Zorn, Hochmut, Wollust und mehr: Die sieben Todsünden stehen im Mittelpunkt der „Tage Alter Musik“ in Herne

Das Ensemble Mare Nostrum kommt mit einer bisher unbekannten Oper von Alessandro Stradella nach Herne. (c) Antonio Scordo

Das Ensemble Mare Nostrum kommt mit einer bisher unbekannten Oper von Alessandro Stradella nach Herne. (Foto: © Antonio Scordo)

Herne ist unter den Ruhrgebietsstädten nicht gerade als ausgeprägte Kulturmetropole bekannt. Einmal im Jahr rückt die Stadt mit ihren 156.000 Einwohnern aber ins überregionale Interesse, wenn mit kräftiger Unterstützung von WDR 3 die „Tage Alter Musik“ veranstaltet werden. In diesem Jahr widmen sich die Konzerte und Opern dem Thema der Todsünden in der Musik vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert.

Mit den Sünden ist das so eine Sache: Moraltheologisch sind sie genau definiert; doch in Alltagssprache und gesellschaftlichem Umgang verschwimmt der Begriff. Sünden und ihre Vermeidung waren in der Geschichte des Christentums häufig ein die Menschen bedrängendes Thema.

Die Sorge um das ewige Heil trieb die Gläubigen immer wieder an zu heute absonderlich anmutenden Praktiken der Buße, der Läuterung und der Bestrafung. Das Höllenfeuer als Mittel der Drohung und der Disziplinierung verlor im Zuge der Aufklärung seine seelensengende Hitze. Eine moderne Theologie kommt ohne dieses Druckmittel aus – zum Leidwesen mancher konservativer Kreise, die sich die Botschaft von der ewigen Verdammnis wieder präsenter in der kirchlichen Lehre wünschten.

Der „Zorn“ eröffnet das Festival

Völlerei oder Depression? Gioachino Rossini wird gerne als unersättlicher Gourmet dargestellt. Stefan Irmer (Foto: WDR) präsentiert am 11. November, 11 Uhr, ein pianistisches Menü aus den »Péchés de vieillesse« von Rossini, dessen 150. Todestag am 13. November begangen wird.

Völlerei oder Depression? Gioachino Rossini wird gerne als unersättlicher Gourmet dargestellt. Stefan Irmer (Foto: © WDR) präsentiert am 11. November, 11 Uhr, ein pianistisches Menü aus den »Péchés de vieillesse« von Rossini, dessen 150. Todestag am 13. November begangen wird.

Die „Tage Alter Musik“ in Herne arbeiten von Donnerstag, 8. bis Sonntag, 11. November den klassischen Siebener-Katalog ab: Zorn, Hochmut, Wollust, Neid, Völlerei, Trägheit und Geiz werden in elf Veranstaltungen musikalisch thematisiert. Nur schade, dass die hochkarätigen Konzerte nicht durch eine Veranstaltung ergänzt werden, bei der das Thema der „Sünde“ auch geistesgeschichtlich und theologisch aufgearbeitet wird. Denn was die Todsünden konkret sind, die den Menschen von Gott und seiner Liebe trennen, ist so einfach heute nicht zu beantworten. Der Begriff bedürfte der inhaltlichen Konkretisierung, statt in assoziativem Ungefähr lediglich als Stichwort oder Überschrift zu dienen.

Eröffnet wird das Festival am Donnerstag, 8. November, um 20 Uhr in der Kreuzkirche in Herne. Zum Thema „Zorn“ präsentieren das Vokal-Ensemble Polyharmonique und das [OH!] Orkiestra Historyczna Geistliche Musik des 17. Jahrhunderts von Francesco Cavalli bis Johann Rosenmüller.

Die „Wollust“ als Thema von zwei Opern

Ein Höhepunkt im Festivalprogramm ist die moderne Erstaufführung der 1676 in Siena uraufgeführten Oper „Amare e fingere“ („Lieben und Heucheln“) von Alessandro Stradella am Freitag, 9. November, 19 Uhr im Kulturzentrum Herne. Unter Andrea del Carlo widmen sich das Ensemble „Mare nostrum“ und sechs Solisten dem lange verschollenen Werk, das erst vor kurzem in der Bibliotheca Vaticana wiedergefunden wurde. Es widmet sich der Begierde und ihrer Beherrschung und spielt in seinem Titel auf die ehrenhafte Form der Heuchelei an, die vor der erdrückenden Stärke der Mächtige schützt.

Der Dirigent Andrea Marcon. Foto: Marco Borggreve

Der Dirigent Andrea Marcon. (Foto: © Marco Borggreve)

Der Komponist selbst ist eine der farbigsten Figuren der Musikgeschichte. Er wurde wohl wegen einer Liebesaffäre mit der jungen Geliebten eines venezianischen Patriziers in Genua ermordet. Kein Wunder, dass die Aufführung unter dem Motto „Wollust“ firmiert. Stradella – der sogar Titelfigur einer romantischen Oper von Friedrich von Flotow wurde – schrieb eine Musik, die sich durch eine weit in die Zukunft vorausweisende emotionale Impulsivität auszeichnet.

Die zweite Oper – ebenfalls mit der „Wollust“ als Thema – schließt am Sonntag, 11. November, 19 Uhr im Kulturzentrum die „Tage Alter Musik“ ab. Das renommierte Barockorchester „La Cetra“ aus Basel unter Andrea Marcon und sechs Solisten führen Antonio Vivaldis „L‘ Olimpiade“ auf. Geschrieben für eines der acht venezianischen Opernhäuser und im Karneval 1734 uraufgeführt, schildert das Libretto des wohl berühmtesten Operndichters des 18. Jahrhunderts, Metastasio, eine turbulente Mischung aus Betrug, Blasphemie, Mord und Selbstmord, Homoerotik und inzestuöser Liebe. „Feinste musikalische Wollust“, die auch heutige Ohren zu entzücken weiß.

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Über die Veranstaltungen informiert die Webseite https://www1.wdr.de/radio/wdr3/musik/tagealtermusikherne/index.html.

Tickets für die Konzerte gibt es bei der ProTicket-Hotline, Tel.: (0231) 917 22 90, www.proticket.de.

Das Kulturradio WDR 3 sendet die Konzerte am Freitag, Samstag und Sonntag (9., 10. und 11. November) jeweils um 20 Uhr sowie am Sonntag, 11. November um 16 Uhr live. Parallel zum Festival Herne veranstaltet die Stadt vom 9. bis 11. November eine internationale Musikinstrumenten-Messe mit Tasteninstrumenten der Alten Musik sowie ein Werkstattkonzert am 10. November.

Die Sendetermine und weitere Informationen gibt es im Internet unter www.tage-alter-musik.de und am WDR-Hörertelefon unter
(0221) 56 789 333.

 




Neues aus dem Fegefeuer: „Die 7 Todsünden“ im Kloster Dalheim

Hier geht‘s heiß her: Was dem Sünder im Fegefeuer droht, zeigt dieser Holzschnitt aus dem 15. Jahrhundert. Der Geizhals schluckt Gold, den Zornigen trifft das Schwert, und die Wollüstige beißt eine Schlange. Foto: Kunsthaus Zürich

Was dem Sünder im Fegefeuer droht, zeigt dieser Holzschnitt aus dem 15. Jahrhundert. Der Geizhals schluckt Gold, den Zornigen trifft das Schwert, und die Wollüstige beißt eine Schlange. Foto: Kunsthaus Zürich

Sie haben die Ausstellung »Die 7 Todsünden« im Kloster Dalheim noch nicht gesehen? Da haben Sie etwas verpasst. Aber nur kein Neid: Überwinden Sie die Trägheit, gehen Sie einfach hin!

Kleine Augen und ein eckiges Kinn, auch die Nase zeigt spitz nach oben. So sieht er aus, der Neid. Dagegen die Habgier: Eine Hakennase prangt unter Schlitzaugen, die Mundwinkel sind nach unten gezogen. Die Schweizer Künstlerin Eva Aeppli formte die »Physiognomie der Laster« an Bronze-Köpfen. Sie sind die letzte Station vor dem Ausgang im LWL-Landesmuseum Kloster Dalheim in Lichtenau. Da haben die Besucher bereits 1700 Jahre Kulturgeschichte der Laster und Sünden hinter sich. »Die 7 Todsünden« ist die erste museale Beschäftigung mit dem Thema.

Sie beginnt schon im Klostergarten. Dort begrüßt ein Ortsschild den Eintretenden: »Bundesligastadt Paderborn«. Man wundert sich, bis man den von einem Ast hängenden roten Sandsack mit der Aufschrift »Zorn« wahrnimmt, und das Schild an der Rosskastanie, das den unschuldigen Baum als »geizigen Giganten« schmäht. Schließlich sei er wegen seiner kurzlebigen Blütenpracht und der ungenießbaren Früchte ein »Symbol barocker Verkommenheit«. Ob das stolze Ortsschild also für Hochmut steht?

Die Exponate im Garten deuten schon an, was während des Rundgangs immer wieder aufblitzt: Die so genannten Todsünden sind so tödlich gar nicht mehr. Allzu oft in der Kulturgeschichte wurden sie instrumentalisiert oder zumindest umgewertet. Was vorgestern noch tabu war, war gestern gesellschaftlicher Konsens – und wird heute wieder kritisch gesehen.

Gleich zu Beginn schreitet man durch das »Portal der sieben Sünden«, das uns »abholt«: Fotografische Alltagsszenen beweisen, wie die großen Laster sich heute manifestieren. Ein Selfie steht für den Hochmut, der schimpfende Autofahrer für den Zorn. Dazu allgegenwärtige Sprüche aus der Werbung: »Heute ein König!«, »Geiz ist geil!», «Der Duft, der Frauen provoziert.« Heute darf kokettiert werden mit den vermeintlichen Sünden. Sie klingen offenbar noch in uns nach, haben aber längst ihren Schrecken verloren. Das war einmal anders.

Eremitisch in der Wüste lebende Mönche waren es, die im 4. Jahrhundert zunächst acht »Hauptlasten« ausmachten, die den Asketen in Versuchung führen könnten – die Traurigkeit gehörte noch mit dazu. Davon zeugt das älteste Ausstellungsstück, eine beschriebene Keramikscherbe. Papst Gregor machte Ende des 6. Jahrhunderts den Hochmut als Wurzel alles Bösen aus und leitete sieben Kardinalsünden daraus ab. Seitdem gehörten sie fest zur katholischen Morallehre.

Diese Herzdamen gewähren tiefe Einblicke in die Doppelmoral der frühen Adenauerzeit. Spielkarten wie diese durften in den 1950er Jahren nur unter der Ladentheke gehandelt werden. Foto: Wirtschaftswundermuseum, Bohn

Diese Herzdamen gewähren tiefe Einblicke in die Doppelmoral der frühen Adenauerzeit. Spielkarten wie diese durften in den 1950er Jahren nur unter der Ladentheke gehandelt werden. Foto: Wirtschaftswundermuseum, Jörg Bohn

Das Gros der Objekte in diesem ersten Ausstellungsraum stammt allerdings aus dem Spätmittelalter, der Blütezeit der Lehre von den Lastern. Der Kanon der sieben Todsünden wurde populär über Predigten (in der Ausstellung ist ein Ausschnitt zu hören) und durch das Sakrament der Beichte (symbolisiert durch einen Beichtstuhl) aber auch über Abbildungen, Altarbilder oder anderen Kirchenschmuck.

Über die Kirchen gelangten die magischen Sieben in die weltliche Literatur und Kunst, etwa in Peter Dells holzgeschnitzte Statuetten, die die Sünden im frühen 16. Jahrhundert als Frauengestalten zeigen. Aus jener Zeit stammt auch das wohl skurrilste Stück: der gläserne Dildo einer Äbtissin aus dem Damenstift Herford. Unsterbliche, bis heute beliebte Heldenfiguren aus dem Spätmittelalter sind die personifizierte Sünde selbst, etwa Don Juan, die Mann gewordene zornige Wollust. Auch viele Märchenfiguren stehen für eine Sünde: die Frau des Fischers für Völlerei bzw. Maßlosigkeit, die Stiefmütter von Schneewittchen und Aschenputtel für Neid, Pechmarie für Trägheit.

Im Barock dann die erste Umwertung einer Sünde: Völlerei und Verschwendung galten (auch der Kirche) plötzlich als Statussymbole. Schuld war die Kirchenspaltung: Der Barock ist die sinnliche Antwort auf das nüchterne Erscheinungsbild des Protestantismus. Einen Raum weiter wird man sich daran erinnern angesichts der Fotos überladener Büffets und gedankenlosen Genießens in den 1950er Jahren: Nach den Entbehrungen des Krieges hatte man schließlich Nachholbedarf und fand am Schlemmen nichts Schlimmes. Das ist heute, im Zeitalter der Selbstoptimierung und Körperdisziplin, wiederum anders.

Mit der Industrialisierung begann die Beschleunigung des Lebens: Müßiggang konnte die erstarkende Wirtschaft nun wirklich nicht gebrauchen. Dabei war mit der Sünde der »Trägheit« ursprünglich gar nicht nur Faulheit gemeint, sondern Trägheit des Herzens, die Gleichgültigkeit z.B. gegenüber anderen Menschen, ausgedrückt etwa in dem biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter.

Vielschichtig wird es in dem Teil der Schau, die die Zeit des Nationalsozialismus betrachtet: Die Nazis instrumentalisierten die Sünden geschickt, um ihre Gegner zu diffamieren (die geizigen oder habgierigen Juden) und nutzten die Popularität des Todsünden-Konzepts, um eigene Werte zu propagieren: »Die einzige Sünde heißt Feigheit«, hieß es auf einem Propagandaplakat. Der große Globus aus Adolf Hitlers »Führerbau« in München zeigt das Einstichloch eines Bajonetts, vermutlich von einem alliierten Soldaten – gleichermaßen ein Symbol für Hochmut und Zorn.

Nach dem Krieg machte die sexuelle Revolution Wollust salonfähig, wovon u.a. Ausschnitte aus Oswalt-Kolle-Videos zeugen. Rudi Dutschkes Lederjacke und seine Karteikarten stehen für den Zorn der 1968er. Wie dreidimensionale Mind-Maps hängen beleuchtete Schautafeln für jede Sünde im letzten Raum, zur Wut gibt es die Assoziationen »Wutbürger«, die Figur des »Hulk«, Anti-Stressbälle.

Am Ende kann man dann selbst eigene Gedanken zum Thema an die Wand heften. »Die einzige Sünde ist«, schrieb jemand, »definieren zu wollen, was eine Sünde ist.« Lektion gelernt.

 »Die 7 Todsünden« im LWL-Landesmuseum für Klosterkultur in Lichtenau-Dalheim; bis 1. November 2015; Tel. 05292/ 93 190; Katalog: Ardey Verlag, Münster, 29,90 Euro.