„Try Praying“ – Endzeit-Gedichte von Sibylle Berg

Gedichte von Sibylle Berg? Na, das wird was sein. Bestimmt verdammt cool, hinreichend schnoddrig und von der Lebenswelt rundweg angewidert, oder? Mh. 

„Try Praying“ – ungefähr „Versucht`s mit Beten“ – heißt der schmale Band, der vermeintlich „Gedichte gegen den Weltuntergang“ versammelt. Doch sind es nicht eher Texte, die dem Weltuntergang und artverwandten Phänomenen folgen wie einem Sog, mithin Gedichte v o r dem oder z u m Weltuntergang, Endzeit-Gedichte, Singsang zum Tode?

„Es beinhaltet Trauer“

Zu den Gedichttiteln wird meist in Klammern eine lässig hingesetzte Angabe über Ingredienzen geliefert (z. B. „Es beinhaltet Nager und irgendwie auch einen Sonntag“, „Es enthält Fleischfresser“, „Es beinhaltet Trauer“, „Es geht irgendwie ums Geworfensein“ – na, und so weiter). Es sind bestimmt keine Klarstellungen.

„…er brachte noch den Müll hinaus“

Poesie wird hier offenbar nicht mit heiligem Ernst betrieben. Wohl aber mit einem gewissen Furor und manchmal sogar hitzig. Es geht ja durchaus entschieden zur Sache – zwischen völliger Lebensverfehlung aller Art, abgründigen Einsamkeiten und vorzugsweise Freitod. Da ist zum Beispiel jener bestürzend einsame Mann namens Frank (Frau gestorben, heilloses Alleinleben, selbst das Haustier verlässt ihn schließlich – für einen Hahn), dessen Ableben so lakonisch registriert wird: „Herr Frank zog seinen Mantel aus / er brachte noch den Müll hinaus / Dann machte er das Fenster auf / und warf sich in den Himmel raus.“ Das hört sich beinahe an wie pechschwarze „Struwwelpeter“-Verse. Soll man diesen Klang als Ausdruck von Mitleidlosigkeit verstehen? Oder als Ausfluss tiefster Enttäuschung und Betrübnis?

„Ihr habt genug herumgehampelt“

Ein andermal ergreift der Tod selbst das Wort und herrscht die Sterbenden an, sich nun hurtig ins Ende zu fügen:

Es kann doch nur noch besser werden.
Was war das für ein Stress auf Erden.
Habt gelitten und gestrampelt,
Und Ruhe jetzt, das sage ich –
Ihr habt genug herumgehampelt.

Wer will, mag sich hier vage an barocke Vergänglichkeits-Dichtung erinnert fühlen. Andererseits ist vielleicht auch eine Spur Comedy darin. Wahlweise Monty Python oder Otto Waalkes, um es mal mittelweit herzuholen.

Vom Unsinn zur Sinnlosigkeit

In dieser katastrophalen Welt ist der Mensch an und für sich prinzipiell allein, jede noch so sehr ersehnte dauerhafte Zweisamkeit erweist sich als lächerliche Illusion. Jenseits des Begehrens, überhaupt jenseits von Glaube, Liebe und Hoffnung schnurren oder klappern die (zuweilen auch schon mal etwas holprig) gereimten Gedichte gnadenlos ab. Auch der Geschlechtsverkehr erscheint als gar trüber Vorgang: „Die Frauen liegen danach nackt / Und ohne Frage sind sie munter / Sie müssen dann ins Bad noch gehn / Und holn sich traurig einen runter.“ Man vergleiche diesen Befund mit Robert Gernhardt, der einst exakt denselben Reim in ganz anderem Sinn bzw. Unsinn verwendet hat: „Der Kragenbär, der holt sich munter / einen nach dem andern runter“. Wo Gernhardt den Nonsens zelebriert, beschwört Berg die finale Sinnlosigkeit. Um präventiv abermals Gernhardt zu zitieren: „Nicht vergleichbar? Na, dann nicht!“

Doch noch ergreifende Momente

Hinter fast jedem dieser Gedichte erhebt sich die Frage, ob die ganze Quälerei (sei’s im Zwischenmenschlichen oder in der Arbeit) schon das Leben gewesen sein soll. Restliche Zuversicht, falls sie den Namen verdient, kommt allenfalls augenblickshaft vor. Demgemäß zeigt das Cover einen hellen Stern und Kometenschweif, als könne das Wünschen und Beten sekundenweise doch noch helfen. Eigentlich dementiert fast jede Zeile derlei Sehnsucht – und doch ahnt man, in berührenden Momenten, einen Drang zur Erlösung. Aus solchem Widerstreit entstehen denn doch einige ergreifende Gedichte, u. a. „Ein Trennungsgedicht“, „Ein Männer-Paar-Gedicht“ oder „Ein Meta-Mitarbeiter-Gedicht (Kann auch auf Alphabet, Spotify, alles mit Cloudkapital angewendet werden).“

Nach dem Ende der Menschheit, das hier selbstverständlich mehrfach in Betracht kommt, könnte wohl nur noch Künstliche Intelligenz (KI oder AI) Gedichte verfassen, doch Sibylle Berg versichert immerhin knapp, sie käme niemals auf die Idee, sich solcher Hilfsmittel zu bedienen (was angesichts des Endes der Gattung allerdings ziemlich wurscht ist).

Und der Schlussakkord? Kommt einigermaßen rüde daher. Um in diesen Zeiten zu überleben, gelte es hart zu werden und sich zu stählen, heißt es da sinngemäß. Schließlich die allerletzte Zeile: „…fickt euch ins Knie und gute Nacht!“ – Herzliche Grüße retour.

Sibylle Berg: „Try Praying. Gedichte gegen den Weltuntergang“. Kiepenheuer & Witsch. 112 Seiten, 16 Euro.

 




Verlorene Illusionen: Die gar nicht mehr so wunderbaren Reisen der Sibylle Berg

Sibylle Berg kennt man als Dramatikerin, Autorin und polarisierende Kolumnistin. Einem breiten Publikum weniger bekannt hingegen sind ihre Reisereportagen. Das könnte sich jetzt ändern. Unter dem nicht so ganz zutreffenden Titel „Wunderbare Jahre – als wir noch die Welt bereisten“ ist eine Sammlung von Erlebnisberichten der vielgereisten Frau Berg erschienen.

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Der Klappentext verspricht uns Erzählungen aus einer schönen, abenteuerlichen, romantischen Welt. Wer Sibylle Bergs Werke auch nur ein bisschen kennt, kann sich allerdings schon denken, was er direkt in der Einleitung erfährt: Wer sich auf der Couch fein eingekuschelt gerne in nostalgischen Gefühlen ergehen möchte, der schaue sich lieber wunderschöne Rucksack-Dokus auf Kultursendern an.

Krisen- und Erregungsgebiete

Die Reportagen aus Sibylle Bergs „wunderbaren Jahren“ zeigen hingegen: Der Terror war immer schon da, angstfrei reisen konnte man nie. Die Berichte erzählen aus Krisengebieten wie dem Kosovo in den Neunzigern, aus Erregungsgebieten wie Cannes zur Festival-Zeit, von ganz persönlichen Erfahrungen in Herzensstädten der Autorin oder auch ganz profan von der Langeweile als Passagierin auf einem Frachtschiff.

Doch eines war anders damals: Damals, das war die Welt, als man noch Fernweh hatte und verklärungsbereit war. Die wunderbaren Jahre waren deshalb wunderbar, weil man noch Hoffnung hatte.

Das Meer ist nur noch Wasser

Nun setzt die Desillusionierung ein. Wenn man Meer nicht mehr als Meer, sondern einfach nur als Wasser sieht, trauert man um die Zeit, in der alles aufregend war. Leben nutzt sich eben ab. So einfach, aber auch wesentlich zugleich sind manche Erkenntnisse, die Sibylle Berg in diesen Berichten vermittelt. Den Gegensatz zwischen der einstmals hoffnungsfroh zu einer Reise aufbrechenden Autorin, die noch glaubte, die Welt verbessern zu können und der heute fast komplett desillusionierten Kolumnisten wird vor allem durch die Nachsätze herausgearbeitet, die auf jeden ihrer Reiseberichte folgen und die in kurzen, knappen, sehr sachlichen Sätzen den heutigen Zustand des jeweiligen Reiseziels beschreiben.

Der erste und der zweite Blick

Sibylle Berg kann sehr elegant formulieren, ihre manchmal genial bösen Spitzen erkennt man oft erst auf den zweiten Blick. Vermutlich ist dies mit ein Grund dafür, dass sie oft polarisiert. Die einen nicken auf den ersten Blick und merken erst auf den zweiten, dass sie ertappt worden sind. Die anderen sind beim ersten Blick irritiert, nicken dann aber beim zweiten. Auch in ihren Reisereportagen ist die präzise Beobachterin Berg gewohnt gnadenlos ehrlich, sie geht aber auch mit sich selbst und ihrem einstigen Blick auf die Welt schonungslos ins Gericht.

Arroganz nur bei Bedarf

Auch der Tonfall ist nicht durchgehend so, wie man ihn von der gern überspitzenden Kolumnistin kennt. Ihre oft beanstandete Selbstgerechtigkeit hat sie in diesen Berichten jedenfalls außen vor gelassen und die ihr nachgesagte Arroganz lebt nur auf, wenn sie gebraucht wird – um dem Leser und dem Reisenden, also auch sich selbst den Spiegel vorzuhalten. Vor allem an der sich selbst tätschelnden Wohlstandsgesellschaft arbeitet sie sich böse ab, der Bericht über Cannes kriegt zur Strafe für soviel glitzernden Glamour nicht einmal eine der begleitenden Illustrationen der ausgezeichneten Comic-Zeichnerin Isabel Kreitz. Da sind die kleinen Lästereien, die sich ab und an gönnt (wie etwa im Bericht über London am Tag der Königskindeskinder-Hochzeit) nachgerade erholsam.

Sibylle Berg: „Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten“. Carl Hanser Verlag, München. 186 Seiten, €18,50.




Betörend verstörend: Sibylle Bergs Roman „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“

Das bloße Handlungsgerippe ist rasch erzählt: Partnerin eines zunehmend erfolglosen Theaterregisseurs lernt beim Aufenthalt in einem namenlosen Land der „Dritten Welt“ knackigen jungen Mann kennen und vögelt sich mit ihm die Seele aus dem Leib. Daraus erwächst erbärmliches seelisches Leiden.

Entscheidend ist natürlich auch auf dem literarischen Platz, w i e davon erzählt wird. Sibylle Bergs neuer Roman „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“ ist in die mittlerweile weithin üblichen Kürzest-Kapitel gegliedert, die das geneigte Lesepublikum nicht durch absatzlose Längen überfordern. Es sind gleichsam lauter gereihte Kolumnen. Es scheint fast so, als wäre es ein niedrigschwelliges Angebot.

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Wie in einem steten Wechselgesang nimmt der Roman die gleichermaßen deprimierenden Perspektiven des bislang innig ineinander verwobenen, höchst durchschnittlichen Paares ein: Chloe und der deutsch-finnische Theatermann Rasmus führen Klage über ihr Dasein und den Zustand der Welt, sie kotzen sich vielfach buchstäblich aus. Onanistische Phantasien und alkoholische Exzesse grundieren ihren öde gewordenen Alltag. Und man ahnt bald: Sie sollen für nichts Besonderes stehen, sondern just für eine typische Form der landläufigen „Beziehung“.

„Der Sex, unsere Todeszone“

Diesem Roman zufolge ist ja auch in den mittleren Jahren alles ein Elend. Allmählich sind Chloe und Rasmus älter geworden – und da macht Sex schon mal grundsätzlich gar keine Freude mehr, wie es hier heißt. Beispiel Chloe: „Ich vermute, wir wollen nicht ficken; keiner, der zehn Jahre mit einem Menschen zusammen ist, will das, aber wir fügen uns…“ Beispiel Rasmus, noch etwas entschiedener: „Der Sex, unsere Todeszone. Niemandsland. Vermintes Gebiet.“

Freilich bleibt und wuchert die allzeit pornographisch angestachelte Gier des Körpers, die sich jedoch nur auf junges Fleisch richtet und nicht auf Runzeln und ranzige Ausdünstungen. Zitat: „Keiner braucht alte Menschen mit ihren Weisheiten. Die Jungen wünschen sich nur, dass die Alten verschwinden, und damit haben sie recht.“ Punktum.

Also sollte man das sinnlose Rumgezerre an welken Geschlechtsorganen vielleicht besser ganz bleiben lassen. Und folglich verfällt Chloe den leiblichen Lockungen des deutlich jüngeren Benny, der dem Paar hernach auch nach Deutschland folgt, durch alle Niederungen und Quälereien einer unmöglichen Ménage-à-trois samt sadomasochistischen und bisexuellen Dreingaben. Wie man das heute im Bann pornographischer Vorstellungen so imaginiert. Eher peinlich als prickelnd.

Verfall der Mittelschicht

Doch es geht ja nicht nur um persönliche Befindlichkeiten. Rings um das besagte Dreieck wird in etlichen Bruchstücken der generelle Verfall der weißen europäischen Mittelschicht und ihrer mentalen Restbestände flott skizziert. Rasmus, mit einem wohlmeinenden, jedoch desolaten Theaterprojekt in der „Dritten Welt“ (sprich: schäbige Touristenhölle mit Prostitution und Drogen) betraut, bekommt zu spüren, dass die Probanden sich nur für das Bier interessieren, das es nach den Proben gibt. Wie denn überhaupt das ganze politisch korrekte Geseier sich erübrigt hat.

Sibylle Berg müht sich nach Kräften um größtmögliche Illusionslosigkeit. Es ist, als ob sie sich angestrengt den bösen, bösen Blick abverlangte, weil ihre Leser(innen) das von ihr genau so haben wollen. Reden Sie uns das Leben bitte richtig schön schlecht, Frau Sibylle. Aber bitte hin und wieder im launigen Tonfall, so dass es beinahe unterhaltsam und gefällig klingt. Betörend verstörend, sozusagen.

Doch das ganze Lamento fügt sich insgesamt etwas zu geläufig und virtuos, wo es doch auch öfter ins Stocken oder an den Rand des Verstummens geraten müsste.

Sibylle Bergs Befunde sind keineswegs unsinnig, aber auch nicht sonderlich originell. Doch Sätze wie „Wir wollen ficken, weil wir nicht sterben wollen“ sind ja so verdammt cool.

Schluss mit der Idiotie!

Und solche Ausrufe hören sich wie ein Gegenentwurf (oder auch „Aufschrei“) zu den unsäglichen „Fifty Shades of Grey“ an: „All das Zeug von Gasmasken, Peitschen, Kleppermänteln, mit dem Leute versuchen, Sex mit einer Bedeutung aufzuladen, die er nicht hat…wählt zwischen achthundert filigranen Peitschen, ihr Idioten, Sex wird nie mehr als Sex sein…“

Chloe und Rasmus taumeln unterdessen völlig ratlos durch die verdämmernden Tage. Taugliche Erklärungen gibt es nicht. Alles steht im Zeichen der Nichtigkeit und Vergänglichkeit. Am besten wär’s, denkt Chloe, die Leute würden aufhören mit dem Sex – und einfach etwas anderes tun. Dabei werden abermals die (wir?) Schwachsinnigen angesprochen: „…warum schreibt ihr keinen historischen Roman, ihr Idioten, rettet Kinder in Erdbebengebieten oder schließt euch einer Urban-Gardening-Gruppe an.“ Na, wie wär’s?

Sibylle Berg: „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“. Roman. Hanser Verlag. 256 Seiten. 19,90 Euro.




Bloß keine Posen mehr

Dieser böse Blick fürs Beschädigte, fürs stets und dauerhaft Misslingende! Welch ein illusionsloses Buch, wie misanthropisch und pessimistisch das alles klingt. So sicher scheint sich die namenlose Ich-Erzählerin ihrer Weltverachtung zu sein, dass ihre Tiraden manchmal geradezu in einen Kolumnen-Plauderton verfallen. Ganz so, als müsse sie sich nur noch aus einem fertigen Fundus bedienen, um unentwegt den heillosen Nachteil des Geborenseins zu beklagen.

Die finstere Inventur klingt dann beispielsweise so: „Die Menschen hatten ihre niedlichen Momente, doch das täuschte nicht darüber hinweg, dass die meisten von überwältigender Einfalt und Niedertracht waren (…) Jeder fühlte sich dem anderen überlegen, und daraus bildete sich ein Dauerton der Aggression (…)“

Ja, zum Teufel, worum geht es denn überhaupt? Um Sibylle Bergs neuen Roman „Der Mann schläft“. Darin passiert – rein äußerlich besehen – nicht viel: Besagte, ein wenig in die Jahre gekommene Erzählerin hat nach langen, hie und da freudlos promisken Single-Zeiten und all ihren individuellen wie kollektiven Selbsttäuschungen, irgendwann d o c h den einen Mann kennen gelernt, bei dem sie sich zutiefst und ganz selbstverständlich geborgen fühlt. Als sie aber auf eine chinesische Insel vor Hongkong verreisen, verschwindet dieser Mann spurlos. Ob aus Untreue oder durch ein Unglück, das bleibt offen.

Die Frau ist jedenfalls untröstlich – vielleicht für alle verbleibenden Jahre. Oder wird sie sich trotz allem in ein anderes Leben schicken, in dem wenigstens andere (ein kleines Mädchen und dessen Großvater) an ihr Halt finden können? Auch das bleibt in der Schwebe. Doch scheinen am Ende die allergrößten Gefahren gebannt.

Pflegt man markante Passagen anzustreichen, so könnten die Seiten dieses Buches nach der Lektüre sehr „bleihaltig“ aussehen. Häufig möchte man ja Wort für Wort beipflichten, so ausgefeilt liest sich das, so aphorismentauglich gedrechselt. Gekonnt und gewitzt wird mit dem Klischee-Vorrat gespielt. Beispiel:

„Wir wirken wie zwei Figuren aus einem existenzialistischen Film, der sechs Stunden dauert und in dem kaum gesprochen wird, in minutenlangen Sequenzen rinnt Wasser an Scheiben hinunter, und ein nasser Hund eiert am Horizont entlang.“ Genau! Den Film kennen wir alle.

Hinterrücks beschleicht einen trotz aller Beschreibungskunst zuweilen ein gewisses Misstrauen: Kommt diese Suada, diese stellenweise schon pittoreske Verzweiflung übers schlimme Leben nicht manchmal allzu geläufig und meinungsförmig daher statt einfach nur zu schildern, was geschieht? Man könnte oft absatzweise zitieren. Aber müsste Literatur auf dieser Anspruchshöhe (im hochmögenden Umfeld des Hanser-Verlagsprogrammes) nicht sperriger sein, sich nicht entschiedener einem gar zu süffigen Konsum entziehen? Nun ja, wenn man’s denn gern puristisch und puritanisch hätte…

Die Ich-Figur will sich dem großen Ganzen verweigern, sie entwirft eine „Philosophie“ der selbstgenügsamen Langsamkeit und des somnambulen Rückzugs – am besten ins eigene Kämmerlein und dort am besten ins Bett, wo man still liegen bleibt und einander möglichst schweigend umarmt. Das lässt sich auch lesen als Absage an Ideen und Gefühle im Gefolge von „1968“ mit seinem Drang nach individueller Freiheit, Autonomie und Emanzipation.

Stattdessen: Eskapismus, wenn man so will. Aber bitte paarweise, wenn’s denn geht. Tenor: Bloß keine weiteren Ansprüche mehr ans Leben stellen, die werden ohnehin nicht erfüllt. Sich gegen alle Zudringlichkeiten wehren. Nur in einer solchen Haltung kann man die (dieser Lesart zufolge) furchtbar viele restliche Zeit halbwegs kommod hinbringen, die einem auf Erden gegeben ist. Man könnte das als furchtbar spießig missverstehen, als Rückkehr in alte, überwunden geglaubte Zweisamkeiten. Aber was heißt heute schon „spießig“, derlei einstige Streitbegriffe zählen kaum noch.

Die jederzeit mögliche Katastrophe blitzt immer wieder zwischen den Zeilen auf, so etwa in Visionen von abgetrennten Köpfen oder Gasmasken-Gesichtern. Auffallend überdies, wie der Erzählerin Menschen begegnen, die sonst in öder Normalität eines Immer-so-weiter-Machens ersticken und aus denen urplötzlich ganze Lebensgeschichten herausquellen, überaus reflektiert und druckreif formuliert – wie immer schon bereit liegend. Sie sprechen wie klügere Schattenbilder ihrer selbst. Oder sind es schon Geisterstimmen aus dem Jenseits, dem Totenreich?

Was bliebe zu tun? Nun, eher soll man das meiste bleiben lassen, wenn man eine Moral aus all dem zerren will. Der Mensch dürfte sich generell nicht mehr so wichtig nehmen, er sollte möglichst nicht einmal verreisen (was will er denn in der unbegreiflichen Fremde?), also auch außerhalb seiner engeren Sphäre kein Aufhebens von sich machen. Sich und anderen nichts mehr vormachen. Zitat:

„Irgendwann wollen sie doch alle nur nach Hause, egal, wie glänzend der Beruf ist, egal, wie obsessiv die Party war, sie wollen irgendwohin, wo sie die Schuhe ausziehen können (…) Wenn sie sich nur damit begnügen wollten, die Idioten, wenn sie nur nicht selbstgerecht durchs Leben jagen wollten (…)“ Endlich Ruhe…

Lebensläufe ganzer westlicher Mittelschichts-Generationen werden hier so gehörig eingedampft: „Als sie den Eltern entwachsen waren, hatten sie vielleicht kurz mit Millionen anderer den Aufstand geprobt, sich als Punker verkleidet oder Atomkraftgegner, um sich dann schnell einzuordnen in die Pullunder- und Halbschuhwelt, in der man eine Ausbildung macht, heiratet, zwei Kinder erzeugt und anschließend leise die Welt verlässt, ohne irgendeine noch so minimale Störung auf ihr hinterlassen zu haben.“ Kommt gut, nicht wahr? Die von allem Unwesentlichen entschlackte, bitterlich angespitzte Erkenntnis, dass alle Rebellion nur Pose war. Es könnte glatte eine Comedy-Vorlage sein.

Wie heute oft üblich, wird einem keine anstrengende Lesestrecke zugemutet. Sibylle Berg (Jahrgang 1962) erzählt nicht in einem langen epischen Atemzug, sondern gliedert den Stoff in ganz kurze Kapitel, die im unstet raschen Wechsel jeweils „damals“ und „heute“ spielen. „Damals“ heißt vor und während der Beziehung mit dem hernach verschollenen Mann. „Heute“ taumelt gleichsam nur noch unglückstrunken von Augenblick zu Augenblick und vergegenwärtigt das bestürzende Alleinsein der Frau am exotischen Rand Chinas.

Nicht nur am fernen Horizont sieht man hinter all dem die zerstörerischen Kräfte schrankenlos gierigen Wirtschaftens wüten – vornehmlich in Hongkong und bei einem Abstecher nach Tokio. Es sind Kräfte, die bewirken, dass der Mensch sich völlig abhanden kommt. Nicht nur ein einziger Mann wird verschollen sein…

Sibylle Berg: „Der Mann schläft“. Roman. Hanser Verlag, 309 Seiten, 19,90 €.

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Die Autorin (Homepage: http://www.sibylleberg.ch) liest einige Abschnitte aus dem besprochenen Buch. Link:
http://www.hanser-literaturverlage.de/extras/videos/sibylle-berg-liest-aus-der-mann-schlaeft.html

oder




Das Leben ist schlimm – und man lacht sich kaputt: Texte von René Pollesch, Sibylle Berg und Roland Schimmelpfennig bei „stücke 2001″

Von Bernd Berke

Mülheim. Der Mülheimer Dramatikerwettbewerb „stücke 2001″ bietet diesmal eher Bruchstückchen. Zeit und Welt werden als Scherbenhaufen besichtigt – und das geht meist unter zwei Stunden ab.

Drei weitere Texte, allesamt kurz, knapp und vorwiegend knackig, sind diese Woche ins Rennen um den Dramatikerpreis (Entscheidung am Sonntag) gegangen. Sieben von acht Bewerbungen sind damit „über die Bühne“, und es drängt sich ein Favorit auf.

Doch der Reihe nach: René Polleschs kunterbunt illustriertes Cyberspace-Drämchen „world wide web-slums“ eröffnete die zweite Halbzeit der Stücketage. Es gastierte die Hamburger Inszenierung, Regie führte der Autor.

Zwischen Schaumgummi-Schaukeln, Jukebox und Kletterwand turnen vier seelisch verwahrloste Internet-Freaks beiderlei Geschlechts munter umher. Im ratternden Techno-Tempo schnatternd, beklagen sie den Verlust ihrer Körperlichkeit in der Computerwelt.

Sie fühlen sich immerzu deplatziert („Es gibt keine coole Firma“), fürchten, dass man ihnen Computer-Chips unter die Haut gepflanzt habe und dass ihre Gesichter zu „Displays“ geworden sind. Technisch verquere Folge: Wenn’s diese Figuren miteinander treiben, kommt doch nur ein Kaufakt via Internet dabei heraus.

Mit solchen Angst-Visionen hechelt der Text dem rasenden Zeitenlauf hinterher. Er kleidet sich ins Gewand einer TV-Seifenoper und lädt famosen Wortmüll ab. So witzelt man sich durchs Elend. Endzeit in der Spaßgesellschaft. Man lacht sich kaputt übers ach so schlimme Leben. Es reicht aber nur für quicke Comedy.

Auch im Hochhaus kann ein poetisches Märchen beginnen

Auch Sibylle Bergs Beitrag „Helges Leben“, dargeboten vom Bochumer Schauspiel (Regie Niklaus Helbling), bewegt sich in lachlustigen Sphären, dem finalen Anlass zum Trotze.  Denn hier ist die Menschheit längst vollends „erledigt“. Jahre oder Jahrhunderte später: Putzige Tierchen (Tapir, Rehlein, Schnapphamster) gönnen sich ein Pläsierchen. Sie lassen sich von „Frau Gott“ und dem Tod (starke Rockmusik-Nummem: Erika Stucky und „Sina“) in einen Film über das rundum misslungene menschliche Leben jenes Helge versetzen.

Solch ein Negativ-Abzug zwischen Geburts- und Sterbe-Schmerzen ist flugs fertig. Glaube, Liebe, Hoffnung lassen sich wohlfeil denunzieren. Immerhin blitzt hier dann und wann die vage Ahnung eines besseren Daseins auf, zudem ist das Ganze sprachlich gefeilt. Ein Wechselbad: Über dem allzu flott festgestellten Elend der Gattung werden Spaße ausgegossen, dahinter flackert Verzweiflung. Manche halten’s für „Kult“, das Stück hat gar einen Fanclub.

Schließlich doch noch ein inniger Theatertraum: Roland Schimmelpfennigs „Die arabische Nacht“, vielerorts nachgespielt, war in der Leipziger Fassung zu besichtigen (Regie Franziska-Theresa Schütz). Weit spannt sich die Phantasie dieses Stückes zwischen einem zehnstöckigen Mietshaus und orientalischen Basaren aus. Hier ist die Welt nicht gleich fraglos verendet, sondern wundersam verwunschen. Selbst das Missliche, Brutale wird poetisch aufgehoben in diesem Märchen. Alles ist da: Liebeswünsche, Verlorenheit, Eifersucht, Mord. Doch die Vorfälle werden in ein anderes, dem Theater gemäßes Fluidum getaucht.

Ein solcher Text steht inmitten der gängigen Blut- und Samen-Dramatik (mitsamt ihren grotesken Varianten) ziemlich einzig da. Preiswürdig!