Überhitzte Phantasien – Zu Martin Walsers höchst umstrittenem Roman „Tod eines Kritikers“

Von Bernd Berke

Nun ist es also entschieden, gestern hat man sich in Frankfurt „trotz Bedenken“ dazu durchgerungen: Der Suhrkamp-Verlag bringt Martin Walsers heftig umstrittenen Roman „Tod eines Kritikers“ am 26. Juni auf den Markt. Walser sagte, dies sei „ein Grund zur Freude“. Doch damit dürfte die Debatte noch lange nicht beendet sein. Im Gegenteil.

In der ARD-Talkshow „Boulevard Bio“ geriet das Thema späten Dienstag Abend sozusagen auf die allerhöchste Ebene: Sowohl Bundeskanzler Gerhard Schröder als auch Literaturnobelpreisträger Günter Grass nahmen (jeweils ohne das Buch zu kennen) Walser gegen Antisemitismus-Vorwürfe in Schutz.

Äußerungen von Kanzler Schröder, Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki

Zur selben Zeit äußerte sich im ZDF der in Walsers Roman karikierte „Kritiker-Papst“ Marcel Reich-Ranicki genau gegenläufig. In seiner „Solo“-Sendung sah er sich gezwungen, quasi in eigener Sache Stellung zu beziehen. Walsers Text, so Reich-Ranicki, habe ihn „tief getroffen, denn er sei „in hohem Maße antisemitisch“. Viele Feuilletons sähen das ähnlich, nur nicht das der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ). Warum? Reich-Ranickis Verschwörungstheorie: Dort seien drei Redakteure am Werk gewesen, die vormals bei der „Frankfurter Allgemeinen“ (FAZ) tätig waren – unter Leitung von Frank Schirrmacher, der jetzt den Vorabdruck des Romans in der FAZ abgelehnt hatte. Wollten die SZ-Leute etwa Rache am Ex-Chef nehmen?

Unsinniger Antisemitismus-Vorwurf

Abgesehen davon, dass sich einige gewichtige Stimmen pro Walser erhoben haben (u.a. auch Sigrid Löffler, Reich-Ranickis langjährige Mitstreiterin beim „Literarischen Quartett“), liegt wohl eine andere Hypothese näher: Frank Schirrmacher hätte danach seinen einstigen FAZ-Ziehvater“ Reich-Ranicki in (vorauseilendem?) Gehorsam vor Walsers Text bewahren wollen und in der gerade heißlaufenden Möllemann-Debatte einen idealen Anknüpfungspunkt für seinen Antisemitismus-Vorwurf gegen den Autor gesehen. Seither nimmt die Diskussion hysterische Züge an.

Nach eingehender Lektüre der (vom Verlag per e-Mail übermittelten) Suhrkamp-Druckfahnen zum strittigen Roman lässt sich jedoch glasklar feststellen: Dieser Text ist n i c h t antisemitisch!

Allerdings enthält er einige Überzeichnungen zum Machtgehabe eines TV-Kritikerfürsten, der hier „André Ehrl-König“ heißt. Walser gibt zu, für diese Figur habe Reich-Ranicki Pate gestanden. Auch mögen Überdruss und sogar Hass seine Feder geführt haben. Jedenfalls gerät im Roman ein von Ehrl-König via TV „verrissener“ Autor namens Hans Lach in Verdacht, sich für die Schmach mit einem Mord gerächt zu haben.

Klippschul-Stoff: Autor und Figur sind zweierlei

Aus Hans Lachs (mehrfach gebrochener, überblendeter) Innen-Perspektive werden mögliche Motive erwogen, werden Fragen von Schuld und Sühne aufgeworfen. Worauf es aber ankommt: Jener Ehrl-König wird eben keineswegs als Jude attackiert, sondern als anmaßender Kritiker, der nur das vernichtende „Entweder – Oder“ kennt. Seine Machttechniken werden in aller Verzerrung zur Kenntlichkeit gebracht.

Bereits in den Klippschulen der Literatur-Betrachtung wird gelehrt, dass man einen Schriftsteller und seine Figuren nicht verwechseln sollte. Gleichwohl hat Reich-Ranicki im ZDF Walser höchstselbst Mordgelüste vorgehalten. Oha! Wollte man allen Autoren der Weltliteratur die Aussagen ihrer Figuren als persönliche Schuld zur Last legen, so säßen die meisten lebenslänglich im Knast.

Eine andere Frage ist die nach der literarischen Qualitat. Gewiss wird Walser einkalkuliert haben, dass man sich über die Schlüssel-Figuren ereifern würde. In der oder jener Gestalt mag man z.B. Reich-Ranickis alten Freund-Feind Walter Jens oder auch den (derzeit schwer erkrankten) Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld erkennen. Walser schwelgt streckenweise derart in solchen Bezügen und überzogenen Parodien, dass man eine „Bierzeitung“ zur Erheiterung literarischer Zirkel zu lesen glaubt. Manches in diesem Roman ist arg wiederholungsträchtig, anderes verliert sich nebulös zwischen literarischer Mystik und „Umwertungs“-Drang à la Nietzsche. Aber nur mit maßlos überhitzter Phantasie kann man darin „Antisemitismus“ aufspüren.




Ruhr-Triennale: Die Euphorie steckt alle an – Kultur-Prominenz diskutierte in Duisburg

Von Bernd Berke

Duisburg. Eigentlich wollten sie über das Globalthema „Das Festival im 21. Jahrhundert“ reden. Aber die hochkarätige Runde im Duisburger Lehmbruck-Museum kreiste denn doch fast nur um „das Eine“: die „Ruhr-Triennale“.

Kein Wunder: Triennale Chef Gérard Mortier saß mit auf dem Podium. Er bat um Geduld: „Richard Wagner hat 20 Jahre lang nachgedacht, bevor er die Bayreuther Festspiele gründete. Gebt mir wenigstens noch Zeit bis Ende dieses Jahres.“ Denn natürlich lechzte man auch hier wieder nach Details zum Festival, welches ab 2003 das gesamte Revier leuchten lassen soll. Manche richten ja geradezu messianische Hoffnungen auf Mortier.

Besonders vorurteilsloses Publikum

Der revanchiert sich mit flammenden Komplimenten. In höchsten Tönen preist er das Ruhrgebiet, das ihn als „sozial-kultureller Raum“ fasziniere. Hier gebe es ein vorurteilsloses Publikum: „Die Leute glauben nicht, schon alles zu wissen.“ Also lasse sich hier das bildungsbürgerliche Inventar („Kanon“) viel besser durchrütteln als andernorts.

Die prominente Kritikerin Sigrid Löffler (ehemals beim „Literarischen Quartett“), die Mortiers Verdienste bei den Salzburger Festspielen bestens kennt, hegt gleichfalls großeErwartungen. Ein solches Festival brauche „eine magnetische Grundidee und eine magnetische Persönlichkeit“. Beides scheine bei der Triennale der Fall zu sein. Diese könne dem Revier einen ungeheuren Zuwachs an „Urbanität“ bescheren, denn Mortier stehe für aufregende ästhetische Herausforderungen.

Zum Leidwesen des Moderators Dietmar N. Schmidt (NRW-Kultursekretariat), der die verbreitete Triennale-Euphorie höchst skeptisch betrachtet, gibt sich auch Jürgen Flimm (Regisseur und Präsident des Deutschen BühnenVereins) zuversichtlich. Er sehe der Triennale mit „neugieriger Solidarität“ entgegen.

„Eine gute Idee findet ihr Geld“

Die Triennale, so Flimm weiter. werde die Kultur wohl ganz allgemein aufwerten und auch bestehenden Bühnen Nutzen bringen. Diese dürften sich allerdings nicht auf alten Lorbeeren ausruhen, sondern müssten sich mitreißen lassen vom neuen Schwung. Manche Sorgen seien kaum angebracht: „Es ist noch kein Stadttheater wegen eines Festivals geschlossen worden.“

NRW-Kulturminister Michael Vesper (Grüne) konnte sich also beruhigt zurücklehnen. Mit dem Slogan „Eine gute Idee findet ihr Geld“ versicherte er abermals, das Festival werde aus zusätzlichen Mitteln bestritten (im Jahresschnitt 40 Mio. DM). Da bleibt auch Norbert Lammert, dem kulturpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, nur noch Optimismus übrig: Das Revier besitze viel Kulturvolumen, aber noch nicht genug kulturelle Strahlkraft. Da komme ein solches Festival – auch im „Wettbewerb der Provinzen“ mit der Hauptstadt Berlin – gerade recht.

Eindeutiges Fazit: Friede – Freude – Triennale.




Ein Rundgang durch das Reich der Zufälle – Buchmesse: Sigrid Löffler, Harry Potter, Beatles und Nobelpreisträger Gao Xingjian

Aus Frankfurt berichtet Bernd Berke

Trübes, kühles Wetter in Frankfurt. Ausgesprochenes Bücherwetter. Hinein also in die Hallen der Buchmesse, hin zu den Büchermenschen.

Man muss sich Fix- und Zielpunkte schaffen, sonst droht man schier unterzugehen im Reich der Zufälle, das hier aus 380.000 Titeln besteht. Da trifft es sich, dass Sigrid Löffler (ehemals beim „Literarischen Quartett“) just die zweite Nummer ihrer Zeitschrift „Literaturen“ vorstellt und eine erste Bilanz ihres ehrgeizigen Projekts zieht. Von der ersten Nummer wurden rund 70.000 Exemplare gedruckt, nun sind es bereits 103.000. Buchhandel und Kioske hätten mehr geordert als zuvor, auch die Abo-Zahlen entwickelten sich ordentlich.

Löffler, leicht pikiert über das vielfach skeptische Echo auf die erste Ausgabe: „Viele Leser sind mir lieber als gute Kritiken.“ Trotzdem: Ein paar „Feinjustierungen“ habe man vorgenommen am Konzept, besonders in optischer Hinsicht. Auch den vierten Band von „Harry Potter“ bespricht man jetzt.

Apropos: Man kommt um den Millionen-Seller einfach nicht herum. Am Stand des Hamburger Carlsen-Verlages ist den Mitarbeitern die halbwegs überstandene Hektik rund um die Potter-Mania noch anzumerken. Sie schauen etwas erschöpft, aber glücklich drein. Ja, die erste Auflagen-Million sei restlos abgesetzt, man drucke nun eilends nach, denn es gebe schon 500.000 weitere Vorbestellungen. Nein, die Autorin Joanne K. Rowling werde nicht zur Buchmesse kommen, vielleicht befürchte sie einen gar zu großen Rummel. Nächstes Jahr wahrscheinlich.

Schwerpunkt mit Comics

Lässt man sich durch die Hallen treiben, so hat man den Eindruck, dass Kinder- und Jugendliteratur tatsächlich auffälliger und selbstbewusster präsentiert wird als in den Vorjahren. Vielleicht liegt’s ja auch am Comic-Schwerpunkt, den man kurzerhand mit verbucht, obwohl doch die fanatischsten Sammler gewiss Erwachsene sind, manchmal auch erwachsene Kindsköpfe.

Viele Comics bleiben ewig jung, einige Pop-Gruppen desgleichen: Die „Beatles“ ziehen immer noch – und wie! Ullstein präsentiert großflächig seine opulente „Beatles Anthology“, ein Werk, das wahrlich Besitzwünsche weckt. Bei Heyne hängt man sich mit „Die Beatles – Wie alles begann“ an den Nostalgie-Trend, ein weiterer Verlag hat rasch ein illustriertes Songbook neu aufgelegt. Und das sind nur die Zufallsfunde in Sachen „Fab Four“.

Warum hat die Jugend des Westens Mao verehrt?

Letztes Jahr war’s Günter Grass, diesmal ist es Gao Xingjian, der die Messe mit seiner Anwesenheit schmückt. Es ist doch immer wieder erhebend, einen frisch bestimmtenLiteraturnobelpreisträger leibhaftig zu sehen. Das dachten sich wohl auch die zahllosen Kamerateams und Fotografen der Weltpresse, die gestern den Chinesen in ein wahres Lichtgewitter tauchten. Tatsächlich wirkt Gao, dessen Werke in China strikt verboten sind, schon fast wie ein Europäer, seine Pressekonferenz absolvierte er auf Französisch.

„Comme un miracle“ (wie ein Wunder) sei ihm die Preisvergabe erschienen. Jaja, Gerüchte über Mauscheleien im Preiskomitee habe er „gestern vernommen“, dazu wolle er aber nun wirklich nichts sagen. In Anlehnung an den Polen Witold Gombrowicz, der gleichfalls Im Exil gelebt hat, rief Gao aus: „China – das bin ich.“ Will heißen: Das kommunistische Regime habe alle guten alten chinesischen Traditionen zerstört, er aber wolle sie aufsuchen und aufrecht erhalten.

In Hongkong und Taiwan sei er gelegentlich noch gewesen, doch er habe kaum Hoffnung, jemals das festländische China wieder zu sehen. Maos „so genannte“ Revolution sei „ein Wahnsinn, ein Albtraum“ gewesen. Er, Gao, frage sich bis heute, wieso die Jugend des Westens diesen Mann habe bewundern können. Jaja, vor mehr als dreißig Jahren war es so. Und schon damals sang John Lennon mit den „Beatles“ dagegen an („Revolution“). So schließt sich der Kreis.

Frankfurter Buchmesse: Bis einschl. Freitag für Fachbesucher, Samstag/Sonntag (21. und 22. Oktober) auch für Privatleute. 9-18.30 Uhr, Tageskarte 14 DM. Messekatalog (Buch und CD-Rom) 35 DM.




Sie meinen es ja so gut mit den Autoren – Über Sigrid Löfflers neue Zeitschrift „Literaturen“

Von Bernd Berke

Wenn Sigrid Löffler, nach all dem hässlichen Zank mit Marcel Reich-Ranicki, eine neue Zeitschrift herausbringt – na, da heißt es doch für die meisten Literaturfreunde: Nichts wie hin zum Zeitschriften-Laden! Aber lohnt es sich auch?

Am Dortmunder Hauptbahnhof gab’s das neue Produkt „Literaturen“, das seit gestern mit einer Startauflage von 70 000 Exemplaren offiziell auf dem Markt ist, schon am Vorabend. Nur: Die Verkäufer selbst wussten noch gar nichts von ihrem neuen Angebot, das schier unterzugehen droht im Wust der tausend bunten Spezial-Postillen.

Farbig kommt „Literaturen“ nicht daher, sondern es ist (offenbar ganz bewusst) im meist angenehmen, gelegentlich aber doch etwas kargen Schwarzweiß gehalten. Das Titelbild ist kläglich misslungen, das Layout im Heftinneren höchst konventionell, hie und da auch etwas fade geraten. Es gibt schon mal längere bildlose Textstrecken. Doch das kann sich eine Literaturzeitschrift wohl erlauben. Wollte man alle Beiträge auf den 152 Seiten (12 DM) lesen, so brauchte man schätzungsweise die gleiche Zeit wie für ein Buch mittleren Umfangs. Für diesen Aufwand darf man einen Gegenwert verlangen.

Zu den Inhalten also: Mit ausgesprochen populärer Schreibe hält sich „Literaturen“ nicht lange auf. Eher verschämt wird ganz hinten im Heft der Rummel um „Harry Potter“ abgetan, anhand eines Blicks auf die New Yorker Sellerlisten. Stephen King & Co. dürften hier keine weitere Heimstatt finden. Richtig so! Noch ein Trallala-Magazin zur Bestselleritis brauchen wir gewiss nicht.

Auf der Suche nach herzhaften Verrissen

Als solide Themenschwerpunkte dienen das Buchmesse-Gastland Polen sowie „Die Erfindung des Ostens“. Hierbei geht man von folgender Annahme aus: Der Westen habe den Osten auch gedanklich und literarisch „kolonisiert“, habe ihm seine Ideen aufgepfropft, nehme ihn also gar nicht recht wahr. Derlei falsches Bewusstsein soll natürlich aufgeweicht werden. „Osten“‚bedeutet übrigens nicht nur neue Bundesländer und Osteuropa, sondern auch Naher Osten. Da lässt sich ein Interview mit der Frankfurter Friedenspreisträgerin Assia Djebar (Algerien) gleich günstig mit unterbringen.

„Unter den Autoren der Zeitschrift finden sich einige der „üblichen Verdächtigen“ (Jan Philipp Reemtsma, Verena Auffermann, Ruth Klüger, Hubert Winkels), aber auch etliche Unbekannte. Sigrid Löffler. die als „verantwortliche Redakteurin“ firmiert, steuert einen längeren Essay über den Romancier Michael Ondaatje („Der englische Patient“) bei.Sie hat ihn in Kanada besucht. Eine schöne Dienstreise, ein kluger Text.

Gern Spaziergänge mit Schriftstellern

Besuche bei und Spaziergänge mit Schriftstellern (z. B. Durs Grünbein und Daniel Pennac, der eilfertig als „Kultautor“ gepriesen wird) scheinen eine bevorzugte Art der Annäherung zu sein. Überhaupt nähert sich das Blatt der Literatur und deren Urhebern mit Respekt. Einverstanden. Doch sie mögen offenbar überhaupt niemanden (auch nicht die Anzeigenkunden aus der Buchbranche) verprellen. Effekt: Unter den vielen Besprechungen, die auch in Sammel-Rubriken („Journal“, „kurz & bündig“) zusammengefasst werden, überwiegen bei weitem die Empfehlungen. Herzhafte, süffig formulierte „Verrisse“ sind“ hier kaum zu finden. Vielleicht ein Kontrastprogramm zum oft gnadenlosen Reich-Ranicki und dem „Literarischen Quartett“?

Wer in der Werbung „streitbare und meinungsfrohe“ Rezensionen verspricht, sollte allerdings nicht nur einen ordentlichen Überblick, sondern mehr Orientierung bieten. Was fängt man mit lauter positiven Kritiken an? Da stellt sich am Ende der Frust ein, aus Zeitgründen fast alle wichtigen Bücher zu versäumen.

 




Gehäuftes Dichterlob aus Dortmund – Das „Literarische Quartett“ gastierte in der neuen Botta-Bibliothek

Von Bernd Berke

Dortmund. Marcel Reich-Ranicki und die Seinen gastieren mit ihrem „Literarischen Quartett“ (ZDF) für gewöhnlich an Orten, die den schönen Künsten sehr zugeneigt sind. Gern plaudern sie beispielsweise in altehrwürdigen Universitäts-Städten wie Tübingen, in der Festspielstadt Salzburg oder zur Buchmesse in Goethes Geburtsstadt Frankfurt am Main. Nun aber ließen sie sich in Dortmund herbei.

Tagelang hatte sich das ZDF-Team in der Stadt- und Landesbibliothek umgetan, hatte Beleuchtungs-Feinheiten und dergleichen geprobt. In einigen Bereichen mußte dafür gar die Ausleihe eingeschränkt werden. Aber was tut man nicht alles für die Leute vom Fernsehen. Rund 150 Besucher durften die Live-Sendung am Ort des Geschehens genießen. Schön zu sehen, wie Sigrid Löfflers Teint (Minuten vor der Sendung) noch etwas nachgepudert wurde; nett zu hören, wie sich Marcel Reich-Ranicki nach dem Zustand des Mineralwassers erkundigte…

Als alles tadellos gerichtet war, fing’s denn auch an. Mag sein, daß man sich hier von Reich-Ranicki ein paar Einleitungssätze mehr erhofft hatte als nur die schlichte Mitteilung, man befinde sich diesmal in der neuen Bibliothek zu Dortmund, die von Mario Botta entworfen wurde. Punkt. Schluß. Schon schritt man zur üblichen Buch-Behandlung. Der kulturelle Wanderzirkus auf Durchreise. Wo waren wir eigentlich gestern?

Trösten wir uns damit, daß diesmal weder der Präzeptor noch seine Mitstreiter Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler oder die Gastkritikerin Eva Demski zu Verrissen aufgelegt waren. Vielleicht hat ja die milde Stimmung auch ein ganz klein wenig am Genius loci (Geist des Ortes) gelegen?

Marcel Reich-Ranicki ist in der Runde ein vulkanisches Ereignis

Dermaßen gehäuftes, zumeist auch noch einhelliges Lob für die besprochenen Bücher hat man jedenfalls im „Quartett“ all die Jahre über wohl noch nie vernommen. Reich-Ranickis Schlußbemerkung, man sei kein verlängerter Arm der Verlags-Werbeabteilungen, schien diesmal beinahe nötig.

Sigrid Damms Abhandlung „Christiane und Goethe“? Ein Meisterwerk! Hanna Kralls „Da ist kein Fluß mehr“? Unvergleichlich! Ernst Weiß‘ „Der arme Verschwender“, James Salters „Dämmerung“, Erri de Lucas „Das Meer der Erinnerung“? Oh, allesamt auch nicht zu verachten.

Was man daheim am Fernsehgerät nicht mitbekommt: Reich-Ranicki versinkt, wenn er zwischendurch nicht gezeigt wird, immer mal wieder in eine Art Erschlaffung, in einen Dämmerschlaf, aus dem er freilich schlagartig, ja fast explosiv auffährt, sobald er das Wort ergreift. Der Mann ist schon ein vulkanisches Ereignis.

An witzigen Momenten fehlte es auch diesmal nicht. Man hätte das Publikum in der Bibliothek gar nicht, wie zuvor geschehen, eigens bitten müssen, eine lebhafte Zuhörerschaft zu sein. Der Streit, ob Goethe ein übler Opportunist gewesen sei, hatte einfach Sketch-Qualität. Hellmuth Karasek verstieg sich zur gewagten Behauptung, ein Genius, der Gedichte wie „Wanderers Nachtlied“ verfaßt habe, dürfe ruhig auch ein Fiesling gewesen sein. Und Reich-Ranickis rhythmischer, nahezu lyrischer Merksatz, als der Name des Serbien-freundlichen Dichters Peter Handke fiel, dürfte gleichfalls in die „Quartett“-Annalen eingehen: „Es wird gebeten, über Handke nicht zu reden“.




Stets ritterlich zu den Schriftstellern – Gesammelte Kritiken und Essays von Sigrid Löffler

Von Bernd Berke

Schon oft hat uns Sigrid Löffler Genugtuung und manchmal auch Vergnügen bereitet, wenn sie mit ironisch oder beleidigt gekräuselten Lippen den Herrschaften Reich-Ranicki und Karasek im „Literarischen Quartett“ des ZDF klug Paroli bot. Nun sind ihre Zeitungs-Kritiken, Glossen, Porträts und Essays als Sammelband erschienen. Gleichfalls ein geistiges Vergnügen?

Zunächst einmal erfährt man aus ihrem Buch einiges übers österreichische Innenleben, von der bedrohlich rechtslastigen „Verhaiderung der Republik“ bis hin zum allffälligen „Kulturkampf“ um Burgtheaterchef Claus Peymann sowie – bester Text im ganzen Buch – dessen im Zorn aus Wien geschiedenen Schauspielerstar Gert Voss.

Autoren wohnen meist sehr schön

Doch damit hat es längst nicht sein Bewenden. Denn Frau Löffler unternimmt etliche schöne Reisen, um ihre Lieblingsautor(inn)en in Augenschein zu nehmen. Sie sucht den empfindsamenKünder Peter Handke in dessen Pariser Domizil auf, jettet zur „Meinungsmaschine“ Susan Sontag nach New York, stattet den Schriftstellerinnen Antonia S. Byatt und Ruth Rendell Visiten in England ab. Beneidenswert.

Gemessen an solchem Aufwand, wirken die Resultate zuweilen etwas brav. Sigrid Löffler will den Verehrten eben nicht wehtun. Einfühlsam schildert sie schon die jeweiligen Wohnungen, so als erwäge sie, sich selbst dort niederlassen. Die etwas geduckte Haltung droht den kritischen Blick zu trüben.

Andererseits entstehen aus der Sympathie einige Porträts, die uns die Autoren wirklich näherbringen. Mehrmals nimmt man sich bei der Löffler-Lektüre fest vor: Von dem oder jener müßtet du doch mal (wieder) etwas lesen. Umso besser, wenn die Ansätze originell sind – wie beim Aufsatz über Martin Walser, der im professionellen und familiären Verhältnis zu seinen vier Töchtern (zwei Schauspielerinnen, zwei Schriftstellerinnen) ungewohnte Seiten zeigt.

Gelegentlich widmet sich Sigrid Löffler auch den vom Literaturbetrieb „vergessenen“ oder sonstwie randständigen Gestalten wie W. G. Sebald oder auch Peter Hacks, der seit der „Wende“ allgemein totgeschwiegen wird, weil er sich höchst verwegen zur alten Ulbricht-DDR bekennt und die Honecker-Ära schon als Niedergang des wahren Sozialismus begreift.

Auf der sicheren Seite

Gern nimmt Frau Löffler Autoren gegen das Gros der bösen Kritik in Schutz, z. B. Günter Grass und Peter Handke. In solchen Fällen wirkt sie geradezu ritterlich. Beinahe unnötig zu sagen, daß sie politisch immer den Aufrechten angehört. Maßvoller Linksliberalismus. der jeden mißverständlichen Zungenschlag sensibel meidet, dazu eine Spur von unverfänglicher Frauenbewegtheit. Mit solchen edlen Grundhaltungen steht sie stets auf der sicheren Seite, ist aber nicht durchweg gegen Anflüge gepflegter Langeweile gefeit. Es fehlt hier und da eine Prise von Provokation, die hellhörig machen würde.

Sprachlich fällt dies auf: Hat sie einmal einen vermeintlich besonders treffenden Ausdruck gefunden, so verwendet Sigrid Löffler ihn hartnäckig und unverwandelt weiter, auch wenn es dann schon mal unschön scheppert. So beharrt sie auf der Charakterisierung „intellektueller Pop-Star“ für Susan Sontag oder reitet auf Lieblingsworten wie „zugange“ und „angesagt“ herum.

Vor Klischees ist sie nicht immer sicher: Da nennt sie Wolfgang Kresnik kurzum einen „Tanz-Berserker“ und verknüpft – in einer Tirade gegen Wegwerf-Journalismus – das Wort „Blattmacher“ sogleich mit „Plattmacher“. Am Zeitmangel lag es nicht: Sie hat die Beiträge fürs Buch überarbeitet.

Doch alles in allem: Sie schreibt meist einen recht lockeren, eingängigen und verständlichen Stil. Das ist bei Kritikern ihres seriösen Ranges wahrhaftig keine Selbstverständlichkeit.

Sigrid Löffler: Kritiken – Portraits – Glossen. Deuticke-Verlag. 271 Seiten, 39,80 DM.




Rituale wie in einer Familienserie – Seit fünf Jahren gibt es das „Literarische Quartett“

Vieles, vieles wandelt sich auf dieser Welt, doch es gibt sie noch: die letzten Rituale. Zum Exempel „Das literarische Quartett“ (ZDF. 22.15 Uhr).

Zugegeben: Als die Sendung vor fünf Jahren – am 25. März 1988 – erstmals ins Programm kam, konnte man sich schon über die Unverfrorenheit ärgern, mit der MarcelReich-Ranicki etwa gleich seine Lieblingsautorin Ulla Hahn auf den Schild hob. Doch im Lauf der Zeit zeigte sich, daß es gerade jene krähende Chuzpe und unverwüstliche Selbstgewißheit des Literatur-„Papstes“ ist, von der diese Sendereihe lebt.

Manchen Versatzstücken, die todsicher in jeder Folge auftauchen, fiebert man direkt entgegen: Wann wird Marcel heute wieder ausrufen, daß ihn das Leben ganzer Kontinente – egal, ob Amerika, Asien oder Afrika – „nicht interessiert“, sondern nur, ob dort „gut geschrrrrieben“ wird? Wann wird er wieder lauthals verkünden, daß er sich bei einer Lektüre furchtbar gelangweilt habe? Wann hat er Sigrid Löffler so weit, daß Verbitterung ihre Mundwinkel umspielt? Und wann wird er dem „Buben“ Hellmuth Karasek wieder einen auf die Nuß geben?

Die Mischung aus festgefahrenem Ritual und Resten von Gruppendynamik ist das eigentliche Phänomen des „Quartetts“. Reich-Ranicki, Karasek und Löffler sind inzwischen so aufeinander eingespielt, sie haben eine so lange gemeinsame Profilierungsgeschichte, daß ihre Konflikte denen einer langlebigen Familienserie gleichen.

Schriller war es zur Gründerzeit, als Jürgen Busche den idealen Prügelknaben für die drei anderen abgab. Ein ums andere Mal mußte er sich literarisch belehren lassen und blickte dann drein wie ein armer Tropf. Fehlte nur noch das „Busche, setzen! Fünf!“ Echte Fans trauern diesen kultischen Szenen bis heute nach.

Seit Busche entnervt ausstieg, bittet man wechselnde Gäste als „Nummer vier“ hinzu, die manchmal so frech sind, Widerworte zu geben. Jedenfalls wäre es töricht zu verlangen, die Runde möge sich nur auf die Bücher konzentrieren. Der Spaß wäre glatt halbiert.

Für eine letztlich doch recht anspruchsvolle Kulturreihe ist die Sendung sehr erfolgreich. Man hat jetzt sechs statt wie zuvor vier Termine pro Jahr. Mindestens eine Million Leute schalten zur späteren Abendstunde regelmäßig ein. Bei den Verlagen gilt eine Berücksichtigung im „Quartett“ (gleichgültig, ob Huldigung oder Verriß) als höchst erstrebenswert. Werke, die man sich hier vorknöpfte, waren am nächsten Tag oft „Renner“ in den Läden.

Also bis zum Abend, an dessen Ende es unfehlbar wieder heißt: „Und also sehen wir betroffen: Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“

                                                                                                                  Bernd Berke




Vier Kritiker im eigenen Saft – Premiere fürs „Literarische Quartett“

Von Bernd Berke

„Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki fackelte nicht lang: Gleich zu Beginn seiner neuen TV-Kulturrunde „Das literarische Quartett“ (ZDF), verwies der Großkritiker mit sanftem Nachdruck all jene Zuschauer des zweiten Kanals, die sich nicht als Leseliebhaber bezeichnen könnten. Wie sehr man aufs Publikum pfiff, zeigte dann auch die simple Tatsache, daß Angaben zu den beredeten Büchern nicht einmal eingeblendet wurden.

Der illustre Zirkel wollte offenbar gar nichts anderes, als im Saft der eigenen Kritiker-Subjektivität kochen, zumal auch – entgegen den Ankündigungen – kein Schriftsteller als Überraschungsgast erschien: Sogar der listenreiche Hans-Magnus Enzensberger hatte es vorgezogen, sich nicht der übermächtigen „Literatur-Polizei“ zu stellen. Schließlich weiß jeder Autor, wie rüde es zuging, wenn Reich-Ranicki literarische Arbeiten beim Klagenfurter Tribunal des Ingeborg-Bachmann-Preises abkanzelte.

Oberlehrer Reich-Ranicki hatte an seine drei Kritiker-Kollegen (sogar „Spiegel“-Kulturchef Hellmuth Karasek wirkte neben ihm fast wie ein Schulbub) Hausaufgaben verteilt. Sie hatten für die Sendung bestimmte, von Reich-Ranicki ausgewählte Bücher zu lesen. Ihre zaghaften Gegenvorschläge waren, wie sich herausstellte, abgeschmettert worden. Dafür hatte Reich-Ranicki tatsächlich die Stirn, einmal mehr die (von ihm seit Jahren heftigst unterstützte) Lyrikerin Ulla Hahn in den Vordergrund zu schieben. Da begehrten Karasek und Sigrid Löffler (vom Wiener Nachrichtenmagazin „Profil“) denn doch auf.

Der vierte im Bunde, Jürgen Busche von der „Hamburger Morgenpost“, wagte es, die literarischen Niveauansprüche niedriger zu hängen und auch einen Franz-Josef Degenhardt gelten zu lassen. Da mußte Reich-Ranicki eine strenge Rüge erteilen. Motto: „Wo ist das Klassenbuch?“