein, bewegt sich aber oft in komplex konstruierten Klangmixturen, in denen solistische Präsenz und ein unbestechliches Gehör für die Partner-Instrumente im Orchester nötig sind. Weigle lässt diese rhythmisch verstörten Farbgemische so bunt vorüberziehen wie die Lichter in Schavernochs Bühnenprojektionen (realisiert von Thomas Reimer). Prokofjew kann sarkastisch kommentieren, aber die Musik löst sich auch vom Geschehen und hat dann einen Zug zu Hindemith’scher Autonomie.

Dass diese Oper so selten gespielt wird – in der Rhein-Ruhr-Region etwa in einer Regie Bohumil Herlischkas 1980 in Düsseldorf – ist nicht recht verständlich. Man darf auf eine Wiederaufnahme in Frankfurt hoffen, nachdem die sieben Vorstellungen ausverkauft waren. De Nederlandse Opera, die im Moment Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“ spielt, kündigt den „Spieler“ für die kommende Saison an: Premiere der Inszenierung von Andrea Breth ist am 7. Dezember 2013.

 




Sturm und Drang – Vilde Frang

Irgendwo weit draußen muss es eine Quelle geben, der von Zeit zu Zeit aparte Fräuleinwunder entspringen, die eine Geige in die Hand nehmen und die Welt mit Musik verzaubern. Sie sind von klein auf im Reich der Töne zuhause, vollbringen Außerordentliches auf ihrem Instrument. Voila, hier also ist Vilde Frang.

Die Norwegerin, zarte 24 Jahre jung, studierte bei Kolja Blacher, und die Namen ihrer Mentoren flößen Ehrfurcht ein: Gidon Kremer, Martha Argerich, Anne-Sophie Mutter. Ein Glückskind betritt die Szene, und hat uns nun zwei CD’s geschenkt. Zeigt keine Angst, sondern greift sich zunächst nahezu grimmig entschlossen große Virtuosen-Brocken: die Violinkonzerte von Sibelius und Prokofiev (Nr.1).

Wie schnell fliegen da die Finger, wie präzise, wie zwingend ist ihre Gestaltungskraft. Süchtig aber macht ihr Ton, der fahl verhangen schimmert oder strahlend glänzt. Der schneidend-attackierend oder uns ganz schroff ans Ohr kommt. Gerade richtig für die kühne, wilde, satt-lyrische Musik eines Sibelius. Und dann erst die Fratzenhaftigkeit in Prokofievs Scherzo: Ein Spuk ist das, eine böse, garstige Narretei. Vilde Frang liebt kernige Akzente, zuckt aber (noch) zurück vor Schwebendem, etwa vor der finalen Entrückung des letzten Satzes. Eine junge Frau agiert im Geiste des Sturm und Drang. Schade nur, dass das WDR Sinfonieorchester Köln unter Thomas Søndergård teils brav und klanglich wenig präsent dieses Bild trübt.

Grieg, Bartók, Strauss – es ist nicht gerade die gängige Violinsonaten-Literatur, die sich die junge norwegische Geigerin Vilde Frang für ihre Kammermusik-CD ausgesucht hat. Doch ihres Mottos getreu, im unerschöpflichen Fundus klassischer Musik stets neues zu entdecken, bleibt uns das gängige Repertoire eines Beethoven, Schumann oder Franck verwehrt. Macht aber nichts: Das Hineinhören ins Frangsche Raritätenkabinett öffnet Horizonte – was gleichermaßen für drei außergewöhnliche Werke wie auch für das Spiel der Künstlerin gilt, ihren kongenialen Partner und Mitgestalter am Klavier, Michail Lifits, selbstredend eingeschlossen.

Griegs 1. Violinsonate mag in ihrem romantischen Gestus an Schubert erinnern, doch der bisweilen fahle, schneidig folkloristische, auch melancholische Ton kann das Nordische nicht verleugnen. Faszinierend wiederum zu hören, wie Vilde Frang zwischen verhangenem und strahlend jubilierendem Klang zu wechseln weiß. Saubere Technik und kristalline Intonation tun ein übriges. Weit mehr aber berührt, ja erschüttert ihre Deutung der Bartókschen Solosonate, ein Jahr vor seinem Tod komponiert. Schroff, brüchig, zerklüftet kommt die Musik daher – technisch höchst komplex. Frang schafft es mit ihrem analytischen Zugriff, diesen Schwanengesang in höchster Expressivität zu vermitteln. Zwischen Melancholie, Schmerz und Raserei irrlichtern Figurationen und Klänge, wie unter Atemnot herausgepresst.

Richard Strauss‘ jugendliche, frische Sonate ist herber, verwirrender Kontrast. Wunderbar hell funkelt die Geige, zudem in allerlei Schattierungen kann das Instrument klingen. Und das Aufblitzen eines kecken Konversationstons im Finale zeigt, wie auch Michail Lifits aller technischen Raffinesse gewachsen ist.

Die beiden CD’s sind bei EMI Music erschienen.

 

Der Text war in veränderter Form auch in der WAZ zu lesen.