Nixen im Badezuber – Dvoráks Oper „Rusalka“ findet in Essen den Weg in die Psychiatrie

Rusalka (besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Szene aus der Anstalt. Rusalka (Sandra Janusaite) besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Da bringt die junge Braut ihren Zukünftigen um. Weil sie den schlimmen Finger im erotischen Techtelmechtel mit einer anderen erwischt hat. Für ihn war das eine Art Flucht: weg von einem Wesen, das ebenso faszinierend wie rätselhaft ist, spröde und stumm wie ein Fisch, hin zu einer richtigen Frau. 

Derartiges kommt in den besten Familien vor. Selbst in jenen der vorletzten Jahrhundertwende, im großbürgerlichen Gefüge des Fin de Siècle. Zu jener Zeit also, als Sigmund Freud die „Traumdeutung“ herausbrachte und Antonin Dvorák seine Märchenoper „Rusalka“ komponierte. Und so hat die niederländische Regisseurin Lotte de Beer eins und eins zusammengezählt: Im Essener Aalto-Theater zeigt sie uns eine Nixe unter freudscher Beobachtung – im klinisch kühlen Ambiente, mit Anstaltsbadewannen und Gewölbezellen, nicht zu vergessen die berühmte Couch des Analytikers.

Klapse statt irrlichterndes Dasein ist das Los dieser Rusalka. Die Geschichte wird dabei gewissermaßen von hinten aufgerollt, vom Tod des Prinzen und ihrer Internierung aus – die einleitende Szenerie zu Dvoráks Vorspiel macht es deutlich. Dieser dramaturgische Kniff ist wohl auch erforderlich, um die Doppelung von Märchenzeit und Therapiezeit zu verstehen. Hilfreich wäre im übrigen ein Hinweis im Programmbüchlein gewesen, auf eine Schrift Freuds aus dem Jahr 1913, „Märchenstoffe in Träumen“. Oft nämlich verknüpften seine Patientinnen Erinnerungen und Träume mit dem Durchleben von Märchen.

Nun also: Die Nixen necken den Wassermann im Badezuber, Rusalka beklagt in der Wanne nebenan ihr seelenloses Dasein. Die Hexe Jezibaba rauscht nicht als schmuddeliges Hutzelweibchen heran, sondern gibt sich rauchend mondän im dicken Pelz. Die Menschwerdung Rusalkas gleicht einem Beschneidungsritus. Im übrigen gilt: Wer schön sein will, muss leiden – und stumm bleiben wie ein Fisch. Entsprechend herzig die Begegnung mit dem Prinzen, ein Tändeln zweier Backfische, ein Fremdeln zweier Zagender. Zuletzt aber doch: Küsse der Leidenschaft.

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Was so intim klingt, ist auf der Riesenbühne des Aalto gleichwohl angenehm proportioniert in Szene gesetzt. Das eingespielte Duo Clement&Sanou schafft Atmosphäre durch Farbe, stellt die feine Festgesellschaft im 2. Akt aufs Podest, während unten Rusalka angstvoll deren patriarchalische Riten beobachtet, wuchtet Badewannen in den Raum oder kerkert die Nixe im mächtigen Gummizellengewölbe ein. Manches wirkt gelungen, anderes aber gehörig plakativ. Wie denn auch die Regie immerhin in sich schlüssig ist. Die Frage, die bleibt, ist eher grundsätzlicher Art: Ob nicht manche Frauenfigur der Opernliteratur sich neuerdings beständig der Psychoanalyse aussetzen muss.

Eines aber ist gewiss: Mit Sandra Janusaite hören und sehen wir eine Rusalka, die sich die Seele aus dem Leib spielt und singt. Fast körperlos, fahl und verhangen klingt zunächst ihr Mondlied, dann aber trägt ein dramatisch-emphatischer Sehnsuchtston ihre Empfindung. Die Stimme mag in der Mittellage etwas spröde wirken, gleichwohl verfügt die Sopranistin über Farbreichtum sowie flammende Verzweiflungsgröße. Und wenn sie sich, im Angesicht des untreuen Prinzen auf die Beine schlägt, als Symbol ihres fluchbeladenen Daseins, wenn sie im Zellengewölbe in ihrer Zwangsjacke dahinleidet, dann ist das gleichermaßen mitreißend wie anrührend. Bis ihr Dr. Freud eine Spritze geben lässt – sie sinkt hernieder, ob schlafend oder sterbend oder im Wagnerschen Sinne erlöst, bleibt unserer Fantasie überlassen.

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Dagegen wirken alle anderen Akteure beinahe blass. Ladislav Elgr verleiht dem Prinzen zwar ein kultiviertes tenorales Timbre, wirkt in hoher Lage aber leicht nervös und lässt mitunter Eleganz vermissen. Markant Almas Svilpa als ewig mahnender und klagender Wassermann, nur bedingt verschlagen die Hexe der Lindsay Ammann.

Das eigentliche Wunder des Abends spielt sich ohnehin im Orchestergraben ab. Mit Tomás Netopil am Pult zaubern die Essener Philharmoniker die Idiomatik von Dvoráks Musik aufs Schönste herbei. Sie spinnen silberhelle Melodiefäden, geben der Dramatik, die schon auf Janáceks Realismus verweist, kantiges Gewicht, ohne zu überzeichnen. Und alles Böhmisch-Musikantische hält sich im Rahmen. Nichts von Verharmlosung eines bis dato immer noch unterschätzten Komponisten.

Noch einige Termine im Juni. www.aalto-musiktheater.de

(Der Text ist zuerst in ähnlicher Form im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen.)

 




Labyrinth aus Liebe und Lügen – William Boyds Roman „Eine große Zeit“

Wien ist nicht nur die Hauptstadt des galanten Selbstmordes und der morbiden Friedhofskultur. Die österreichische Metropole ist auch der Geburtsort der Psychoanalyse. Wenn Anfang des vorigen Jahrhunderts ein an traumatischen Kindheitserlebnissen und erotischen Unpässlichkeiten leidender junger Engländer dorthin flüchtet, wo Sigmund Freud gerade über Traumdeutung, Totem und Tabu nachdenkt und die auf seiner Couch liegenden Patienten auf ihrer Reise ins verdrängte Innerste ihrer Seele begleitet, so ist das eine einleuchtende Idee.

Für William Boyd, den 60jährigen britischen Autor, der seine Leser mit einem fein ausgetüftelten psychoanalytischen Spionagethriller begeistern will, liegt die Idee jedenfalls auf der Hand. Sein Held wider Willen, der englische Jungschauspieler Lysander Rief, hält sich im Jahr 1913, also am Vorabend des Ersten Weltkrieges und des katastrophalen Zivilisationsbruchs, in Wien auf. Eigentlich will er in der (gleich bei Freud um die Ecke liegenden) psychoanalytischen Praxis von Dr. Bensimon nur seinen Macken und Marotten auf den Grund gehen. Doch dann steigt er nicht nur in die Abgründe seiner Ängste hinab, er verfällt auch den unergründlichen Augen und den erotischen Reizen einer sexbesessenen Frau. Hettie Bull, so heißt die rätselhafte Schöne, blendet, betört und heilt den kopflos Verliebten, aber sie verwickelt ihn auch in eine brisante politische Affäre und stößt ihn in einen Strudel aus Lug und Betrug, Geheimnis- und Landesverrat.

William Boyd, der hierzulande mit „Ruhelos“ und „Einfache Gewitter“ zwei veritable Erfolge hatte, liebt das literarische Spiel mit Erzählweisen und Perspektiven. Dichtung und Wahrheit liegen bei ihm oft ununterscheidbar beieinander. In der fiktiven Künstlerbiografie über den Maler „Nat Tate“ hat er das Verwirrspiel so weit getrieben, dass viele Leser und Künstler beschwören wollten, den erfundenen Nat Tate und seine Bilder gekannt zu haben. In seinem neuen Roman „Eine große Zeit“ erfindet er nicht nur eine abenteuerliche Spionagestory, er führt den Leser auch in eine von Mythen und Märchen, Lügen und Legenden bis zur Unkenntlichkeit durchdeklinierten Epoche des wissenschaftlichen Fortschritts und politischen Irrsinns. Es geht, wie immer bei Boyd, um Unruhe und Rastlosigkeit, Identitätssuche und Selbstbetrug – und um den schmalen Grat, der aus einem brillanten ein gescheitertes Leben machen kann.

Lysander Rief ist neugierig und intelligent, aber auch naiv und leicht zu beeinflussen: ein gefundenes Fressen und gefügiges Opfer für sexuelle und politische Manipulation. Nicht nur Hettie Bull treibt ihr Spiel mit dem jungen Schönling, auch der britische Geheimdienst weiß, wie man sich die Schauspieltalente Lysanders zu Nutzen machen kann. Kaum ist der Krieg ausgebrochen, wird man den Mimen zum Agenten umformen und ihn an die Spionagefront schicken. Das allein wäre vielleicht ein spannender, doch noch kein großer Roman. Aber Boyd weiß um seine literarischen Stärken und entwickelt, parallel zum immer komplizierter werdenden Labyrinth aus Liebe und Verrat, ein schillerndes Spiel mit Erzählweisen. Neben dem allwissenden Erzähler gibt es auch den Ich-Erzähler Lysander Rief. Auf Anregung seines Psychoanalytikers führt er ein Tagebuch seiner geheimsten Wünsche. Diese Tagebuchpassagen sind voller poetischer und zweifelnder Gedanken, manchmal erweitern, manchmal konterkarieren sie die vom allwissenden Erzähler vorangetriebene Handlung. Ist das, was geschieht, vielleicht nur ein literarisches Spiel des Autors oder eine Einbildung des psychisch lädierten Ich-Erzählers? Um dem Geheimnis dieses sich zwiebelartig häutenden Erzählwerkes auf den Grund zu kommen, braucht der Leser Geduld. Aber die Lösung ist eigentlich ganz einfach. Sie liegt offen zutage. Man muss nur den Mut haben und in der Lage sein, sie zu sehen und wahrzunehmen.

William Boyd: „Eine große Zeit“. Roman. Aus dem Englischen von Patricia Klobusiczky. Berlin Verlag, 446 Seiten, 22,90 Euro.




Träumen ohne Sigmund Freud

Psychoanalytiker und Patienten, die hofften, auf der Couch verquasten Träumen und verdrängten Wünschen auf die Spur zu kommen, müssen dieser Tage ganz tapfer sein. Nicht genug, dass der französische Philosoph Michel Onfray meint, Sigmund Freuds Lehre sei bloß ein auf Hirngespinsten und Obsessionen basierendes Konstrukt und der Ödipus-Komplex eine Legende. Jetzt haben auch noch Neurologen und Psychologen der Universität Zürich Freuds Traumdeutung entzaubert.

Freuds These, wir würden in unseren Träumen einen Weg zum Unbewussten finden und, symbolisch verschlüsselt, unsere geheimsten Wünsche und Aggressionen bearbeiten, ist für die Zürcher Wissenschaftler reiner Humbug. Nach Verkabelung und Untersuchung hunderter Schlafpatienten fanden sie heraus, dass Träume sehr wenig mit der Verarbeitung von Realität zu tun haben: Der Traum ist eine Form kreativen Denkens, der Träumende löst sich von eingefahrenen Denkmustern und erlebt und verarbeitet Themen in neuen Zusammenhängen: Nicht ohne Grund hat Paul McCartney behauptet, er habe die Melodie von „Yesterday“ geträumt.

Träume, so die Zürcher Erkenntnis, sind „die Wächter des Schlafes“. Mit den Worten eines von den Schlafforschern befragten jungen Mädchens kann man auch sagen: „Wir träumen, damit uns im Schlaf nicht langweilig wird.“

(Teaser-Foto: Bernd Berke)