Und ewig grüßt das Facebook-Tier

Es ist Morgen.

Computerlogdaten: Web 0, 17690

Langgezogene Breitengrade. Rotweinreste im System.

Schwerkraft beträchtlich.

Die Vögel pfeifen trotzdem.

Zur Untermalung, prasselnder Regen.

Auf Facebook gibts  quasselnden Regen.

Da trommelts auf die Festplatte.

Manchmal fühlt man sich wie Spock.

Vulkanisiert.

Da geht nichts mehr durch.

Man ist dicht.

Eine gummierte Haut schottet einen ab.

Was hat man mit der Welt zu tun?

Welche Welt überhaupt?

Man spricht so leicht von Welt.

Als ob man wüsste, was das sei.

Man gibt sogar vor zu wissen,

was das ist.

„Die Welt zu Gast bei Freunden“ – hieß das nicht so?

Das wäre eng geworden.

Weltfußballer. Weltmeister. Weltbaumeister. Weltschriftsteller.

Welthausfrau. Weltpolitiker. Weltbademeister…

Wir sind getitelt.

Wir sind sowas von getitelt, dass uns manchmal etwas fehlt.

Etwas mehr Tiefenschärfe, bitte !

Ich bitte Sie, ich bitte mich.

Dann kann ich auch gleich die Welt bitten…

Stefan Dernbach ( LiteraTour )

http://www.stefandernbach.kulturserver-nrw.de/




Am Morgen

Es ist nur wenig Zeit vergangen.
Eben räkelten sie sich noch auf weichen Matratzen, spürten die Ausläufer ihrer Träume und schauten mit zerzaustem Haar in bleiche Spiegel. Jetzt sitzen sie hier mit anderen Gesichtern.
Keine Spur mehr von nächtlichen Verfolgungen, Schlaflosigkeit, Lust.

Sie reden über das Wetter, beklagen die Politik, erzählen von Filmen, die sie am Vorabend gesehen haben. Manche verbergen ihr Gesicht hinter Zeitungen, andere zupfen an Frisuren herum. Jenseits der Scheibe rennen, stolpern, warten die anderen. Einige halten Mobiltelefone an gerötete Ohren.

Die drinnen sitzen, schauen nach draußen.
Gleich werden auch sie sich einreihen. Uhren werden hervorgeholt, ungläubig angeschaut, dann schnell wieder aus dem Blickfeld verbannt. Die Bedienung spielt Melodien auf der Tastatur der elektronischen Kasse. Draußen werden Busmotoren gestartet.
Aus der Kaffemaschine zischt heißer Dampf. Schaumkronen werden mit pulverisierter Schokolade bestreut.
Ein älterer Herr schaut hinter seiner Zeitung hervor. Sein Kopf bleibt starr, aber seine Pupillen wandern aufgeregt hin und her.
Ein junges Paar küsst sich zum Abschied…

Stefan Dernbach ( LiteraTour ) ©2011

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Die wackligen Bilder der Wirklichkeit – Rubenspreisträger Sigmar Polke stellt in Siegen aus

Von Bernd Berke

Siegen. Sigmar Polke, seit vielen Jahren auf den Kunstranglisten der Welt stets mit an der Spitze, stellt in Siegen aus – und hat eigens für diese Schau rund 30 neue Bilder geschaffen. Na, wenn das nichts ist!

Der 66-Jährige erhält an diesem Sonntag den 11. Rubenspreis der Stadt Siegen und fühlt sich offenbar zu tätigem Dank verpflichtet. Sonst hätte er wohl nicht in den letzten Wochen wie ein Berserker an den neuen Werken gearbeitet. Aber er ist wahrscheinlich ohnehin ein Workaholic.

Was man im Siegener Museum für Gegenwartskunst zu sehen bekommt, ist nicht leicht zu sagen. Denn just darum geht es ja bei Polke meist: um Irritationen der gewohnten Wahrnehmung, um vielfaltig überlagerte Sichtweisen. Nichts ist, wie es scheint – und nicht einmal das ist gewiss. Beispiel: Neckische Szenen mit dänischen FKK-Anhängern wirken, von Polke optisch aufbereitet, noch um einige Grade abstruser.

Mal aufgerastert, mal durchsichtig

Der Rundgang führt an etwa 80 Arbeiten (entstanden seit 1982) vorüber, die aktuellen Bilder für Siegen erhalten somit einen werkhistorischen Hintergrund. Man sieht dabei keine barschen Bruchlinien, sondern konsequente Fortführung im gleichen regen Geiste. Schicht um Schicht, prinzipiell endlos in alle Richtungen verlängerbar.

Ein Verfahren, das sich durch die gesamte Ausstellung zieht, beruht auf grobkörnigen Rasterpunkten, mit denen Polke mancherlei Motive aus der herrschenden Bilderflut gegriffen und verfremdet hat. Wer nah davor steht, sieht fast alles verschwimmen. Erst aus der Distanz schälen sich schemenhaft Figuren heraus – nie greifbar, immer flüchtig wie das Leben und Sehen selbst.

Scherz und Ironie können an jeder Ecke lauern. Vorschnelles Wissen nützt nichts. Wer Polkes Bilder deuten will, bleibt gehetzter Hase. Der Künstler wartet schon am Ende des Ackers – gleichsam als Igel, der immerzu schon eine Furche weiter ist.

Eine zweite Hauptlinie durchs Museum ergibt sich aus den transparenten Bildern. Polke hat hierzu etliche Techniken ersonnen, wie er denn überhaupt ein Tüftler vor dem Herrn ist. So zeigt er Serien, die vollends durchsichtig sind und von beiden Seiten her betrachtet werden können. Selbst größere Formate wirken da luftig. Wenn man schon einen biographischen Hinweis sucht: Sigmar Polke als junger Mann (ab 1959) in Düsseldorf eine Glasmaler-Lehre absolviert.

Neuerdings experimentiert Polke mit einer Sorte von Vexierspielen, die vage an die„Wackelbilder“ aus Kindertagen erinnern. Vor den Malgrund setzt er transparente, ganz leicht gewellte Flächen aus einer harzigen Substanz. Geht man vor den Bildern hin und her, wandeln sie sich unaufhörlich. Es sind flackernde Phantome.

Hintersinnige Tapetenmuster

Ein Mann wie Polke kann schier alles machen. Selbst wenn er Gardinen- oder Tapetenmuster aneinanderfügt, fließt kunstgeschichtlicher Hintersinn mit in die Ornamente hinein. In derlei Fällen geht es rasch um das Bild „an und für sich“; keineswegs vertrackt und verkopft, sondern sinnlich. Man darf in erlesenen Farben schwelgen.

Apropos Tradition: Seine Motive schöpft Polke oft aus dem „Pop“ verflossener Zeiten, etwa aus volkstümlichen Darstellungen des 19. Jahrhunderts. Häufig nimmt er Figuren aus Märchen oder Comics auf – oder er lässt gleich eine ganze magische Szenerie mit Zauberer und Fledermäusen irrlichtern.

Manche der brandneuen Bilder trugen bis gestern noch gar keine Titel. Der Meister denkt noch darüber nach, heißt es. Dabei wollen wir ihn bis Sonntag nicht stören.

Sigmar Polke – Ausstellung zum Rubenspreis. Museum für Gegenwartskunst. Siegen. Unteres Schloss 1. Ab Sonntag, 24. Juni (an diesem Tag Eröffnung 14 Uhr, geöffnet bis 20 Uhr), bis 16. September. Di bis So 11-18 Uhr, Do 11-20 Uhr. Eintritt 3,90 Euro. Katalog erst im August.

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ZUR PERSON

Auf der Szene seit den frühen 60er Jahren

  • Sigmar Polke wurde am 13. Februar 1941 in Oels (Schlesien) geboren. 1945 flüchtete die Familie nach Thüringen, 1953 siedelte sie aus der DDR nach West-BerIin über.
  • 1961 Studium an der Kunstakademie Düsseldorf.
  • 1963 Erste Galerie-Ausstellung in Düsseldorf, unter anderem mit Gerhard Richter. Proklamation des so genannten „Kapitalistischen Realismus“.
  • 1972 erstmals Teilnahme an der documenta.
  • Ab 1977 bis 1991 Kunstprofessor in Hamburg.
  • 1978 Umzug nach Köln, wo Polke seither lebt und arbeitet.
  • 1997 Große Retrospektive in Bonn und Berlin.



Wege und Irrwege zum „Ich“ – Siegener Museum gibt weitere Einblicke in die Schürmann-Sammlung

Von Bernd Berke

Siegen. Eine Ausstellung muss nicht immer mit hundert oder mehr Exponaten aufwarten, um Bedeutsamkeit zu erlangen. Konzentrierter geht’s auch. So wie jetzt in Siegen.

Im Museum für Gegenwartskunst spürt nun eine kleine Schau einigen Strategien, Ritualen und Irrwegen der Identitätsbildung nach. Die Arbeiten von vier Künstlern repräsentieren abermals einen Ausschnitt aus der reichhaltigen Sammlung Schürmann, deren Facetten das Haus am Unteren Schloss immer mal wieder auffächert. Auch andernorts (Ostwall-Museum in Dortmund) pflegt man Teile dieser Kollektion.

In Siegen wahrt man den Proporz: zwei Künstlerinnen, zwei Künstler; zwei in den 40er, zwei in den 60er Jahren Geborene. Ein Geschlechter- und Generationen-Vergleich.

Konfrontiert mit 60 leblosen Puppengestalten

Die spektakulärste Installation stammt von Zoe Leonard (geboren 1961 in New York) und heißt „Mouth open, teeth showing“ – etwa: Mund auf, Zähne zeigen! Derlei Mimik kann freundlichen, aber auch zornigen Beiklang haben. Jedenfalls stehen dem Besucher 60 Puppen gegenüber, die meisten niedlich, manche grotesk. Geordnet sind sie nach strengem Raster, also gar nicht individuell. Doch beim Gang durch ihre Reihen nimmt man Unterscheidungs-Merkmale wahr. Gleichzeitig erweisen sie sich beim näheren Hinsehen umso deutlicher als leblose Puppengestalten. Ein flirrendes Spiel mit der Identität also, die sich mal festigt, mal verflüchtigt.

Natürlich geht es dabei auch mal wieder um spezifisch weibliche Selbstfindung. Etliche Puppen (vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute, in allen denkbaren Be- und Entkleidungszuständen) haben „spielerisch“ das Selbstbild vieler Mädchen mitgeprägt. Gebrauchsspuren zeugen von täglicher Zuwendung. Andere Exemplaren sind Sammlerstücke für Erwachsene, was weitere Fragen aufwirft: Vielleicht sollten diese Puppen seelische Defizite mildern?

Frühere Identität in drei Pappkartons

Paul McCarthy (geb. 1945 in Los Angeles) hat, derweil seine (frühere) Identität als Künstler „eingemottet“: In drei Pappkartons („The Three Boxes“, 1984) lagern 101 Video-Bänder mit Aufnahmen seiner frühen PerformanceAuftritte. Die Magnetspur ist mittlerweile fast unbrauchbar, zudem gibt es die passenden Alt-Geräte kaum noch. Melancholisches Fazit: Das frühere Dasein ist in mehrfacher Hinsicht museumsreif.

Sylvie Fleury (geb. 1961 in Genf) hat aus britischen Frauenzeitschriften Sprüche derBeauty-Werbung aufgeklaubt und präsentiert sie in großer Schablonenschrift auf hautfarben grundierter Wand. Spürbar wird, wie aggressiv solche Reklame die weibliche Selbstwahmehmung lenkt.

Schließlich Franz West (geb. 1947 in Wien). Vier filigrane, rostig anmutende Stühle, auf die man sich kaum zu setzen wagt, stehen vor einem Bildschirm. Da wird gezeigt, wie man mit zwei nebenan auf Sockeln liegenden Gips-Objekten umgehen könnte. Anfassen erlaubt, spielerisches Abweichen vom „Vor-Bild“ erst recht. Ein kleiner Befreiungsakt auf dem Weg zur eigenen Identität?

Übrigens: Auswärtige Besucher sollten nicht die hochkarätigen Dauerbestände des Museums versäumen. Hier hat Siegen ein ordentliches Pfund zum Wuchern.

Museum für Gegenwartskunst, Siegen (Unteres Schloss 1). Sammlung Schürmann bis 12. Oktober. Di-So 11-18 Uhr.




Der Drang zur Leinwand – Ex-Beatle Paul McCartney stellt in Siegen weltweit erstmals seine Gemälde vor

Von Bernd Berke

Siegen. Gezeichnet hat Paul McCartney schon in den guten alten Beatles-Zeiten. Als diese Ära längst vorbei war und Paul auf die 40 zuging, sagte er sich: „Jetzt musst du noch mal was Neues anfangen“. Also begann er zu malen. Das tut er nun seit etwa 16 Jahren – „vor allem zu meinem eigenen Vergnügen“, wie er gestern in Siegen verriet. Dort, in der vermeintlichen Provinz, zeigt er weltweit erstmals seine Bilder.

Davon wird man im Siegerland noch sehr lange reden. Der Kollege Wolfgang Thomas aus der Siegener WR-Lokalredaktion, seit rund 30 Jahren im Geschäft, kann sich nicht erinnern, je auch nur annähernd einen solchen (Medien)-Rummel um ein örtliches Ereignis erlebt zu haben.

Entspannung an der Staffelei

Musikalische Fragen waren bei der gestrigen Pressekonferenz zur Schau „Paul McCartney Paintings“ strikt unerwünscht, doch der Ex-Beatle ließ immerhin wissen, daß es zwischen „sounds and colours“, Tönen und Farben also, manche Entsprechungen gebe. Er bekannte, beim Malen vom „spirit of freedom“ (Geist der Freiheit) inspiriert zu werden – und den habe nun mal der einstige Mit-Beatle John Lennon beispielhaft verkörpert. Allerdings: „Wenn ich male, höre ich nie Musik.“

Jedenfalls könne er sich an der Staffelei besser entspannen als beim Komponieren, denn: „Vom Malen muß ich nicht leben“. Auf die Frage, ob die Präsentation seiner Öl- und Acryl-Gemälde seinen musikalischen Weltruf mindern könne, meinte Sir Paul: „Ich habe immer etwas riskiert; schon damals mit den Beatles.“

Sei’s drum. Entspannung hin, Vergnügen her – als Maler will Paul McCartney allemal ernstgenommen werden. Und damit kommen wir zur Gretchen-Frage, um die man sich auch als eingefleischter Beatles- oder McCartney-Fan nicht herumdrücken sollte: Wie gut sind seine Bilder?

Auf einem sanften Trip

Nun ja. Paul McCartney, der vom Künstler Willem de Kooning in seinem Maldrang bestärkt wurde, ist eben nicht von dessen Schrot und Korn. Gelegentliche Abstecher in Quellformen der Groteske („Shock Head“) und ins Surreale („White Dream“) können kaum verhehlen, daß hier keine ordnende (oder auch kunstvoll zerstörende) Kraft waltet, sondern ein wohliges Sich-Treibenlassen im Reich der Farben. Etliche Bilder haben etwas Unentschlossenes, geradezu Verwaschenes. Farbskala und Machart taugen oft eher für Plattencovcr oder Underground-Comics als für eine Kunsthalle. Die Formen wirken vielfach zerstoben, aber nicht wirklich explosiv. Kunst auf einem sanften Trip.

Paul McCartney liebt es, hier und da Farbschlieren nach Lust und Laune dick aufzutragen, dann wieder kratzt er Spuren in die Leinwände. Manchmal sieht man auch noch die Fingerabdrücke. All das deutet auf tätig-frohe Selbstverwirklichung nach dem Leitsatz: Einfach mal loslegen und sehen, was daraus wird. Und so ist denn gewiß nicht alles souverän gewollt an diesen Bildern, sondern sieht aus wie nebenher unterlaufen: Passiert ist passiert. Mal so, mal so.

Anregung durch keltische Fundstücke

Bevor Paul seine Bildidee wahrmacht (Kritiker auf den Kopf stellen und ringsum einrahmen), muß man rasch sagen, daß unter den 75 Exponaten auch recht achtbare Werke sind. Die von keltischen Funden angeregten Arbeiten zählen dazu, aber auch konzentriertere Stücke wie „Boxer Lips“ und „Chinaman“.

Überhaupt spürt man Wonne, Inbrunst und Passion, mit denen Paul McCartney der Leinwand zu Leibe rückt. Auch wenn ihm nicht alle künstlerischen Mittel zu Gebote stehen: Über bloße Freizeitmalerei ist er deutlich hinaus. Und die Siegener dürfen sowieso mächtig stolz sein auf den Coup, diese Sachen hergeholt zu haben.

„Paul McCartney Paintings“. Siegen, Kunstforum Lyz (St.-Johann-Str. 18). DerWeg dorthin ist bestens ausgeschildert. 1.Mai bis 25. Juli, Di-So 10-20 Uhr. Eintritt 12 DM, Katalog 39,50 DM, Plakat 12 DM.




Jedes Fundstück kann zur Kunst beitragen – Arbeiten von Helga Hanisch in Siegen

Von Bernd Berke

Siegen. „Die Süße“ blickt ganz treuherzig. Zwar hat sie eiserne Augen, doch dies hätte man ihr denn doch nicht zugetraut: Ihr Rumpf besteht aus dem hölzernen Griff eines Gewehrs. Ist sie gar nicht so friedfertig?

Das widersprüchliche Mädchen steht in der neuen Ausstellung des Siegener Kunstvereins. Helga Hanisch (40) gibt ihren Bildern, Objekten und Installationen eben gern Titel, die im Kontrast zum Augenschein stehen.

Sie gehört zur Menschengattung der Sammler: „Ich hebe buchstäblich alles auf.“ Einen wahren Schrottplatz habe sie bei sich daheim im Kunst-Bahnhof Dingden (nahe Bocholt) angehäuft. Manche Dinge blieben jahrelang unbenutzt liegen – bis plötzlich ein Ideenfunke auf sie übersprang.

Das Kind muß natürlich auch einen Namen haben: „Packing Art“ nennt Frau Hanisch ihr Verfahren, die Funde zusammenzufügen, sie (wohlüberlegt) zueinander zu packen. Überdies sind verwittertes Pack-Papier und Kartonagen ihre liebsten Materialen. In Bildcollagen einklebt, bekommen die bräunlichen Fetzen eine eigentümliche Aura von Wehmut über vergehende Zeit. Dies ist eines der Hauptthemen von Helga Hanisch. Sie greift es wieder und wieder auf: in der Bilderserie „Zeitläufer“, im „Hausarchiv“ mit alten Fotos und in der Abfolge von wortwörtlich zu nehmenden „Beziehungs-Kisten“, die von erster Liebeswallung bis zum Hausbau und zum Kinderkriegen führen.

Gartenzwerg und Schuß-Projektile

Aus den vorgefundenen Gegenständen – neuerdings z. B. auch Hühnerknochen und Plastikteile – entstehen also recht inspirierte, oft unterschwellig koboldhafte Bilder und Figuren. Der „Schwere Junge“ etwa hält einem ein metallisch vergitterten Gesicht hin – es könnte einen beengten Horizont darstellen, aber auch auf den Knast anspielen. Oder das hölzerne Hahnenwesen, das sich ebenso krampfhaft wie pathetisch reckt und dem Titel „Der aufrechte Gang“ eher hohnspricht.

Aktuell gemünzt und leider etwas vordergründig ist eine Installation mit Gartenzwerg, gesiebtem Mutterboden und lauter eingepflanzten Schuß-Projektilen. Sie heißt „Die Saat geht auf“ und soll vor dem Gewaltpotential eines bieder maskiertem Rechtsradikalismus warnen. Gut gemeint ist es bestimmt.

Überzeugender das mehrteilige Großbild „Wall Puzzle“. Sechs Rahmen sind nur zum Teil collagenhaft gefüllt und so gefügt, daß sie Durchblicke auf die nackte Wand erlauben. Ein schönes Augenspiel. Verschmitzte Geister wie Hanischs Vorbild Kurt Schwitters würden wohlgefällig lächeln.

Helga Hanisch: „Packing Art“. Kunstverein Siegen, Villa Waldrich (Hohler Weg 1). Bis 2. Oktober, Di-So 15-19/Uhr, So 10-13 Uhr. Katalog 13 DM.




Schocks und Lügen – Fotos aus 35 Kriegen

Von Bernd Berke

Siegen/Recklinghausen. K e i n Kunstgenuß erwartet die Besucher der Kunsthalle Recklinghausen und der Städtischen Galerie „Haus Seel“ in Siegen.

Gleichzeitig in beiden Häusern wird man jetzt mit schonungslosen Dokumenten menschlichen Leids konfrontiert: „Bilder vom Krieg“, eine vom Hamburger „Stern“-Magazin zusammengestellte Ausstellung mit 254 Schwarz-Weiß-Fotos, zeigt unfaßbare Szenen der Grausamkeit vom Amerikanisch-Mexikanischen Krieg (1848) bis zur Schlacht um Beirut (1982): US-Bürgerkrieg, Krimkrieg, Kolonialkriege, die beiden Weltkriege, Hiroshima, Korea- und Vietnamkrieg, Sinaikrieg und, und, und…

Der Schock, der sich unfehlbar einstellt, wenn man die Bilder aus über 130 Jahren und 35 verschiedenen Kriegen sieht, ist selbstverständlich beabsichtigt. Man kann die Ausstellung nur mit dem brennenden Wunsch „Nie wieder Krieg!“ verlassen.

Allerdings zeigen nicht all diese Bilder das wahre Gesicht des Krieges. Besonders in der Frühzeit der Fotografie nämlich gaben Schlachtenlenker die Parole „No dead bodies“ („Bloß keine Leichen“) aus, um dem Volk weiter den hehren Einsatz fürs Vaterland und siegreiches Heldentum vorgaukeln zu können.

Waren es zunächst naiv-idyllische Genre-Szenen, die man mit dem Fotoapparat herbeilog, so sollte die Illusionsmaschinerie bald zur Attacke übergehen: Regierende und Militärs erklärten die Arbeit des Kriegsfotografen zum kriegswichtigen „Wehrdienst mit der Kamera“ (man denkt unwillkürlich an den Ausdruck „ein Bild schießen“). Statt zerfetzter Leichen mußten also also z. B. stolzgeschwellte Veteranen des Krimkriegs oder auch eine pittoreske weiße Wolke vor dem Kanonenröhr abgelichtet werden, als diene der Gebrauch der Waffe einzig dem ästhetischen Vergnügen. Kriegslüstern jubelnde Soldaten und Zivilisten (Aufbruch in den 1. Weltkrieg), immer wieder von falscher Romantik triefende Bilder mit Soldatenbräuten oder zynischer Show-Glamour beim Auftritt von Front-Unterhaltern (z.B. Marilyn Monroe im Koreakrieg) gehören in verwandte Kategorien. Man erschrickt über die vielföltigen Möglichkeiten fotografischer Manipulation.

Wenn dennoch realistische Bilder gemacht wurden, bekamen die jeweiligen Zeitgenossen sie oft nicht zu Gesicht. Die Aufnahmen verschwanden in Archiven und wurden erst späteren Generationen zugänglich gemacht. In neuerer Zeit, so macht die Ausstellung deutlich, nahm die Ehrlichkeit (oder nur die Abgebrühtheit der Massenmedien und ihrer Konsumenten?) zu: Bei den schlimmsten Ereignisse waren und sind die Zeitgenossen nun „live“ dabei. Der Vietnam-Krieg war übrigens der erste, bei dem die Kamera Anklägerfunktion bekam und bewußt als „Waffe“ gegen den Krieg eingesetzt wurde.

„Bilder vom Krieg“: Kunsthalle Recklinghausen 28. August bis 20. September / Siegen (Städtische Galerie Haus Seel) 27. August bis 18. September, Katalog 29,80 DM




200 Meter Bauzaun als Kunstwerk – und Joern Schlund träumt schon von einem Liebesbrief an der Spitze des Florianturms

Von Bernd Berke

Kassel/Dortmund. Joern Schlund (47) will dem großen Kasseler Kunstspektakel documenta die Schau stehlen. Er wird – mit finanzieller Unterstützung einer Dortmunder Firma – knapp 200 Meter Bauzaun zum gigantischen Kunstwerk umgestalten. Schlunds Aktion soll genau zehn Tage vor Eröffnung der documenta, die am 19. Juni ihre Pforten öffnet, gestartet werden und 20 Tage lang dauern. Die WR stellt das Projekt als erste Zeitung vor.

Das „Objekt“ befindet sich direkt gegenüber dem Kasseler Hauptbahnhof. Der agile Künstler und Pädagoge aus Geseke bei Paderborn wird den langen Bauzaun, hinter dem zur Zeit ein Großkaufhaus hochgezogen wird und der ansonsten als Werbefläche dient, in mühsamer Einmannarbeit bemalen. Daß er dabei mitten im Großstadtrummel agieren muß, stört den Aktionskünstler nicht. Im Gegenteil: Er ist schon gespannt auf Reaktionen aus der Bevölkerung, die er vor Ort mit einer Videokamera aufzeichnen will. Gefaßt erwartet er auch aggressive Äußerungen der Passanten. Schlund hat bereits unschöne Erfahrungen hinter sich. Bei früheren Aktionen gingen seine Produkte auch schon mal in Flammen auf.

Was wird auf den Bretterwänden zu sehen sein? Schlund hat vor, sie weiß zu bekleben und auf die so entstandene Fläche zarte Pastellfarben aufzutragen. Neben die sparsam verwendeten Farbelemente setzt er dann jeweils Worte, zu denen er durch den Philosophen Martin Heidegger inspiriert wurde. So werden den Passanten in Rie-senlettern Worte wie „Sein“ oder „Einsicht“ entgegenleuchten.

Was bezweckt Joern Schlund damit? „Die von mir gestalteten Wände dienen – im wahrsten Wortsinn – als ,Vor-Wand‘ zum Gespräch“, erläutert Schlund, der kürzlich einen Lehrauftrag der Siegener Universität, Fachbereich „Kunst und Kommunikation“, erhielt. Was er sichtbar herstelle, sei weniger wichtig als das, was sich daraus an Gesprächsmöglichkeiten ergebe. Außerdem gehe es ihm um Verunsicherung, er wolle altgewohnte Sehweisen in Frage stellen.

Traum des Künstlers: „Ich würde sehr gern an der Spitze des Dortmunder Fernsehturms ein großes Tuch befestigen, auf dem steht: ,Ich liebe dich!‘ Das wäre mit Sicherheit Stadtgespräch.“ Auf jeden Fall wolle er heraus aus der Isolation und Sicherheit des Museums“. Immerhin: Eine Aktionsidee, die sich im Musentempel verwirklichen ließe, hat Schlund auch schon parat. Er könnte sich vorstellen, mit seiner gesamten Wohnungseinrichtung in einem Museum Quartier zu nehmen, sozusagen als lebendes Ausstellungsstück. Schlund: „Ich würde da ganz normal leben, würde mir auch meine Butterbrote im Museum schmieren und nachts dort schlafen.“

Direkte Aussagen zum politischen Tagesgeschehen liegen Joern Schlund fern. Dennoch begab sich der Geseker schon des öfteren in die Konfrontation. So schrieb er zum Jahr des Kindes auf eine Plakatwand:. „Kinder sind lieb“ und auf die Rückseite „Verhaut die Kinder!“ Auf das Pflaster einer vielbefahrenen Straße pinselte er: „In hundert | Jahren gibt es keine Autos mehr.“ In beiden Fällen erntete er nicht nur Verständnis…

Schlund legt Wert darauf, daß er keinem Vorbild nacheifert: „Ich bin kein Imitator. Weder Leonardo da Vinci noch Joseph Beuys sind für mich Maßstab. Wenn Beuys sich zum Beispiel l mit Bienen befaßt, kann ich nur sagen, daß er diese Insekten nicht gepachtet hat. Ich könnte morgen eine Aktion mit Bienen machen, und es wäre doch etwas ganz anderes als bei ihm“, sagt Joern Schlund selbstbewußt. Auch wolle er nicht, wie es das Gesetz des Kunstmarkts fordert, seinen Werken und Aktionen ein ganz bestimmtes Markenzeichen aufdrücken, so daß jeder gleich erkennt: „Sieh da, ein Spätwerk von Schlund“.

Der Dortmunder Günter Stecker, dessen Firma bundesweit etwa 1500 Werbetafeln vermietet, unterstützt als Mäzen Schlunds riesige „Tafelmalerei“ in Kassel – Kostenpunkt: etwa 8000 DM). Stecker gewinnt dem Happening noch einen anderen Reiz ab: „Für mich ist das, als bekäme die Werbung einen Kuß von der Muse“.