Reizendes Kaleidoskop: Anna Vinnitskaya ist Porträtkünstlerin der Essener Philharmonie

Die Pianistin Anna Vinnitskaya. (Foto: Marco Borggreve)

Sergej Rachmaninow ist einer der Komponisten, zu denen Anna Vinnitskaya immer wieder zurückkehrt – und das dürfte nicht alleine daran liegen, dass sie einst am Rachmaninow-Konservatorium in Rostow am Don unterrichtet wurde. Mit dem eher selten gespielten Ersten Klavierkonzert in fis-Moll stellte sich die aus Russland stammende Pianistin als Porträtkünstlerin der Essener Philharmonie dieser Saison im Alfried-Krupp-Saal vor, begleitet von den Philharmonikern unter ihrem GMD Andrea Sanguineti.

Anna Vinnitskaya hat sich für die laufende Saison einen gewichtigen Rachmaninow-Schwerpunkt gesetzt und wird in Essen und der Region viel Präsenz zeigen. Bevor sie am 4., 5. und 9. Februar 2025 mit Rachmaninows Dritten, dem d-Moll-Konzert, nach Münster kommt, spielt sie im November die vier Konzerte plus die Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43 in zwei Konzerten mit der Dresdner Philharmonie unter Krzysztof Urbanski im Kulturpalast Dresden. Danach, am 6., 7. und 8. März 2025 tritt sie unter Joana Mallwitz mit den Berliner Philharmonikern mit dem Dritten Klavierkonzert auf. Prominente Engagements also für die Preisträgerin des renommierten Concours Reine Elisabeth in Brüssel, den sie 2007 als zweite Frau in der Geschichte des Wettbewerbs gewann und in dessen Jury sie im Mai 2025 sitzen wird.

Herbert Grönemeyer als Dirigent

In Essen ist Anna Vinnitskaya noch mehrfach in unterschiedlichen Formaten zu erleben. Die beiden Herbstkonzerte für Menschen mit besonderen Bedürfnissen im RWE Pavillon liegen bereits hinter ihr, aber am 3. Oktober präsentiert sie in der Philharmonie mit Dmitri Schostakowitsch einen ihrer dezidierten Lieblingskomponisten: Mit dem Brahms Ensemble Berlin spielt sie das Klavierquintett op. 57, solistisch lässt sie sich mit den „Puppentänzen“ hören, die sie auch 2024 auf ihrem jüngsten Album „Piano Dances“ eingespielt hat.

Das Zweite Klavierkonzert Schostakowitschs erklingt dann mit dem Mahler Chamber Orchestra zum 50. Todesjahr des Komponisten 2025 – am 14. Februar in Dortmund, am 15. in Essen und am 16. in Köln. Noch einmal ist Anna Vinnitskaya am 22. März in der Philharmonie Essen Solistin eines Orchesterkonzerts, diesmal mit dem Tonhalle Orchester Zürich unter Paavo Järvi und dem a-Moll-Konzert Robert Schumanns, bevor sie am 14. Juni mit Rachmaninows populärem c-Moll-Konzert op. 18 und den Bochumer Symphonikern nach Essen zurückkehrt. Als Dirigent des Konzerts, das am 13. und 15. Juni auch in Bochum auf dem Programm steht, ist Herbert Grönemeyer angekündigt.

Leuchtende Frische für Rachmaninow

Mit dem Ersten Klavierkonzert, das Sergej Rachmaninow als Moskauer Konservatoriumsstudent 1891 schrieb und 1917 überarbeitete, bestätigte Anna Vinnitskaya ihren viel gerühmten Rang als Solistin: Mit dem oft unterschätzten Werk ließ sie ein reizendes Kaleidoskop der Stimmungen aufleuchten. Nach dem kraftvollen Statement des Beginns nimmt sie den Ton des weiträumig in den Streichern exponierten Themas auf, der sich bald in lockerer Spielfreude verliert. Kein Wunder, dass dieses Konzert so wenig beachtet wird: Man muss wie Anna Vinnitskaya Freude daran haben, die eher rhapsodisch gereihten Momente brillanter Leichtigkeit, sentimentalen Verträumens und melodischer Melancholie elegant, frei und natürlich darzustellen.

Die Pianistin versucht nicht, die Wechsel illustrativ einzufangen. Sie bewahrt einen stetigen, freundlich leuchtenden, eher frischen als elegisch verschatteten Ton – den gönnt sie sich, gewürzt mit feinsinnigen Rubati, nur im lyrischen Teil des letzten Satzes. Ihr kurzes Duett mit dem Fagott im zweiten Satz wird zum poetischen Zwiegespräch, die Energie des Finales wird zupackend, aber kontrolliert freigesetzt. Die Philharmoniker unter Andrea Sanguineti sind mal näher, mal weiter von der Pianistin entfernt, wollen sich aber nicht vordrängen, sondern begleiten mit Noblesse, feinen Abstufungen und stellenweise zu diskreten Holzbläsern. Ein bezaubernder Einstand, der gespannt macht auf die weiteren musikalischen Facetten dieses Porträts.

Weitere Infos:

https://annavinnitskaya.com/de/home

https://www.theater-essen.de/philharmonie/

 




Arbeitsschweiß und Maschinenrhythmus: „Stahlkocher“ als Thema eines Konzerts in Dortmund

Die Torte trägt einen Smoking, ist eingehüllt in Noten und fußt auf einer Klaviertastatur. Damit es endlich weitergeht, betätigt sich Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz ausnahmsweise destruktiv. Messer her, energische Schnitte, und schon landen die ersten saftigen Schokoladenkuchenstücke auf den Tellern.

Dortmunds GMD Gabriel Feltz schneidet seine Torte an. (Foto: Werner Häußner)

Das Produkt der Konditorenkunst gilt der Hommage an eine ansonsten durch und durch aufbauende Persönlichkeit: Gabriel Feltz feiert nach dem Zweiten Philharmonischen Konzert der Dortmunder Philharmoniker sein zehnjähriges Dienstjubiläum in der Stadt.

Da wird viel Harmonie bekundet: Oberbürgermeister Thomas Westphal, Theaterdirektor Tobias Ehinger und Orchestervorstand Hauke Hack singen Hymnen auf den rührigen GMD, heben Ideenreichtum, Innovationskraft, Energie und Fleiß hervor, lassen mit launigen Bonmots auch mal schmunzeln. Feltz dankt, bekundet seine Verbundenheit mit Dortmund und verteilt dann entschlossen das süße Präsent.

Künstlerisch hat das Philharmonische Konzert das Lob mit einem so originellen wie hochkarätig dargebotenen Programm unterfüttert. Einer der glückhaften Abende mit Feltz, von dem – der Kritiker hat die undankbare Aufgabe solcher Hinweise – es auch schon andere zu erleben gab. Ein Abend unter dem Motto „Stahlkocher“, denn diese Saison widmet das Orchester seiner Heimatregion, dem Ruhrgebiet. Die programmatischen Linien ziehen sich von unter Tage über Fußball, Flora und Fauna bis zum Tanz und mit der Taubenzucht auch hinauf in den früher gar nicht so blauen Himmel über der Ruhr.

Ein T-Shirt zum Jubiläum. (Foto: Sophia Hegewald)

Mit unbekannten Werken lassen die Philharmoniker also noch einmal die vergangene Landschaft der Schwerindustrie künstlerisch greifbar werden. Dass die Welt der Industriearbeit im Sozialismus zumindest dem Anspruch nach einen zentralen Schwerpunkt bildete, hat sich auch im musikalischen Schaffen niedergeschlagen. „In der Eisengießerei“ ist ein dreiminütiges Stück des in großen Musiklexika nicht auffindbaren Alexander Mossolow (1900-1973), das diesen Blickwinkel beispielhaft repräsentiert.

Mossolow, vor seiner Verurteilung als „Konterrevolutionär“ ein musikalischer Avantgardist, lässt das Orchester unter Missachtung herkömmlicher Regeln den Geräuschpegel einer Fabrik erzeugen: Lärmcluster, rhythmisches Stampfen, das regelmäßige Quietschen irgendeines mechanischen Teils, dumpfe und grelle Schläge – und dazwischen dürfen vier Hörner mit vollem Schalldruck Signale gellen lassen, bevor mit Gong und Knall die Maschinerie zum Stillstand kommt. Naturalistischer geht’s nimmer, und man fragt sich, was wohl geworden wäre, hätten Bert Brecht und Kurt Weill ihre von konservativen Kreisen in Essen hintertriebene „Ruhr-Oper“ tatsächlich geschrieben – oder Mossolow sein Ballett „Stahl“, das bis auf diesen Satz über die Fabrik unausgeführt blieb.

Mossolow hat noch andere solcher Werke wie „Die Traktorenbrigade fährt in die Kolchose ein“ hinterlassen; viele sind verschollen, fast alle wissenschaftlich unbearbeitet, aber die drei Minuten wecken Lust, zum Beispiel einmal eine seiner Sinfonien zu hören, die wohl einen wunderlichen Kontrast zu seinem Zeitgenossen Dmitri Schostakowitsch bilden würden. Denn Mossolow unterwarf sich später dem Diktat der sowjetischen Kunstdoktrin, um unauffällig sein Leben zu führen.

Das andere in den thematischen Rahmen passende Werk ist Sergej Prokofjews „Der stählerne Schritt“ op. 41, ein unverkennbares Propagandawerk, das nach Folklore-Fetzen, schrägem Pathos und verfremdetem Mussorgsky in eine hochvirtuos stilisierte Stahlfabrik führt, wo der neue „heroische“ Sowjetmensch in Richtung Kommunismus unterwegs ist. Dass die Entfremdung nicht aufgehoben ist, macht Prokofjews Musik – bewusst oder nicht – aber auch deutlich. Unter dem brutalen Stampfen des Rhythmus, dem Takt von Maschinen dem schrillen Kreischen unerkannt bleibender technischer Vorgänge droht das Individuum unterzugehen.

Vielleicht ist diese Lesart zu spekulativ: Aber Prokofjew sträubt sich dagegen. Er lässt immer wieder Soli durch die Kulisse des Lärmens brechen; zwei Fagotte haben viel zu tun, die anderen Holzbläser treten auf einmal mit einer Kantilene hervor und der Klang verschiebt sich immer wieder in neuen Instrumentenkombinationen. Die Dortmunder lassen keinen Arbeitsschweiß auf ihre Stirnen treten. Sie sind in jedem Moment souverän und reaktionsschnell bei der Sache, und Feltz plustert die dissonanten Blechbläser nicht auf, sondern strukturiert den Maschinenlärm, der weit stilisierter und „abstrakter“ gefasst ist als bei Mossolow.

Das ist eine der deutschen „Pacifics“ der Baureihe 01, wie sie Arthur Honegger musikalisch porträtiert hat. Solche Lokomotiven waren bis in die sechziger Jahre auch in Dortmund in großer Zahl anzutreffen. (Foto: Archiv Häußner)

Ein dritter Aspekt der Industrialisierung beschließt das Konzert. Arthur Honegger, wie übrigens auch Antonín Dvořák ein bekennender Eisenbahnfan, lässt in seinem Klanggemälde „Pacific 2.3.1.“ die Arbeitsgeräusche einer Schnellzug-Dampflokomotive zu einem raffinierten Musikerlebnis werden. Auch für dieses Stück kann man einen Dortmund-Bezug reklamieren: „231“ sagt in angelsächsischen Ländern etwas über Anzahl und Anordnung der Achsen einer Lokomotive. In Deutschland waren etwa die ab 1925 gebauten Dampfloks der Baureihe 01 solche „Pacifics“, und in Dortmund war bis zum Ende der Dampfzeit in den sechziger Jahren eine erhebliche Anzahl dieser Maschinen stationiert.

Das Orchester  bringt Honeggers beschreibende Musik mit Glanz und Verve zum Klingen, aber Feltz lässt sie nicht klangmalerisch schnaufen und pulsieren wie etwa Rossini in seinem köstlich-ironischen „Vergnügungszug“. Vielmehr stellt er heraus, dass Honegger eine gewitzte analytische Studie über Bewegung, Metrum und Rhythmus geschaffen hat.

Den Kontrast zu all diesen Reminiszenzen an das Industriezeitalter bildet Sergej Rachmaninows beliebtes c-Moll-Klavierkonzert op. 18, das Herz des Abends. Nikolai Lugansky hat am Anfang nicht die Entschiedenheit, den Flügel aus der Deckung des Orchesters treten zu lassen, aber die Balance findet sich rasch. Die dunkel timbrierten Streicher des Beginns münden in eine wirkungsvolle Steigerung, und dann findet der Pianist zu schwebenden Klängen, aparten Rückungen und Varianten im Tempo.

Der dritte Satz, ein „allegro scherzando“, gelingt konturenscharf, kraftvoll zupackend, aber nicht dröhnend. Brillanten Schritts geht es in Richtung Finale, es herrscht die Lust am saftigen Musizieren, das auch vor Pathos nicht zurückscheut. Rachmaninow als Gegenwelt – lassen da nicht die grünen Eilande des Ruhrgebiets grüßen, in die Denkmäler der Industrie als neue Orte einer Romantik ragen, die unseren schaffenden Vorfahren unwirklich vorgekommen wäre?

Das nächste Philharmonische Konzert, diesmal mit Christoph Altstaedt als Dirigent, trägt den Titel „Taubenzüchter“ und präsentiert Antonín Dvořáks „Die Waldtaube“, seine 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ und das farbig-sinnliche Violinkonzert Erich Wolfgang Korngolds mit Anna Tifu als Solistin. Termin: 14./15. November, jeweils 19.30 Uhr im Konzerthaus Dortmund. Tickets: www.theaterdo.de, Tel.: (0231) 50 27 222.




Nur der Putz hält noch die Wand: Das vierte Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow in Dortmund

Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk.

Dortmunds Orchesterchef Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk

Nicht jedes Gespräch muss inhaltsschwer sein. Manchmal macht es Spaß, nur zu reden und zu hören, dem Klang der Worte und Stimmen zu lauschen, mit Nichtigkeiten Sympathie, Witz und Ironie oder die pure Freude am Zusammensein auszudrücken. Oder, um es platt und treffend zu sagen, einfach vor sich hinzuquatschen. Wer in eine solche Unterhaltung verwickelt ist, mag Freude daran haben, wer außen steht, wundert sich vielleicht, oder fragt sich, was das soll.

So ähnlich geht es dem Hörer von Sergej Rachmaninows Viertem Klavierkonzert. Orchester und Solist quatschen munter drauflos, tauschen Allgemeinplätze aus, versteigen sich manchmal in eine abgelegene Modulation, in eine spitz-würzige Pointe der Instrumentation, setzen zu einer Melodie an, die sie bald wieder vergessen, spielen mit Bausteinen, aus denen andere Komponisten Wunderwerke errichten. Rachmaninow nicht: Sein letztes Klavierkonzert von 1927 ist, möglicherweise aufgrund des Kürzens und Überarbeitens im Schaffensprozess, nicht viel mehr als ein buntes, die Farben und Formen ständig weiterklickendes Kaleidoskop.

Dass dieses Konzert im Programm der Dortmunder Philharmoniker auftauchen musste, ist klar: Ihr Chef Gabriel Feltz hat eine tiefe Verbindung zu dem oft unterschätzten Komponisten, dokumentiert durch mehrere Konzerte und CD-Aufnahmen: Gerade ist die neue Platte mit der Dritten Sinfonie erschienen; Feltz hat sie nach dem Konzert eifrig beworben und im Foyer des Konzerthauses signiert.

Der Pianist Alexander Krichel. Foto: Uwe Arens/Sony Classical

Der Pianist Alexander Krichel. Foto: Uwe Arens/Sony Classical

Aber das g-Moll-Klavierkonzert wird kein Ruhmesblatt in dieser Liebesbeziehung bleiben: Schon zu Beginn deckt das Orchester die eigentlich kraftvollen Akkorde des Pianisten zu; von musikalischer Feinarbeit kann auch im weiteren Verlauf nicht die Rede sein. Die wenigen interessanten Momente des Stücks, etwa die sehnsuchtsvollen, an Dvořák gemahnenden Holzbläserstellen, ein paar harmonisch aparte Überleitungen oder rhythmischer Pep sind zugetüncht von sämiger Klangfarbe, als wolle Feltz zeigen, dass es nur der Putz ist, der die Wand noch aufrecht hält.

Solist Alexander Krichel stand von vornherein auf verlorenem Posten. Mit nobel hanseatischem, etwas unterkühltem Ton kommt er den Orchesterwogen ebenso wenig bei wie den virtuosen Leerstellen des Konzerts. Mal auf, mal ab, mal quirlig fingerfertig, dann wieder mit anfliegendem Pathos – und das alles melodisch reizlos: Krichel gewinnt dem Werk nichts ab, steht aber damit nicht allein. Schon andere Pianisten haben sich damit ohne Erfolg das Elfenbein von den Tasten geschubbert. In einigen Details – mir blieben wunderschöne Arpeggi oder glanzvoll und fein durchleuchtete Piani im Gedächtnis – lässt Krichel seine Klasse aufblitzen. Wenn er am 9. März in der Stadthalle in Mülheim/Ruhr das Fünfte Klavierkonzert Ludwig van Beethovens spielt, kann er sicher mehr zeigen.

Soeben erschienen: Rachmaninows Dritte vervollständigt den Zyklus der Symphonien des Komponisten, aufgenommen von den Dortmunder Philharmonikern unter Gabriel Feltz. Cover: Dortmunder Philharmoniker

Soeben erschienen: Rachmaninows Dritte vervollständigt den Zyklus der Symphonien des Komponisten, aufgenommen von den Dortmunder Philharmonikern unter Gabriel Feltz. Cover: Dortmunder Philharmoniker

Viel wohler fühlen sich beide Seiten des Saales offenbar bei Rachmaninows „Sinfonischen Tänzen“ op.45. Auf einmal klart sich der Klang der Dortmunder Philharmoniker auf, werden im sich lichtenden Nebel Konturen deutlich, zeichnet sich die Musik plastisch durch. Die Holzbläser haben bis in die tiefsten Schründe von Bassklarinette und Kontrafagott luzide Momente, die Violinen phrasieren frei und süffig glühend, das Saxophon schmeichelt, aus dem Schlagzeug sprühen Triangelschaum, Tamburinglitter, die zischenden Fontänen der Becken und das finale Dröhnen des Tamtam.

Feltz bezieht dieses Spektrum der Klänge sinnig aufeinander, lässt die Dynamik elastisch und frei atmen wie das Aufrauschen von Wellen am Strand, die sich türmen und verebben. Zu Beginn, in Rachmaninows „Toteninsel“, will ihm das noch nicht gelingen: Da hat er eher den Bogen der Dramaturgie als die Klangdetails im Orchester im Blick.

Im Sechsten Philharmonischen Konzert am 13. und 14. März 2018 im Konzerthaus Dortmund dirigiert Gabriel Feltz Anton Bruckners Achte Symphonie.




Die Pranke des wilden Bären: Denis Matsuev in der Philharmonie Essen

Aber holla: Wenn Denis Leonidovich Matsuev auftritt, gibt’s für den Steinway kein Pardon. Der in Irkutsk geborene und von seinem Vater unterrichtete Russe verkörpert Eigenschaften, die man gemeinhin mit der „russischen Schule“ verbindet: stählerne Energie, gewaltiger Ton, dräuende Romantik. Und dazu phänomenale Treffsicherheit in Skalen, Grifffolgen, Oktavparallelen und was derlei virtuoses Handwerk noch mehr ist.

Ein amerikanischer Kritiker schrieb über ein Matsuev-Konzert, er habe in seiner fast sechzigjährigen Laufbahn noch nie ein Klavier so laut gespielt erlebt. Nun denn: Matsuev schafft es auch, die Essener Philharmonie so zu erschüttern, dass man in der Stille zwischen den Orkanen besorgt auf mögliches Knirschen der Stahlträger lauscht.

Die Philharmonie in Essen. (Bild: Werner Häußner)

Die Philharmonie in Essen. (Bild: Werner Häußner)

Matsuev wollte sich zunächst nicht als Extrem-Pianist einführen: Mit Peter Iljitsch Tschaikowskys Zyklus „Die Jahreszeiten“ stellte er – passend zum in Deutschland kaum wahrgenommenen 175. Geburtstag des Komponisten – ein mindestens so viel Zartheit wie Zugriff forderndes Werk an den Anfang seines Auftritts beim Klavier-Festival Ruhr. Und enttäuschte alle, die sich von altrussischer Kraft bestätigt sehen wollten. Matsuev spielt mit durchaus kernigem Anschlag; Verzärtelungen sind seine Sache nicht. Aber er gestaltet nicht ohne Poesie: wenig Rubato, aber sorgsam gebildetes Mezzoforte; sanft formuliertes Selbstbewusstsein in den „Weißen Nächten“, poetisch-melodienselige Reminiszenzen an Tschaikowskys Tatjana aus „Eugen Onegin“ in der „Barkarole“.

Natürlich geht es auch zur Sache, wenn Matsuev das „Lied der Schnitter“ (alles andere als „moderato“) als frischfröhlich gedroschenes folkloristisches Intermezzo versteht. Oder wenn er die herbstliche Jagd im „September“ als effektsicheres Schaustück vorführt, bei dem sich das Martellato schon gefährlich nahe an Großvirtuosen wie Skrjabin oder Prokofjew heranhämmert. Im „November“ streift Matsuev gar eine versonnene Melancholie; den „Dezember“-Walzer stattet er mit schwingender Melodik und gekonnten Salon-Fermaten aus. Kein übler Eindruck also zu Beginn; das „Russische“ des Denis Leonidovich scheint durchaus gebändigt und reflektiert.

Auch die kurze cis-Moll-Sonate Alexander Skrjabins (op. 2/1) hätte gefallen können: Matsuev wählt einen entschiedenen, aber nicht dröhnenden Ton, nimmt sich zurück und führt das Auf und Ab der Achtelfigur immer wieder ins Mezzoforte. Das wäre recht schön und schlüssig gewesen, hätte man nicht Benjamin Mosers energetisch dosierte Gestaltung drei Tage vorher in Haus Fuhr in Werden erlebt. Da klangen doch differenziertere Farben mit, da war das Spektrum der Dynamik elaborierter – und so Skrjabins Anweisungen treffender umgesetzt. Aber gut: Matsuev wählt einen „heroischeren“ Ton, sieht in der Etüde eher die geschichteten Akkorde als einen melodischen Verlauf. Ein Beispiel, wie grundverschieden die Zugänge zu einem Stück sein können.

Dann die dis-Moll-Sonate (op. 8, Nr. 12) Skrjabins: Jetzt erfreut sich Matsuev an den Läufen, die er mit machtvollem Bassfundament stützt und rauschend durchzieht. Jetzt zeigt er, wie er „patetico“ liest: formidable Konsequenz in der Phrasierung, erfolgreiches Überwinden irrwitziger technischer Hürden, zustoßende Finger wie Maschinen in einer alten Ruhrpott-Fabrik. Das reißt mit; der Beifall war merklich animierter als nach den Tschaikowsky-Miniaturen. Poesie heizt eben nicht an.

Nach der Pause fielen alle Hemmungen. Jetzt kam der Virtuose alten Stils zum Durchbruch. Werbegazetten und Lobhudel-Kritiken auf der Suche nach „Ausnahme“-Pianisten hatten Matsuev ja schon zum neuen Horowitz gekürt, und er hat das Etikett noch bekräftigt durch eine 2005 erschienene CD mit dem Titel „Tribute to Horowitz“. Aber um an den Altmeister aller Virtuosen heranzukommen, fehlt dem Vierzigjährigen aus Sibirien die Subtilität, die grandseigneurhafte Individualität und die ironische Distanz des Alten. Robert Schumanns „Kreisleriana“ transformiert er vom zerrissenen romantischen Seelenbild zum Futter furioser Exaltationen.

„Äußerst bewegt“ bedeutet für Matsuev rasant und forsch; „sehr innig“ ist bei ihm heroisch geladen. Ein Schumann voller Saft und Kraft, aber ohne in sich gekehrtes Betrachten, ohne jenseitige Feierlichkeit, auch ohne bohrendes Grübeln. Wobei Matsuev den „Kreisleriana“ durchaus interessante Facetten abgewinnt, etwa, wenn er sich in den beiden langsamen Teilen mit Noblesse zurücknimmt, wenn er das „Lebhafte“ groß und frei, mit kraftvollen Bässen selbstbewusst, aber nicht verdonnert spielt.

Nach der fulminanten Geste des Beginns war dann klar, wohin Sergej Rachmaninows b-Moll-Sonate op. 36 getrieben wird: Jetzt endlich kann Matsuev den wilden Bären geben, jetzt kann er mit Liszt-Ekstase, mit Prokofjev’scher Brutalität dem Flügel zeigen, wo die Grenzen der Materie liegen. Ob die grollenden Bassgewitter, ob die aufzischenden Diskantblitze, ob der Tumult der rasenden Finger noch den Noten entsprachen, weiß in dem Toben entfesselter Elemente wohl nur noch der liebe Gott.

Trotzdem: Matsuev entdeckt auch in dieser Sonate Momente des Nachsinnens, im „Lento“ sogar etwas wie andächtige Versonnenheit. Würde er in dem Stück durch mehr Kontrolle einen inneren Zusammenhang herstellen, könnte er das Zurücknehmen aus dem Ruch sentimentaler Ruhepausen befreien.

Konzept hin, Konzept her – die Zuhörer schrien elektrisiert auf, als Matsuev seine letzten Kraftkaskaden in den Raum gepulvert hatte. Und sie erklatschten sich fünf Zugaben, darunter Anatoli Ljadows impressionistische Porzellanton-Miniatur „The Musicbox“ op. 32 und eine einem grollenden Bergsturz gleich kommende Bearbeitung von Edvard Griegs „In der Halle des Bergkönigs“ in eigenem Arrangement.




Eröffnung der Konzertsaison in Krefeld: Mit Jac van Steen nach Russland

Wieder ein russisches Programm, wieder eine Geigerin: Die Brücke zur vergangenen Spielzeit wird offensichtlich geschlagen. Brachte Generalmusikdirektor Mihkel Kütson im vorletzten  der Serie der Abo-Konzerte der Niederrheinischen Sinfoniker Schostakowitsch und Mussorgsky, startete Gastdirigent Jac van Steen in Krefeld mit Tschaikowsky, Prokofjew und den souverän entfalteten Sinfonischen Tänzen Sergej Rachmaninows.

Viviane Hagner, die in Berlin lebende und unterrichtende Münchnerin, ist die Solistin des Zweiten Violinkonzerts Prokofjews. Keine der Geigerinnen, die auf der Glamourwelle mitschwappen. Ganz konzentriert auf den musikalischen Auftritt, wenn sie mutterseelenalleine das Konzert eröffnet. Ohne Sentiment, aber auch ohne die dunklen Verschattungen der Melancholie. Hagner bezieht Position: Die emotionale Geste, die demonstrative Emphase scheint ihre Sache nicht zu sein.

Das bestätigt sich spätestens im zweiten Satz. Der erste ändert ja seine Haltung rasch, fordert von der Solistin locker-virtuose und energisch-nachdrückliche Passagen. Der zweite flankiert ein pointiert kurznotiges Allegretto mit kantablen Teilen, die sich durchaus zum hymnischen Gesang steigern ließen. Nicht so von Viviane Hagner: Sie bleibt in der leidenschaftlichen Lyrik Prokofjews bei ihrem schlank-energischen, aber wenig eingefärbten Ton – als habe sie sich das Etikett der „Sachlichkeit“ tatsächlich auf die Fahnen gepappt.

Auch der letzte Satz, „ben marcato“, verlässt diese Linie nicht: Hagner markiert Rhythmus und Artikulation in der Tat ausgeprägt. Sie gibt sich keine Blöße in der Sorgfalt, mit der sie selbst kleinste Details modelliert. Aber gefangen nimmt sie mit ihrer Lesart nicht: Die Distanz, das gemiedene Risiko im Ausdruck, sind zu offen hörbar. Auch die Bach-Zugabe Hagners scheint zu bestätigen: Hier ist ein kühler Kopf zugange.

Jac van Steen (Foto: Dortmunder Philharmoniker)

Jac van Steen (Foto: Dortmunder Philharmoniker)

Den kühlen Kopf musste auch Jac van Steen bewahren: In der fragwürdigen Akustik des Krefelder Seidenweberhauses wollten sich die Klänge in Tschaikowskys „Romeo und Julia“ nicht verbinden. Das Orchester fand nicht zu geschmeidigem Klang, die Holzbläser schienen ihre Töne direkt und massiv über die Rampe zu wuchten. Auf einem anderen Platz dürfte das wohl anders geklungen haben – die Tücke des Saals ist mir noch unberechenbar. Dafür war deutlich zu hören, wie sauber die Streicher ihre Skalen formen, wie energisch rhythmische Akzente auf den Punkt gesetzt werden und wie bereitwillig die Sinfoniker die leidenschaftliche Phrasierung, die Vorstellung eines breiten, intensiven Klangs umsetzen.

Der Dirigent ist in der Region kein Unbekannter. 2011 hat die Stadt Dortmund seinen Vertrag nicht verlängert – und dies mit dem neuen Profil des Musiktheaters unter Jens-Daniel Herzog begründet. Die Profilierung ist freilich in den Anfängen steckengeblieben, aber Steen hat die Freiräume genutzt und steht inzwischen an Pulten wie dem des Philharmonia Orchestra London. Das Ulster Orchestra hat ihn zu seinem Ersten Gastdirigenten ernannt; an der Opera North In Leeds dirigiert er im Februar 2015 Puccinis „Gianni Schicchi“ und de Fallas „La Vida breve“.

Die brillante Instrumentierung der Rachmaninow-Tänze war der Saal-Akustik dann offenbar gelegener: Jetzt passten Balance und Klangfarben zueinander, fand sich die richtige Mischung von schmelzendem und scharf konturiertem Klang. Zum Beispiel im ersten Satz, der trotz des „non“ in der Bezeichnung ein Allegro ist. In den ans Groteske rührenden Klavierstellen. Oder in der Korrespondenz des Altsaxofons – Martin Hilner spielt es berührend – mit den Bläserkollegen. Oder auch in den herben koloristischen Reibungen und Kontrasten zwischen den Solisten. Oder in den schlank-klaren Trompeten des letzten Satzes. Oder den dunkel-sämigen Klängen der Violine von Konzertmeisterin Chisato Yamamoto.

Überzeugend auch die Momente episch anmutender Lyrik, die sich im Kopf mit den schwermütigen Bildern aus den Weiten Russlands verbindet. Steen bringt nach solchen Ruhepunkten die Musik wunderbar wieder in Bewegung, achtet auf geschmeidige Rhythmen, steigert organisch. Die Sinfoniker beweisen ein beachtliches Format, eine Kultur des Zusammenspiels, die für die kommende Saison schöne Hoffnungen weckt.

Auf die Musiker warten noch ein paar sinfonische Herausforderungen: Leonard Bernsteins „Jeremia“-Sinfonie etwa, Jean Sibelius‘ Erste Sinfonie oder Arthur Honeggers selten gespielte Vierte Sinfonie „Deliciae Basiliensis“. Sympathisch, das Mihkel Kütson immer wieder solche Trouvaillen in seine Programme einstreut. So etwa ein Konzert für Tuba und Orchester (2006) des 1971 geborenen Schweden Fredrik Högberg, oder ein Cellokonzert des einst bedeutenden, aus Seesen am Harz stammenden Cellisten und Komponisten Wilhelm Fitzenhagen (1848-1890), der Tschaikowskys Rokoko-Variationen kritisch begleitet und uraufgeführt hat. Der Cellist Alban Gerhardt wird als Solist in beiden Werken zu hören sein.

Wiederholung des Ersten Sinfoniekonzerts am 4. September in der Kaiser-Friedrich-Halle Mönchengladbach und am 5. September im Seidenweberhaus Krefeld. Info: www.theater-kr-mg.de/karten




Kein Wunsch bleibt offen: Essener Philharmoniker erkunden die „russische Seele“

Der Dirigent Kirill Karabits. Foto: Sussie Ahlburg

Der Dirigent Kirill Karabits. Foto: Sussie Ahlburg

Eines muss man dem neuen Essener Generalmusikdirektor Tomáš Netopil lassen: Die Programme der Sinfoniekonzerte sind abwechslungsreich geworden und verlassen sich nicht vornehmlich auf den – durch häufige Aufführung eher abgewetzten als aufpolierten – Glanz gängiger „Meisterwerke“. Statt beim Stichwort „Russische Seelenklänge“ wieder einmal bei Tschaikowsky herumzuschwelgen, bot das siebte Sinfoniekonzert der Philharmoniker mit Mussorgsky (in der Überformung durch Nikolai Rimski-Korsakow), Skrjabin und Rachmaninow wahrhafte Seelen-Musik aus der geistesgeschichtlich spannenden Epoche vor dem Ersten Weltkrieg.

„Seele“ also nicht gleichgesetzt mit Sentiment, sondern in ihren rätselvollen Tiefen erforscht durch Kompositionen, die dem Symbolismus der Literatur und Bildenden Kunst und der radikalen philosophischen Selbstbespiegelung eines Friedrich Nietzsche anverwandt sind. So geht Programm!

Insofern ist es auch konsequent, von Modest Mussorgskys „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ nicht die kühne, schroffe Urfassung zu spielen, sondern Rimski-Korsakows luxuriöse, aber auch glättende Version. Dennoch: Es bleiben genug exzessive Orchesterfarben, rhythmische Grotesken, grelle Entladungen, um die Essener Orchestermusiker ihr Können vorführen zu lassen. Der Dirigent des Abends, Kirill Karabits, gehört unter den vielen neuen Kapellmeistern, die in Essen für Abwechslung und Qualitätssicherung sorgen sollen, zu den erfreulicheren Gästen: Er bringt offenbar das Gespür und die Technik mit, Schärfe und Konturen, Farben und dynamische Steigerungen detailliert und dennoch im Überblick zu entfalten. Vom lauernden Pianissimo bis zur Eruption glutheißer Klang-Lava hat Karabits den opulenten Apparat im Griff.

Körperlich-erotische Musik

Das gilt auch für Alexander Skrjabins „Poème de l’extase“. Der kühne Eigenbrötler unter den russischen Komponisten wollte seine eher symbolistisch als programmatisch gedachte Vierte Symphonie nicht nur schöngeistig aufgefasst wissen. Anspannen, aufheizen, explosives Entladen: Skrjabin fasste das in eine vor hundert Jahren als extrem, verrückt und manchmal auch zu offensichtlich körperlich-erotisch eingeschätzte Musik. Noch heute reißt das musikalisch frei dem Klang und dem Rausch huldigende Werk von 1908 in den Strudel seiner Exaltation mit.

Karabits hat den Überblick über ein noch einmal gewachsenes Orchester-Rund zu wahren und macht schon mit den einleitenden heiklen Pianissimo-Strukturen klar, wie umsichtig er den Philharmoniker helfen würde, aufeinander zu hören und die Balance des fragilen Klangs zu finden. Und im Gegensatz zu Mikhail Pletnev, der Skrjabins berauschend-ekstatischen Sabbat im November 2012 in Essen dirigiert hat, findet Karabits die drängende dynamische Energie, um der Steigerungsdramaturgie des Werks gerecht zu werden. Dass sich die wirbelnde Unruhe und die fiebrige Poesie zwischendurch erschöpfen, die klangfarblichen Effekte verblassen, hat wohl weniger mit der konzentrierten Ausführung durch die Philharmoniker als mit dem Werk selbst zu tun: übersteigerte Reize stumpfen schnell ab.

Und um die Philharmoniker in der Schwelgerei des Klangs und das Konzert in der Kulmination des ideellen Konzepts zum Höhepunkt zu führen, steht am Ende Sergej Rachmaninows Chor-Sinfonie „Die Glocken“ (op. 35) – ein wegen seines gewaltigen Aufwands nicht eben häufig aufgeführtes Werk. Verpflichtet dem morbid-üppigen Luxus eines Zeitalters, das selbstbewusst allen musikalischen Möglichkeiten gebietet; affiziert von einem Symbolismus, der sich wohlig in die Schauer untergründiger Ahnungen kuschelt; aber auch verstört vom existenziellen Grauen eines Edgar Allan Poe, dessen gleichnamiges Gedicht die programmatische Basis der entfesselten Musik bildet. Die Glocken sind ja nicht nur Träger von Klang: Sie stehen für die Lebensstationen des Menschen und sie sind Mahner an verborgene, abgründige, jenseitige Sphären – man mag sie tiefenpsychologisch zu fassen versuchen oder religiös zu ergründen.

Muster an Präsenz und Präzision

Karabits sucht und findet die klanglichen Entsprechungen dieses geistigen Programms in impressionistischer Lyrik und in imperialem Auftrumpfen. Anders als Simon Rattle, der auf CD eine intellektuell durchdrungene, aber klanglich zur Dürre neigende Version vorgelegt hat, scheut der in Kiew ausgebildete Dirigent der Essener Aufführung den Klang als Träger des Ausdrucks nicht. Das ist kein Gegensatz zu Präzision im Detail: die gespenstischen Spiccati des Beginns gelingen ebenso wie ein unheimlich starrer Spieluhren-Rhythmus; instrumentale Details sind expressiv eingearbeitet wie etwa die gestopften Trompeten des zweiten Teils, die den Klangteppich der Streicher pianissimo mit dem Rauch des Unheimlichen verschleiern. Dass Rachmaninow eminent theatralische und atmosphärische Musik geschaffen hat, wird nicht geleugnet.

Und wieder einmal muss Alexander Eberle bescheinigt werden, zu einem großen Moment beigetragen zu haben: Seine Chöre, der Opernchor des Aalto-Theaters und der Philharmonische Chor Essen, sind ein Muster an Präsenz und Präzision: Erst in dem Summchor, der sich ortlos schwebend in den Klang mischt, dann im dynamischen Aufwachsen, das den Klang der Stimmen wie einen Riesenschatten über das Orchester legt.

Dass unter den Solisten die Tenorpartie zu leichtgewichtig besetzt wird, scheint sich zu einer Tradition zu versteifen: Alexey Sayapin kämpft gegen den – vom Dirigenten keineswegs zu kräftig entfalteten – Orchesterklang. Sandra Janušaité hat dieses Problem nicht, weil sie einen metallisch leuchtenden, kraftvoll vibrierenden Sopran einsetzt. Alexander Vassiliev muss seinen eher baritonal als „schwarz“ gefärbten Bass in die Höhe treiben – und schafft das ohne Anspannung. Klug konzipiert und künstlerisch gelungen – bei so einem Konzert bleibt kein Wunsch offen!




Kollektive Verzückung: Nareh Arghamanyan und die Essener Philharmoniker spielen Tschaikowsky und Rachmaninow

Nareh Arghamanyan. Foto: Marco Borggreve

Nareh Arghamanyan. Foto: Marco Borggreve

Draußen hat es der Winter bisher nur zu einem Hauch von Schneeregen gebracht. Drinnen in der Essener Philharmonie bricht er mit voller Wucht los – zumindest musikalisch: Donnerschlag, heulender Schneesturm, glasige Erstarrung in Eis und Frost. Zu hören in Pjotr Iljitsch Tschaikowskys Erster Sinfonie, wenn man denn ihre Bezeichnung „Winterträume“ als Leitfaden zum Zuhören begreifen will. Die Essener Philharmoniker krönen mit dem selten gespielten Werk, der „süßen Sünde“ aus Tschaikowskys Jugend, ihr viertes Sinfoniekonzert.

Auch der Beginn zählt nicht zu den ewig wiederholten „Reißern“ aus der Feder des russischen Komponisten: Die Ouvertüre zu Alexander Nikolajewitsch Ostrowskis Drama „Das Gewitter“ – Vorlage für Leoš Janáčeks Oper „Katja Kabanova“ – wurde überhaupt erst nach dem Tode Tschaikowskys uraufgeführt. Aufgewühlt und stürmisch bricht die Musik los, peitschende Fortissimo-Schläge künden das Gewitter an, dazwischen formulieren Englischhorn und Harfe über verhaltenen Tremoli der Violinen auch einen Moment zärtlichen Schwärmens. Tschaikowsky gestaltet in der Ouvertüre – dem Drama entsprechend – ein Bild innerer Zerrissenheit, die ihn bis in seine Spätwerke hinein begleiten sollte.

Unter dem Gastdirigenten Michael Sanderling – der in Köln Sergej Prokofjews „Krieg und Frieden“ musikalisch veredelt hat – setzen die Essener Philharmoniker die eröffnenden Donnerschläge präzis in den Saal, laden die Ruhe dazwischen lauernd auf, als konzentriere sich die Kraft der Natur erneut, um sich nach kurzem Crescendo knallend zu entladen. Für die atemlose Unruhe, die abrupten Risse in der Musik haben die Philharmoniker den richtigen Biss. Wenn sich die elementaren Gewalten beruhigen, die wunderbare Harfe Gabriele Bambergers über dem hellen Kräuseln der Violinen schwebt, stellen sich auch die Momente der Beruhigung ein, die den entscheidenden Kontrast zu den aufkochenden Fortissimo-Eruptionen bilden.

War es die Absicht Sanderlings, Tschaikowskys hochemotionale Musik zu zügeln, die schwärmerische Exaltation in die Grenzen eines sachlichen Klangs zu bannen? Jedenfalls lassen die Philharmoniker an diesem Abend den gelösten, frei schwingenden, sich in Farben intensivierenden Klang missen: In der „Gewitter“-Ouvertüre macht sich das bemerkbar, wenn Melodien nicht konsequent ausphrasiert werden. Ungünstiger wirkt ein gestauter Atem im zweiten Satz der Ersten Sinfonie: Nach einem verloren-schwermütigen Beginn kann sich das „cantabile“ nicht recht entfalten, bleibt vor allem der Ton der Holzbläser zu körperlich.

Sanderling macht sich allerdings auf die Suche nach dem „Charakteristischen“, etwa am Beginn des vierten Satzes mit seinen knöchernen Holzbläsern und dem monumentalen Ausbruch im Fortissimo, zu dem das Blech in all seiner Majestät hinzutritt. Die insistierenden Anläufe, mit denen Tschaikowsky das Material zu steigern sucht, wirken jedoch wie ein bemühtes Fugato. Ganz ungetrübt war die Winterpracht also nicht.

Temperament, durch Verantwortung gezähmt: Nareh Arghamanyan. Foto: Julia Wesely

Temperament, durch Verantwortung gezähmt: Nareh Arghamanyan. Foto: Julia Wesely

Von Jahreszeiten unabhängig der Mittelteil des Konzerts, Sergej Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini (op. 43). Die Pianistin Nareh Arghamanyan beginnt trocken und schnörkellos, als gehe sie an ein Stück von Paul Hindemith: klar und kurz ihr Anschlag, ausgeprägt das „marcato“. Das „più vivo“ der vierten Variation muss man ihr nicht zwei Mal hinschreiben: Sie intensiviert nicht nur das Tempo, sondern auch ihren kühl-perlenden Ton.

All die pianistischen Kunstgriffe, die sogar der Komponist vor der Uraufführung fürchtete, bewältigt die Armenierin ohne Mühe. Der Kontrast zur Dritten Variation mit ihren Bögen und dem ausdrucksvollen Solo-Fagott gelingt. Das „Dies Irae“-Motiv löst einen apokalyptischen Ritt im Orchester aus, der den Essener Musikern offenbar eher entgegenkommt als die zahlreichen Pianissimo- und Crescendo-Vorschriften Rachmaninows.

Arghamanyan nimmt das Pathos aus der Musik heraus, ohne sie farb- und emotionslos zu skelettieren; sie kann träumerisch, verspielt, kraftvoll zupackend und wuchtig spielen, erfasst den theatralischen Aspekt dieser Musik, ohne sie an die bloße pianistische Bravour zu verraten. Dass die Virtuosa im eleganten roten Kleid auch als solche ankommt, zeigt die Reaktion auf die Zugabe: eine „Fledermaus“-Paraphrase, bei der die Finger über die Tasten huschen wie eine Schar vielbeiniger Strandkrabben auf der Flucht. Nach dem letzten Ton: ein kollektiver Seufzer verzückter Bewunderung.

Nächster Auftritt von Nareh Arghamanyan in der Region: Am 13. April 2014 spielt sie im Max Ernst Museum Brühl einen Solo-Abend.




Gezähmte Wildheit: Patricia Kopatchinskaja in der Essener Philharmonie

Patricia Kopatchinskaja. Foto: Marco Borggreve

Patricia Kopatchinskaja. Foto: Marco Borggreve

Auf die wohlige Sphäre berührungslosen Genusses war die in Moldawien geborene und in Wien aufgewachsene Geigerin Patricia Kopatchinskaja noch nie abonniert. Auch nicht auf die hochgezüchtete Virtuosität oder die augenzwinkernde Barbie-Erotik irgendwelcher geigenden höheren Töchter. Das hat ihr den zweifelhaften Titel der „jungen Wilden“ eingebracht, den sie selbst einmal scherzhaft übersteigert hat: „Wildsau unter Hausschweinen“.

Wenn die Kopatchinskaja spielt, geht es um Wahrhaftigkeit und Tiefenschichten. „Wir spielen ja keine Noten, sondern Emotionen“, sagte sie einer Interviewerin. Ihre Diskografie zeigt, wo sie diese findet: Beethoven ist der einzige „Klassiker“, alle andere Musik für Violine und Orchester stammt von unbekannten oder zeitgenössischen Komponisten: Johanna Doderer, Gerd Kühr, Gerald Resch, Otto Zykan. Oder vom Klavierkollegen und -begleiter Fazil Say. Da ist ihre neueste Aufnahme – erschienen im Oktober – beinahe schon Mainstream: Konzerte von Igor Strawinsky und Sergej Prokofjew.

Im Konzert des London Philharmonic Orchestra in der Essener Philharmonie stand eben jenes Zweite Prokofjew-Konzert in g-Moll auf dem Programm. Schon der Einstieg ließ aufhorchen. Man kann es ganz anders beginnen als die moldawische Geigerin. So wie Jascha Heifetz etwa, der eine rasche, klare Introduktion spielt, orientiert am Ideal der vom Komponisten propagierten „neuen Einfachheit“. Oder wie Geneviève Laurenceau: Sie formt eine russische Seelen-Kantilene, dunkel-vibrierend und voller Schmerzenslust.

Konzert in der Philharmonie: Patricia Kopatchinskaja und Dirigent Vladimir Jurowski. Foto: Sven Lorenz

Konzert in der Philharmonie: Patricia Kopatchinskaja und Dirigent Vladimir Jurowski. Foto: Sven Lorenz

Patricia Kopatchinskaja sieht diese schlichte Intervallfolge in einem anderen Licht: Sie startet leise, als habe sie einen Fetzen einer Melodie wie zufällig aus der Luft gefangen und banne ihn nun in den Zauberkreis ihrer Geige. Das Orchester unter seinem grandiosen Dirigenten Vladimir Jurowski – einem der Aufsteiger des neuen Jahrtausends – folgt dieser fragend formulierten, im Ton sanft, aber aufgerauten Kantilene in leisen Schatten, behutsam erblühenden Bläsermomenten, lässt die barfüßige Geigerin auf sattfarbige Bassklarinetten- und Fagott-Teppichen traumwandeln. Auch der erste Höhepunkt bleibt diskret: Prokofjew schreibt gedämpfte Lautstärken zwischen Pianissimo und Mezzoforte vor.

Mit der „Wildsau“ war es da nix. Auch wenn die Geigerin in Figurationen, Doppelgriffketten und Arpeggien zur Sache geht, mit feurig-risikobereitem Strich, mit unglaublichen Farben, mit expressiven hohen Tönen auf den tiefen G- und D-Saiten. Aber Kopatchinskaja sucht nicht exzentrisch nach dem Effekt eines wilden, rauen Tons. Sie verzärtelt auch nichts, sondern bricht den Ton im zarten figurierten Spiel, in der Dichte der Details, in den zugespitzten, virtuosen Parforce-Momenten des dritten Satzes.

Aber die Geigerin opfert deshalb nicht auf den rissigen Altären des kompromisslos „hässlichen“ Zugriffs. Sie hält auch das Überdrehte, die Anflüge des Grotesken stets im Zaum. Das ist keine faule Kompromissbereitschaft, um den Zuhörern die Zumutung der Musik zu ersparen. Es ist dem Blick auf Prokofjews Intention geschuldet: „Neue Einfachheit“ heißt ja auch, sich in der expressiven Wut nicht zu verlieren. Wunderbar ist, wie Kopatchinskaja ihr Spiel-Temperament in Bezug zu den Farben des Orchesters setzt. So erreicht sie gemeinsam mit den vortrefflichen Londoner Künstlern die emotionale Tiefenschicht einer Musik, die andere eher kühl-artistisch verstehen.

Das London Philharmonic und sein russischer Dirigent verstehen sich gut: Sergej Rachmaninows letztes Orchesterwerk, die „Sinfonischen Tänze“, gibt dem Orchester jede Chance, von prächtigen Soli bis zu satten Klangflächen alle Facetten seiner Kultur zu zeigen. Und für Nikolai Rimski-Korsakows Suite aus der Oper „Die Nacht vor Weihnachten“ findet es die glitzernde Helle der oberen Register, die teuflische Tiefe des gedämpften Blechs, den aggressiven rhythmischen Prunk in der scharfkantigen Polonaise. Und man fragt sich, warum es in den Theatern zu Weihnachten immer nur „Hänsel und Gretel“ gibt: Russland bietet bezaubernde Opern fürs Fest – es müsste sie nur mal jemand auf die Bühne bringen!




Gleißende Raserei in Mülheim: Daniil Trifonov kehrt zum Klavier-Festival zurück

 

Daniil Trifonov. Foto: KFR

Daniil Trifonov. Foto: KFR

Bei seinem Klavier-Festival-Debüt 2012 hat die Rhein-Ruhr-Presse von Daniil Trifonov noch kaum Notiz genommen: Einer jener Newcomer eben, die einmal hochgespült werden, kaum Luft holen können auf den Schaumkronen jungen Ruhms, und schon wieder in den Wogen des Betriebs untergehen, die im selben Moment das nächste Wundertalent aus dem Wellental heben.

Bei Trifonovs Rückkehr in die Stadthalle Mülheim 2013 sieht das Echo anders aus. Jetzt hat der 22jährige einen Namen, eine Fama. Trifonov, so scheint es, hat es geschafft, spielt im Kreis der Pianisten mit, die „man“ einfach kennen muss, will man sich für die Kunst auf Elfenbein und Ebenholz ernstlich interessieren.

Was der russische Nachwuchskünstler im letzten Jahr in Düsseldorf gezeigt hat, führt er in Mülheim extrem geschärft weiter: Wucht und Kraft des Zugriffs, eine gewaltige Pranke im Bass, gleißende Raserei über alle Oktaven hinweg, schwer atmende Grenzerkundung der physischen Leistungsfähigkeit. Er hat sich die passenden Stücke dazu ausgesucht: Franz Liszt zuallererst, mit vier ins Dämonisch-Gewaltige übersteigerten Transkriptionen von Schubert-Liedern und der h-Moll-Sonate, und nach der Pause Sergej Rachmaninows Variationen nach Chopins Opus 22, ergänzt durch „Rachmaniana“, eine selbst komponierte Suite als Hommage an den großen Komponisten und Pianisten.

Ein veritables Virtuosenprogramm also, eines, das alle Kräfte fordert, intellektuell wie physisch. Bei einem vor Energie berstenden jungen Mann wie Trifonov muss das zu standing ovations führen. Sie brachen erwartungsgemäß los. Aber der Jubel über so viel Kraft, pianistische Bravour und musikalische Chuzpe ließ nicht vergessen, dass der Abend nach einer Seite krängt: Es bestätigt zu eilfertig das Klischee des Tastenlöwen und fegt die Aspekte der Kunst Trifonovs zur Seite, die 2012 in Düsseldorf zeigten, dass hier mehr als ein extrem zupackender Hochleistungssportler á la russe am Flügel sitzt.

Dabei war vor der Pause alles im Lot: In Schubert/Liszts „Frühlingsglaube“ sinnt Trifonov dem lyrisch-kantablen Aufschwingen nach, gibt der Melodie die weiche Farbe der Entrückung mit. Die „Forelle“ gestaltet er mit rhythmisch sinnigen Pointen nicht nur als fließend-sangliches Legato, sondern als ein sich bedrohlich verdichtendes, tödliches Drama. Und den „Erlkönig“ treibt er schnaufend in Extremkontraste: wildes Entsetzen in den Gewittern der Oktavtriolen, fahles, trügerisches Dämmerlicht in der matten Beruhigung. Die letzten Akkorde sind großes Liszt-Kino: So schlagen die Tore des Lebens zu, wenn ein Leinwanddrama in Vielfach-Surround-Sound zu Ende geht.

Derart vorbereitet, knüpft die h-Moll-Sonate bedeutungsschwer an den stickig-dunklen Klängen an. Trifonov macht schnell klar, dass er dieses Paradestück auch als solches darstellen will. Fülle und Überwältigung, krasse Extreme, eruptive Ausbrüche – aber kein Lärm: Trifonovs Exaltationen sind reflektiert, keine instinktiven Brutalitäten einer entfesselten Kraftprotzerei. Er versteht es, auch im Fortissimo noch so abzutönen, dass die harmonische Kühnheit nicht im schäumenden Gebräu der Klänge unhörbar wird. Er versteht es, zurückzunehmen, die dynamische Wucht des drängenden Verlaufs abzufedern. Und er lässt nicht vergessen, wie suggestiv Liszts lyrische Selbstversenkung am Klavier wirken kann.

Wäre mit dieser brillant reflektierten Deutung der h-Moll-Sonate der Abend zu Ende gewesen, er wäre mit Recht groß zu nennen gewesen. Doch Trifonov wollte noch eins draufsetzen und drosch die Rachmaninow-Variationen in den hörbar erschöpften Flügel der Mülheimer Stadthalle. Noch einmal ein Gewitter, noch einmal Anspannung bis zum Äußersten – doch selbst der stärkste Reiz stumpft ab. Und so bestätigten die silbrig hochfahrenden Arabesken, die dröhnenden Glockenschläge des Basses und das Fingerfeuerwerk nur noch, was man in der Liszt-Sonate bereits musikalisch eindrücklicher erfahren hatte.

Daniil Trifonov kehrt in die Region zurück mit einem Klavierabend in der Philharmonie Köln am Mittwoch, 2. Oktober 2013. Auf dem Programm stehen Werke von Strawinsky, Ravel, Schönberg und Schumann. Info: http://www.koelner-philharmonie.de

 




Edler Ton: Der Geiger Daniel Hope mit Elgars Violinkonzert in Essen

Entfesselung, Verklärung, Apotheose? Ja, schon. Aber Alexander Skriabin, der kühne Eigenbrötler unter den russischen Komponisten, wollte sein „Poème de l’extase“ nicht nur schöngeistig aufgefasst wissen.

Anspannen, aufheizen, explosives Entladen: Skriabin fasste das in eine vor hundert Jahren als extrem, verrückt und manchmal auch zu offensichtlich körperlich-erotisch eingeschätzte Musik. Noch heute weckt das musikalisch frei dem Klang und dem Rausch huldigende Werk von 1908 Bewunderung. In der Philharmonie Essen wurde es als Krönung des Konzerts des russischen Nationalorchesters mit Bravorufen quittiert.

Dabei war kaum Anlass für Jubel. Denn der Orchestergründer und Dirigent Mikhail Pletnev, einst ein hoffnungsvoller Pianist, fährt die Ekstase zwar mit grandiosem Fortissimo auf. Aber er bereitet sie nicht vor. Aus dem lyrisch-entspannten Beginn des Werks führt keine drängende Energie, kein unausweichlicher Bewegungsimpuls zur unvermeidlichen Entladung, sondern eine Abfolge sauber gestaffelter Zustände. Das selige Verströmen hin zum triumphal aufwachsenden Schluss legt die Vermutung nahe, dass sich Pletnev im Lyrischen mehr zu Hause fühlt als im Ekstatischen.

Rachmaninows „Toteninsel“ bestätigt das im Rückblick: Sinnig formt Pletnev den wiegenden Rhythmus, die allmähliche Steigerung, den gelassenen Gesang der Violine und Oboe. Aber untergründige Spannung will nicht aufkommen; dramatische Zuspitzung bleibt flach. Auch das Orchester hat seine Schwächen: Der düstere Höhepunkt mit dem Eintritt der Pauken bleibt klanglich ungefasst und spröde.

Mit Daniel Hope, dem britischen Geiger, brachten die Russen einen Trumpf mit: Sein verhaltener, nie zu brillant nach außen gekehrter Ton veredelte Edward Elgars Violinkonzert mit schier unendlichen, schmerzhaft schön erfüllten Linien. Die raschen Momente geraten Hope manchmal zu hastig – so, als wolle er schnell zur nächsten innerlichen Versenkung forteilen. Die russischen Orchestermusiker erfüllten mit dunkel-gerundeten Holzbläsern und dezenten Streichern ihre sensible Partnerrolle mit Bravour. So geriet der Auftakt schon zum Höhepunkt dieses Gastspiels. Seine Zugabe, Ravels „Kaddisch“, widmete Hope dem vor kurzem verstorbenen Hans Werner Henze.

(Der Bericht ist zuerst in der WAZ Essen erschienen)